26-27 Gletscherfloh

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NATUR Tiere
I
m Mittelalter regnete es Gletscherflöhe, und die Alpengletscher galten
noch als ewiges Eis. Heute muss der
Floh um sein hinwegschmelzendes
Lebensquartier bangen. Denn er fällt
nicht als «Schneewurm» vom Himmel,
wie unsere Vorfahren glaubten, sondern
wohnt ganzjährig im Gletschereis.
Gletscherflöhe sind Springschwänze
(Collembola) und gehören zu den flügellosen Ur-Insekten. «Ur» deshalb, weil
sie schon vor über 400 Millionen Jahren
unseren Planeten bevölkerten. Und sich
seither nicht verändert haben, wie Versteinerungen belegen. Die winzigen
Springschwänze (0,2–5 mm) haben fast
alle Lebensräume erobert: Gletscher und
Blumentöpfe, Muschelschalen und Meeresstrand, die Oberfläche von Tümpeln,
den Boden unter unseren Füssen. Über
6000 Arten wurden beschrieben, darunter Isotoma saltans, wie der Gletscherfloh
mit wissenschaftlichem Namen heisst.
Der Kältespezialist
Es lässt den Gletscherfloh kalt, wenn andere Tiere den
Winter verschlafen. Statt in Kälte zu erstarren, lebt er
putzmunter unter dem Schnee im Eis. Sommers wie winters,
Salto mortale
Gletscherflöhe schnellen bei Gefahr wie
Bodenturner durch die Lüfte. Charakteristisch für die Sechsbeiner sind zwei
bauchseitige Organe: Ventraltubus und
Sprunggabel.
Was dem Schweizer Soldaten sein
Taschenmesser, ist dem Springschwanz
sein Ventraltubus: ein Mehrzweckgerät,
nützlich in vielen Lebenslagen. Ein
röhrenartiger Anhang, aus dem dünnhäutige Säcke oder Schläuche ausgestülpt
werden können. Damit weiss sich der
Winzling an glatten Flächen festzuhalten,
sich zu putzen und einzuölen, und er
kann auf diese Weise Wasser trinken und
Sauerstoff einatmen.
Springschwänze springen nicht mit
dem Schwanz, sondern mit einer zweizinkigen Sprunggabel. Bei Ruhe ist sie
nach vorne unter den Leib geklappt. Stochert ein Menschenfinger im Blumentopf
oder greift eine Raubmilbe an, klappt die
Gabel nach hinten und das Tier fliegt
in hohem Bogen durch die Luft, sich
mehrfach überschlagend. Der Sprung
ins Ungewisse ist von beachtlicher Qualität: Hätte der Mensch ein vergleichbares
Organ, müssten die Leichtathletik-Stadien vergrössert werden – für Hochspringer läge die Latte bei 30 Metern, beim
Weitsprung würden über 100 Meter gemessen.
26 Natürlich | 11-2003
dank gefüllter Kühltruhe und Frostschutz im Blut.
Text: Hans Stüssi
Tierische Unterwelt
Ur-Insekten standen am Anfang des
Lebens auf Erden, und sie stehen am
Ende unseres irdischen Daseins – auf dem
Friedhof. Dort, zwei Meter unter Tage,
siedeln Abermillionen blinder und leichenblasser Springschwänze. Sie fressen
und vermehren sich im so genannten
Sarghorizont. Und sorgen dafür, dass
tote organische Substanz umgewandelt
wird – dass Erde zu Erde wird, so wie
es im ersten Buch Moses geschrieben
steht.
Wenn im Blumentopf weisse «Läuse»
hupfen, sind das keine Schädlinge. Im
Gegenteil: Einer der Hüpfer namens Folsomia candida besitzt sogar ein ISO-Zertifikat. Weil der Springschwanz auf Umweltgifte besonders empfindlich reagiert,
wirkt er im «Collembolen-Test» als Versuchstier. In verunreinigten Böden stirbt
er schnell – in Blumentöpfen garantiert er
für gesunde Erde. Dort vermehrt er sich
übrigens nur bei Staunässe. Trockenheit
ist für Springschwänze tödlich.
Auf dem Fenstersims sporadisch, sind
Springschwänze im Boden dauer- und
massenhaft ansässig. Vornehmlich im
Wald, wo sie Blätter, Nadeln und Fallholz zerkleinern und fressen. Sie bereiten
organisches Material für den weiteren
Abbau durch Pilze und Bakterien vor,
diese knabbern sie gleich mit. In einem
Liter Waldhumus werkeln etwa 2000
Springschwänze. Vom Schlaraffenland
Waldboden können andere Hüpfer nur
träumen. Etwa der Gletscherfloh.
Schwarzer Schnee
Hungern muss der Gletscherfloh gleichwohl nie. In der warmen Jahreszeit weht
der Wind Nadelholzpollen, Insektenleichen, Pflanzenreste und Mineralstaub auf den Gletscher. Witterungseinflüsse mahlen das Gemenge zu einem
energiereichen Müsli, das mit dem
Schmelzwasser in alle Poren des Eises
rinnt: Der Kühlschrank ist das ganze
Jahr gefüllt.
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Herbst, wenn der Gletscher wieder gefriert,
kommt der Eiswanderer zur Ruhe. Dann
widmet er sich der Fortpflanzung.
Erotisches Spiel
im Kühlschrank
Eine meterdicke Schneedecke liegt
im Winter auf dem Gletscher. In der so
genannten Schwimmschneezone, dem
lockeren Schnee unmittelbar über dem
Eis, herrschen konstante Lebensbedingungen: minus drei bis minus fünf Grad
und hohe Luftfeuchtigkeit. Hier und in
den Haarspalten des Eises lebt der Gletscherfloh. Ein blauschwarzer Springschwanz, zwei Millimeter lang.
In den Sommermonaten bekommt der
Gletscherfloh kalte Füsse. Schmelzwasser
überschwemmt seine Wohnstätte. Die Sintflut flüchtend, klettern die Flöhe in Massen
an die Schneeoberfläche. Diese scheint wie
mit Russ überzogen – das Phänomen
«schwarzer Schnee» ist seit Jahrhunderten
bekannt. Um nicht zu ertrinken, krümmt
sich der Springschwanz zu einer Kugel,
eine Luftblase einschliessend. Darin vermag er tagelang zu atmen. Oder er fettet
mit dem Ventraltubus den Körper ein, damit dieser Wasser abstossend wird. So kann
er übers Wasser gehen und sogar von der
Wasseroberfläche abspringen. Erst im
«Dass noch kein Mensch zwei Springschwänze bei der Paarung gesehen
hatte», das wurmte Friedrich Schaller zu
Beginn seiner Laufbahn. Nachdem ihn
Ur-Insekten 60 Jahre lang durchs Leben
begleitet haben, weiss der Zoologie-Professor aus Wien mittlerweile, was Sache
ist. Seinen Forschern ist es gelungen, das
intime Spiel der Gletscherflöhe zu beobachten – im Labor-Kühlschrank.
Gletscherflöhe häuten sich regelmässig; das Männchen verbindet dabei das
Notwendige mit dem Angenehmen.
Während einer Häutung produziert der
Flohmann etwa 30 Spermatophoren: gestielte Samentropfen, die wie Pilze im Eis
stehen. Nur dafür interessiert sich das
Weibchen – der Erzeuger ist ihm einerlei.
Es betrillert das Samenpaket mit seinen
Fühlern und steigt dann darüber, macht
einen Katzenbuckel und nimmt den
Samen mit der Geschlechtsöffnung auf.
Einige Tage später legt die Mutter orangerote Eier. Nach monatelanger Reifezeit
bei Minustemperaturen schlüpfen die
Jungtiere. Soweit die Beobachtungen im
Labor; über Lustgefühle haben die Biologen nichts notiert.
Die indirekte Samenübertragung ist
typisch für Ur-Insekten. Abweichende
Praktiken kommen vor. Was die Frau
Gletscherfloh kalt lässt, erregt ihre Geschlechtsgenossin bei den Silberfischchen, eines der wenigen Ur-Insekten, das
auch Nicht-Zoologen kennen: Der
Silberfischen-Mann wirbt um die Braut
mit einem Hochzeitstanz. Er betastet sie
ausgiebig mit den Fühlern und umgarnt
sie mit Fäden, die er über die angefertigte Samenkapsel spinnt. Stolpert die
Angebetete in dieses Stoppsignal, senkt
sie den Hinterleib und saugt die Spermien auf.
Die Wissenschaftler mögen Folsomia,
weil sich das Bodentest-Versuchstier leicht
züchten lässt und beim Sex nicht zu Seitensprüngen neigt: Männchen gibt es übrigens
keine. Die Weibchen legen bei der Jungfernzeugung unbefruchtete Eier, aus denen
eine genetische Kopie der Mutter heranwächst – ein natürlicher Klon.
Kaltblütiger Extremist
Der Gletscherfloh kann Eis auftauen, doch
natürlich ist der Gletscherschwund nicht
floh-, sondern menschgemacht – der
Klimawandel lässt grüssen. An Sonnentagen absorbiert der Springschwanz dank
schwarzer Körperfarbe so viel Strahlungswärme, dass das umgebende Eis messbar
abschmilzt. Möglicherweise aktiviert die
Extrahitze den Sexualtrieb und die Reifung
der Keimdrüsen. Denn wechselwarme
Tiere wie der Gletscherfloh – und alle
Insekten sowie Frösche und Schlangen –
sind von der Umgebungstemperatur abhängig. Ihre Körpertemperatur gleicht
sich der Aussentemperatur an. Sinken
die Werte in der Nacht oder im Winter
stark ab, verfallen die Wechselwarmen
in Kältestarre.
Nicht so der Gletscherfloh. Wie kaum
ein anderes Tier ist er an ein Leben in
eisiger Kälte angepasst. Bei kühlen 12 Grad
Celsius droht ihm bereits ein Hitzschlag.
Temperaturen um den Gefrierpunkt mag er
am liebsten, selbst bei minus 15 Grad geht
der Gletscherfloh seinen Geschäften nach.
Wie macht er das?
Eigentlich müsste das Wasser in seinem
Gewebe zu tödlichem Eis gefrieren. So wie
wir mit Streusalz dem Glatteis ein Schnippchen schlagen – und den Erstarrungspunkt
des Wassers um 20 Grad senken, so behilft
sich der Gletscherfloh mit einem Frostschutzmittel: mit Traubenzucker. Hohe
Zuckerkonzentrationen erniedrigen den
Gefrierpunkt der Körpersäfte auf minus
15 bis minus 22 Grad; zugleich dient der
Zucker als willkommener und schnell
verfügbarer Energiespeicher. Spezielle Eiweisse sorgen zudem dafür, dass Eiskristalle in den Zellen gar nicht erst wachsen
können.
Sogar der Gletscherfloh hat Feinde,
seiner unwirtlichen Bleibe zum Trotz: der
Gletscher-Weberknecht und der Holophyg.
Der Weberknecht, ein langbeiniges Spinnentier, macht im Sommer Jagdausflüge auf
den Gletscher. Die winzige Beute schnappt
er mit seinen Zangen und verschluckt sie
als Ganzes. Vom Fabelwesen Holophyg
dagegen berichtet der Schriftsteller Hugo
Loetscher: «Als sich die Erdpole verschoben und die Eiswüsten auch in die gemässigten Zonen vordrangen, wuchsen
dem Holophyg auf der Unterstirn jene
Spürhaare, dank deren Schwingungen er
Gletscherflöhe orten kann.» Um sie alsdann zu verschlingen, ist anzunehmen. ■
Natürlich | 11-2003 27
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