Neue Z}rcer Zeitung ZEITFRAGEN Samstag, 29.01.2000 Nr.24 99 Spielarten der Astrologie Gibt der Blick in die Sterne Aufschluss über das Schicksal? Von Lukas Girtanner, dipl. Astrologe, Pfäffikon (ZH) Die Astrologie ist der Glaube an den Symbolgehalt von Himmelskörperkonstellationen. In der heutigen Astrologie werden hauptsächlich die momentanen Lageorte von Sonne, Mond, Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun, Pluto und die Ausrichtung der Mondknotenlinie in einem Horoskop in dreifacher Weise dargestellt. Die Planetenpositionen in den zwölf Tierkreiszeichen symbolisieren die psychologische Veranlagung des Horoskopeigners, die Planetenstellungen in den zwölf Häusern die Beeinflussung durch die Umwelt, etwa die Erziehung. Zudem stehen die Winkel zwischen den Planeten für Wechselwirkungen zwischen denselben. Es bestehen systematische Analogien zwischen Planeten, Zeichen, Häusern und Winkelbeziehungen: Jedes Haus ist beispielsweise einem Tierkreiszeichen zugeordnet. Die Astrologie versteht sich nicht nur als bildhaftes, sondern auch als logisches Symbolgebäude, da das Analogiedenken zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos auch auf das astrologische System selbst übertragen wird. Blick in die Geschichte der Astrologie Die Sumerer und Altbabylonier betrieben mit den zwölf Ekliptiksternbildern Mundan-Astrologie (Prognosen nur für den König und den Staat). 450 v. u. Z. stellten die ebenfalls mesopotamischen Neubabylonier erstmals das Horoskop einer Einzelperson auf, was den Anfang der individuellen Astrologie und die Erfindung des Aszendenten markiert. Auch im griechischen Kulturraum entwickelte sich zuerst unabhängig eine eigene Himmelskunde: Pythagoras führte im 6. Jahrhundert v. u. Z. den Begriff der Sphärenharmonie ein, welcher von Plato später ausgebaut wurde. Bereits bei Aristoteles (im 4. Jahrhundert v. u. Z.) steuern die in einer Sphärenharmonie stehenden Gestirne als höhere Ursachen die irdische Materie und Form und sogar den Menschen, welcher im Universum den Platz nach den Himmelskörpern, die wie er intelligent und beseelt waren, einnahm. Der Hellenismus vereinigte die Interpretationskenntnisse der Neubabylonier bei den Gestirnskonstellationen mit der griechischen Philosophie und löste in seinem Kulturraum eine Hochblüte der Astrologie aus. Im 2. Jahrhundert v. u. Z. entdeckte Hipparch die Verschiebung des Frühlingspunktes, welcher sich damals am Anfang des Sternbilds Widder befand, in bezug auf den Sternenhimmel auf Grund der heute bekannten Erdachsenpräzession. Der Frühlingspunkt erhielt den Namen «Widderpunkt». Wie der Frühling Symbol für den Jahresanfang ist, wurde und blieb der «initiative» Widder Symbol für den Beginn des Tierkreises. Denn die Astrologen richteten die Planetenpositionen von da an nicht mehr an den tatsächlichen Sternen, sondern an den mathematisch-theoretischen Gebilden der Tierkreiszeichen aus, ohne die Verschiebung des Frühlingspunktes in das Sternbild Fische (und bald Wassermann) zu berücksichtigen. Nach dem Untergang des Weströmischen Reichs wurde das astrologische Wissen vor allem von den Arabern übernommen, welche die Astrologie ganz im Sinne der aristotelischen Tradition sogar als «Herrin der Naturwissenschaften» etablierten. Als das arabische Wissen im 12. Jahrhundert im christlichen Abendland rezipiert wurde, feierte auch dort die Astrologie ihren Siegeszug: Sie wurde zu einem unanfechtbaren Bestandteil der Theologie und Philosophie, an © 2000 Neue Zürcher Zeitung AG Universitäten gelehrt und von Denkern wie Albertus Magnus und Thomas von Aquin vertreten. Abwertung und Neubewertung Die Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts wertete die Astrologie als wissenschaftlich nicht haltbare Lehre ab. Erst zu Beginn unseres Jahrhunderts wurde die immer noch rein determinierende Astrologie zuerst in England wieder einer breiten Öffentlichkeit bekannt, in der Zwischenkriegszeit auch in Deutschland, wo sie sich allmählich mit tiefenpsychologischem Gedankengut anreicherte. Auch C. G. Jung, welcher unauffällig Astrologie betrieb, verlieh ihr mit seiner Synchronizitätslehre (akausale Verbindung zwischen gleichzeitigen Phänomenen) eine ganzheitliche Dimension. Die heutige Astrologie ist somit eine Synthese aus der determinierenden Astrologie und der Psychologie des 20. Jahrhunderts, wobei sich das Verhältnis der beiden Pole in den letzten Jahrzehnten immer stärker zugunsten der Psychologie verlagert hat. In das 20. Jahrhundert fallen auch die vergeblichen Versuche, die Astrologie wissenschaftlich zu beweisen, sei es mit einer astronomisch-physikalisch-biologischen Einflusstheorie, gestützt auf Beobachtungen wie die Gezeiten und Biorhythmen, oder mit Hilfe der Statistik (Paul Choisnard, in der Nachkriegszeit Michel Gauquelin). Doch da die Erkenntnisse der theoretischen Physik den Absolutheitsanspruch des mechanistischen Weltbilds relativieren, erhält die Astrologie einerseits Freiraum, andererseits sogar (wenn auch vage) Beweisführungsmöglichkeiten der Quantenmechanik, die zugunsten der Astrologie ausfallen (Unschärferelation von Werner Heisenberg; «Implizite Ordnung» von David Bohm, welche wiederum mit ihrer Ganzheitlichkeit mit Jungs Synchronizitätslehre korrespondiert). Theoretische Physiker wie Capra versuchen in der Nachkriegszeit, der New-Age-Bewegung ein wissenschaftliches Gepräge zu geben. Auftrieb dank New Age Die New-Age-Bewegung, deren Name den Glauben an die Neuerungen des anbrechenden Wassermannzeitalters umfasst und sich somit eines astrologischen Terminus bedient, lässt ihrerseits esoterisches Gedankengut in die Astrologie einfliessen: Die Astrologie selbst wird als typisch «wassermännische», das heisst fortschrittliche Lehre bezeichnet. Die psychologischen Astrologierichtungen werden teilweise mit esoterischem Gedankengut ergänzt, um die Astrologie noch weiter von ihrer determinierenden Wirkung zu befreien, ganz im Zeichen des modernen Individualismus. Auch die heutigen, mit künstlicher Intelligenz erstellten Persönlichkeitsanalysen von Astrodata (Zürich) und Astrodienst (Zollikon) bemühen sich um eine möglichst psychologische, den Leser nicht determinierende Sprache. Die Astrologie passt sich (nach ihrem absoluten Schicksalsglauben des arabischen Mittelalters) in ihrer Ausprägung dem Individualismus unserer Zeit an. Die gleiche Flexibilität entfaltet sie auch gegenüber dem Individuum, welches einerseits die astrologische Richtung, andererseits die ihm am ehesten entsprechenden Horoskop-Faktoren auswählen kann: Jedes Individuum hebt somit diejenigen Strukturen in der Astrologie hervor, welche ihm am ehesten entsprechen. Gerade ihre Flexibilität sowohl auf der individuellen als auch auf der kollektiven Ebene ist einer der wichtigsten Gründe für den Erfolg der Astrologie. Der Umgang mit der Astrologie lässt auch wieder Rückschlüsse auf den Anwender selbst zu: Wirft er alle Inhaber eines bestimmten Zeichens in einen Topf, oder lässt er ihnen ihre individuelle Freiheit? Gründe für die Skepsis Es trifft zu, dass die Aussagekraft der Astrologie gesamthaft statistisch noch nie bewiesen werden konnte, obwohl Teilbeweise nach Meinung von wenigen Experten geglückt sind. Doch die statistischen Teilbeweise widersprechen sich oft diametral: Michel Gauquelin, welcher nach Meinung vieler Astrologen methodisch bisher am besten vorgegangen ist, kommt zum Schluss, dass nur die Planeten und nicht die Tierkreiszeichen signifikante Übereinstimmungen etwa mit der Berufswahl hätten; das 1997 erschienene Buch «Die Akte Astrologie» besagt aber, dass gerade die Tierkreiszeichen (Sonnenstellung) hochgradige Signifikanzen zum Beispiel bei Konsumverhalten oder Partnerwahl aufweisen. Die Zwillingsforschung ist möglicherweise in der Lage, die Frage nach der statistischen Beweisbarkeit rasch zu beantworten. Weitere skeptische Fragen an die Astrologie lauten: «Wie können derart weit entfernte Körper im Vergleich zu näher liegenden Gegenständen einen Gravitationseinfluss auf uns ausüben?» – «Warum haben die Planeten nur während eines kurzen Moments einen Einfluss auf den Menschen, und warum wird überhaupt die Geburt und nicht die Zeugung als prägender Moment angesehen?» Diese berechtigten Fragen können aus heutiger wissenschaftlicher Sicht nicht beantwortet werden. Entweder widerlegen sie die Astrologie vollständig, oder die Wissenschaft kennt die dahinterliegenden Phänomene noch nicht. Immerhin muss festgehalten werden, dass die allgemeine Wirkung der Himmelskörper auf irdische Phänomene wie die vom Mond abhängigen Gezeiten offensichtlich ist. Bei Kollektivprognosen, wie sie in populären Astrologiebüchern gestellt werden, ist zudem eine Unschärfe zwischen der individuellen Sonnenstellung im jeweiligen Tierkreiszeichen und der Tierkreiszeichenmitte (beziehungsweise der Tierkreiszeichen-Dekadenmitte) nicht zu vermeiden. Wenn ein Sonnenlöwe beinahe schon ein Jungfraugeborener ist, ergibt sich eine doppelt fragliche Interpretation: Bei seiner Charakterbeschreibung hat er erstens nur seinen Sonnenstand berücksichtigt, welcher sogar bereits jungfrauenhafte Eigenschaften aufweist, und die Randstellung seiner Sonne im Tierkreiszeichen macht jede Zeitschriftenprognose für ihn nahezu unbrauchbar. Ein überaus berechtigter Vorwurf betrifft die heutzutage immer noch praktizierte, oft schwarzmalende, prognostische Astrologie sowie die charakterdeterminierende Astrologie: Negative Prognosen setzen ebensolche Erwartungen und Gedanken frei, welche dadurch schlimmstenfalls durch Autosuggestion auch eintreffen, und schüren Angst und Abhängigkeit vom Astrologen. Was vermag die Astrologie? Die heutige psychologische Astrologie entfaltet ihre Qualitäten nicht in der Statistikabteilung oder im Biophysiklaboratorium, sondern hauptsächlich bei der Lebensbewältigung: Sie ist bildhaft, und ihr systematisches Analogiedenken ist rasch zu erlernen. Dennoch kann die astrologische Selbst- Blatt 1 Neue Z}rcer Zeitung erfahrung nicht nach dreissig Wochenendseminaren als abgeschlossen betrachtet werden: Das Horoskopbild prägt sich zwar relativ rasch ins Unterbewusstsein ein, wo schwierige Horoskopkonstellationen kaum beachtet, sondern nur die in einer Person ohnehin vorhandenen Fähigkeiten bestärkt werden. Die Astrologie kann als bildhafte, hocheffiziente Selbstprogrammiersprache bezeichnet werden. Bei dem Astrologie Betreibenden verliert sie kaum je an Attraktivität, weil sie sich mit seiner Persönlichkeit weiter entwickelt. Sie eröffnet ihren Benutzern tiefe Einblicke in ihr Unterbewusstsein und führt zu einer relativen Selbsterkenntnis. Ausgerechnet dieser Aspekt der Astrologie war noch nie Gegenstand einer psychologischen Untersuchung, obwohl gerade der individuell-subjektive Charakter der Astrologie zu ihrem mehrtausendjährigen Überdauern © 2000 Neue Zürcher Zeitung AG ZEITFRAGEN und ihrem auch in der heutigen Zeit regen Zuspruch beigetragen hat. Vielleicht sind es gerade die offensichtliche Subjektivität und die Nichtbeweisbarkeit der Astrologie, die ihre ungebrochene Beliebtheit erklären. Denn der Mensch neigt zu irrationalem Verhalten, für welches freilich ein rational begründbarer Lustbefriedigungsmechanismus ins Feld geführt werden kann. Entspricht die Astrologie also einem urmenschlichen Bedürfnis? Ist die Astrologie vielleicht sogar ein ehrliches Zugeständnis an die Unvollkommenheit unserer Erkenntnis und ein Streben nach Vollkommenheit in der Existenz? Liegt nicht auch dem Glauben an Gott ein ähnlicher irrationaler Mechanismus zugrunde, wenn man vom rationalen Gottesbeweis absieht? Die Astrologie könnte einen wertvollen Beitrag leisten, diese Frage zu beantworten, weil die psychologischen Auswir- Samstag, 29.01.2000 Nr.24 99 kungen des Astrologieglaubens möglicherweise messbarer sind als diejenigen des Gottglaubens. Um den fraglichen Versuch zu unternehmen, die Astrologie zu beweisen oder ihre psychologischen Auswirkungen mit wissenschaftlicher Methodik zu analysieren, wäre eine verstärkte Offenheit zwischen Wissenschaftern und Astrologen wünschenswert. Immerhin bekannte ein Physiker und Astronom: «Ich glaube nicht an die Astrologie, aber ihre Resultate sind verblüffend.» Literatur: Gauquelin Michel: The Truth about Astrology (Oxford 1983); Huber Bruno: Astrologie-Glossarium (Adliswil/Zürich 1995); Peat F. David: Synchronizität, die verborgene Ordnung (Bern, München, Wien 1989); Weiss J. C.: Astrologie – Eine Wissenschaft von Raum und Zeit (Wettswil 1987). Blatt 2 Neue Z}rcer Zeitung ZEITFRAGEN Samstag, 29.01.2000 Nr.24 99 Auswahl von Fachausdrücken Mondknotenlinie: Schnittlinie zwischen der Ekliptikebene und der Mondbahnebene, welche 5.15º gegeneinander geneigt sind. Die Wichtigkeit der Mondknotenlinie in der Astrologie erklärt sich astronomisch aus ihrer Beteiligung bei Sonnen- und Mondfinsternissen. Häuser: Erdgebundenes, astrologisches System, welches sich in 24 Stunden einmal durch den Tierkreis dreht. Der Beginn des Häusersystems wird Aszendent genannt und liegt immer am östlichen Horizont. Die Häuser 1–6 liegen stets unter dem Horizont, die Häuser 7–12 über dem Horizont. Es werden heute hauptsächlich das Placidus- oder das Koch-Häusersystem verwendet, bei welchen die Häuser 2, 3, 5, 6, 8, 9, 11 und 12 leicht differierende Positionen haben. Ekliptiksternbilder: Die 13 auf der Ekliptik stehenden Sternbilder Widder, Stier, Zwillinge, Krebs, Löwe, Jungfrau, Waage, Skorpion, Schlangenträger, Schütze, Steinbock, Wassermann, Fische. Ekliptik: Erdbahnebene. Vom erdgebundenen Himmelsbetrachter aus gesehen die jährliche Bewegung der Sonne durch die Ekliptiksternbilder beziehungsweise Tierkreiszeichen. Tierkreiszeichen: 30º breiter Abschnitt des Tierkreises, welcher nach den Ekliptiksternbildern benannt ist (Schlangenträger fehlt). Tierkreis: Unterteilung der Ekliptik in 12 gleich grosse Abschnitte, die Tierkreiszeichen. Frühlingspunkt: Sonnenposition bei der Frühlings-Tagundnachtgleiche. Erdachsenpräzession: Kreiselbewegung der Erdachse in 25 700 Jahren um eine senkrecht zur Ekliptik stehende Achse, wodurch sich, vom erdgebundenen Betrachter aus gesehen, der Frühlingspunkt in der Ekliptikregion in etwa 2000 Jahren um 1 Sternbild verschiebt. Determinierende Astrologie: Konkrete Ereignisse prognostizierende und konkrete Charaktereigenschaften festlegende Astrologie. © 2000 Neue Zürcher Zeitung AG Blatt 1