Unbewusste Informationsverarbeitung Referat Universität Hamburg Fachbereich Erziehungswissenschaft Seminar: Intuition und Reflexion Prof. Mielke, Prof. Gebhard Sommersemester 2005 vorgelegt von:! Matrikel-Nr.:! Leonardo Quintero 5367011 ! ! ! ! ! Wasmannstr. 39 22307 Hamburg Fon.: (040) 6979 0372 Fax: (040) 6979 7010 [email protected] Hamburg, 25.03.2006 1. EINLEITUNG Die vorliegende Arbeit ist eine Verschriftlichung des Referates über unbewusste Informationsverarbeitung im Rahmen des Seminars “Intuition und Reflexion” der Pädagogischen Psychologie und der Biologie-Didaktik. Im Gegensatz zu einer Hausarbeit verfolge ich nicht das Ziel einer punktuierten wissenschaftlichen Fragestellung, sondern versuche einen Überblick zu geben über die Forschungsstände in Psychologie, Psychoanalyse und Kognitionswissenschaften zum Thema unbewusste Informationsverarbeitung des Menschen. 2. BEWUSSTSEIN - EINE BEGRIFFS(ER)KLÄRUNG Bereits im Jahr 1885 hat sich der Psychologe Hermann Ebbinghaus mit verschiedenen Erinnerungsprozessen des Menschen beschäftigt. Seine Arbeit gilt als Grundstein in der experimentellen Forschung des Gedächtnisses und ist, zusammen mit den Werken vieler namenhafter Autoren wie Sigmund Freud oder Georg Groddeck, eine erste Theorie zur Erforschung des menschlichen Denkapparates, die sowohl medizinische und biologische Erkenntnisse mit einbeziehen, als auch auf experimentelle Daten zurückgreift. Ebbinghaus erforschte strategische Prozesse des willkürlichen Reproduzierens und der impliziten Gedächtniseffekte. Er untersuchte das Phänomen, dass Prozesse nach Jahren, scheinbar ohne jedes Zutun, ins Bewusstsein zurückkehren. Eine seiner ersten Schlussfolgerungen war, dass Prozesse gar nicht oder wenigstens nicht zum erwarteten Zeitpunkt des Erlernens ins Bewusstsein gelangen. Gedächtnisprozesse bestünden vielmehr in der Erleichterung des Eintritts und Ablaufs ähnlicher Vorgänge. Was damals noch als unglaublich und angsteinflößend galt - der Mensch als vorbestimmtes, nicht durchschaubares Rätsel - ist heute Grundlage der Kognitionswissenschaften, die sich vielfach mit der Schnittstelle zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein beschäftigen. Welches sind die Kriterien, die unbewusste von bewussten Prozessen unterscheiden? Und, etwas pragmatischer gefragt, wie können wir uns das Wissen um unbewusste Informationsverarbeitung zu Nutze machen? Eine Frage, die nicht zuletzt im Zusammenhang mit Bildung und Lernleistungen in der Schule immer wichtiger wird. 3. WAS TRENNT UNBEWUSSTES VON BEWUSSTEM Sigmund Freud (1856-1939) unterschied in seiner Betrachtung der menschlichen Psyche vier Teilbereiche, die sich durch eine unterschiedliche Qualität von Bewusstsein voneinander abgrenzen. Zum einen gibt es das Ich, das Bewusstsein, welches Prozesse kontrolliert und steuert. Weiterhin gibt es das Vorbewusste, welches neben seelischen Inhalten, die momentan nicht im Bewusstsein sind, jedoch wieder bewusst gemacht werden können, genau die Grauzone zu erfassen versucht, welche zwischen Bewusstem und Unbewusstem existiert. Das Unbewusste wiederum enthält jene seelischen Inhalte, die trotz willentlicher Anstrengung nicht ins Bewusstsein gerufen werden können. Schließlich unterscheidet er noch das Über-Ich, welches ein kulturelles Bewusstsein darstellt und vom Verständnis nicht isoliert im Kopf eines einzelnen Menschen existieren kann, sondern eher als eine Art Kollektiv begriffen werden muss, welches dem einzelnen Menschen zugängig ist. Diese Differenzkriterien benutzte Freud für seine späteren Werke der Psychoanalyse, die sich - um es in außerordentlicher Kürze auszudrücken - im Wesentlichen mit der Bewusstmachung von unbewussten seelischen Inhalten beschäftigte. Seine “Redekuren”, wie er die Therapiestunden der Psychoanalyse nannte, sollten den Patienten unter Anleitung dazu bewegen, unbewusste und unterdrückte Verhaltensmuster und Seeleninhalte erstens zu verbalisieren um sie zweitens aktiv beeinflussen zu können. Doch seine Ansätze blieben nicht kritiklos, so schrieb Pierre Janet, ein Experimentalpsychologe, der mit Hypnosetherapien ähnliche Erfolge zu verbuchen hatte, über Freuds Modell der Psychoanalyse: „But we cannot accept this explanation (the concept of repression) simply because it may be possible.“ 1 Seiner Auffassung nach wäre es ebenso möglich, dass Patienten eine Situation so erleben, wie der Psychoanalytiker es vorausgesagt hat, woraufhin der Schmerz, bzw. das psychische Problem gelindert wird. Die Theorie der Unterdrückung des Unbewussten blieb nicht wissenschaftlich überprüfbar, da der Heilungserfolg nicht reproduzierbar ist. Was bleibt, ist die Sensibilisierung, zwischen unbewussten und bewussten Inhalten der menschlichen Psyche zu unterscheiden. Durch Beobachtungen verschiedener Krankheiten und Verhaltensauffälligkeiten gelingt es, Rückschlüsse auf eine gesunde menschliche Psyche zu ziehen. Um ein Beispiel zu nennen, hat man Patienten mit extremen Schlafentzug beobachtet und festgestellt, dass bestimmte Bereiche des Bewusstseins nicht mehr korrekt funktionierten. Nach 136 Stunden Wachsein konnten die Probanden eine ihnen gestellte Aufgabe noch zur Zufriedenheit ausführen, erkannten jedoch ihnen vertraute Personen (Freunde, Verwandte) nicht wieder.2 Offensichtlich hatten sie die ihnen gestellte Aufgabe so internalisiert, dass ihre Informationsverarbeitung durch den massiven Schlafentzug nur noch auf diese Prozesse beschränkt war. Diese wenigen Handlungsabläufe wurden jedoch weiterhin unbewusst korrekt ausgeführt. Ohne diese Internalisierung von Prozessen und Verlagerung von Verarbeitung aus dem Bewussten ins Unbewusste, wären viele Handlungsabläufe nur schwer denkbar, bzw. unmöglich. Ein Beispiel: Während man beim Erlernen des Autofahrens noch die volle Konzentration aufbringen muss, um 1 2 Janet, Pierre, 1915, zitiert in: PERRIG 1993, S. 15. Es handelt sich hierbei um den Versuch, in das Guinnes-Buch der Rekorde im Dauerjassen zu kommen. Jassen ist ein vor allem in der Schweiz verbreitetes Kartenspiel. Nach über 3 Tagen ohne Schlaf konnten die Spieler zwar noch korrekt weiterspielen, erkannten aber ihre eigenen Eltern und Freunde nicht wieder. Quelle: PERRIG 1993, S. 10. die Bedienung des Wagens aber auch die Verkehrsregeln korrekt zu befolgen, ist nach einer jahrelangen Gewöhnung ans Autofahren kaum noch Konzentration vonnöten, um nicht gleichzeitig Auto zu fahren, mit dem Mobiltelefon zu telefonieren oder sich mit dem Beifahrer zu unterhalten. Je mehr Prozesse dabei unbewusst ablaufen (nahezu niemand denkt nach jahrelanger Übung noch über die Bewegung seiner Füße oder Hände beim Autofahren nach), desto “freier” wird der Kopf für andere Aufgaben. Versucht man die Anteile von bewusst und unbewusst gesteuerten Prozessen zu vergleichen, könnte man von der Spitze des Freudschen Eisberges sprechen, die aus dem unerforschten Meer der Informationsverarbeitung herausragt. Nach neuerer kognitionspsychologischer Sicht entspräche der Anteil des Bewusstseins jedoch eher einem Schneeball, der auf einem Eisberg ruht. Nach Meinung der Autoren Perrig, Wippich und Perrig-Chiello ist jedoch „Die Psychologie […] weit davon entfernt, ein ausgearbeitetes Bewusstseinskonzept, das konsensfähig wäre, vorlegen zu können.“ 3 Vor allem die Differenzkriterien, Bewusstes von Unbewusstem unterscheiden, variieren je nach Autor und beabsichtigter Erkenntnis. Die Diskussion erlangt in letzter Zeit jedoch eine Veränderung, seitdem sich die Neurowissenschaften aktiv an der Suche nach menschlichen Bewusstseinszuständen beteiligen. So könnten beispielsweise verschiedene, mit Detektoren und Computertomographien messbare aktive und passive Zustände des Gehirns als Differenzkriterium in Frage kommen. 4. UNBEWUSSTE UND BEWUSSTE PROZESSE Anknüpfend an der Terminologie einiger Neurowissenschaftler kann man zunächst zwei Arten von geistigen Prozessen im Gehirn unterscheiden. Zum einen langsame, reflektierte und zum anderen schnelle, automatische Prozesse, die in alltäglichen Situationen überwiegen - wobei zu beachten ist, dass Reflexion und Kontrolle nur winzige Elemente des viel komplizierteren und aufwendigeren psychischen Gesamtprozesses erfassen. Doch wenn man diese Unterscheidung aufrecht erhalten will, wäre das Bewusstsein physikalisch lokalisierbar in dem Assoziativen Cortex und der Großhirnrinde. Diese Auffassung deckt sich u.a. mit der von Marcel (1988), der Bewusstseinsstufen wesentlich in nonreflektierte und reflektierte unterschied.4 Ebefalls vom Gehirn mit seinem vielschichtigen Aufbau sind Atkinson und Shiffrin (1970) ausgegangen, die im Wesentlichen Gedächtnisleistungen als Indikatoren für Bewusstsein heranzogen. So lokalisieren sie bewusste Verarbeitungsprozesse im Kurzzeitspeicher (Arbeitsgedächtnis) des Gehirns, un- und vorbewusste Informationen im Langzeitgedächtnis der Großhirnrinde. Dem entspricht auch der Ansatz Tulvings (1985), der zwischen vier verschiedenen Gedächtnisleistungen unterschied (Wissensgedächtnis, Autobiografisches Gedächtnis, Anoetisches Gedächtnis und Nicht auf Erkenntnis basierendes, prozedurales Gedächtnis). 3 PERRIG 1993, S. 16. 4 Zu den Ausführungen über Marcel, Atkinson, Shiffrin, Tulving und Oatley siehe Perrig 1993, S. 26f. Schließlich teilt Oatley (1988) die menschliche Informationsverarbeitung in vier Stufen ein, die aufeinander aufbauend, als Differenzkriterium verschiedener Bewusstseinsarten dienen können. Die erste Stufe beinhaltet zunächst nur das Gewahrsein sensorischer Informationen, worauf in der zweiten Stufe das konstruktive Bewusstsein ansetzt. Dieses konstruktive Bewusstsein erfährt eine erweiterung in der dritten Stufe, dem Selbst-Bewusstsein, welches es dem Individuum ermöglicht, sich von seiner Umwelt abzusetzen. Die vierte und letzte Stufe nimmt schließlich das Bewusstsein von sich selbst in Bezug auf andere ein, die für Erfahrungen wie Selbstwirksamkeit auf andere Individuen unerlässlich sind. Wie ich versucht habe im vorigen Absatz deutlich zu machen, könnte diese Liste sehr weit fortgeführt werden. Letzten Endes ist die Kognitionswissenschaft stetig um eine Verfeinerung eben genau dieser Begrifflichkeiten bemüht. 5. MENSCHLICHE INFORMATIONSVERARBEITUNGSPROZESSE Um unbewusste Informationsverarbeitung zu erklären, halte ich es für notwenig, ein wenig darauf einzugehen, wie ein bewusst gesteuerter Prozess aussehen könnte. So könnte man schließlich aus dem Pool der bekannten Verarbeitungsmechanismen des menschlichen Denkapparates jene herausfiltern, die offensichtlich nicht bewusst ablaufen. 5.1. Bewusste Verarbeitungsprozesse Zunächst ist festzuhalten, dass Bewusste Zustände, sei es aktives Lernen oder ein bewusst gesteuerter, prozeduraler Ablauf, in ihrer Erlebnismodalität verschiedenartig sind. Sie unterscheiden sich meist durch den Grad an Aufmerksamkeit für ein Objekt und konzentrieren sich stets auf andere verschiedene Inhalte. Den bewussten Zuständen ist jedoch gemeinsam, dass die Inhalte als Vorstellungen und innere Wörter erlebt werden, die in einem Kausalzusammenhang stehen. Darüber hinaus weist Bewusstsein eine Beziehungsstruktur auf zu Hintergrundzuständen, die nicht bewusst sind. Man kann dieses in etwa vergleichen mit einer Art zentralem Prozessor (exekutives Bewusstsein), der alle anderen mentalen Zustände steuert und bei Bedarf vorbewusste Erinnerungen ins aktive Gedächtnis, ins Bewusstsein rufen kann. 5.2. Unbewusste Verarbeitungsprozesse Dem gegenüber stehen die unbewussten Verarbeitungsprozesse, die sich gerade dadurch auszeichnen, dass kein zentraler Prozessor die Art der Wissensrezeption steuert. Ebenfalls scheint sich eine unbewusste Informationsverarbeitung an der menschlichen Aufmerksamkeit vorbeizuschleichen und gerät dadurch nicht ins Bewusstsein - weder situativ, noch generell, d.h. sie kann nie durch eine Bewusstmachung ins Gedächtnis gerufen werden. Als wohl prominentestes Beispiel für eine unbewusste Informationsverarbeitung gilt ein sog. Priming-Experiment, bei dem eine unterschwellige (subliminale) Informationsübermittlung in Form von Bildern unterhalb der Rezeptionsschwelle von 300 Milisekunden einem Zuschauer in einem Kino vorgeführt wird. James Vicary behauptete 1957, dass er durch Manipulation von Kinofilmen und dem Einsetzen von Bildern mit Sprüchen wie “Trink Coke!” oder verführerischen Abbildungen köstlicher Erfrischungsgetränke eine Art unterschwellige Werbung geboren hätte und versprach Umsatzsteigerungen in Millionenhöhe. Eine Hysterie setzte ein, die in Musikaufnahmen der Beatles unterschwellige Manipulationen entdeckt haben wollte, wenn man die Platten rückwärts abspielen lassen würde. Zwar ist es bis zu einem gewissen Teil durchaus möglich, den Menschen durch eben dieses “Priming” zu beeinflussen, aber der versprochene Erfolg der unterbewussten Werbung und manipulierenden Botschaften ist weit überschätzt. Später stellte sich heraus, dass der demonstrierte Effekt des Vicary-Experiments überdies ein Betrug war, er hatte die Probanden vorher instruiert und für ihre “Reaktionen” bezahlt. Nach dem, was bisher (in aller Kürze) angesprochen werden konnte, basiert menschliche Informationsverarbeitung auf parallel operierenden, spezialisierten und über ein Verarbeitungssystem verteilten Arbeitseinheiten, die gar nicht, oder nur begrenzt in Subsystemen untereinander interagieren. Perrig und Wippich sprechen in diesem Zusammenhang auch von “Modulen”, welche durch Integrations- und Konstruktionsprozesse verschiedene Bewusstseinszustände zur Folge haben. Eine modernere, neuropsychologische Klassifikation ähnelt der von Perrig / Wippich, die von “neuronal assemblys”, anstatt von “über das System verteilte Arbeitseinheiten (Module)” spricht. Als Arbeitsgröße werden die Synapsen des menschlichen Gehirnes angenommen, die im Gehirn als neuronalem Netzwerk direkt oder über wenige Knoten mit jeder anderen Synapse verknüpft sind. Dazu kommt die Erkenntnis, dass das Gehirn in Zentren organisiert ist, die bestimmte Aufgaben vorherrschend übernehmen, wie z.B. das Seh-, Sprach- oder Hörzentrum, wodurch sich die Theorie von begrenzt interagierenden Subsystemen erhärtet. Eine bewusste, aktive Informationsverarbeitung ist demnach gar nicht mehr denkbar, sondern muss einem unbewussten Prozess überlassen werden, nämlich dem Herstellen von Verknüpfungen in Form von Nervenbahnen (Dendriten, Axonen). Nach heutigem Forschungsstand weiß man dass die Konstruktion solcher synaptischen Verknüpfungen stets mit einer Aktivität einer anderen Hirnregion verbunden sind, dem Hippocampus. Dieses verleitet einen leicht dazu, die provokante These aufzustellen, dass alles “was mit Bewusstsein zu tun hat” mit dem Hippocampus zusammenhängt. Das Bewusstsein könnte demnach einem Organ zugeschrieben werden - mehr noch: durch medikamentöse oder operative Behandlung könnte sogar ein künstlicher Bewusstseinszustand erreicht werden. Doch egal, wie weit man dieser These folgen möchte, unbewusste Informationsverarbeitungsprozesse überwiegen stets die Anzahl von bewussten Prozessen, die in unserem Gehirn ablaufen, seien sie nun mittels Hippocampus-Aktivität gemessen oder aufgrund von experimentalpsychologischen Beobachtungen belegbar. Sie sind stets eine Internalisierung von, im Idealfall, einmal gelernten Prozessen, die dazu beitragen, dass selbst komplizierteste Arbeitsabläufe (wie Autofahren oder Klavierspielen) nach einigem Üben wie von selbst und ohne unser scheinbares Zutun von Hand gehen.