Freund oder Feind? Blattläuse sind ein ganz besonderes Volk: Sie sind hoch spezialisiert, vermehren sich rasend schnell und brauchen dazu nicht einmal Männer. Doch ebenso schnell können ihre Kolonien wieder verschwinden. Text und Fotos: Siegfried Keller B lattläuse sind ungern gesehene Gäste, sei es auf dem Balkon, im Garten oder in landwirtschaftlichen Kulturen. Sie werden gewöhnlich nur mit Schäden in Verbindung gebracht. Diese Ansicht ist aber ihrer ökologischen Bedeutung überhaupt nicht angemessen. Weltweit gibt es über 5000 Arten, in Mitteleuropa sind es rund 400. Fast alle haben sich auf ganz bestimmte Wirtspflanzen 28 Natürlich | 4-2005 spezialisiert. Nur gerade 25 bis 30 Arten leben bei uns auf Kulturpflanzen und können als Schädlinge eingestuft werden. Verminderte Erträge Alle Blattläuse ernähren sich von Pflanzensaft. Mit ihrem feinen Saugrüssel durchstechen sie die äusseren Pflanzenzellen und zapfen direkt den Saftstrom an. Die meisten Blattlausschäden sind eine Folge des Saftentzuges, was Wachstum und Erträge vermindert. Einige Blattlausarten begnügen sich nicht nur mit Saftentzug, sie geben auch Speichel an die Pflanze ab. Die Folge sind gekräuselte oder eingerollte Blätter, im Extremfall gar vollständig abgeschlossene Hohlräume. Diese so genannten Gallen bieten ihren Bewohnern ausgezeichneten Schutz vor Feinden und Witterungs- Garten NATUR Erwachsen in 10 Tagen Der Frühlingsflug erfolgt in unseren Breiten von Mai bis Anfang Juni. In dieser Periode werden die Ackerkulturen, viele Gemüsearten, Beeren und Obstbäume besiedelt. Die günstigen Temperaturen bewirken, dass die Blattläuse innerhalb von 10 Tagen erwachsen sind und sich wieder vermehren können. Bis zur Ernte der Ackerkulturen können 4 bis 5 Blattlausgenerationen entstehen; die Blattläuse erreichen in dieser Zeit ihre höchste Populationsdichte. Die nun folgende Periode ist für sie die schlimmste. Die meisten Kulturen sind geerntet und auch die wilden Pflanzen bieten keine günstigen Ernährungsbedingungen mehr. Relativ wenige Tiere überleben und schaffen im September den Rückflug auf die Winterwirte, wo nochmals eine Vermehrung erfolgt. Milde Winter schaden Die Blattlauswespe sticht in Sekundenschnelle ein Ei in den Körper einer Blattlaus. einflüssen. Manche Blattlausarten sind gefürchtet wegen ihrer Fähigkeit, Erreger von Pflanzenkrankheiten zu übertragen. Im Frühling schlüpfen nur Weibchen In Mitteleuropa überwintern die Blattläuse als Eier. Sie werden im Spätherbst gelegt, vorzugsweise an Knospen von Büschen und Bäumen, in Rindenritzen oder an die bodennahen Teile von Gräsern und Kräutern (siehe auch Natürlich 11-2004 «Wie Insekten überwintern»). Sobald im Frühling die Knospen zu schwellen beginnen oder das Wachstum einsetzt, schlüpfen aus den Eiern die jungen Blattläuse. Es schlüpfen nur Weibchen. Wenn sie nach etwa 3 bis 4 Wochen ausgewachsen sind, beginnen diese so genannten Stammmütter mit dem Gebären weiterer junger Blattläuse. Die Eiphase wird übersprungen. Sobald ihre Wirtspflanzen verholzen, die Gräser und Kräuter ein bestimmtes Reifestadium erreichen oder die Kolonien zu dicht werden, reagieren die Blattläuse mit der Bildung von Flügeln. Nun packt sie die Wanderlust, sie heben ab und lassen sich mit dem Wind treiben. Ihre Reisedistanz kann bei günstigen Bedingungen Hunderte von Kilometern betragen. Am Ende der Reise gehts darum, die richtige Wirtspflanze zu finden. Für die Landung orientieren sie sich anhand von Farben, aber erst das Kosten von Pflanzensaft zeigt ihnen, ob sie auf der richtigen Pflanzenart sind oder nicht. Es folgt ein interessantes Phänomen: Ein Teil der Blattläuse wandelt sich zu Männchen-Müttern: alle ihre Nachkommen sind Männchen. Der andere Teil wandelt sich zu Weibchen-Müttern: ihre Nachkommen sind Eier legende Weibchen. Damit sie aber Eier legen können, müssen sie sich paaren. Blattlauseier sind im Verhältnis zu ihren Müttern gross, sodass die Weibchen mancher Arten nur 2 bis 3 Eier legen. Schlechte Überwinterungsbedingungen können diesen Arten arg zusetzen. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung sind nicht kalte, sondern milde Winter schlecht für Blattläuse. Dadurch hat der Embryo einen zu hohen Stoffwechsel und die Energievorräte sind erschöpft, bevor es Frühling ist. Enormes Vermehrungspotenzial Dank Jungfernzeugung und dem Gebären von Jungen haben Blattläuse ein enormes Vermehrungsvermögen. Im Lauf eines Jahres können Blattläuse etwa 10 bis 12 Generationen entwickeln. Je nach Art kann eine Blattlaus 50 bis 100 Nachkommen zur Welt bringen. Eine kurze Rechnung offenbart Unglaubliches: Bei 10 Generationen pro Jahr und bei 100 Jungen pro Weibchen ergibt das aus einer einzigen Blattlaus bis am Ende des Jahres die unvorstellbare Zahl von 100 000 000 000 000 000 000 Natürlich | 4-2005 29 NATUR Garten Dank Jungfernzeugung und dem Gebären voll entwickelter Junger können Blattläuse innert kurzer Zeit riesige Kolonien bilden. Nachkommen, was ungefähr einer Blattlausmasse von einer Billion Tonnen entspricht. Die Nahrungsmenge, die sie benötigt, braucht man sich gar nicht vorzustellen, sie hätten ihre Wirtspflanzen längst vernichtet. Glücklicherweise handelt es sich bei diesem Zahlenspiel um reine Theorie. Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus. Das riesige Vermehrungspotenzial ist vielmehr die einzige wirksame Waffe der Blattlaus, um ihr Überleben zu sichern. Dank ihrer Fähigkeit, innert kurzer Zeit riesige Fleischmengen zu produzieren, sind sie eine begehrte Beute unzähliger kleinerer und grösserer Tiere. Ein Teil hat sich auf den Verzehr dieser praktisch wehrlosen, weichhäutigen Geschöpfe spezialisiert, für andere stellen sie eine Gelegenheitsnahrung dar. Blattlausfeinde Zu den Spezialisten gehören die beliebten Marienkäfer. Im Volksmund haben sie zahlreiche Namen wie Himmelsgüügeli oder Herrgottschäfer. Tatsache ist, dass diese halbkugeligen, auffallend rotschwarz oder gelb-schwarz gezeichneten Käfer Unmengen von Blattläusen verzehren. Ein Siebenpunkt-Marienkäfer vertilgt im Laufe seines Lebens rund 3000 Blattläuse. Übrigens: Der SiebenpunktMarienkäfer ist kein ausgewachsener Zweipunkt-Marienkäfer. Die jugendlichen Marienkäfer sind unscheinbar graublau-schwarz und sehen einem Zwergkrokodil ähnlicher als ihren Eltern. Ihre Nahrung jedoch ist die gleiche. Andere Blattlausspezialisten sind Schwebfliegen. Sie sehen auf den ersten Blick aus wie Wespen oder Bienen, was wohl auch zu ihrem Schutz beiträgt. Ihr Name rührt von der Fähigkeit her, den Flug plötzlich stoppen und an Ort schweben zu können. Ausgewachsene Fliegen ernähren sie sich von Pollen und Nektar. 30 Natürlich | 4-2005 Nur im Herbst gib es Männchen und Sex. Ein geflügeltes Erbsenblattlausmännchen paart sich mit einem Weibchen, das anschliessend die überwinternden Eier ablegt. Garten NATUR Geburt einer Blattlaus Ihre Eier legen sie stets in Blattlauskolonien. Dank dieser Fürsorge finden die ausschlüpfenden Larven gleich einen reich gedeckten Tisch. Das ist auch notwendig, denn als typische Fliegenmaden haben sie weder Augen noch Beine. Ihre Opfer finden sie, indem sie sich langsam vorwärts bewegen und dabei mit dem Vorderkörper hin und her pendeln. Meldet ihr Tastsinn eine Blattlaus, so wird sie gleich mit den Mundhaken gepackt und ausgesaugt. Bis sie ausgewachsen ist, frisst sie rund 500 Blattläuse. Eine ähnliche Lebensweise haben die wesentlich kleineren Larven der Blattlaus-Gallmücken. Sie brauchen nur etwa 30 Blattläuse, bis sie ausgewachsen sind, dafür vermehren sie sich schneller und können auch in kleinen Blattlauskolonien überleben. Von innen ausgehöhlt Eine interessante Lebensweise haben die parasitischen Blattlauswespen. Sie gehören zu den Schlupfwespen. Der Name rührt daher, dass die ausgewachsenen Wespen aus dem Körper ihrer Opfer schlüpfen. Doch wie kommen sie dort hinein? Einfach, indem das Weibchen ein Ei in den Körper des Opfers einsticht. So einfach ist das aller- dings nicht, denn die betroffene Blattlaus wehrt sich heftig, allerdings meist vergeblich. Ist das Ei im Körper der Blattlaus, so schlüpft schon bald die Larve. Sie ernährt sich vorerst von Zellen ihrer eigenen Eihaut, die sich im Blattlausblut rasch vermehren, später frisst sie alle Organe der Blattlaus, die dabei richtiggehend ausgehöhlt wird und stirbt. Nun fixiert die unverdaulichen Stoffwechselprodukte ausgeschieden. Trotzdem ist es nicht ganz gerecht, den Honigtau dem Blattlauskot gleichzusetzen, da er einen hohen Anteil an zuckerhaltigem Pflanzensaft enthält. Honigtau wird nicht nur von Blattläusen produziert, sondern auch von anderen Pflanzensaftsaugern wie Schmierläusen, Weissen Fliegen, Foto: Josef Hättenschwiler Zikaden und Blattflöhen (Psyllen). Werden die Was ist Honigtau? Ausscheidungen nicht fortlaufend verwertet, so können sie zu grösseren Gebilden auskristallisieren. Solche können auch aus dem Blutungssaft von Bäumen entstehen. Sie werden unter dem Begriff «Manna» zusammengefasst. Dieser Name leitet sich von Mannose ab, einer Zucker- Blattläuse beziehen ihre Nahrung aus dem müssen sie Zucker im Überschuss aufnehmen. art, die in diesen Ausscheidungen reichlich Saftstrom der Pflanzen, den sie mit ihren Dieser wird aber nicht wie beim Menschen in vertreten ist. Zahlreiche Forscher vertreten die mikroskopisch feinen, zu Hohlnadeln umge- Form von Fett abgelagert; Blattläuse sind in Ansicht, dass es sich beim biblischen Manna, formten Mundteilen anzapfen. Der Saft enthält der Lage, den überschüssigen Zucker direkt der Moses und seine Gefolgschaft vor dem viel Zucker, aber sehr wenig Eiweiss. Damit aus dem Darm wieder auszuscheiden. Durch Hungertod bewahrte, um auskristallisierten Blattläuse ihren Eiweissbedarf decken können, die gleiche Körperöffnung werden auch die Honigtau handelte. Natürlich | 4-2005 31 Larve des Siebenpunkt-Marienkäfers frisst eine Blattlaus. Wespenlarve die Blattlaushaut an der Unterlage und verpuppt sich anschliessend im Innern. Nach wenigen Tagen schlüpft die ausgewachsene Wespe durch ein kreisrundes, selbst gefertigtes Loch im Rücken der Blattlausmumie. Alle Blattlauswespen sind Spezialisten, die sich nur in wenigen, meist nahe verwandten Blattlausarten entwickeln können. Ihre Lebensweise ist deshalb sehr stark an jene ihrer Wirte angepasst und auch Zahl und Länge der Generationen entsprechen jener der Blattläuse. Pilze machen Blattläusen den Garaus Neben diesen spezialisierten Blattlausfeinden gibt es alle Übergänge von weniger spezialisierten Blattlausräubern wie Florfliegenlarven, Blumen- und anderen Raubwanzen, räuberische Fliegen, Krabben- und Netzspinnen und Raubmilben bis zu den Gelegenheitsräubern wie Laufkäfer, Kurzflügelkäfer, Soldatenkäfer, Ohrwürmer und Kamelhalsfliegen. Nicht zu vergessen sind schliesslich auch die Insekten fressenden Vögel. Doch nicht nur räuberische Insekten oder Vögel dezimieren Blattlauskolonien. Sie leiden auch unter Krankheiten. Vor allem Pilzkrankheiten treten immer wieder seuchenhaft auf und können noch so grosse Blattlauspopulationen innert Wochenfrist töten. Ameisen geschäften mit Blattläusen Blattläuse sind aber nicht nur die Nahrung zahlreicher anderer Organismen. Als Produzenten des Honigtaus verköstigen sie Hunderte weiterer Insektenarten, daher sind sie von grosser ökologischer Bedeutung. Neben sehr vielen parasitisch 32 Natürlich | 4-2005 lebenden Wespen profitieren davon auch Fliegen, Käfer oder Bienen. Letztere sammeln Honigtau und machen daraus den Waldhonig. Der Name rührt davon her, dass die grossen Tannenläuse besonders viel Honigtau produzieren und deshalb für Honigbienen sehr attraktiv sind. Die Bienen finden diese Honigtautracht vor allem an Fichten und Weisstannen. Bei der Fichten-Quirlschildlaus zum Beispiel holen sie die Ernte direkt von der Laus. Bei den Ameisen ist dieser süsse Saft so beliebt, dass sie mit den Blattläusen richtiggehend ins Geschäft gekommen sind: Die Blattläuse liefern den Ameisen Honigtau, dafür werden sie von den Ameisen gegen Feinde geschützt und sogar auf neue Wirtspflanzen getragen. Diese Symbiose ist sehr wirksam, doch einige wenige Arten von Blattlauswespen und Schwebfliegen haben sich die richtige Duftnote angeeignet. Sie werden von den Ameisen nicht mehr als Feinde erkannt und können konkurrenzlos und unbehelligt ihren Opfern nachstellen. Ohrwürmer sind Gelegenheitsfeinde der Blattläuse. Da die Blattläuse den Honigtau aktiv ausscheiden, fällt er auf darunterliegende Pflanzenteile oder zu Boden. In guten Blattlausjahren kann es vorkommen, dass unter Bäumen eine klebrige Schicht entsteht. Daran ist zu denken, wenn man im Sommer sein im Schatten von Bäumen parkiertes Auto oder Fahrrad klebrig vorfindet. Es ist nicht das Werk von Vandalen, sondern das Resultat eines ganz natürlichen Vorganges, der einer grossen Insektengemeinschaft zugute kommt und nicht zuletzt auch zahlreiche Nützlinge fördert. ■ Tipps zur biologischen Blattlausbekämpfung Brennnesselsud Brennesseln pflücken, mit Wasser übergiessen, zugedeckt 2–3 Tage stehen lassen. Den Sud in eine Sprühflasche füllen. Vorsicht – je älter der Sud ist, desto mehr stinkt und wirkt er und kann dann die Pflanzen verbrennen. Neempräparate (auch Niem genannt) Bei stärkerem Befall hat sich die Verwendung von Neem-Präparaten als wirkungsvoll erwiesen. Extrakte des Neembaums sind rein biologischen Ursprungs und haben eine breitgefächerte Wirkung auf eine Vielzahl von Schädlingen, ohne Nützlinge zu gefährden. Anwendungsempfehlung auf den Verpackungen beachten. Neemsamen oder Neemtabletten sind in Ökoläden erhältlich. Schmierseifenlauge 100 Gramm Schmierseife auf 5 Liter Wasser plus 150 Milliliter Spiritus. In eine Sprühflasche abfüllen. Befallene Pflanzenteile gezielt behandeln. Achtung: Diese Präparate auf keinen Fall bei direkter Sonneneinstrahlung sprühen, da sonst die behandelten Pflanzen Verbrennungen erleiden. rbe