C U R R I C U LU M Schweiz Med Forum Nr. 25 18. Juni 2003 585 Das Urothelkarzinom Lorenz Jost Zusammenfassung Das Urothelkarzinom ist der häufigste Tumor der Harnwege und präsentiert sich in drei Entitäten, die je eine spezifische Therapie erfordern. In 75–85% der Fälle besteht ein nicht Muskel-invasives papilläres Urothelkarzinom (pTa, pTis, pT1), in 10–15% ein lokalisiertes Muskel-invasives Karzinom (pT2, pT3, pT4), in ca. 5% der Fälle ein bereits bei Diagnose metastasiertes Urothelkarzinom (N+, M+). Bei ersterem sind transurethrale Resektionen und im Verlauf oft eine Blaseninstillation mit BCG indiziert. Bei Muskel-invasivem lokalisiertem Stadium ist eine radikale Zystektomie noch Standard. Die exakte Rolle der adjuvanten bzw. neoadjuvanten Therapie ist noch offen, neueste Studien lassen aber doch eine klinisch relevante Wirksamkeit annehmen. Bei Metastasen vermitteln Chemotherapien Ansprechraten von >50% mit gutem palliativem Effekt, jedoch relativ geringem Überlebensvorteil. Schmerz- oder hämostyptische Bestrahlungen bieten eine lokale Palliation. Epidemiologie Die Inzidenz des Urothelkarzinoms beträgt in Europa total 20, die Mortalität 8,2 pro 100 000/Jahr. Männer weisen eine Inzidenz von 31,1 und eine Mortalität von 12,1 auf, während die Werte für Frauen bei 9,5 und 4,5 liegen. Dies entspricht beim Mann dem vierthäufigsten, bei der Frau dem siebthäufigsten Tumor. Das Auftreten vor 40 Jahren ist selten, und >70% werden nach 65 Jahren diagnostiziert. Ätiologie Korrespondenz: Dr. Lorenz Jost Medizinische Universitätsklinik Onkologie Kantonsspital CH-4101 Bruderholz/BL [email protected] Der Nikotinabusus führt zu einem zwei- bis vierfachen Risiko und ist beim Mann für die Hälfte, bei der Frau für ein Drittel aller Fälle verantwortlich. In Entwicklungsländern ist eine Schistosomiasis ein Risiko, in westlichen Ländern spielen eine fett- und fleischreiche Ernährung eine wohl eher geringe Rolle. Koffein, Süssstoffe und Harnwegsinfekte scheinen kein Risiko zu beinhalten, eine Vitamin-A-Substitution soll protektiv wirken. Früher war Phenacetin stark mit dem Urothelkarzinom assoziiert, heute gelten noch Zytostatika wie Cyclophosphamid (Endoxan) und Immunsuppressiva wie Azathioprin (Imurek) als Risiko. Wenige Urothelkarzinome sind jedoch durch diese iatrogenen Faktoren verursacht. Ähnliches gilt für die eher seltene Exposition gegenüber industriellen Giften (Benzidin, 2-Naphthylamin, 4-Aminobiphenyl) in der Farbenherstellung, Gummiindustrie und der Ledergerbung. Hereditäre und familiäre gehäufte Urothelkarzinome sind selten. Das mit Kolonkarzinomen assoziierte HNPCC-Syndrom (Hereditary Non-Polyposis Colon Cancer) ist mit einer defekten «mismatch repair» verbunden, führt zu einer genomischen Instabilität und ist bisher das einzig gesicherte, auch mit extravesikalen Urothelkarzinomen assoziierte Syndrom. Pathologie Über 90% der Blasentumoren sind epithelialen Ursprungs, wovon >90% auf Urothelkarzinome entfallen, der Rest auf Plattenepithel- und Adenokarzinome sowie selten auf kleinzellige Karzinome, die wie ein kleinzelliges Bronchuskarzinom behandelt werden. Die Urothelkarzinome entstehen zu >90% in der Harnblase, können aber auch im Nierenbecken (ca. 5% aller Nierentumoren), Ureter und in der Urethra vorkommen. Bei Urothelkarzinomen der oberen Harnwege wird in einem Drittel bis zur Hälfte der PatientInnen später ein Blasenkarzinom gefunden. Beim primären Blasenkarzinom entwickelt sich ebenfalls häufig ein multifokaler Prozess (Abb. 1), wobei intravesikale Implantationsmetastasen eines Erstmalignoms, aber auch metachrome Entwicklung multipler Tumoren in Betracht kommen. Die Bestimmung der Invasionstiefe und des histologischen Gradings haben eine wichtige prognostische Bedeutung (Tab. 1). Das Grading ist v.a. bei nicht-invasiven Tumoren wichtig, betragen doch die Rezidivraten bei G1-, G2- und G3-Histologie, 42%, 50% und 80%, die Progressionsraten zum Muskel-invasiven Stadium 2%, 11% und 45%. In der Erstabklärung wie in der Nachsorge spielt die Urinzytologie eine Rolle. Molekularbiologische Untersuchungen bleiben vorerst experimenteller Natur. Die Daten bezüglich chromosomalen Aberrationen, Onkound Tumorsuppressor-Genen sind nicht an grösseren Serien validiert, in kleinen Serien aber teils prognostisch sehr aussagekräftig. Mikrochip-Array-Untersuchungen könnten in C U R R I C U LU M Schweiz Med Forum Nr. 25 18. Juni 2003 586 Abbildung 1. Makroskopisch: multifokales papilläres Urothelkarzinom. Tabelle 1. TNM-Stadien des Blasenkarzinoms. Primärtumor TX Primärtumor kann nicht beurteilt werden T0 Kein Hinweis auf einen Primärtumor Ta Nicht-invasives papilläres Karzinom Tis Carcinoma in situ: bei flachen (nicht-papillären) Tumoren T1 Tumor infiltriert die Lamina propria T2 Tumor infiltriert die Muskulatur T2a Tumor infiltriert nur die oberflächliche Muskulatur (<50%) T2b Tumor infiltriert die tiefe Muskulatur (äussere Hälfte) T3 Tumor infiltriert das perivesikale Fettgewebe T3a Nur mikroskopische Infiltration des Fettgewebes T3b Makroskopische Infiltration / extravesikale Tumormasse T4 Tumor infiltriert Prostata, Uterus, Vagina, Becken- oder Abdominalwand T4a Tumor infiltriert Prostata, Uterus, Vagina T4b Tumor infiltriert die Becken- oder Abdominalwand Klinik Das Blasenkarzinom äussert sich in 80–90% der Fälle mit einer schmerzlosen Hämaturie. Kolikartige Schmerzen durch Koagel-bedingte Obstruktion kommen aber vor. Irritative Blasensymptome mit gehäuften Miktionen sind bei Muskel-invasiven Karzinomen häufige, Flankenschmerzen durch Hydronephrose und Niereninsuffizienz dagegen seltene Leitsymptome. Selten treten metastasenbedingte Knochenschmerzen oder Schmerzen im kleinen Becken bis inguinal infolge lokaler Tumorinvasion als Erstsymptom auf. Gewichtsverlust, Fieber und Leuko- sowie Thrombozytose deuten auf ein fortgeschrittenes Stadium hin. Die gelegentlich massive Leuko- und Thrombozytose werden vermutlich paraneoplastisch via Zytokinsekretion durch die Urothelkarzinomzellen verursacht. Lymphknotenmetastasen (LK) NX Regionale Lymphknoten nicht untersucht N0 Keine regionalen Lymphknotenmetastasen N1 Metastase in 1 LK, 92 cm im grössten Durchmesser N2 Metastase in 1 LK, >2–5 cm, Metastasen in multiplen LK, keine >5 cm N3 Metastase(n) >5 cm im grössten Durchmesser Fernmetastasen MX Präsenz von Fernmetastasen nicht untersucht M0 Keine Fernmetastasen M1 Fernmetastasen nachgewiesen Zukunft umfassendere Daten einfacher liefern, sind aber noch zu teuer und ebenfalls nicht validiert. Abklärung und Staging PatientInnen mit Hämaturie nach dem 40. Lebensjahr müssen mit einer Zystoskopie mit Biopsie und kompletter Abtragung suspekter Befunde, mehrfachen Biopsien des normalen Urothels sowie mittels Urinzytologie abgeklärt werden. Falls zystoskopisch ein möglicherweise invasiver Tumor gefunden wurde, ist ein Computertomogramm mit Frage nach Blasenwandverdickung, Infiltration von Nachbarorganen, Lymphknoten- und Lebermetastasen nötig. Vor der in Narkose durchgeführten Zystoskopie sind ein Blutbild, Routinechemie, ein Thoraxbild präoperativ und zum Metasta- C U R R I C U LU M senausschluss sowie je nach Begleiterkrankungen ein EKG und weitere Abklärungen empfohlen. Eine wiederholte Urinzytologie ist bei negativem zystoskopischem Befund indiziert, um verpasste und insbesondere extravesikale Tumoren zu erfassen. Ein i.v.-Pyelogramm ist heute kaum mehr notwendig. Prognose (Tab. 2) Die Ta-Tumoren wachsen exophytisch-papillär, tendieren zu Rezidiven, bewahren aber meist die initial gute Differenzierung und werden daher vergleichsweise selten invasiv. Eine Schweiz Med Forum Nr. 25 18. Juni 2003 587 Heilung mit der ersten Abtragung ist in Einzelfällen durchaus möglich. Tis-Läsionen neigen zu häufigeren Rezidiven mit höherem Grad. Wird im Verlauf eine Invasion der Lamina propria (pT1-Stadium) nachgewiesen, ist mit Muskel-invasiven Rezidiven zu rechnen und eine intensivere Therapie indiziert. T1-Tumoren ist bereits ein erhebliches Risiko für Muskel-invasive Rezidive inhärent, so dass Zystektomien oder eine kurative Bestrahlung bereits früh erwogen werden können bzw. bei Rezidiven nach BCG-Installationen empfohlen werden müssen. Die Unterscheidung von T2a und T2b ist ohne Zystektomie unzuverlässig und wenig relevant. T2-Stadien zeigten in einer Zusammenstellung Tabelle 2. Stadieneinteilung der TNM-Gruppen und Prognose. Stadium Primärtumor LK-Meta. Fernmeta. Rezidivrisiko/Prognose nach DeVita [1] 5-Jahres-Überleben nach kurativer Zystektomie nach [8, 9] 0a Ta (papillär) N0 M0 Mehrheit mit Rezidiven <30% höheres Stadium T0, Ta, Tis: 85%/– 0is Tis (flach) N0 M0 Mehrheit mit Rezidiven >30% höheres Stadium I T1 N0 M0 Meist high-grade, oft mit multifokalem Tis 50% Rezidive nach 1, 80% nach 3 Jahren 50–80% muskel-invasiv in 5 Jahren pT1 N0: 76%/64% II T2a–b N0 M0 5-Jahres-Überleben ca. 57% pT2 pN0: 77%/68% III T3a–4a N0 M0 5-Jahres-Überleben ca. 31% pT3 pN0: 55%/49% pT4a pN0: 44%/32% IV T4b N0 M0 5-Jahres-Überleben ca. 24% –/– Jedes T N1–3 M0 5-Jahres-Überleben ca. 14% pTx N0: 31%/26% Jedes T Jedes N M1 Medianes Überleben mit Chemotherapie ca. 1 Jahr –/– Abbildung 2. Mikroskopisch: gut differenziertes Urothelkarzinom (G1). C U R R I C U LU M von 12 Studien nach DeVita [1] ein 5-JahresÜberleben von ca. 57%. Von grösserer prognostischer Bedeutung ist aber, ob die Blasenwand überschritten wurde, also ein T3-Stadium vorliegt, das noch ein 5-Jahres-Überleben von 31% aufwies. Bei T4-Stadien ohne Lymphknotenmetastasen betrug das 5-Jahres-Überleben ca. 24%. Bei positiven Lymphknoten reichte das 5-Jahres-Überleben je nach Studie von 4–35%, das gewichtete Mittel lag bei 14%. Bei Auftreten von Fernmetastasen beträgt das spontane mediane Überleben 6–9 Monate, mit Kombinationschemotherapien um 12 Monate, wobei nur wenige PatientInnen 5 Jahre überleben. Schweiz Med Forum Nr. 25 18. Juni 2003 Therapie oberflächlicher Blasenkarzinome (pTa, pTis) Transurethrale Resektion ist die Behandlung der Wahl, wobei das papilläre Blasenkarzinom (pTa) häufiger ist als das flache und häufiger multifokale pTis. Eine zystoskopische RezidivÜberwachung ist zwingend. Eine intravesikale Chemotherapie bei Niedrig-Risiko-PatientInnen (pTaG1) ist im Vergleich zur BCG-Instillation zunehmend umstritten. Bei Mittel- und HochrisikopatientInnen mit mehrfach rezidivierten Tumoren (>2 Rezidive in 1 Jahr) und höherem Grading ist dagegen eine BCG-Instillation indiziert und hat sich in randomisierten Studien mit einem progressionsfreien Überleben nach 10 Jahren von 62% versus 37% als Abbildung 3. Makroskopisch: invasives Urothelkarzinom. Tabelle 3. Therapiemöglichkeiten der Muskel-invasiven Stadien von Blasenkarzinomen. Blasen-erhaltende Optionen (Cave: Monotherapien erreichen keine gute Lokalkontrolle) TUR-B (transurethrale Blasenresektion) alleine Nd:YAG-Laser-Abtragung Perkutane Radiotherapie alleine (selten Seed-Implantation oder gar intraoperative RT) Partielle Zystektomie Chemotherapie alleine Chemotherapie + Bestrahlung: gleichzeitig, evtl. sequentiell oder alternierend Nicht Blasen-erhaltende Optionen Radikale Zystektomie = noch Standard Zystektomie + Chemotherapie (neoadjuvant, adjuvant) = kommender Standard (?) Radiotherapie + Zystektomie Chemotherapie + Radiotherapie + Zystektomie 588 C U R R I C U LU M Schweiz Med Forum Nr. 25 18. Juni 2003 589 Tabelle 4. Randomisierte Studien adjuvanter Chemotherapie bei Muskel-invasivem Blasenkarzinom (modifiziert nach DeVita [1]) Autor/Studie Jahr Richards B, 1983 N Therapie im Kontrollarm Chemotherapie im Studienarm Überleben Kontroll-Arm Überleben mit Chemotherapie Überlebensbenefit mit Chemotherapie 129 Bestrahlung 5-FU + ADR 37% 35% Nein Freiha F, 1996 55 Zystektomie CMV 38% 40% Nein Studer U, 1994 77 Zystektomie Cisplatin 54% 57% Nein Stöckle M, 1992 49 Zystektomie MVAC MVEC 10%* 80%* Ja* Skinner DG, 1991 91 Zystektomie CAP 46% 70% Ja 1344 Zystektomie GC od. MVAC Aktiviert Oktober 2001** EORTC 30994 5-FU = 5-Fluorouracil; ADR = Adriamycin; CMV = Cisplatin, Methotrexat, Vinblastin; MVAC = Methotrexate, Vinblastine, Adriamycin und Cisplatin; MVEC = Methotrexat, Vinblastin, Epirubicin und Cisplatin; CAP = Cyclophosphamid, Adriamycin und Cisplatin. GC = Gemcitabin und Cisplatin * Nicht publiziert, rekonstruiert anhand zugänglicher Studiendaten ** Drei weitere randomisierte Phase-III-Studien sind noch offen, wobei nur zwei gegen eine Kontrolle mit Zystektomie alleine testen. Drei grössere Phase-III-Studien sind schon geschlossen, die Resultate aber noch ausstehend. Nur in einer Studie wurde gegen eine alleinige Zystektomie als Kontrolle getestet. Abbildung 4. Mikroskopisch: undifferenzierte Histologie (G3). effektiv erwiesen [2]. Dabei muss ein 2-wöchiger Abstand zur TUR-B eingehalten werden, um das Risiko einer allerdings seltenen systemischen «BCG-itis» zu vermindern. Tritt eine solche auf, ist eine tuberkulostatische Therapie nötig. Weitere, ca. zwei Tage dauernde Nebenwirkungen sind Fieber, Dysurie und Pollakisurie, die auf einer entzündlichen, den antitumoralen Effekt vermittelnden Reaktion der Blasenwand beruhen. Zytostatikainstillationen sind gemäss randomisierten Studien in diesen Risikosituationen weniger wirksam und könnten theoretisch eine Selektion chemoresistenter Tumorzellen initiieren und so mit einer späte- ren Systemtherapie interferieren. Anthrazykline können resorbiert werden, und Alkylantien wären beim HNPCC-Syndrom wegen der gestörten «missmatch repair» ineffektiv. Bei HochrisikopatientInnen (mehrere Rezidive in kurzer Zeit oder nach BCG-Instillation, grosser oder multifokaler Befund, histologisch wenig differenziert) kann entweder eine Zystektomie oder eine kurative Radiotherapie erwogen werden, um einem Muskel-invasiven Stadium vorzubeugen. C U R R I C U LU M Therapie von Blasenkarzinomen im Stadium I Tumore im pT1-Stadium sind invasive Malignome und erfordern eine komplette Abtragung. Wegen der hohen Rezidivrate mit häufig Muskel-invasiven Tumoren ist eine BCG-Instillation bereits initial gerechtfertigt, reduziert das Rezidivrisiko um fast die Hälfte und kann eine Zystektomie evtl. verhindern oder wenigstens verzögern. Eine Zystektomie oder kurative Bestrahlung sind bei trotzdem auftretenden Rezidiven indiziert und bei multifokalem Befall mit G3-Histologie schon initial ernsthaft zu erwägen. Therapie von Blasenkarzinomen im Stadium II–III Die radikale Zystektomie mit pelviner Lymphknotendissektion gilt noch immer als Standard und hat durch moderne Ersatzblasen-Rekonstruktion weniger Einschränkungen der Lebensqualität zur Folge. Inoperable PatientInnen oder solche mit abgelehnter Operation sollten eine kurative Bestrahlung, evtl. als Chemo-/Radiotherapie, erhalten. Eine alleinige TUR-B (transurethrale Blasenresektion) ist nur bei schlechtem Allgemeinzustand sinnvoll. Eine multimodale, blasenerhaltende Behandlung mit TUR-B oder Blasenteilresektion sowie Chemo- und Radiotherapie hat in mehreren nicht randomisierten Studien gute Ergebnisse gezeigt und kann die Zystektomie trotz evtl. etwas tieferem Gesamtüberleben für operationsunwillige oder inoperable PatientInnen mit unifokalem Tumor und kompletter TUR-B allenfalls ersetzen. Der auf Grund vieler PhaseII-Studien vermutete Nutzen einer perioperativen Chemotherapie war lange unklar, scheint sich aber zu bestätigen. So steht neben der noch gültigen Empfehlung zur Zystektomie die Wahl aus vielen, teils noch ungenügend abgesicherten Optionen (Tab. 3) offen, wobei eine blasenerhaltende Strategie bei operablen PatientInnen vielerorts weiterhin als experimentell gilt. (Neo-)adjuvante Chemotherapie vor/nach Zystektomie Ein durch Phase-II-Studien postulierter Überlebensvorteil durch eine neoadjuvante (MVAC) Chemotherapie konnte durch mehrere, kleine randomisierte Studien nicht erwiesen werden [3]. Kürzlich wurden zwei Multizenterstudien – allerdings erst in Abstract-Form – präsentiert, die einen Überlebensvorteil ergaben [4, 5]. Ob diese Strategie einem postoperativen Einsatz Schweiz Med Forum Nr. 25 18. Juni 2003 590 der Chemotherapie wirklich überlegen ist, bleibt zweifelhaft. Trotzdem sollten PatientInnen möglichst vor einer Zystektomie multidisziplinär vorgestellt werden. Nach alleiniger radikaler Zystektomie droht PatientInnen mit Muskel-invasiven Tumoren je nach Stadium in 25–70% ein systemisches Rezidiv (Lymphknoten-, Knochen-, Leber-, Lungen-, ZNS-Metastasen). Eine Reduktion dieses Risikos durch eine adjuvante Chemotherapie konnte mit kleinen randomisierten Studien nicht gesichert werden, da sie widersprüchliche Resultate ergeben, methodische Probleme aufgewiesen oder nicht dem heutigen Standard entsprechende Therapien eingesetzt haben (Tab. 4). Ein besseres progressionsfreies Überleben wird erreicht, das Gesamtüberleben kann aber bis zur Publikation der abgeschlossenen und laufenden grossen Phase-III-Studien noch nicht definitiv beurteilt werden. Trotzdem wird eine adjuvante, heute meist auf Platin und Gemcitabin basierte Therapie zumindest bei Hochrisiko-PatientInnen zunehmend eingesetzt, weil die neuen neoadjuvanten, die adjuvanten Phase-II-Daten und Trends in Phase-III-Studien auch eine Wirkung bei adjuvantem Einsatz annehmen lassen. Zudem wird von PatientInnen einer Verzögerung des Rezidivs ein erheblicher Wert beigemessen, für den sie Aufwand und Nebenwirkungen in Kauf nehmen. (Neo-)adjuvante Radiotherapie vor/nach Zystektomie Für die Bestrahlung in diesen Settings gibt es keine genügenden Daten. Im Einzelfall mit positivem Resektionsrand, fehlenden Metastasen und nicht möglicher Chemotherapie sind die verbesserte Lokalkontrolle gegen postoperativ häufigere Komplikationen wie Fisteln und Dünndarmobstruktionen sowie den Verlauf bei späterer Schmerzbestrahlung abzuwägen. Nachkontrolle potentiell kurativ behandelter Urothelkarzinome PatientInnen nach TUR-B und Bestrahlung mit kurativer Absicht sollen während 2 Jahren dreimonatlich mit Zystoskopie und Urinzytologie kontrolliert werden. Danach sind halbjährliche Kontrollen ausreichend. Bei PatientInnen nach Zystektomie sollen klinische Kontrollen zu den gleichen Zeitpunkten durchgeführt werden, wobei mittels Urinzytologie Rezidive in den extravesikalen Harnwegen erfasst werden sollen. Radiologische Untersuchungen sind nur bei Beschwerden und klinischen Befunden indiziert. C U R R I C U LU M Schweiz Med Forum Nr. 25 18. Juni 2003 Quintessenz Bei der mit 75–85% häufigsten Form des oberflächlichen, nicht-invasiven papillären Urothelkarzinoms ist die repetitive transurethrale Resektion – häufig gefolgt von der gut wirksamen adjuvanten BCG-Instillation der Blase – die Behandlungsstrategie der Wahl. Bei den mit 10–15% zweithäufigsten Muskel-invasiven, aber lokal begrenzten Urothelkarzinomen wird neben der radikalen Zystektomie als Standard zunehmend eine neoadjuvante oder adjuvante systemische Chemotherapie eingesetzt. Blasenerhaltende Behandlungen mit kurativer Radio- oder Chemo-/Radiotherapie sind in ausgewählten Fällen vorzuziehen bzw. bei internistischer Inoperabilität oder Ablehnung ein gangbarer Ausweg, gewähren aber nicht immer eine adäquate Blasenfunktion. Bei den primär metastasierten Urothelkarzinomen versprechen Chemotherapien einen guten palliativen Effekt und Ansprechraten >50% mit allerdings nur um Monate verlängertem Überleben. Das belastende M-VAC-Regime zur adjuvanten oder palliativen Chemotherapie wird zunehmend durch besser verträgliche und breiter anwendbare Platin-/Gemcitabine-Kombinationen ersetzt. Schmerzbestrahlungen und hämostyptische Bestrahlungen bieten weitere Möglichkeiten der Symptomkontrolle bei fortgeschrittenen oder nicht chemotherapierbaren Fällen. Der Nikotinabusus ist bei weitem der wichtigste Risikofaktor für das Auftreten eines Urothelkarzinoms. 591 eine kurative Bestrahlung qualifizieren. In solchen Fällen scheint eine neoadjuvante Chemotherapie bzw. eine Chemo-/Radiotherapie besonders sinnvoll. Für alle anderen PatientInnen verlängern Platin-basierte Kombinationschemotherapien zwar das Überleben, vermitteln aber hauptsächlich gute palliative Effekte. In ca. der Hälfte bis 2⁄3 der Fälle ist ein objektives Ansprechen zu erwarten. Das erste wirksame MVAC-Schema mit Methotrexat, Vinblastin, Adriamycin und Cisplatin ist komplex und toxisch [6]. Es wird deswegen zunehmend durch Platin und Gemcitabin ersetzt [7], wobei Cisplatin bei Vorliegen von Niereninsuffizienz oder Polyneuropathie durch das nicht nephround neurotoxische Carboplatin ersetzt werden darf. Weitere wirksame Zytostatika sind Taxane und Ifosfamid. Inhibitoren des Epidermal Growth Factor Receptors und Trastuzumab sind in Evaluation. Screening für Urothelkarzinome Sensitivität und Spezifität von Urin-Streifentests und -Zytologie sind für ein bevölkerungsweites Screening ungenügend. Zusammen mit der vergleichsweise tiefen Inzidenz würden ein zu hoher Abklärungsaufwand und zu grosse Kosten resultieren. Dank Therapie metastasierter Urothelkarzinome Die makro- und mikroskopischen Abbildungen verdanke ich Herrn PD Dr. S. Hailemariam vom Kantonalen Institut für Pathologie, Rheinstrasse 37, CH-4410 Liestal. Nodal positive PatientInnen mit Stadium IV ohne Fernmetastasen und gutem PerformanceStatus können noch für eine Zystektomie oder Literatur 1 DeVita VT, Hellman S, Rosenberg SA (eds). Cancer: Principles and Practice of Oncology, 6th Edition. Lippincott Williams & Wilkins;2001. 2 Herr HW, Schwalb DM, Zhang ZF, et al. Intravesical bacillus CalmetteGuerin therapy prevents tumor progression and death from superficial bladder cancer: ten-year follow-up of a prospective randomized trial. J Clin Oncol 1995;13:1404–8. 3 International collaboration of trialists: Neoadjuvant cisplatin, methotrexate, and vinblastine chemotherapy for muscle-invasive bladder cancer: a randomised controlled trial. Lancet 1999;354: 533–40. 4 Natale RB, Grossman HB, Blumenstein B, et al. SWOG 8710 (INT 0080): Randomized phase III trial of neoadjuvant MVAC + cystectomy versus cystectomy alone in patients with locally advanced bladder cancer. Proc Am Soc Clin Oncol 2001;20:2a. 5 Hall RR on behalf of the Collaboration of Trialists of the MRC Advanced Bladder Cancer Group. Proc Am Soc Clin Oncol, 2002;710a. 6 Loehrer PJ, Einhorn LH, Elson PJ, et al.: A randomized comparison of cisplatin alone or in combination with methotrexate, vinblastine, and doxorubicin in patients with metastatic urothelial carcinoma. J Clin Oncol 1992;10:1066–73. 7 von der Maase H, Hansen SW, Roberts JT, et al. Gemcitabine and cisplatin versus methotrexate, vin- blastine, doxorubicin, and cisplatin in advanced or metastatic bladder cancer: results of a large, randomized, multinational, multicenter, phase III study. J Clin Oncol 2000;18: 3068–77. 8 Stein JP, Lieskovsky G, Cote R, et al. Radical cystectomy in the treatment of invasive bladder cancer: long-term results in 1054 patients. J Clin Oncol 2001;19:666–75. 9 Madersbacher S, Hochreiter W, Burkhard F, Thalmann GN, Danuser H, et al. Radical cystectomy for bladder cancer today – a homogeneous series without neoadjuvant therapy. J Clin Oncol 2003;21:690–6.