Phänomenologie als Erste Philosophie und das Problem der

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Marquette University
e-Publications@Marquette
Philosophy Faculty Research and Publications
Philosophy, Department of
1-1-2011
Phänomenologie als Erste Philosophie und das
Problem der Wissenschaft von der Lebenswelt
Sebastian Luft
Marquette University, [email protected]
Published version. Archiv für Begriffsgeschichte, Vol. 53 (2011): 137-152. Publisher Link. © Meiner
2011. Used with permission.
Sebastian Luft
PHÄNOMENOLOGIE ALS ERSTE PHILOSOPHIE
UND DAS PROBLEM DER »WISSENSCHAFT VON DER LEBENSWELT«
1. Einleitung
Die Bemühung, den Begriff der Ersten Philosophie zu rehabilitieren, also die
Philosophie wieder in den altehrwürdigen Rang der Ersten Wissenschaft zu heben, ist in der Philosophie des 20. Jahrhunderts keine Neuheit. Er ist zumeist von
den Denkern aufgegriffen worden, die systematische bzw. begründungstheoretische Intentionen hegten, statt solche Ambitionen im Ganzen zu Grabe zu tragen. Interessant ist hierbei, welche Disziplin die Aufgabe der Ersten Philosophie
übernehmen sollte. Edmund Husserl reiht sich in diese Tradition ein, wenn er
seinen eigenen Entwurf, nämlich die Phänomenologie, als Erste Philosophie etablieren möchte. Bewusst kritisch gegenüber Husserl ist Emanuel Levinas, der
bekanntlich Ethik als Erste Philosophie einsetzen will. Jüngere Ansätze hierzu
finden sich neuerdings bei Ernst Thgendhat, der dafür eintritt, dass »die philosophische Anthropologie heute an die Stelle der Metaphysik als prima philosophia treten sollte«, die als Grundfrage hat» Was sind wir als Menschen?«l
Und jüngst möchte Laszl6 Tengelyi wiederum die Phänomenologie zum Rang
der Ersten Philosophie erheben, die er sich, beeinflusst von der französischen
Gegenwartsphilosophie, als »eine diakritisch angelegte Theorie der Erfahrungskategorien (>Experientialien<)«2 vorstellt. Wie es scheint, hat das Projekt »Erste
Philosophie«, nach dem Zusammenbruch der Postmoderne, wieder Konjunktur.
In diesem geistigen Milieu sich wieder dem Begründer der Phänomenologie als
strenger Wissenschaft zuzuwenden, ist daher keine rein akademische Übung,
sondern hat für das gegenwärtige Philosophieren eminente Bedeutung, wie es
sich auch an dem weltweit steigenden Interesse an einem der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts ablesen lässt.
,In der Tat war es wohl wie kaum ein anderer Husserl, der mit der These von
der Phänomenologie als Erster Philosophie einen hohen Anspruch verband, der
ihn in die Nähe des Letztbegründungsstrebens seiner neukantianischen Kollegen brachte. Die Phänomenologie sollte, als strenge Wissenschaft, gleichzeitig
letztgründende wie eidetische Wissenschaft sein. Hierbei ergibt sich jedoch so-
I Vgl, Ernst Thgendhat: Anthropologie statt Metaphysik (München 2(07), v.a. »Anthropologie als >erste Philosophie«(, 34-54, hier 34, Kurs. erg.
2 Vg1. Laszl6 Tengelyi: Erfahrung und Ausdruck. Phänomenologie im Umbruch bei Husserl
und seinen Nachfolgern (Dordrecht 2(07) 348. Inwiefern diese Phänomenologie nach Tengelyi
Doch transzendental sein soll, bzw. in welchem Sinne der Begriff >transzendental( verwendet
wird, muss hier jedoch offen bleiben.
Archiv für Begriffsgeschichte . Band 53 . © Felix Meiner Verlag 2011 . ISSN 0003-8946
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gleich ein Problem, was zum zweiten im Titel genannten Thema dieses Aufsatzes
führt: der eigentümlichen »Wissenschaft von der Lebenswelt«, was, urteilt man
von der Masse der Manuskripte hierzu, das umfassendste und umfangreichste
Projekt des reifen Husserl war. Das Problem hierbei liegt auf der Hand: Phänomenologie als Erste Philosophie ist eine eidetische Wissenschaft, die Lebenswelt
selbst ist aber gerade die faktische, konkrete Welt, die subjekt-relativ ist. Husserl
selbst hat die Aufgabe dieser Disziplin paradox ausgedrückt als die »Wissenschaft [> EmOL~f1'l < ] (freilich eine[ ... ] sonderbare[ ... ] ... ) von der verachteten
doxa «.3 Wie kann es Wesens einsichten in die wandelbare, immer relative, meinungsgebundene, faktische wie historische Lebenswelt geben? Um was für eine
Wissenschaft handelt es sich hier?
Das führt also zur Hauptfrage dieses Aufsatzes, die man unterschiedlich fo rmulieren kann: Was ist das Verhältnis von Phänomenologie als Erster Philosophie und Lebensweltwissenschaft? Anders: Ist die Lebensweltwissenschaft ein
von der Phänomenologie als Erster Philosophie getrenntes Unternehmen? Wäre
sie etwa eine »zweite Philosophie«, die eine regionale Ontologie neben anderen
wäre? Dem widerspricht aber ein Zweifaches: Zweite Philosophien sind für Husserl empirisch;4 die Lebensweltwissenschaft soll aber apriorisch sein. Zweitens
ist das Lebensweltproblem, wie Husserl immer wieder betont, ein »universales«
und nicht nur ein Teilproblem innerhalb der möglichen regionalen Ontologien.
Die Lebenswelt ist keine Region neben anderen Regionen; sie ist die Region
aller Regionen. Die Probleme deuten sich also schon im Umriss an.
Wieder anders gefragt: Was ist der Wissenschaftsstatus der Lebensweltwissenschaft? Ist Phänomenologie im eigentlichen Sinne Erste Philosophie, und
scheint die Lebensweltwissenschaft quer zu stehen zum Programm dieser Ersten Philosophie, ergibt sich für Husserls Projekt ein sehr prekäres Problem. Die
Gefahr ist, dass man Husserls reife Phänomenologie als eine Arbeit an (mindestens) zwei, unzusammenhängenden »Baustellen« verstehen könnte. In der Tat
ist dies das Schicksal der Husserlrezeption gewesen. Man hat sich entweder hierin zweifellos beeinflusst von Heideggers Projekt einer »Hermeneutik der
Faktizität« - Husserls Leitgedanke der Lebenswelt zunutze gemacht, um weitere - phänomenologische oder hermeneutische - Untersuchungen zu ihr anzustellen, hierbei gewisse Emphasen oder Bereiche andeutend - die Sozialität, die
Geschichte, die Kunst, Ideologie, das Politische - , die bei Husserl nicht erörtert
oder unterbelichtet waren.5 Hierbei hat man aber das transzendentale Element
3 Husserliana VI, 158 (Bände der Husserliana werden im Folgenden zitiert als »Hua « mit
entsprechender Seitenzahl).
4 Hua XXXV, 362f.
5 Hierzu gehören m.E . die philosophische Hermeneutik H .-G. Gadamers, die Sozialphilo·
sophien von Schütz, Gurwitsch und Theunissen, die »Alteritätsphilosophien« von Levinas und
Waldenfels, und zum Teil auch zumindest die »klassische« Frankfurter Schule und, unmissverständlich zugestanden, das Denken Habermas'. Hierzu gehören m.E . auch ideologiekritische
Ansätze, die der traditionellen westlichen Philosophie den Vorwurf machen, ganze Bereiche
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bei Husserl entweder ignoriert oder für eine Verirrung in die »klassische« Philosophie, die in Wahrheit durch die Phänomenologie bereits überwunden schien,
gehalten. Oder man hat Husserl als einen Vertreter und Erben der klassischen
Transzendentalphilosophie gehalten, der bestimmte Probleme voranbringt oder
neue, reichere deskriptive, Aspekte durch seine neue Methode liefert, hierbei
aber wiederum die Idee der Lebenswelt als ein Zugeständnis an den gegenwärtig herrschenden Existentialismus abgetan. 6 Beide Tendenzen sind jedoch
einseitig und in dieser Einseitigkeit dem Husserlschen Projekt gegenüber unangemessen.
Soweit ich weiß, hat sich Husserl die Frage, wie beide Projekte zusammenhängen, nicht explizit gestellt, vielleicht weil für ihn die Antwort evident war.
Dem heutigen Leser ist die Antwort auf diese Frage jedoch alles andere als klar.
Sie zu klären ist wichtig sowohL um Husserls Projekt der transzendentaLen Phänomenologie zu verstehen, als auch dasjenige der Lebensweltwissenschaft, die
in den letzten zwei Jahrzehnten von Husserls Leben das Hauptprojekt seines
Forschens war, wie man nunmehr an dem neuesten monumentalen Band der
Husserliana , Lebenswelt - AusLegung der vorgegebenen Welt und ihrer Konstitution , sehen kann, der mit fast tausend Seiten wiederum nur die Spitze des Eisberges der Husserlschen Manuskripte zu diesem Thema darstellt.?
Meines Erachtens ergeben sich viele und immer wieder geäußerte Missverständnisse über Husserls Philosophie daraus, dass das Verhältnis von Phänomenologie als Erster Philosophie und der phänomenologischen Lebensweltwissenschaft nicht geklärt ist. Die Gefahr hier ist, wie Husserl selbst schon gewarnt
hat, die Phänomenologie von der Lebenswelt als »Bilderbuchphänomenologie«
misszuverstehen, womit der Charakter der Phänomenologie als »strenger Wissenschaft« verloren ginge; denn strenge Wissenschaft ist für Husserl in Bezug
auf die Philosophie Transzendentalphilosophie. Auch macht man es sich zu
leicht, wenn man meint, Husserl habe die Idee der Phänomenologie als Erster
Philosophie mehr oder weniger äußerlich »aufgeschnappt«, etwa durch seine
exzessive Nähe zu den Neukantianern. So hat es Heidegger z.B. gesehen, der
in der Disputation mit Cassirer in Davos davon spricht, dass Husserl »zeitweise
den Neukantianern in die Arme gefallen« sei, mit der Implikation, dass er in
seiner Spätphase wieder zu den »gesunden« Themen seiner Phänomenologie
einfach ignoriert zu haben, also etwa feministische Philosophie, gender, queer und race studies.
Die meisten ihrer Vertreter - Foucault, Butler, Irigaray, Young, um nur ein paar Namen zu nennen - sind eingestandener Weise von der Phänomenologie beeinflusst.
6 Diese Tradition der Lesart Husserls beginnt bereits mit den Neukantianern, die Husserl
von allem Anfang an - bereits ab den Prolegomena - für sich zu vereinnahmen suchten, und
wurde nach dem Krieg weitergeführt von »Neu-Neu-Kantianern« wie etwa Wolfgang Cramer;
ferner wären hier zu nennen Henrich und Düsing, und so hat auch die angelsächsische Philosophy oi Mind Husserl rezipiert.
7 Vgl. Hua. XXXIX.
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als deskriptiver Wissenschaft zurückgefunden habe.8 Das ist grundverkehrt.
Im Gegenteil ist zu betonen, dass die Aufgabe der Phänomenologie als Erster
Philosophie von vornherein in Husserls Bemühungen vorgezeichnet ist, welche wiederum von allem Anfang an auf die Phänomenologie als eine Form der
Transzendentalphilosophie hinauslaufen. Ferner ist hervorzuheben, dass es eine
innige Verbindung zwischen beiden Projekten gibt; sie ist jedoch eigentümlich
und muss, da nicht sogleich evident, aus buchstabiert werden. Sie wird Licht werfen (1) auf Husserls Gesamtprojekt der Phänomenologie und wird verständlich
machen (2) sowohl, was diese »sonderbare« Wissenschaft im Kern ist, als auch,
schließlich, was die Lebenswelt selbst vom Standpunkt der transzendentalen
Phänomenologie ist. Kein Begriff der Husserlschen Phänomenologie ist so oft
und gründlich missverstanden worden.
l/. Die Phänomenologie als Erste Philosophie.
Erste Philosophie im engeren und weiteren Sinn und
die Phänomenologie als Wesens wissenschaft
Zunächst also zur Phänomenologie als Erster Philosophie. Bei genauerem Betrachten allerdings stellt sich heraus, dass die Idee einer Ersten Philosophie von
Husserl in zwei Sinnen verstanden wird, einem weiteren und einem engeren. Der
weitere, umfassendere Sinn ist, zunächst zumindest, durchaus nicht neu; denn er
ist der Sinn, in dem Husserl bereits in den Prolegomena die Logik als >mathesis universalis< auffasst, welche Aufgabe die Phänomenologie übernimmt. Als
solche ist sie, wie Husserl in einer Vorlesung von 1909 sagt, »die im strengsten
Sinne Erste Philosophie [ .. .], diejenige, aus der alle anderen Wissenschaften die
letzte Aufklärung des Sinnes ihrer Leistungen zu empfangen haben«. Dadurch
werden »alle Wissenschaften zu Philosophien, zu Bestandstücken und Fundamenten einer allumfassenden absoluten Seinslehre«.9 Phänomenologie ist also
apriorische Grundlagenwissenschaft aller Wissenschaften als »zweiten Philosophien«. Sie klärt in dieser Hinsicht Grundbegriffe und -methoden der Einzelwissenschaften, sowie bestimmt »regionale« Fragen der realen wie idealen Wissenschaften, also solche der Ab- und Eingrenzung von Disziplinen: Ihre Funktion
ist als »wissenschaftslogisch« zu bezeichnen in dem Sinne, in dem etwa bei den
8 Vgl. Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik (Frankfurt a. M. 61998) 275.
Ironischerweise ist dieser Vorwurf Heidegger selbst zu machen, in dessen Sein und Zeit architektonische, terminologische und systematische Anleihen an den Neukantianismus mit Händen
zu greüen sind.
9 Hua-Materialien VII, 92. Zu den zwei Sinnen von Phänomenologie als Erster Philosophie
vgl. v. Verfasser: Phenomenology as First Philosophy: APrehistory. In: Phenomenology Sciences
Philosophy. Essays in Commemoration of Edmund Husserl, ed. by C. Ierna and H . Jacobs (Heidelberg 2010), 41-67.
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Marburger Neukantianern die Philosophie als Prüfung und »Beglaubigung«10
der in den Wissenschaften erzielten Ergebnisse fungiert. Was so erreicht wird,
ist letzte Rechtfertigung aller in den Wissenschaften erlangten Ergebnisse. Auf
diese Weise werden die Wissenschaften zu philosophisch gerechtfertigten,ja sogar damit selbst philosophischen, und die Phänomenologie als Erste Philosophie, wie Husser! selbstbewusst sagt, zur »mathesis universalissima«:l1 »Würden
wir das schöne Wort >mathesis<in seinem ursprünglich weitesten Sinn verwenden dürfen, so könnten wir sagen, empirische Wissenschaften werden zu philosophischen durch die vollkommenst denkbare Mathematisierung, wobei die
Erste Philosophie, die universale mathesis in dem weitesten Sinn, so ähnlich alle
reinen Theorien parat hätte wie die reine Mathematik gewöhnlichen Sinnes in
Hinsicht auf die Naturwissenschaft. «12
Das kann aber nicht alles sein; denn obwohl logisch vorher, käme sie doch
der eigentlichen Wissenschaft zeitlich hinterher; dies wäre sogar, schreibt Husser! einmal, nicht »erste«, sondern geradezu »letzte Philosophie«,!3 wie Husserl,
kritisch gegenüber dem Wissenschaftsmodell des Neukantianismus, schreibt. Als
wahrhaft erste Philosophie muss sie vielmehr auch wissenschaftsbegründenden
Sinn haben, der der wissenschaftlichen Arbeit voraufgeht. Hier weicht Husser! vom neukantianischen Modell ab, welches er nicht für falsch , jedoch für
eingeschränkt hält, da die Phänomenologie in ihrer Funktion als Erster Philosophie keine Letztbegründung anstrebt, etwa in dem Sinne, in dem Cohen die
ltanszendentalphilosophie als »Grundlegungswissenschaft« versteht, die alle
Wissens- und Erkenntnisansprüche im »reinen Denken« fundieren möchte. Es
handelt sich hier weder um »Grundlegung«, noch um eine Gründung welcher
Art auch immer (im »Denken« oder anderswo). Husserl ist in seiner Wortwahl
vorsichtiger: Es geht nicht primär um eine »Letztbegründung« im neukantianischen Stil,14 sondern vielmehr um die Ausweisung einer »letztgründenden«
Erkenntnis. Der »Grund« ist hier jedoch kein Ergebnis einer Begründungsleistung, sondern eher zu verstehen im Sinne von »Boden«. Dies verweist auf die
transzendentale Dimension der Phänomenologie, und der Sinn dieser Grundlagenwissenschaft nimmt nun nach der transzendentalen Wende einen genaueren
Sinn an. Der Grund aller Erkenntnis ist nämlich das erfahrende Bewusstsein, in
dem sich alle Erfahrungsinhalte geben bzw. manifestieren. Das >rrpoTEpoV T~
q>uaEl< ist in der natürlichen Einstellung die in der Erfahrung gegebene Welt,
nach der transzendentalen Wende jedoch ist dieses mpoTEpoV< das BewusstVgl. Hermann Cohen: Kants Theorien der Erfahrung (Berlin 1897) IV- VI.
Hua XXXV, 305,Anm. 2.
12 Hua XXXV, 305.
13 Hua VII, 385.
14 VgJ. jedoch Hua XXXV, 330, wo Husserl das Adjektiv »letztbegründet« verwendet, hier
als "letztbegründetete Erkenntnis«, die er jedoch sogleich im Sinne von »Selbsterkenntnis«
qUalifiziert. Der leute Grund kann also nur im philosophierenden Subjekt selbst gefunden werden, nicht in einer sonst wie äußerlichen Begründungsinstanz.
10
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sein, die Subjektivität, in der sich die Welt der Erfahrung bietet und manifestiert.
Phänomenologie nach der transzendentalen Wende ist also Erste Philosophie
in dem Sinne, dass sie den Blick auf die Erfahrungsperspektive, die »first p erson perspective«, richtet und betont, dass alle Erfahrung und Erkenntnis sich
im erfahrenden Bewusstsein gebende ist. Sie ist also nicht »erste« gegenüber einer »letzten« Philosophie im Sinne einer »vorausspringenden« Erkenntnis, wie
Heidegger einmal polemisch sagt,15 die die Möglichkeitsbedingung derselben
»grundlegen« würde, sondern »erste« im durchaus grammatisch zu verstehenden Sinn der »ersten Person«, die als erste »Instanz« die Trägerin aller Erfahrung und Erkenntnis ist und genauso ))immer schon« übersprungen wird wie die
natürliche Einstellung, die im selben Sinne ))Möglichkeitsbedingung« der wissenschaftlichen und a fortiori philosophischen Einstellung ist. Phänomenologie
ist also Erste Philosophie nicht in einem wissenschafts theoretischen, sondern
erkenntnistheoretischen Sinn, als Wissenschaft von der Weise, in der all das gegeben ist, was späterhin Thema einer mundanen Wissenschaft sein kann (wobei
)mundan<sowohl ideale wie reale Wissenschaften umspannt).
Dieser Befund wird indirekt dadurch bestätigt, dass Husserl diese aus der
Kantischen Kopernikanischen Wende - sofern man diese als Wende zur fi rst
person perspective hin auslegt - folgende Einsicht weiterhin mit dem Motiv des
))ehrlichen« und sich letztrechtfertigenden Philosophen verknüpft, der in ))radikaler Besinnung« diese scheinbar triviale Tatsache geradezu ethisch ausdeutet, ja genauer gesagt ))erkenntnisethisch«, sofern der erkennende Mensch nicht
nur seine Erkenntnisse ))kritisieren« muss, sondern damit auch sich selbst: So
))ergibt sich hier eine analoge regulative Idee als spezifisch erkenntnisethische;
nämlich soll ein der Erkenntnis hingegebenes Leben überhaupt ein ethisches
Recht, also letztzuvertretendes Recht haben können, so muss es ein in der Idee
der echten und wahren Erkenntnis zentriertes Leben sein. [ .. . ] Auch hier ergibt
sich die Forderung der radikalen Besinnung und eines universalen, das ganze
Erkenntnisleben bindenden Entschlusses, des Entschlusses, ein Erkenntnisleben durchaus mit der bewussten Zielrichtung auf Echtheit der Erkenntnis, also
auf allseitige und letzte Erkenntnisrechtfertigung anzustreben, ein neues, )echt<
wissenschaftliches Leben in einer bewussten und jederzeit zu vertretenden
Normgerechtigkeit.«16
Der absolute Boden also, von dem anzufangen ist, der aber immer schon
übersprungen wird, ist die erfahrende Subjektivität selbst als ))Bedingung der
Möglichkeit« aller Erkenntnis als Inhalt aller subjektiven Aktvollzüge. So ist
die Aufgabe der Philosophie im Ganzen für Husserl - welche Aufgabe die
Phänomenologie und nur sie erfüllt - zweifach, wie es Mohanty zusammenfass t:
))Philosophy, for Husserl, has two layers: [1] the upper layer of knowledge of the
various regions of objects, but in the end knowledge of the totality of possible
15
16
Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit (Tübingen 2006) § 7c, v.a. 36f.
Hua XXXV, 58 f.
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and actual being, and [2] the founding layer of ultimate groundedness which is a
theory of consciousness and hence a transcendental philosophy in the Kantian
sense.«17
Der Teil von Phänomenologie, der sich mit dieser »founding layer«, der
transzendentalen Subjektivität selbst, beschäftigt, ist somit Erste Philosophie:
»Die notwendige Methode, diese letzte Reflexion zu vollziehen, die transzendentale Subjektivität zu rein schauender Selbstgegebenheit zu bringen, ist die
phänomenologische Methode und danach die Urquelle aller philosophischen
Methoden. Die erste auf diesem absoluten Boden erwachsende Wissenschaft
und somit in einem bestimmten und klaren Sinn die Erste Philosophie ist die
Phänomenologie.«18
Dies weist hin auf den weiteren Sinn von Phänomenologie als Erster Philosophie. Er ist nämlich mittelbar sehr wohl wissenschaftslogisch und erkenntnisgründend, insofern alle Erkenntnis und im weiteren Sinn Erfahrung in der
erfahrenden Subjektivität selbst gründet. Sie ist somit die »Urquellenwissenschaft [als] Wissenschaft von der transzendentalen Subjektivität«.1 9 Das eigentliche Geschäft der Phänomenologie ist aber nun die Beschreibung der Strukturen dieser Erfahrung selbst, die ein Subjekt von der Welt hat und in der sie
sich gibt. Und hier gibt es wiederum eine Zweiteilung, die den engeren Begriff
von Phänomenologie als Erster Philosophie bezeichnet. Phänomenologie will
strenge Wissenschaft sein, wozu es noch nicht ausreicht, die transzendentale
Stufe erreicht zu haben. Als solche wäre sie lediglich apriorische Wissenschaft,
die die Subjektivität als Bedingung der Möglichkeit aller Welt erfahrung ansetzt.
Was Phänomenologie erst eigentlich zur strengen Wissenschaft macht, ist ihre
Erweiterung zur Wesenswissenschaft. Erst der Schritt zur Eidetik - hier des
Bewusstseinslebens - transformiert die Phänomenologie zur strengen Wissenschaft, nämlich als eidetische Wissenschaft von der transzendentalen Subjektivität. Diese eidetische Wissenschaft von der transzendentalen Subjektivität geht
nun wiederum der faktischen Wissenschaft derselben vorher, und Husserl kann
daher nochmals den Sinn der Ersten Philosophie auf die Eidetik einschränken:
»Als cartesianisch meditierendes Ego von der Idee einer Philosophie als absolut
streng begründeter Universalwissenschaft geleitet, deren Möglichkeit ich versuchsweise zugrundelege, wird mir nach Durchführung der letzten Überlegungen evident, dass ich zunächst eine rein eidetische Phänomenologie durchführen
muss und dass in ihr allein sich die erste Verwirklichung einer philosophischen Wissenschaft - die einer >ersten Philosophie<- vollzieht oder vollziehen
kann.«20
17 Jitendra Nath Mohanty: The Philosophy of Edmund Husserl. A Historical Development
(New Haven / London 2008) 398.
18 Hua XXXV, 51.
19 Hua VIII, 4.
20 Hua I, 106, Kurs. erg.
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Die wahrhaft »Erste« Phänomenologie ist also Wesenswissenschaft der transzendentalen Subjektivität, d.h. deren Erfahrung und der in ihr erfahrenen
Wirklichkeit. Diese Struktur ist aber ihrerseits nur zu erlangen im Ausgang von
der faktischen transzendentalen Subjektivität, wie sie mir selbst als Faktum sowohl im Faktum »ich« als auch der Welt - zugänglich wird, sobald ich Epoche
übe. Diese Faktizität selbst aber - meine, sowie die Wirklichkeit, die sich mir
gibt - kann nun ihrerseits Thema phänomenologischer Deskription werden, die
Husserl Zweite Phänomenologie nennt, die er auch näher als Metaphysik charakterisiert im bewussten Wissen um die Eigentümlichkeit dieser Wortwahl. Erste Philosophie als Erste Phänomenologie ist die Lehre vom Eidos; Metaphysik
als Zweite Phänomenologie ist die Lehre vom Faktum: »[U]nter Metaphysik
[verstehen wir] die Wissenschaft [...], welche das kontingente Universum, d.i.
das Universum in seiner vollen Faktizität und Konkretion, in seinem absoluten
Wesen wissenschaftlich erforscht. Metaphysik hätte dann freilich einen umgekehrten Sinn wie bei Kant, für den Metaphysik ein Titel für die apriorischen
Wissenschaften vom Realen war.«21
Was hier unter »Metaphysik« fungiert, ist also wiederum eine phänomenologische Disziplin. Empirisch gekehrt bzw. ausgedeutet, wäre diese Metaphysik
dann einzulösen in den empirischen Disziplinen wie Anthropologie, Geschichte,
Soziologie, wobei deren Unterstufen durchaus naturalistisch sein könnten, etwa
Naturgeschichte, z.B. Evolutionstheorie. Phänomenologie wäre also durchaus
nicht etwa nur eine Grundlegung der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften, also einseitig; sondern eine »eigentümliche« Erste Philosophie im beschriebenen Sinne für alle denkbaren Wissenschaften.
IIl. Das Projekt der Lebensweltwissenschaft als
»harte« Wissenschaft »weicher« ErJahrungsgesetze
Wie fügt sich nun die Wissenschaft von der Lebenswelt, die ebenfalls eine Eidetik der konkreten Welt des Lebens zu sein beansprucht, in das Projekt der
Ersten Philosophie? Hier ist sogleich einem nahe liegenden und oft wiederholten Missverständnis zu begegnen: dem, dass die Lebenswelt »einfach so da« sei
und daher als Gegenstand einer deskriptiven Wissenschaft ohne weiteres vorhanden wäre, so dass der Phänomenologe einfach nur »drauflos beschreiben«
könnte. Letzteres ist definitiv falsch, und die Tatsache des »einfach so da« ist
zwar richtig, aber birgt gerade das Problem in sich, weshalb Husserl zufolge eine
solche Wissenschaft nie vor ihm in Angriff genommen wurde: die Tatsache ihrer
selbstverständlichen, konkreten, faktischen Urevidenz, an der Zweifel anzumel-
21 Hua XXXV, 482. Die Texte zur Metaphysik, was die Themen Teleologie und Theologie
umfasst, sind zur Veröffentlichung in einem Band der Husserliana vorgesehen.
Phänomenologie als Erste Philosophie
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den geradezu absurd wäre, wie Husserl immer wieder betont. 22 Da Zweifel unter anderen Dingen - der Anfang der Wissenschaft ist, eröffnet sich von dieser Selbstverständlichkeit her auch kein Motiv zur kritischen Fragestellung
nach dem »Sein« der Welt. Es fragt sich also, welcher Typ Wissenschaft die Phänomenologie sein soll, wenn sie sowohl deskriptiv wie eidetisch sein soll. Das
Problem ist zweifach, und soll in dieser Doppelseitigkeit nun auch angegangen
werden: Diese Wissenschaft ist deskriptiv, aber doch nicht in einem üblichen
Sinn von Deskription, etwa wie - Husserls beliebtes Beispiel - ein Botaniker
einen Garten beschreibt; zweitens ist diese Wissenschaft eidetisch, aber Wesenswissenschaften gibt es streng genommen nur von objektiven Entitäten, nämlich
den idealen Gegenständen der Logik und Mathematik, nicht von BewusstseinsGegenständen.
Es fragt sich also zunächst, was es bedeutet, dass die Lebensweltwissenschaft
eidetisch sein soll. Denn ist die Lebensweltwissenschaft eine eidetische Wissenschaft, kann sie gerade nicht Gegenstand einer rein empirischen Beschreibung
sein. Oder, wie es Husserl an anderer Stelle sagt, solche rein empirische Beschreibung wäre »Romantik«: Die Beschreibung, die die Phänomenologie betreibt, polemisiert Husserl im Jahre 1922, »ist nichts dergleichen wie jene neue
romantische Erlebnisschwärmerei, die in unklarer Reaktion gegen eine allzu
unphilosophisch und lebensfremd gewordene Wissenschaft nur die konkrete
Lebenswelt sinnend beschauen und aus dem wiedergewonnenen Paradies der
Anschauung Kraft und Weisheit - eine unwissenschaftliche Weisheit - gewinnen
will«)3
Die Lebenswelt ist also ein wissenschaftlicher, aber damit kein empirischer,
sondern selbst ein transzendental-phänomenologischer »Begriff«, d. h. er setzt
die phänomenologische Reduktion voraus und die dadurch erlangte Dimension
der Immanenz des Transzendentalen. Diese ist aber nach dem oben Gesagten
nicht unbekannt, wurde jedoch bisher lediglich nach ihrer noetischen Seite betrachtet, der Subjektivität und ihren Erfahrungsvollzügen. Im Sinne des Korrelationsapriori jedoch ist zu betonen, dass Erfahrung-von das in der Erfahrung
Gegebene intentional impliziert; bei des sind Teile des intentionalen Verhältnisses, welches den Wesenscharakter des Bewusstseins ausmacht. Gegenstand der
Erfahrung ist aber nun nicht lediglich ein Gegenstand, sondern im Sinne des
noetischen Horizontbewusstseins der Horizont eines thematischen Gegenstandes selbst, der ebenfalls nach der Reduktion »noematisiert« wird. Jeder erfahrbare Gegenstand hat seinen Horizont, seine Umwelt als Welt von partikularen
Interessen und Projekten. Der Universalhorizont aller Sonderhorizonte ist nun
nichts anderes als die Lebenswelt. Die Lebenswelt ist also der noematische AsVgl. Hua VIII, 93.
Hua XXXV, 477. Diese Charakterisierung bezeichnet treffend viele Misscharakterisierungen der Phänomenologie, die auch heute noch bestehen (sogar von Forschern, die sich der
"phänomenologischen Beschreibung« verschrieben haben).
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pekt der erfahrenden Subjektivität, die sich erst nach der Reduktion eröffnet als
Sphäre des universalen Korrelationsapriori. Formal kann also sogleich gesagt
werden: Ist die Erste Philosophie die eidetische Wissenschaft von der transzendentalen Subjektivität, und ist »transzendentale Subjektivität« der globale Titel
für das Korrelationsapriori selbst, so ist die phänomenologische Beschreibung
der Lebenswelt als Horizont aller Horizonte von ErfahrungsvoUzügen Teil der
Ersten Philosophie selbst. Diese komplexe Struktur gilt es nun zu verstehen.
Und zwar auf folgende Weise: So wie eine eidetische Noetik Wesensgesetze
des Bewusstseins zu beschreiben trachtet, geschieht dasselbe aufseiten einer eidetischen Noematik, d. h. Wesensgesetze der Welt selbst, wie sie sich in Erfahrung
gibt, und von einer anderen können wir schlechthin nichts wissen, auch wenn die
Erfahrungsperspektive in der objektiven Wissenschaft hinwegabstrahiert wird.
In dieser Hinsicht ist die phänomenologische Weltwissenschaft also apriorische
und eidetische Wissenschaft: von der Welt als der Bedingung der Möglichkeit
von Weltleben in den invarianten Weisen, in denen sie sich gibt. Freilich hat man
auch zu ihr nur Zugang durch eine bestimmte faktische Welterfahrung, z.B. die
Europäische,24 aber die Wissenschaft von der Lebenswelt sucht nach dem Eidos
»Welt«, nicht Typen faktischer Welterfahrung, die sich empirisch beschreiben
ließen. Letztere sind aber immer jeweils der erste Zugang zur Welt, von der
jeweiligen, individuellen first person perspective aus; und die so erfahrenen Welten können aber Anlass vergleichender Beschreibung werden, um dem Eidos
mehr Inhalt zu geben.25 Sie sind jedoch nichts weiter als eben das: Anlässe weiterer eidetischer Variationen, etwa von Aspekten, die dem phänomenologischen
Beobachter, der wie jeder faktische Mensch einen perspektivischen und damit
begrenzten Zugang zu seinem Thema hat, zunächst nicht auffaUen würden, und
der somit andere Perspektiven willkommen heißen muss, wenn er die phänomenologische Aufgabe richtig versteht, als Aufgabe einer Forschergemeinschaft,
einer besonderen scientific community. So wird klar, dass die von Husserl immer
wieder betonte first person perspective keinen in sich abgekapselten Cartesianismus oder Solipsismus bedeuten muss. Der jeweils individuelle Zugang »je meiner« eigenen Subjektivität steht weder im Widerspruch zu anderen Zugängen,
die ihre »Tradition« mitbringen und mich aufklären können über meine eigenen
»Scheuklappen«, noch dazu, dass meine eigene Perspektive eine Tradition hat,
die mich und mein Sehen beeinßusst.26 Um es metaphorisch zu sagen: Ich sehe
24 Den Europäischen Charakter der Zugangsweise für »uns Westler« zu betonen, schließt
noch nicht die weitergehende Husserlsche These vorn notwendig »Europäischen« Charakter
der Wissenschaft bzw. einer anzustrebenden Weltkultur ein; eine These, die hier nicht vertreten
wird und auch m.E. dem Programm einer phänomenologischen Eidetik widerspricht.
25 Vgl. Hua XXXIX, 170-172, wo Husserl eine solche »hermeneutische« Dimension der Lebensweltwissenschaft ausbuchstabiert.
26 Die philosophische Hermeneutik Gadamers betont zwar immer Letzteres - dass ich in
meiner eigenen Subjektivität immer Produkt von außer-subjektiven Traditionen und Einflüssen
Phänomenologie als Erste Philosophie
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immer nur aus meinen Augen, auch wenn ich dabei auf den Schultern von Riesen stehe.
Es muss nun aber noch der Charakter dieser Eidetik beschrieben werden, um
ihren Charakter als »strenge Wissenschaft« begreifen zu können. Das Problem
hierbei ist das Folgende: Normalerweise fasst man eidetische Wissenschaften als
solche auf, die apriori sind, d.h. notwendige und allgemeine Aussagen machen,
also mit anderen Worten objektiv sind, wie das Paradigma der Mathematik. Was
diese objektiv macht, ist, dass sie nicht standpunktgebunden sein kann, sondern
als objektive Wissenschaft ist sie Wissenschaft von der third person perspective.
Daher ist schon der Begriff einer etwa »französischen Mathematik« absurd. Etwas, was einen subjektiven Standpunkt enthält, kann demgemäß keine Wissenschaft sein (so ist auch die moderne, z.B. klinische, Psychologie Wissenschaft von
der third person perspective). Wo sich »Subjektives« einschleicht, auch nur ein
Hauch von einer first person perspective, ist der Standpunkt der Wissenschaft
verlassen. Einen vollkommenen standpunktlosen Standpunkt einzunehmen,
mag unmöglich sein, aber er ist das Ideal des Wissenschaftlers, wie es Thomas
Nagel mit seinem gelungenen Begriff des »view from nowhere«27 gefasst hat: als
ein zugleich unmöglicher, aber idealiter zu erstrebender Standpunkt. Demgegenüber die Welt also so zu beschreiben, wie sie von der Erfahrungsperspektive aus
erlebt wird, kann also keine apriorische Wissenschaft, sondern nur empirische
Beschreibung (sofern man diese als Wissenschaft überhaupt will gelten lassen)
erbringen. Wissenschaft vom Subjektiven, oder subjektive Wissenschaft ist, laut
dieser (traditionellen) Denkweise, ein Missbrauch des Wissenschaftsbegriffs.
Diese Wissenschaftsauffassung aber ist, wie bereits Dilthey und die Neukantianer vor Husserl kritisch betont haben, ein Relikt aus dem 19. Jahrhundert,
die den Sinn von Wissenschaft unnötigerweise einschränkt auf Objektivität. 28
Zunächst also muss dieser Wissenschaftsbegriff kritisiert werden; denn Wissenschaft geht nicht darin auf, so betont Husserl, objektive Wissenschaft zu sein,
aber es gilt »die bis heute in dem von der Ausbildung der exakten Wissenschaften bestimmten Entwicklungsstrom vorherrschende Auffassung, dass nur die exakten Wissenschaften >erklärende<Leistung vollziehen, während [die] beschreibenden Disziplinen nur vorbereiten, was erst durch die exakten Wissenschaften
bin -, scheint mir aber den ersteren Aspekt - dass trotz dieser Tatsache der Zugang zur Welt
immer je meiner ist - zu vernachlässigen.
27 Thomas Nagel:The View from Nowhere, Oxford 1989. Der Begriff ist freilich kein Neologismus Nagels, aber doch von ihm als Teil des Begriffspaars >first <und >third person perspective<
berühmt gemacht worden.
28 Allerdings ist auch zu betonen, dass die Unterscheidung von idiographisch und nomothetisch (der Südwestdeutschen Schule) weder für Dilthey noch für Husserl akzeptabel ist. Auch
die Phänomenologie ist ja Wesenswissenschaft (d.h. Gesetzeswissenschaft, sogar von apriorischen Gesetzen); wäre sie idiographisch, wäre sie in der Tat bloße »Bilderbuch«-Wissenschaft.
Zu Husserls Kritik am Badener Neukantianismus vgl. Hua. XXXII.
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Sebastian Luft
einer Erkenntnis des wahren Seins - eines metaphysischen An-sich - entgegengeführt werden kann«.29
Also die Gleichung eidetische = objektive Wissenschaft ist ein bloßes Vorurteil; oder anders gesagt: Nicht jede Gesetzesfeststellung muss sich auf Gesetze
der objektiven Welt beziehen, d.h. auf die Welt ohne Beachtung der Zugangsweise zu ihr. Die Phänomenologie als Erste Philosophie erarbeitet demgegenüber, in Bezug auf die Welt als Lebenswelt (also vom Standpunkt ihres Erlebtseins her), eine Eidetik der Welt, wie sie subjektiv, d.h. in der first person
perspective, erlebt wird. Die Eidetik ist also nicht normativ (wie etwa die Logik, die korrekte Schlussregeln normiert) , sondern deskriptiv, sie ist »beschreibende Disziplin«. Hier ändert sich wiederum der Sinn dieser Eidetik, bzw. sie ist
eine Eidetik von ganz eigener Art. Ist Mathematik eine Eidetik der third person perspective, ist die transzendental-eidetische Phänomenologie eine Eidetik
der first p erson perspective. Als Begriff hierfür verwendet Husserl auch jenen
der >Auslegung<, was als Methode dieser Eidetik - gegenüber >Erklärung< als
Methode einer objektiven Eidetik - fixiert werden kann. Phänomenologische
Eidetik ist Auslegung von Bewusstseinsvorgängen und ihren Inhalten gemäß
ihrem gesetzesmäßigen Charakter, und als solche ist die A rt der Wesensgesetze
auch von ganz anderer Gestalt als alle bisher bekannte Eidetik. Hinsichtlich
ihres Themas, der Lebenswelt, ist sie »[d]eskriptive Wissenschaft von der Umwelt
auf Grund der Vorgegebenheit und einer theoretisch absichtlich beobachtenden
und nach dem Individuell-1)rpischen fixierenden Erfahrung und Erfahrungsaussage«.3 0
Das bedeutet, dass die Arten von Gesetzen auch einen eigenständigen Charakter haben. Man kann diese Eidetik auch als »weich« oder »fuzzy« bezeichnen
mit Gesetzen der Art von »1)rpus«, »Stil«, wie wenn Husserl von Individualund Gattungstypen lebensweltlicher Erfahrung spricht, wie sie mir z.B. in der
Erfahrung von »Familie, Freunde, Kollegen, Volksgenossen etc. «31 zukommen,
oder wenn Husserl vom »Kausalstil« der Lebenswelt spricht, wie sie uns durch
Habitualisierungen bekannt wird, etc.32 Ebenso kann Husserl von »idealen
Menschheitstypen« sprechen, wie etwa Europäern oder Indern.33 Man würde
Husserl hier falsch verstehen, wenn man die entsprechenden Beschreibungen
29 Hua XXXIX, 732. Man sieht hier, wie Husserl die neukantianische Unterscheidung von
nomotethisch und idiographisch auf erklärende und beschreibende Wissenschaften, respektive,
bezieht bzw. selbstverständlich als solche versteht.
30 Hua XXXIX, 172.
31 V gJ. Hua XXXIX, 60.
32 Zur Charakterisierung von Wesen und Wesensgesetzen dieser »subjektiven Eidetik« vgJ.
Rochus Sowa: Wesen und Wesensgesetze in der deskriptiven Eidetik Edmund Husserls. In: Phänomenologische Forschungen (2007) 5-37.
33 VgJ. hierzu das vom Verfasser edierte Nachlassmanuskript: Sokrates und Buddha. An
unpublished manuscript from the archives edited by Sebastian Luft. In: Husserl Studies 26
(2010) 1- 17.
Phänomenologie als Erste Philosophie
149
als kulturanthropologische auffassen würde; oder wenn, dann so, wie man etwa
»Choleriker« von »Sanguinikern« unterscheidet, Charakteristiken, die durchaus nicht nur auf homo sapiens anwendbar sein müssen, sondern auch etwa auf
häherentwickelte Tiere oder - wer weiß? - auf Marsmenschen. Die fehlende
»Präzision« aber ist kein Argument gegen ihre Wissenschaftlichkeit. Hier mag
man, ganz zu Recht, an die alte Aristotelische Mahnung im Kontext der Ethik
als Wissenschaft erinnern, man dürfe »Genauigkeit nicht bei allen Wissenschaften in gleichem Maße anstreben. [.. .] Darin zeigt sich der Kenner, dass man in
den einzelnen Gebieten je den Grad von Genauigkeit verlangt, den die Natur
der Sache zulässt, und es wäre genauso verfehlt, wenn man von einem Mathematiker Wahrscheinlichkeitsgründe. annehmen, wie wenn man von einem Redner
[.. . ] strenge Beweise fordern woLLte. «34
Wissenschaft ist also nicht unbedingt alles, was sich »exakt« angeben lässt,
wenn man darunter etwas Festes, Unabänderliches versteht. Der »feste Stil« der
1Ypik der Lebenswelt - wie etwa, dass Dinge typischerweise in Abschattungen
begegnen, wobei Ausnahmen (das Haus, was sich als zweidimensionales Plakat
herausstellt) die Regel bestätigen - ist ebenso gesetzmäßig wie ein Syllogismus,
wobei man die Unabänderlichkeit eines Gesetzes selbst nicht mit der »Weichheit« seines Inhalts verwechseln darf.
Schließlich lässt sich der »subjektive« Charakter der Lebensweltwissenschaft
noch genauer angeben, und er folgt aus Husserls Kritik der neuzeitlichen Wissenschaften, wie man sie aus der Krisis-Schrift kennt. Bekanntlich lautet HusserLs Kritik an der neuzeitlichen Wissenschaft, dass sie in ihrem idealisierenden
Verfahren den Anfangsboden ihrer Aktivität vergisst: das ist die Lebenswelt.
Die Lebenswelt als subjektiv-relative Welt wird im Zuge der objektiven Wissenschaft der Neuzeit - aus Motiven, die bereits in der antiken Wissenschaft
angelegt sind - ent-subjektiviert, d.h. genau ihr Charakter im Gegebensein für
ein erfahrendes Bewusstsein in seinem leiblich verfassten, standpunkt-gebundenen Dasein übersprungen bzw. bewusst nicht in Betracht gezogen. Die objektive
Wissenschaft betreibt also bewusst eine Ent-Perspektivierung der Welt in der
naiven Meinung, nur so könne man Wissenschaft, und nicht bloße Beschreibung, situative Gemütsäußerungen, tätigen.35 Dieser objektivierenden Tendenz
möchte die Phänomenologie schon allein deswegen entgegenwirken, weil die
first person perspective als legitime und v.a. immer schon erste Zugangsweise
zur Welt schlichtweg nicht zur Kenntnis genommen wird. Es geht aber um mehr
als nur darum, einer extremen Tendenz eine entgegengesetzte ebenso extreme
gegenläufige Tendenz entgegenzusetzen.
Aristoteles: Nikomachische Ethik, 1094b.
Die Genesis dieser - idealisierenden und in diesem Prozess exzessiv werdenden -WissenSChaftsauffassung lässt sich selbst wieder mit der Methode der genetischen Phänomenologie rekonstruieren, wie es Husserl am Beispiel von Galilei im berühmten Paragraphen 9 der Krisis tut.
34
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Vielmehr stellt die Phänomenologie die objektiven Wissenschaften von dem
Kopf auf die Füße, stellt also die rechte, durch das neuzeitliche Wissenschaftsdogma in Verwirrung geratene Ordnung wieder her: Die Re-Perspektivierung,
die durch die phänomenologische Betrachtung erreicht wird, erbringt vielmehr
die Einsicht, dass die immer schon erste Erfahrungsweise der Welt die perspektivische ist, aber diese ist immer schon eine vorwissenschaftliche Perspektive.
Die Betonung der Vorgegebenheit der Welt meint genauer die Gegebenheit vor
aller Theorie. Die Phänomenologie ist in diesem Sinne eine Theorie von der
vortheoretischen WeLt, eine Theorie der Untheorie, einer Sphäre, die vordem
nur Verachtung fand : Die Phänomenologie als eidetische Wissenschaft ist somit >ETItOL~Il'l < von der >66;0<, die die immer schon erste Lebensweise ist. Die
»Urevidenz«, auf die ich mich immer schon verlasse in der »natürlichen Einstellung«, ist schlichtweg die Existenz der Welt als Urboden, von dem aus alle
weiteren Aktivitäten ausgehen. Also ist die Lebensweltwissenschaft nicht nur
eine mögliche weitere Wissenschaft neben den objektiven, sondern die erste und
grundlegende im logischen Aufbau der Wissenschaften. Sie ist also im emphatischen Sinn Erste Philosophie und als solche letztbegründend, wie Husserl in der
Krisis schreibt, und ohne Ironie (aber in rhetorischer Formulierung) als »höher
im Wert« bezeichnet: »Und vielleicht ist die Wissenschaftlichkeit, die diese Lebenswelt als solche und in ihrer Universalität fordert, eine eigentümliche, eine
eben nicht objektiv-logische, aber als die letztbegründende nicht die mindere,
sondern die dem Werte nach höhere.«36
IV. Zusammenfassung und Ausblick
Zusammenfassend kann man sagen: Die Phänomenologie als Erste Philosophie im engeren Sinn ist die eidetische Wissenschaft von der transzendentalen
Sphäre, die sich aufteilt - noetisch, noematisch - in eidetische Wissenschaft vom
Bewusstsein und der einem Bewusstsein horizonthaft vorgegebenen Welt, wie
sie schlicht vorgegeben ist, d.h. in der natürlichen Einstellung vor allem »theoretischen« Zugang zu dieser Vorgegebenheit selbst. Die phänomenologische
Beschreibung verlangt also ein Wieder-Erlernen der vorwissenschaftlichen
Naivität, die es wissenschaftlich zu sehen und beschreiben gilt. Wissenschaftlich
heißt aber nicht »objektiv«, wie hierzu auch gerade keine objektive Einstellung
einzunehmen ist, sondern ein Wieder-Erlernen einer Haltung, die wir »immer
schon« angenommen haben - ja, in die wir hineingeboren wurden - , von der wir
aber »immer schon« - als dem neuzeitlichen wissenschaftlichen Ideal verfallen glaubten, sie überwinden zu müssen. So ist Husserls eigenes wissenschaftliches
Ideal einer strengen Wissenschaft von der first person p erspective auch zugleich
verbunden mit der Kritik eines Wissenschafts bildes, demzufolge nur das wissen36
Hua VI, 127.
Phänomenologie als Erste Philosophie
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schaftlich ist, was »exakt«, objektiv, und das heißt: ent-perspektiviert beschreibbar ist. Dass Husserl dabei betont, dass der phänomenologisch Beschreibende
ein »unbeteiligter Beobachter« sein soll, heißt dabei nur, dass die Verpflichtung
zur first person perspective keine Beliebigkeit impliziert.37
Um zu dieser first person perspective, in der die Welt als vorwissenschaftliche
Lebenswelt gegeben ist, zu gelangen, ist ein »Abbau« höherer kultureller, wissenschaftlicher etc. Schichten nötig. Die Welt als Lebenswelt ist also, obwohl sie
das Selbstverständlichste überhaupt ist, doch nicht in gleicher Selbstverständlichkeit zugänglich, sondern erfordert eine besondere Methode ihres Zugänglich-Machens. Die Beschreibung selbst aber sucht ebenfalls invariante Weisen
des Gegebenseins der Welt mit den Dingen und Strukturen dieser Welt darin,
einer Welt, wie sie für ein wesentlich leibhaft verfasstes Bewusstsein sich gibt
und nur so geben kann. Aufgrund der Leiblichkeit hat dieses Bewusstsein einen
Standpunkt, welcher der Ausgangspunkt aller Aktivitäten ist, auch derjenigen,
die den Standpunkt selbst ent-perspektivieren.
Die Lebensweltwissenschaft ist somit noematischer Bestandteil der Phänomenologie als Erster Philosophie, die als eidetische Hermeneutik des faktischen
Lebens als Lebens in einer horizonthaft bewussten und sinnvollen Welt bezeichnet werden kann. »Lebenswelt« ist damit ein transzendentaler Begriff, der der
transzendentalen Subjektivität als Intersubjektivität korreliert. Erst in dieser
Endgestalt der transzendental-eidetischen Phänomenologie kann Husserl die
Forderung der Phänomenologie als »strenger Wissenschaft« einlösen.
Gleichzeitig ergibt sich mit Blick auf die heutige Verwendung des Begriffs in
empirischen Wissenschaften (etwa der Soziologie) hin zur pseudo-wissenschaftlichen Alltagssprache, die auch gerne in ähnlicher Verzerrung von »sublimieren« oder »Unterbewusstsein« spricht, dass die Bedeutung des Husserlschen
Begriffs von den meisten gegenwärtigen Verwendungen himmelweit entfernt
ist. Ob dies in sich selbst etwas Schlechtes, etwa ein Zeichen von Verfall - der
(Wissenschafts-)Kultur etwa - ist, soll hier nicht entschieden werden; fest steht
jedoch, dass das Husserlsche Projekt der Lebensweltwissenschaft Teil seiner
Bemühungen ist, die deskriptive Phänomenologie als sowohl transzendentale
Philosophie wie Wesenswissenschaft zu etablieren. Dass sie darin von den empirischen Wissenschaften »borgen« kann, bzw. sich bi- bzw. multilaterale Beziehungen zwischen Phänomenologie und anderen Wissenschaften knüpfen lassen,
ist hierbei kein Mangel, sondern explizit zu begrüßen. Auch hierin erweist sich
Husserl als Transzendentalphilosoph im besten Sinn des Wortes, der sich - wie
dies bei Kant selbst, sowie bei den Vertretern des Deutschen Idealismus wie
des Neukantianismus selbstverständlich war - von den übrigen Wissenschaften
37 Das unbeteiligte Beobachten wird v.a. in der Vorlesung Erste Philosophie präzisiert als
ein Unbeteiligtsein an den Seinssetzungen, die in der natürlichen Einstellung vollzogen werden;
vgl. Hua VIII, 106 ff.
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Sebastian Luft
belehren und in seiner Forschung bereichern lässt. So kann die Phänomenologie
selbstbewusst den Rang der Ersten Philosophie einnehmen, ohne in Gefahr zu
laufen, zur »Dienstmagd der Wissenschaften« degradert zu werden. 38
38 Eine gekürzte Version dieses Aufsatzes wurde auf der XXI. Tagung der Allgemeinen
Gesellschaft für Philosophie in Essen im September 2008 vorgetragen. Ich danke den Diskussionsteilnehrnern - insbes. David Carr, Laszl6 Tengelyi und Rochus Sowa - für ihre kritischen
wie hilfreichen Fragen und Kommentare, die ich für die letzte Version zu berücksichtigen suchte. Alle verbleibenden Unzulänglichkeiten sind freilich meine Schuld.
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