ī e ī Erschienen in der Reihe Herausgeber der Reihe Anschrift des Autors ḥ ʿaqīda) ā ʿ ṯ ī ā ī Ṣā ḥ ā tauḥīd ā ʿ ʿ ī al-walāʾ wa-l-barāʾ ū ī Ḥ ū ā Studies on Islamic Cultures and Societies No. 1-2014 Fabian Wagener Die Ideologie des Salafismus Theologische Gemeinsamkeiten und politische Friktionen Eine Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der ägyptischen Salafīya Seminar für Arabistik und Islamwissenschaft - Philosophische Fakultät Georg-August-Universität Göttingen 2014 Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung ............................................ 3 1.1 Zur Gliederung ................................................................................................. 6 1.2 Zu Ideologiebegriff und Quellenauswahl ......................................................... 7 2 Begriffsbestimmung und theoretischer Hintergrund ..................................... 10 2.1 Salafismus ....................................................................................................... 10 2.2 Islamismus ...................................................................................................... 19 2.3 Fundamentalismus .......................................................................................... 22 3 Ideologischer Hintergrund: Saudi Arabien und die Wahhābīya ................... 27 3.1 Zum Begriff Wahhābīya ................................................................................. 29 3.2 Theologie ........................................................................................................ 30 3.3 Politik.............................................................................................................. 33 Das einende Band: Die salafistische ʿaqīda 4 Das salafistische tauḥīd-Konzept ................................................................... 41 4.1 4.1.1 Tauḥīd ar-rubūbīya 4.1.2 Tauḥīd al-ulūhīya .............................................................. 41 ................................................................. 42 4.1.2.1 Das Hilfegesuch beim Propheten und die Richtlinien des takfīr 4.1.2.2 Der Prophetengeburtstag und die Doktrin al-walāʾ wa-l-barāʾ Tauḥīd al-asmāʾ wa-ṣ-ṣifāt 4.1.3 5 .......................................... 39 43 .. 46 ................................................... 54 Der trennende Faktor: Salafismus und Politik .......................................... 60 5.1 Puristischer Salafismus ................................................................................... 60 5.2 Politischer Salafismus..................................................................................... 67 5.3 Fallbeispiel: Die ägyptische Salafīya vor, während und nach der Revolution ...................................................................................................... 69 5.3.1 Die ägyptische Salafīya vor und während der Revolution ................. 69 5.3.1.1 Die ägyptische Salafīya und politische Partizipation ......................... 69 5.3.1.2 Die ägyptische Salafīya und das Mubārak-Regime 5.3.2 Die ägyptische Salafīya nach der Revolution ................... 73 ...................... 77 6 Fazit .......................................... 87 7 Literaturverzeichnis .......................................... 90 7.1 Bücher, Aufsätze und Artikel .......................................................................... 90 7.2 Quellen aus dem Internet ................................................................................ 93 2 1 Einleitung1 Im Januar 2012 gab die ägyptische Wahlkommission das offizielle Endergebnis der ersten Parlamentswahlen nach dem Sturz Ḥusnī Mubāraks bekannt. Dass die der Muslimbruderschaft nahestehende „Freiheits- und Gerechtigkeitspartei“ (Ḥizb al-Ḥurrīya wal-ʿAdāla) dabei einen eindeutigen Wahlsieg erlangen konnte, dürfte die wenigsten Beobachter überrascht haben. Weit überraschender erscheint indes das gute Abschneiden der salafistischen „Partei des Lichts“ (Ḥizb an-Nūr), die mit über 20 Prozent der Stimmen zur zweitstärksten Kraft im neugewählten Parlament avancierte. Dieses Ergebnis ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil die ägyptische Salafīya vor der Revolution politisch kaum in Erscheinung getreten ist. Im Gegenteil: Weite Teile des salafistischen Milieus zeichneten sich durch ein ausgesprochen hohes Maß an Skepsis gegenüber jeglicher Form politischen Engagements aus. Dieser „politische Skeptizismus“ trat im Frühstadium der ägyptischen Revolution offen zu Tage, als die bekanntesten salafistischen Organisationen die regimekritischen Demonstrationen verurteilten und ihren Anhängern von der Teilnahme an diesen abrieten.2 Die Politisierungstendenzen innerhalb der ägyptischen Salafīya haben dazu beigetragen, dass sich der mediale und wissenschaftliche Blick auf den salafistischen Islam geöffnet hat. Wurde dieser lange Zeit v.a. vor dem Hintergrund sicherheitspolitischer Erwägungen betrachtet und mit ǧihādistischen Organisationen wie al-Qaida in Verbindung gebracht, wird er heute als weit vielfältigere globale und transnationale Strömung wahrgenommen.3 Bei der Beschäftigung mit der medialen und wissenschaftlichen Literatur zum Salafismus stößt man häufig auf zwei unterschiedliche und sich im Kern widersprechende Deutungsmuster. Während die Einen im Salafismus eine besonders strikte und traditionalistische Variante des Islams zu erkennen glauben, halten die Anderen den Salafismus für eine moderne und anti-traditionalistische Bewegung. Als Beispiel für die erstgenannte Deutung lässt sich ein im vergangenen Jahr erschienener Artikel des Spiegel anführen, in dem der Salafismus als „streng konservativer“ und „streng 1 Die vorliegende Arbeit basiert im Wesentlichen auf der Magisterarbeit des Autors, die im April 2013 an der Universität Göttingen eingereicht wurde.. 2 Vgl. Amīma ʿAbd al-Laṭīf: as-Salafīyūn fī miṣr wa-s-siyāsa, Doha 2011, S. 3-5. Unter: http://www.dohainstitute.org/file/pdfViewer/fb4a7d15-29e4-49f8-97fb-7db0fd298c15.pdf Letzter Zugriff: 1.3.2013. 3 Tendenzen in diese Richtung lassen sich bereits vor den arabischen Revolutionen ausmachen. So erschien die aus meiner Sicht differenzierteste Darstellung des Salafismus mit Roel Meijers Sammelband Global Salafism – Islam´s New Religious Movement bereits 2009. Gleichwohl nimmt die Debatte um den militanten Salafismus auch in diesem „Standardwerk“ einen breiten Raum ein. Vgl. Roel Meijer (Hg.): Global Salafism – Islam´s New Religious Movement, London 2009. 3 orthodoxer Islam“ bezeichnet wird.4 Das von den Autoren diagnostizierte Anwachsen der salafistischen Bewegung wird dabei u.a. mit dem Anstieg der generellen Frömmigkeit unter Muslimen begründet. Je frommer ein Muslim, desto eher neige er demnach dem salafistischen Islam zu. Die Bezeichnung „streng orthodoxer Islam“ suggeriert, dass es innerhalb der islamischen Religion einen definierbaren Kanon an Dogmen und Werten gibt, die als Standards der Rechtgläubigkeit angesehen werden können und von zeitgenössischen Salafisten in strikterer Weise befolgt werden als von nichtsalafistischen Muslimen. Ein Salafist wird so zu einem strenggläubigen, in gewisser Weise jedoch auch zu einem besonders „muslimischen“ Muslim, da er zentrale islamische Wertvorstellungen nach dieser Lesart in besonders pointierter Form vertritt. Dies entspricht voll und ganz dem salafistischen Selbstverständnis. Salafisten selbst sehen sich als Bewahrer und Repräsentanten des einzig authentischen Islams. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass manche Salafisten den Begriff der Orthodoxie selber verwenden, etwa wenn sie englischsprachige Übersetzungen von Texten salafistischer Gelehrter in einem Verlag namens „The Orthodox Press“ herausgeben. Während Salafisten nicht selten in der öffentlichen Diskussion stehende Konzepte, Ideen und Begrifflichkeiten aufgrund ihres vermeintlich westlichen Ursprungs als „unislamische Neuerungen“ (bidaʿ, Sg. bidʿa) verwerfen, nutzen sie in ihrem Streben nach Authentizität mit dem Orthodoxiebegriff einen aus der christlichen Kirchengeschichte entlehnten Terminus. Nicht wenige widersprechen der eben skizzierten Deutung vehement. Für sie weisen Salafismus und islamische „Orthodoxie“ keinerlei ideologische Schnittmengen auf. Im Gegenteil: „[Die] missionarische Ideologie der Salafiten zielt weniger auf den Westen als auf den traditionellen und orthodoxen Islam mit seiner oft noch synkretistischen Vielfalt ab.“ 5 Für den Islamwissenschaftler Thomas Bauer hat der Salafismus mehr mit „den Vernunftannahmen der cartesianischen Moderne“ als mit dem „gewissermaßen orthodoxen sunnitischen Gelehrtenislam“ gemein. Der salafistische Anspruch auf den Besitz der exklusiven Wahrheit und die damit verbundene antipluralistische Grundhaltung werden als Reaktion auf die westlich-moderne Forderung nach ideologischer Eindeutigkeit verstanden.6 Die Stoßrichtung dieser Argumentation ist offenkundig: Dem exklusivistischen Islamverständnis der Salafīya wird das Bild eines pluralistischen und diesem Pluralismus gegenüber aufgeschlossenen 4 Vgl. Matthias Bartsche, Maximillian Popp, Christoph Scheuermann: Die Scharfmacher, in: Der Spiegel, Nr.8/2012, S. 48-50. 5 Stefan Weidner: Aufbruch in die Vernunft - Islamdebatten und islamische Welt zwischen 9/11 und den arabischen Revolutionen, Bonn 2011, S. 21. 6 Vgl. Thomas Bauer: Die Kultur der Ambiguität – Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011, S. 24, S.127, S.191. 4 „traditionellen“, „klassischen“ oder „orthodoxen“ Islam entgegengestellt.7 Dadurch bekommt der Salafismus den Charakter einer „heterodoxen“ Außenseiterbewegung, deren ideelle Verwurzelung in einer nicht immer näher definierten islamischen Tradition in Zweifel gezogen wird. Der Islamwissenschaftler Stefan Weidner geht sogar so weit, den Salafismus seiner islamischen Wurzeln fast vollständig zu entledigen. In seiner in den allermeisten Aspekten berechtigten Kritik am deutschen Islamdiskurs schreibt er an die Adresse der sogenannten Islamkritiker: „Leider ist ausgerechnet unsere Islamkritik blind gegen den Unterschied von Islam und salafitischem Extremismus.“8 Es ist richtig, dass sich die islamische Religion seit frühesten Tagen durch eine synkretistische Vielfalt auszeichnet. Und es ist ebenfalls richtig, dass zahlreiche Muslime diese Vielfalt als enorme Bereicherung empfanden und empfinden. Dennoch erscheint es mir nicht angemessen den Salafismus als bloßen Oberflächeneffekt der Moderne zu beschreiben und ihm gewissermaßen nicht mehr als eine islamische Scheinidentität zuzugestehen. Wie in dieser Arbeit gezeigt werden soll, knüpfen zeitgenössische Salafisten an ideengeschichtliche Traditionen an, die durchaus in die vormoderne Zeit zurückreichen. Insbesondere die theologischen Prämissen des Salafismus sind weit weniger das Ergebnis einer „Neuschaffung des Islams“9 im Lichte moderner Ideologien, als vielmehr das Resultat innerislamischer Debatten und Reformbestrebungen des 18. Jahrhunderts. In ihrer Wertschätzung bestimmter Gelehrter und in ihrem Zugang zu den religiösen Quellen unterscheiden sich Salafisten zweifelsohne von vielen Muslimen, der Salafismus ist deshalb jedoch weder „islamischer“ noch „weniger islamisch“ als andere religiöse Strömungen. Auf welche ideengeschichtlichen Traditionen aber beruft sich der zeitgenössische Salafismus? Welche ideologischen Ansichten vertreten Salafisten, was ermöglicht es, einen salafistischen Muslim von einem nichtsalafistischen Muslim zu unterscheiden? Und in welchen Aspekten divergieren Salafisten untereinander? Oder anders gefragt: Kann überhaupt von dem Salafismus gesprochen werden? Diese Fragen sollen in der vorliegenden Arbeit beantwortet werden, bedürfen gleichwohl einer Präzisierung. Es ist das Ziel dieser Arbeit, den salafistischen Islam mit Blick auf zwei 7 Zur Diskussion über die Verwendung des Orthodoxiebegriffes in der Islamwissenschaft und für einen Überblick über unterschiedliche Definitionen islamischer „Orthodoxie“ vgl. Robert Langer, Udo Simon: The Dynamics of Orthodoxy and Heterodoxy. Dealing with Divergence in Muslim Discourses and Islamic Studies, in: Die Welt des Islams 48 (2008), S. 273-288. Und Alexander Knysh: “Orthodoxy“ and “Heresy“ in medieval Islam: An Essay in Reassessment, in: The Muslim World, Vol. LXXXIII, No. 1 (1993), S. 48-67. 8 Weidner: Aufbruch in die Vernunft, S. 21. 9 Vgl. Bauer: Kultur der Ambiguität, S. 52. Bauer spricht hier vom Islamismus als „Neuschaffung des Islams als einer Ideologie.“ Da er jenen „neuen“ Islam in seinem gesamten Buch jedoch v.a. anhand salafistischer Positionen zu veranschaulichen versucht, dürfte er hier nicht zuletzt den salafistischen Islam vor Augen haben. 5 Themenfelder näher zu beleuchten: Theologie und Politik. Diese Auswahl wurde v.a. deshalb getroffen, weil sich die ideologischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede unter zeitgenössischen Salafisten anhand dieser Kategorien gut veranschaulichen lassen. Während Salafisten auf theologischer Ebene die gleichen Grundprämissen teilen, die es ermöglichen vom Salafismus als einer eigenständigen religiösen Tradition mit spezifischen Konturen zu sprechen, ist der Salafismus im politischen Bereich eine hochgradig fragmentierte Bewegung.10 1.1 Zur Gliederung Um die oben aufgeworfenen Fragen zu beantworten, wird die Arbeit in folgende Abschnitte eingeteilt: Dieser Einleitung folgt in Kapitel 2 eine Betrachtung der Begriffe Salafismus, Islamismus und Fundamentalismus. Diese Begriffe werden im medialen wie im wissenschaftlichen Diskurs in vielfacher, aber oftmals missverständlicher Weise verwendet. Nicht zuletzt um definitorischen Unklarheiten im weiteren Verlauf der Arbeit vorzubeugen, erscheint mir ein genauer Blick auf die genannten Begriffe unvermeidlich. Kapitel 3 widmet sich der saudischen Wahhābīya, deren ideologischer Einfluss auf den zeitgenössischen Salafismus mehrfach nachgewiesen wurde.11 Hier sollen zunächst Genese und Entwicklung zentraler theologischer Grundpositionen der Wahhābīya nachgezeichnet werden. Darüber hinaus werden einige Schlaglichter auf den innersaudischen Politikdiskurs geworfen. Das ist vor allem deshalb wichtig, weil Spannungen und Friktionen innerhalb der Salafīya ohne Kenntnis dieses Diskurses nicht nachvollzogen werden können. In Kapitel 4 wird die salafistische ʿaqīda näher betrachtet, die als das einende Element aller Salafisten angesehen werden kann.12 Der Fokus liegt dabei auf den salafistischen Vorstellungen zur Einheit Gottes (tauḥīd), weil diese das Herzstück der salafistischen Glaubenslehre bilden und die folgenreichsten Implikationen aufweisen. Insbesondere in diesem Kapitel wird der Einfluss des wahhābitischen Islams auf den zeitgenössischen Salafismus deutlich. Kapitel 5 dieser Arbeit befasst sich mit dem komplexen Verhältnis von Salafismus und Politik. In diesem Kapitel werden wir sehen, dass sich Salafisten - trotz ihrer theologischen Gemeinsamkeiten - in ihren politischen Ideologien und Handlungsmustern gravierend 10 Vgl. Bernard Haykel: On the Nature of Salafi Thought and Action, in: Meijer: Global Salafism, S. 33-57, hier: S. 38-42. Vgl. auch Quintan Wiktorowicz: Anatomy of the Salafi Movement, in: Studies in Conflict and Terrorism, Vol. 29, 2006, S. 207-239. Insbesondere S. 208f. 11 Vgl. u.a. Noorhaidi Hasan: Ambivalent Doctrines and Conflicts in the Salafi Movement in Indonesia, in: Meijer: Global Salafism, S. 169-188. Vgl. Haykel: On the Nature of Salafi Thought and Action, S. 33-57. 12 Vgl. Bernard Haykel: On the Nature of Salafi Thought and Action, S. 38-42. 6 unterscheiden. An dieser Stelle soll ein genauerer Blick auf die eingangs angedeuteten Entwicklungen innerhalb der ägyptischen Salafīya geworfen werden, weil sich anhand dieser die Komplexität und Dynamik salafistischen politischen Handelns gut nachzeichnen lassen. Kapitel 5 ist also in Teilen eine Fallstudie, die sich mit dem Verhalten und der politischen Positionierung ägyptischer Salafisten vor, während und nach der Revolution befasst und gleichfalls einen ersten Versuch unternimmt, das Staats- und Demokratieverständnis von Teilen der nachrevolutionären Salafīya näher zu beleuchten. Mit Blick auf die politischen Friktionen innerhalb des salafistischen Islams ist an dieser Stelle jedoch eine einschränkende Bemerkung notwendig: Im Mittelpunkt des „politischen“ Teils dieser Arbeit steht die Betrachtung der ägyptischen Salafīya. Nicht zuletzt, weil der sogenannte ǧihādistische Salafismus für diese Betrachtung keine Relevanz besitzt, wird sich in dieser Arbeit auf die Darstellung der politischen Spannungsfelder zwischen nichtmilitanten Salafisten beschränkt. 1.2 Zu Ideologiebegriff und Quellenauswahl Die vorliegende Arbeit versteht sich in erster Linie als Analyse der salafistischen Ideologie, wobei der Ideologiebegriff im wertneutralen Sinne als charakteristisches Ideen- und Gedankensystem, als Produktion von Bedeutungen, Symbolen und Werten verstanden wird und religiöse Überzeugungen ausdrücklich mit einschließt.13 Damit widerspricht der hier verwendete Ideologiebegriff sowohl der populären Auffassung von Ideologie als einem „rigid framework of preconceived ideas“14 als auch der aus der marxistischen Theorie bekannten Deutung von Ideologie als „falschen Ideen“, die in erster Linie der Festigung bestehender Machtverhältnisse dienen.15 In dieser Arbeit soll die Ideologie des Salafismus untersucht werden, nicht zuletzt, weil sie bedeutsame Funktionen erfüllt: Sie dient der Selbstvergewisserung und Abgrenzung, definiert Kriterien und Grenzen der Gruppenzugehörigkeit und kann soziales und politisches Handeln legitimieren. In ihr kommen sowohl gegenwärtige Interessenlagen und Wertpositionen als auch generelle Geschichtsdeutungen und Zukunftserwartungen zum Ausdruck.16 Auch für den Salafismus gilt, was Riesebrodt als generelles Charakteristikum „religiöser Revitalisierungsbewegungen“ ausmacht: Revitalisierungsbewegungen setzen sich kritisch mit der gesellschaftlichen Realität auseinander und erheben den Anspruch, daß die von ihnen diagnostizierte abgrundtiefe Gesellschaftskrise nur durch 13 14 15 16 Vgl. Terry Eagleton: Ideology: An Introduction, London 1991, S. 1-2. Eagleton: Ideology, S. 3. Vgl. Eagleton: Ideology, S. 1. Vgl. Martin Riesebrodt: Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung, Tübingen 1990, S. 29. 7 eine Rückkehr zu den Grundlagen der jeweiligen religiösen Tradition zu überwinden sei. Revitalisierungsbewegungen artikulieren somit eine Gesellschaftskrise, eine Diagnose der Ursachen der Krise, Rezepte zu deren Überwindung sowie den Entwurf einer künftigen gerechten Sozialordnung; sie sind somit durch die Komplexität und zentrale Bedeutung ihrer Ideologie 17 gekennzeichnet, welche deshalb von besonderem analytischen Interesse ist. Für die Identifizierung der ideologischen Überzeugungen salafistischer Muslime ist die Quellenauswahl von zentraler Bedeutung.18 Zunächst gilt es die Quellenauswahl für jenes Kapitel zu erläutern, das sich auf die Darstellung der Grundmuster der salafistischen ʿaqīda konzentriert, also jene ideologischen Prämissen herauszustellen versucht, die für die Identitätsbildung salafistischer Muslime von entscheidender Bedeutung sind und es ermöglichen den salafistischen Islam von anderen islamischen Strömungen abzugrenzen. Hier wollen wir v.a. auf Texte renommierter saudischer Salafisten wie ʿAbd al-ʿAzīz Ibn Bāz, Muḥammad Ibn al-ʿUṯaimīn oder Ṣāliḥ Ibn Fauzān al-Fauzān zurückgreifen. Diese Auswahl ist das Ergebnis relativ pragmatischer Erwägungen und wurde nicht unwesentlich durch die vorhandene Sekundärliteratur erleichtert. Als entscheidende Auswahlkriterien wurden der hohe Einfluss und Bekanntheitsgrad der erwähnten Gelehrten gewählt. Ibn Bāz, Ibn alʿUṯaimīn und al-Fauzān besitzen im theologischen Bereich unter Salafisten weltweit ein enormes Prestige. Ihre theologischen Texte werden von deutschen, indonesischen oder ägyptischen Salafisten gelesen und auf zahllosen Internetseiten in verschiedensten Sprachen zum kostenlosen Download angeboten.19 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Richard Gauvain Saudi Arabien als „the ideological centre of modern global Salafism“ bezeichnet.20 Dennoch wollen wir die Darstellung der Grundzüge der salafistischen Glaubenslehre zwar überwiegend, jedoch nicht ausschließlich auf saudisches Material stützen. Nicht zuletzt, um zu veranschaulichen, dass Salafisten weltweit zuvorderst durch bestimmte theologische Ansichten miteinander verbunden sind, soll bereits in diesem Kapitel v.a. auf 17 Martin Riesebrodt: Die Rückkehr der Religionen – Fundamentalismus und der „Kampf der Kulturen“, München 2001, S.52-53. 18 Die meisten in dieser Arbeit verwendeten arabischen und englischen Primärquellen aus dem salafistischen Milieu stammen aus dem Internet. Leider sind diese nicht immer mit Hinweisen zum Erscheinungsjahr und ort und Seitenzahlen versehen. Dies soll nicht immer aufs Neue gekennzeichnet werden. 19 Vgl. für Texte der genannten Gelehrten auf Internetseiten deutscher Salafisten: http://www.selefiyyah.de/aqidah-tauhid/, www.salaf.de, www.diewahrereligion.de. Die mit der letztgenannten Seite verbundene Organisation wurde im vergangenen Jahr einer breiten Öffentlichkeit bekannt, als sie kostenlose Koranübersetzungen in deutschen Städten verteilte. Kostenlose Schriften und Vorträge der genannten Gelehrten finden sich auch auf der Internetseite der ägyptischen Organisation adDaʿwa as-Salafīya. Siehe für al-Fauzān: http://www.salafvoice.com/class.php?id=137. Für Ibn al-ʿUṯaimīn: http://www.salafvoice.com/class.php?id=135. Für Ibn Bāz: http://www.salafvoice.com/search.php?Submit=%C7%C8%CD%CB&criteria=%C7%C8%E4+%C8%C7%D 2&searchin=0&al=1 Letzter Zugriff auf alle Seiten: 14.03.2013.Vgl. für den Einfluss der genannten Personen in Indonesien Hasan: Ambivalent Doctrines, S. 172. 20 Richard Gauvain: Salafi Ritual Purity – In the Presence of God, Oxon 2013, S. 51. 8 Texte der alexandrinischen Organisation ad-Daʿwa as-Salafīya21 und ihres Gelehrten Yāsir Burhāmī22 verwiesen werden. Die Daʿwa as-Salafīya im Allgemeinen und der erwähnte Burhāmī im Speziellen wiederum stehen im Zentrum der Analyse des ägyptischen Salafismus, die den größten Raum im letzten Kapitel dieser Arbeit einnimmt. Während zu Beginn dieses Kapitels die unterschiedlichen politischen Ansichten unter salafistischen Muslimen anhand der in der Wissenschaft anerkannten Kategorien des „puristischen“ und „politischen“ Salafismus skizziert werden, wird im weiteren Verlauf das komplexe Verhältnis von Salafismus und Politik durch einen konkreten Blick auf die politischen Einstellungen ägyptischer Salafisten vor, während und nach der Revolution illustriert. Wie wir sehen werden, liefern insbesondere die Schriften Burhāmīs und anderer Gelehrter der Daʿwa as-Salafīya - der Mutterbewegung der Ḥizb anNūr - erste Anhaltspunkte für das Verständnis jener Politisierungsprozesse, die zu Anfang dieser Einleitung angedeutet wurden und weite Teile der ägyptischen Salafīya erfasst haben. 21 Die Daʿwa as-Salafīya entstand in den 70er Jahren im Umfeld der Universität Alexandria. Zunächst eher ein loser Verbund, institutionalisierte die Daʿwa as-Salafīya ihre Aktivitäten in den 80er Jahren, indem sie z.B. ein Exekutivkomitee, ein Jugendkomitee und eine Generalversammlung aufbaute. Sie gilt bis heute als die am Besten organisierte salafistische Gruppierung in Ägypten. Vgl. Daniel A. Boehmer/ James P. Murphy: The Politicization of the Egyptian Salafiyya: Principled Participation and Islamist Competition in the PostMubarak Era, IMES Capstone Paper Series, Mai 2012, S. 15-17, unter: http://www.gwu.edu/~imes/assets/docs/Capstone%20Papers%20-%202012/Boehmer,%20Murphy.pdf Vgl. auch Gauvain: Salafi Ritual Purity, Fußnote 44, S. 287. Vgl. auch Kapitel 5.3 dieser Arbeit. 22 Yāsir Burhāmī kann als einer der prominentesten salafistischen Gelehrten in Ägypten betrachtet werden. Er gilt als einflussreicher Ideologe der Ḥizb an-Nūr und war nach der Revolution Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung in Ägypten. Geboren 1958, graduierte er 1999 an der al-Azhar in islamischem Recht und wurde insbesondere von den Ideen des saudischen Salafisten Ibn Bāz beeinflusst. Burhāmī gehört dem Führungzirkel der Daʿwa as-Salafīya an und betreibt die wichtigste Internetseite der Organisation, die in dieser Arbeit als eine der Hauptquellen fungiert. Vgl. http://www.jadaliyya.com/pages/index/3185/yasser-borhami Letzter Zugriff: 1.4.2013. Für die Internetseite Burhāmīs: http://www.salafvoice.com/index.php. 9 2 Begriffsbestimmung und theoretischer Hintergrund Die mediale und wissenschaftliche Verwendung der Begriffe Salafismus, Islamismus und Fundamentalismus stiftet oftmals mehr Verwirrung als Klarheit. Oft werden Salafisten als Islamisten bezeichnet, andernorts sind Salafismus und Islamismus „two adamantly opposed political philosophies.“1 Auch der Fundamentalismusbegriff kommt häufig zum Einsatz, wenn salafistische Gruppierungen „genauer“ beschrieben werden sollen - ganz überwiegend jedoch ohne vorherige Definition. Um definitorischen Unklarheiten im Verlauf dieser Arbeit vorzubeugen, erscheint es deshalb notwendig, die genannten Begriffe näher zu bestimmen. In wohldefinierter Form können Kategorien wie Islamismus oder Fundamentalismus aus meiner Sicht durchaus eine gute theoretische Grundlage für die weiteren Ausführungen bieten. 2.1 Salafismus In den deutschen Medien wird der Begriff Salafismus seit verhältnismäßig kurzer Zeit, jedoch mit zunehmender Häufigkeit verwendet.2 Im wissenschaftlichen Diskurs existiert der Begriff weitaus länger, diente bis vor einigen Jahren allerdings vorwiegend zur Bezeichnung einer ideellen Strömung im kolonialisierten Ägypten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die eng mit den Namen Ǧamāl ad-Dīn al-Afġānī (gest. 1897) und Muḥammad ʿAbduh (gest. 1905) verbunden ist und mit dem hier als Salafismus bezeichneten Phänomen zum Teil erheblich in Widerspruch steht (siehe unten). Der Begriff Salafismus leitet sich von dem arabischen Ausdruck as-salaf aṣ-ṣāliḥ ab, der mit „die tugendhaften Vorfahren“ oder „die frommen Altvorderen“ übersetzt werden kann. Als assalaf aṣ-ṣāliḥ gelten zumeist die ersten drei Generationen der Muslime, wobei der Generationenbegriff eine weit größere Zeitspanne als die bei uns bekannten 25 Jahre umfasst. Einigkeit über eine genaue zeitliche Grenzziehung besteht indes nicht: Während für Ibn Taimīya (gest. 1328) die Zeit der salaf mit dem Zusammenbruch des umaiyadischen Reiches im Jahre 750 endet, umfasst jede einzelne Generation nach Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī (gest. 1209) 1 Noah Salomon: The Salafi Critique of Islamism: Doctrine, Difference and the Problem of Islamic Political Action in Contemporary Sudan, in: Meijer: Global Salafism, S. 143-168, hier: S. 150. 2 Gibt man den Begriff Salafismus beispielsweise auf den Onlineseiten von Die Zeit in die Suchmacheine ein, fällt auf, dass der Begriff vor dem Jahre 2003 überhaupt nicht verwendet wurde. Insgesamt wird über den Salafismus erst seit wenigen Jahren intensiver berichtet. So lassen sich in dem Zeitraum von 2010 bis Ende 2012 38 Artikel finden, in denen das Wort Salafismus vorkommt, während es im Zeitraum von 2003 bis 2010 nur 11 Artikel sind. 10 60 bis 80 Mondjahre.3 Heutige Salafisten taxieren das Ende dieser Epoche oftmals ungefähr auf das Jahr 850, schließen also bedeutende Gelehrte wie Muḥammad Ibn Idrīs aš-Šāfiʿī (gest. 820) oder Aḥmad Ibn Ḥanbal (gest. 855) unter die salaf mit ein.4 Nicht zuletzt aufgrund ihrer lebensgeschichtlichen Nähe zum Propheten Muḥammad besitzen die salaf im sunnitischen Islam ein ausgesprochen hohes Prestige, werden gemeinhin als Vorbilder für eine authentische und korrekte islamische Lebensführung angesehen. Ein bekannter und vielzitierter Ḥadīṯ unterstreicht die Bedeutung der ersten drei Generationen der Muslime und deutet gleichfalls eine Rangfolge an: „Die besten der Menschen sind meine Generation (qarnī), dann diejenigen, die ihnen folgen und dann diejenigen, die ihnen folgen.“5 Laut Bernard Haykel ist der Begriff salafī als Eigenname sowie Adjektiv vormodernen Ursprungs und lässt sich auf die theologische Strömung der Ahl al-Ḥadīṯ zurückführen, als deren wichtigster Protagonist der erwähnte Ibn Ḥanbal gilt.6 Wenngleich nicht davon ausgegangen werden sollte, dass sich bereits mit den Ahl al-Ḥadīṯ eine religiöse Bewegung identifizieren lässt, deren doktrinäre Grundpositionen im innerislamischen Diskurs von Anhängern und Gegnern unter dem Schlagwort Salafismus zusammengefasst wurden, 7 so sind die ideologischen Gemeinsamkeiten zwischen den Ahl al-Ḥadīṯ und der Salafīya unverkennbar. Wie die Ahl al-Ḥadīṯ zeichnen sich auch zeitgenössische Salafisten durch einen literalistischen Zugang zu den religiösen Quellen aus, der sich beispielsweise darin äußert, dass die salafistische Koranexegese vorwiegend nach der wörtlichen, der „äußeren“ Bedeutung (ẓāhir) koranischer Verse fragt und der insbesondere aus der sufischen Exegesetradition bekannten Suche nach dem tieferliegenden „inneren“ Sinn (bāṭin) des Korans mit großer Skepsis begegnet (Vgl. Kapitel 4).8 Wie die Ahl al-Ḥadīṯ üben auch Salafisten scharfe Kritik an der spekulativen Theologie (kalām), die sich aus ihrer Sicht eines exzessiven Gebrauchs der menschlichen Ratio und einer Geringschätzung der religiösen Überlieferungen schuldig macht (Vgl. Kapitel 4). Und wie die Ahl al-Ḥadīṯ messen auch Salafisten der prophetischen Sunna sowohl in rechtlichen und theologischen als auch in 3 Vgl. Eric Chaumont: al-Salaf wa ´l-Khalaf, in: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, Vol. VIII, Leiden 1995, S.900. 4 Vgl. Bernard Haykel: On the Nature of Salafi Thought and Action, S. 38f. 5 Muḥammad Ibn Ismāʿīl al-Buḫārī: Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, al-muǧallad aṯ-ṯāliṯ, al-ǧuzʾ aṯ-ṯāmin, Beirut 1990, S.113. 6 Vgl. Haykel: Salafi Thought and Action, S. 38. 7 Zur Begriffsgeschichte des Terminus Salafismus vgl. Henri Lauzière: The Construction of Salafiyya: Reconsidering Salafism from the Perspective of Conceptual History, in: International Journal of Middle East Studies, 42 (2010), S. 369-389, hier: S. 371. 8 Für eine genauere Analyse der Gemeinsamkeiten zeitgenössischer Salafisten und der Ahl al-Ḥadīṯ und für mehr Details zur salafistischer Koranexegese vgl. Kapitel 4. oder Adis Duderija: Neo-Traditional Salafi Qur´an-Sunnah Hermeneutic and the Construction of a Normative Muslimah Image, in: Hawwa, 5, 2-3 (2007), S. 289-323. 11 alltäglichen Fragen eine enorme Bedeutung bei. Diese Gemeinsamkeiten lassen sich u.a. durch die hohe Wertschätzung erklären, die bedeutende Vertreter der Ahl al-Ḥadīṯ – allen voran der Theologe und Rechtsgelehrte Aḥmad Ibn Ḥanbal – im salafistischen Milieu genießen und haben manchen Wissenschaftler dazu veranlasst, den Salafismus mit dem etwas sperrigen Begriff „Neo-Ahl-Hadithism“9 zu beschreiben. Anhänger der Salafīya bezeichnen sich manchmal als Ahl al-Ḥadīṯ, weit öfter jedoch als Ahl as-Sunna wa-l-Ǧamāʿa oder schlicht als Salafisten. Mit der Selbstbezeichnung als Salafist stellen sich Anhänger des Salafismus bewusst in die Tradition der ersten drei Generationen der Muslime. Sie vertreten die Ansicht, einen Islam von größtmöglicher Authentizität zu praktizieren, da sie sich strikt an Koran, Sunna und den salaf orientieren. Neben dem Streben nach Authentizität geht mit dem Bezug auf jenen Islam der Frühzeit immer auch Folgendes einher: eine vehemente Kritik an der historischen Entwicklung und am gegenwärtigen Zustand der islamischen Gemeinschaft. Salafisten lesen die Geschichte als einen Prozess der Degeneration, in dessen Verlauf sich die islamische Religion durch zahllose unrechtmäßige Neuerungen und kulturelle Synkretismen von ihrer ursprünglichen Form weit entfernt habe. Als Hauptziel aller Salafisten lässt sich daher die Reinigung der Religion und die Wiederherstellung des Islam der salaf ansehen - was auch immer man konkret darunter zu verstehen hat. So heißt es in einem Text der ägyptischen Daʿwa as-Salafīya: Wir wollen die Rückkehr zu dem Islam, so wie ihn der Gesandte gebracht hat, in unverfälschter Reinheit, ohne Makel und ohne Neuerungen (nurīdu l-ʿauda ilā l-islām ka-mā ǧāʾa bihi r-rasūl abyaḍa naqīyan bi-lā šawāʾib wa-lā bidaʿ), ebenso wie ihn die frommen Altvorderen (as-salaf aṣṣāliḥ) unter den Anhängern des Propheten verstanden und angewendet haben und diejenigen, die ihnen mit der Verrichtung guter Taten nachfolgten.10 Trotz dieser Gemeinsamkeiten in Zielsetzung, Gegenwartsdeutung und Geschichtsbild ist der Salafismus eine äußerst heterogene und fragmentierte Bewegung. Unter den Begriff Salafismus werden unterschiedlichste Gruppierungen und Strömungen aus verschiedensten Staaten subsumiert: vom saudischen „Staatsislam“ eines Ibn Bāz oder Ibn al-ʿUṯaimīn über die Anhänger der ägytischen Ḥizb an-Nūr bis zur transnationalen al-Qaida Osama bin Ladens.11 Die genannten Personen und Gruppierungen unterscheiden sich in ihrem Verhältnis zu politischem Engagement und Gewalt als politischem Mittel. Während al-Qaida auf einen 9 Duderija: Hermeneutic, S. 290. 10 Ad-Daʿwa as-Salafīya: ad-Daʿwa as-Salafīya man naḥnu? wa-māḏā nurīdu? Unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=5615, letzter Zugriff: 01.03.2013. 11 Für einen detaillierten Überblick über die verschiedenen politischen Ausrichtungen salafistischer Kräfte vgl. Quintan Wiktorowicz: Anatomy of the Salafi Movement, S. 207-239. 12 militanten Kampf für die Umsetzung ihrer Ziele setzt und die Ḥizb an-Nūr am parteipolitischen Wettbewerb teilnimmt, zeichneten sich die Gelehrten Ibn Bāz und Ibn alʿUṯaimīn zeitlebens durch ein hohes Maß an Skepsis gegenüber jeder Form politischen Engagements aus. Diese Heterogenität in der politischen Einstellung und im Handeln salafistischer Gruppen und Gelehrter hat einige Wissenschaftler am wissenschaftlichen Wert des Begriffes Salafismus zweifeln lassen. Thomas Hegghammer vertritt die Ansicht, das Label Salafismus eigne sich nur bedingt als wissenschaftliche Kategorie, da es wenig bis gar nichts über die politischen Präferenzen der beschriebenen Akteure aussagt.12 Vielmehr bezeichne der Begriff Salafismus einen „nebula of actors“,13 die in wichtigen politischen Fragen zum Teil völlig gegensätzliche Positionen vertreten würden. Hegghammers Kritik trifft aus politikwissenschaftlicher Perspektive zu, verlangt von der Politikwissenschaft eine differenziertere Kategorisierung des Phänomens Salafismus (Vgl. Kapitel 5). Gleichwohl birgt sie das Risiko, in ihrer Betonung der Unterschiede die theologischen, sozialen und rechtlichen Gemeinsamkeiten zwischen Salafisten jedweder politischer Couleur zu vernachlässigen. In seinem Aufsatz stellt Hegghammer selbst fest, dass der Begriff Salafismus weniger eine politische als vielmehr eine theologische Kategorie darstellt.14 Diese Feststellung ist für das Verständnis des heutigen globalen und transnationalen Salafismus zentral. Das einende Band zwischen salafistischen Akteuren in Ägypten, in Saudi Arabien, in Indonesien, Frankreich oder Deutschland ist keinesfalls eine wie auch immer geartete politische Ausrichtung, sondern vielmehr eine nahezu identische, distinktive theologische Doktrin (Vgl. Kapitel 5), eine ähnliche Auffassung auf dem Gebiet des islamischen Rechts und eine gemeinsame Vision von einer nach islamischen Moralvorstellungen organisierten Gesellschaft: Most Salafis are not political actors [...] Salafis are first and foremost religious and social reformers who are engaged in creating and reproducing particular forms of authority and identity, both personal and communal. […] It is important to understand Salafis as constituting a group that defines its reformist project first and foremost through credal tenets (i.e., a theology).15 Auf sozialer Ebene zeichnet sich der Salafismus vor allem durch seine in dem Zitat bereits angedeutete identitätsstiftende Dimension aus. Oftmals lassen sich Salafisten bereits an ihrem Kleidungsstil und äußeren Erscheinen erkennen und von nichtsalafistischen Muslimen 12 Vgl. Thomas Hegghammer: Jihadi-Salafis or Revolutionaries? On Religion and Politics in the Study of Militant Islamism, in: Meijer: Global Salafism, S. 244-266. 13 Hegghammer: Jihadi-Salafis or Revolutionaries? S. 249. 14 Vgl. Hegghammer: Jihadi-Salafis or Revolutionaries? S. 250. 15 Haykel: Salafi Thought and Action, S. 34f. 13 unterscheiden. So tragen männliche Salafisten häufig Gewänder, die oberhalb der Knöchel enden und lassen ihren Kinnbart wachsen, während der Oberlippenbart kurz getragen wird. Sie begründen diese Praktiken mit der prophetischen Sunna, was deutlich macht, welchen Vorbildcharakter Muḥammad im salafistischen Milieu auch in scheinbar profanen und alltäglichen Dingen besitzt.16 Salafistische Frauen, in der Öffentlichkeit weit weniger präsent als ihre männlichen Glaubensbrüder, tragen vielfach den niqāb, der sich von dem verbreiteten Kopftuch dadurch unterscheidet, dass er einen Großteil des Gesichtes verdeckt und zumeist nur einen Sehschlitz freilässt. Keinesfalls immer Ergebnis unmittelbaren patriarchalischen Zwangs, verstehen Salafistinnen den niqāb vielfach als Ausdruck besonderer Frömmigkeit. Wie Martijn de Koning am Beispiel einer niederländischen Salafistin verdeutlicht, kann der Gesichtsschleier darüber hinaus die Funktion erfüllen, sich sowohl von der Mehrheitsgesellschaft als auch von familiären religiösen Traditionen abzugrenzen und zu distanzieren.17 Auch jenseits dieser Kleidungscodes existieren innerhalb des Salafismus habituelle Praktiken, die vorwiegend der Distinktion und Identitätsbildung dienen. Es gibt salafistische Freizeit- und Lernangebote; in der sprachlichen Kommunikation fallen Salafisten nicht selten durch die Verwendung bestimmter Grußformeln oder den fast inflationären Gebrauch religiöser Floskeln auf.18 Das komplexe Verhältnis von Salafismus und islamischem Recht kann in dieser Arbeit aufgrund des begrenzten Umfangs leider nicht im Detail behandelt werden. An dieser Stelle sei nur auf Folgendes verwiesen: Zumindest auf theoretischer Ebene zeichnen sich Salafisten durch eine kritische Haltung gegenüber den etablierten Rechtsschulen aus, deren unterschiedliche Meinungen zu bestimmten Rechtsfragen vielfach nicht als Ausdruck eines begrüßenswerten Rechtspluralismus, sondern als Quelle tadelnswerter Uneinigkeit betrachtet werden. Zwar lehnen Salafisten die Existenz der Rechtsschulen in aller Regel nicht vollständig ab, so jedoch das Folgen einer Rechtsschule in allen Rechtsfragen (taqlīd). Demnach habe ein jeder Gläubige das Recht, ja sogar die Pflicht, die eigene Rechtsschulmeinung zu verwerfen, wenn ihm die Ansicht eines anderen Gelehrten schlüssiger erscheint und diese durch eindeutige Hinweise (adilla, dalāʾil, Sg. dalīl) oder besser: Beweise19 aus Koran und Sunna gestützt wird.20 Diese Haltung sollte nicht mit dem aus der 16 Vgl. Laurent Bonnefoy: Salafism in Yemen – Transnationalism and Religious Identity, Columbia 2012, S. 48f. 17 Vgl. Martijn de Koning: Changing Worldviews and Friendship – An Exploration of the Life Stories of Two Female Salafis in the Netherlands, in: Meijer: Global Salafism, S. 404-423, hier: S. 414. 18 Vgl. Bonnefoy: Salafism in Yemen, S. 49. 19 Thomas Bauer weist darauf hin, dass das Wort dalīl in salafistischen Texten im Sinne von Beweis und nicht im Sinne von Hinweis übersetzt werden sollte. Vgl. Bauer: Kultur der Ambiguität, S. 189. 14 islamischen Jurisprudenz bekannten Konzept des taḫaiyur verwechselt werden, das die freie Auswahl verschiedener Lehrmeinungen aus dem reichhaltigen Fundus aller anerkannten Rechtsschulen gestattet.21 Geht es beim taḫaiyur um die Flexibilisierung des Rechts unter Rückgriff auf vorhandene Rechtsmeinungen, plädieren Salafisten für die Lösung von Rechtsfragen durch eine direkte Betrachtung von Koran und Sunna. Es ist demnach die Aufgabe des qualifizierten Gelehrten durch eigenständiges Bemühen (iǧtihād) in den religiösen Texten Beweise für eine bestimmte rechtliche Position zu finden und diese den „einfachen“ Gläubigen zu unterbreiten, die wiederum durchaus die Fähigkeit besitzen eindeutige Beweise als solche zu erkennen.22 Diese Rechtsauffassung, von Kritikern als „LāMadhhabiyya-Position“23 gebrandmarkt und der Vernachlässigung der gesamten islamischen Rechtstradition bezichtigt, ist theoretisch unter Salafisten weitgehend anerkannt. Wie mehrfach nachgewiesen wurde, folgen Salafisten praktisch jedoch überwiegend der ḥanbalitischen Rechtsschule, was auch innerhalb der Salafīya zu Kritik geführt hat.24 Insgesamt spielen rechtstheoretische Themen im salafistischen Diskurs jedoch eine untergeordnete Rolle. Erklärt werden können die angedeuteten und auf theologischer Ebene im weiteren Verlauf der Arbeit näher beleuchteten Gemeinsamkeiten nicht zuletzt mit der gemeinsamen intellektuellen Traditionslinie, auf die sich alle Salafisten gleichermaßen beziehen und die eng mit folgenden Namen verbunden ist: Aḥmad Ibn Ḥanbal, Ibn Kaṯīr (gest. 1337) und Ibn Taimīya, der häufig als Mastermind der salafistischen Theologie angesehen und von Salafisten oftmals ehrenvoll als šaiḫ al-islām bezeichnet wird.25 Ein weiterer für den gegenwärtigen Salafismus wichtiger Gelehrter ist Muḥammad Ibn ʿAbd al-Wahhāb (gest. 1792), der als Begründer der Wahhābīya gilt.26 Für den Salafismus sind jedoch keinesfalls ausschließlich Gelehrte von Bedeutung, die weit vor dem 20. bzw. 21. Jahrhundert gelebt und gewirkt haben. Als religiöse Autoritäten des 20. 20 Vgl. Muḥammad Ibn al-ʿUṯaimīn: The Methodology of the Salaf Concerning Ijtihad and Taqlid, unter: http://www.binuthaymin.co.uk/ , letzter Zugriff: 01.03.2013. 21 Vgl. Mathias Rohe: Das islamische Recht – Geschichte und Gegenwart, München 2009, S. 189f. 22 Für einen Überblick über das Verhältnis von Salafismus und Recht vgl. Haykel: Salafi Thought and Action, S. 43-45. 23 Vgl. für eine scharfe Polemik gegen das salafistische Rechtsverständnis Muḥammad Saʿīd Ramaḍān al-Būṭī: Al-Lā Madhhabiyya – Abandoning the Madhhabs is the Most Dangerous Bidʿah Threatening the Islamic Sharʿīah, Damaskus 2007. 24 Vgl. Stéphane Lacroix: Between Revolution and Apoliticism: Nasir al-Din al-Albani and his Impact on the Shaping of Contemporary Salafism, in: Meijer: Global Salafism, S. 58-80, hier besonders: S. 59-61. 25 Vgl. auf der Internetseite der ägyptischen Daʿwa as-Salafīya unter: http://www.salafvoice.com/class.php?id=143 Letzter Zugriff: 14.03.2013. 26 So lassen sich auf der Internetseite der ägyptischen Daʿwa as-Salafīya Schriften Muḥammad Ibn ʿAbd alWahhābs herunterladen. Siehe:http://www.salafvoice.com/class.php?id=135 und: http://www.salafvoice.com/class.php?id=138. Auch auf Internetseiten deutscher Salafisten werden die Schriften Ibn ʿAbd al-Wahhābs in übersetzter Form vielfach zum Download angeboten. Vgl. u.a. http://www.salaf.de/verschiedenes/verschiedenes_allgemein.html Letzter Zugriff: 14.03.2013. 15 Jahrhunderts gelten - wie erwähnt - die Saudis Ibn Bāz, Ibn al-ʿUṯaimīn und al-Fauzān, daneben z.B. der Jemenit Muqbil al-Wādiʿī und der Albaner Nāṣir ad-Dīn al-Albānī. Insbesondere al-Albānī ist eine äußerst interessante und für den Salafismus prägende Persönlichkeit. Als „self-taught expert on Islam“27 und somit ohne nennenswerte Bildungszertifikate hat es al-Albānī geschafft, vom Sohn eines Uhrmachers zum bedeutendsten Ḥadīṯ-Gelehrten des Salafismus aufzusteigen. In der Ḥadīṯ-Wissenschaft hat sich al-Albānī besonders auf Grund seiner hohen Qualitätsansprüche an die Überlieferungskette(n) eines jeweiligen Ḥadīṯ einen Namen gemacht, in deren Konsequenz er nicht einmal davor zurückschreckte, Überlieferungen als schwach und damit wenig glaubhaft einzustufen, die in der kanonischen Sammlung des Muslim verzeichnet sind.28 Bis heute gilt es unter salafistischen Gelehrten als besonderes Gütezeichen, wenn al-Albānī, dieser größte „Traditionarier seiner Epoche“ (muḥaddiṯ al-ʿaṣr), einen Ḥadīṯ als glaubhaft und verlässlich eingestuft hat.29 Zu Beginn dieses Abschnitts wurde darauf hingewiesen, dass der Terminus Salafismus lange Zeit zur Bezeichnung einer intellektuellen Strömung diente, als deren geistiger Vater vor allem Muḥammad ʿAbduh gilt. Mancherorts wird diese Strömung auch als „modernistische Salafīya“ bezeichnet.30 In welchem ideengeschichtlichen Verhältnis aber steht die in dieser Arbeit als Salafismus bezeichnete Strömung zu jenem „modernistischen Salafismus“? Welche Rolle spielen die Ideen ʿAbduhs im salafistischen Diskurs der Gegenwart? Beschäftigt man sich mit der reichhaltigen Literatur zu diesen Fragen, stößt man oftmals auf zwei unterschiedliche, sich im Kern widersprechende Antworten. Für die Einen stehen Salafismus und „modernistische Salafīya“ in einem ideengeschichtlichen Verwandschaftsverhältnis, manchmal werden die heute unter dem Begriff Salafismus firmierenden Ideen sogar direkt auf ʿAbduh zurückgeführt.31 Die Anderen lehnen die eben beschriebene Sichtweise rundheraus ab, für sie sind „modernistische Salafīya“ und gegenwärtiger Salafismus scharf voneinander zu trennen. Insbesondere die Identifizierung salafistischer Positionen mit Muḥammad ʿAbduh halten Vertreter dieser Deutung für 27 Vgl. Stéphane Lacroix: Nasir al-Din al-Albani, S. 58. 28 Vgl. Kamarudin Amin: Nāṣirudīn al-Albānī on Muslim´s Ṣaḥīḥ: A Critical Study of His Method, in: Islamic Law and Society, 11,2, Leiden 2004, S. 149-176, hier: S. 150. 29 Vgl. Lacroix: Nasir al-Din al-Albani, S. 58. 30 Vgl. Lutz Berger: Islamische Theologie, Wien 2010, S. 146. 31 So heißt in einem 2010 veröffentlichten Kommunique des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes über die Ursprünge des zeitgenössischen Salafismus: „Entstanden ist der Salafismus als Ideologie Ende des 19. Jahrhunderts als sogenannte „Islamische Reformbewegung“ in Ägypten. Maßgeblich wurde diese Strömung von zwei Ideologen geprägt: Jamal al-Din al-Afghani und Muhammad Abduh.“ Salafismus – von einer religiösen Strömung zur politischen Ideologie, Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen, 2010, unter: http://www.mik.nrw.de/uploads/media/salafismus_aktuell.pdf, letzter Zugriff: 20.03.2013. 16 unangemessen.32 Richtig ist, dass es auf den ersten Blick frappierende Parallelen im Denken zeitgenössischer Salafisten und in den Positionen ʿAbduhs gibt. Auch ʿAbduh kritisierte die Glaubenspraxis vieler Muslime scharf, auch ʿAbduh zeichnete sich durch ein hohes Maß an Skepsis gegenüber den etablierten Rechtsschulen aus und auch ʿAbduh sah in der Rückkehr zu Koran, Sunna und dem Islam der salaf das geeignete Mittel, um die Probleme der muslimischen Gemeinschaft zu lösen.33 Allerdings verband er mit dem Islam der salaf oder mit Konzepten wie dem iǧtihād inhaltlich etwas anderes als Salafisten von heute, vor allem aber folgten seine Bestrebungen einer gänzlich anderen Zielsetzung. Im Angesicht der kolonialen Dominanz Europas wehrte sich ʿAbduh gegen den von vielen Europäern erhobenen Vorwurf, dass der Islam ontologisch fortschrittsfeindlich und daher für die auch von ʿAbduh wahrgenommene Rückständigkeit muslimischer Gesellschaften hauptverantwortlich sei. Für ʿAbduh standen weder Islam und „Moderne“ noch Islam und Rationalismus im Widerspruch zueinander, vielmehr suchte er zeitlebens zu beweisen, dass Ratio, Logik und Bildung im Islam hohe Wertschätzung genießen. Während ʿAbduh die koloniale Fremdherrschaft des Westens scharf verurteilte, begegnete er den ideellen Dimensionen westlichen Denkens, etwa auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, durchaus mit Anerkennung und versuchte diese „islamisch“ zu begründen und für die ägyptische Gesellschaft nutzbar zu machen.34 In diesem Zusammenhang spielten die Ḥadīṯwissenschaft im Speziellen und die Sunna im Allgemeinen für ʿAbduh eine untergeordnete Rolle. Als maßgebliche Stütze seiner Argumentation diente der Koran, den er als Plädoyer für die menschliche Wissenssuche, Handlungsfreiheit und Rationalität und somit als emanzipatorische Schrift verstand. ʿAbduhs Zugang zum koranischen Text unterschied sich dabei gravierend vom literalistischen Textverständnis zeitgenössischer Salafisten, da er der Vernunft gegebenenfalls Vorrang vor dem Text (naṣṣ) einräumte, einige Verse allegorisch und andere kontextgebunden interpretierte, sodass er beispielsweise die koranische Erlaubnis zur Polygamie mit den gesellschaftlichen Umständen zum Offenbarungszeitpunkt erklärte, die Monogamie und moralische Gleichheit von Mann und Frau jedoch zum eigentlichen Ideal des Koran erhob.35 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass insbesondere Gelehrte und Intellektuelle ʿAbduh rezipieren, die im Westen oft als „reformerisch“ oder „progressiv“ beschrieben 32 33 34 35 Vgl. Haykel: Salafi Thought and Action, S. 45-47. Vgl. Joseph Schacht: Muḥammad ʿAbduh, in: EI, New Edition, Vol. VII, S. 418-420. Vgl. Berger: Islamische Theologie, S. 127-130. Vgl. Schacht: Muḥammad ʿAbduh, in: EI, S. 419. Berger: Islamische Theologie, S. 128. Und für eine genaue Analyse der Koranexegese ʿAbduhs vgl. Helmut Gätje: The Qurʾān and its Exegesis, Los Angeles 1976, v.a. S. 42-44 und S. 248-251. 17 werden.36 Noch weniger verwunderlich erscheint es jedoch, dass ʿAbduh im zeitgenössischen salafistischen Diskurs keine Rolle spielt. Während meiner Recherche ist mir kein Text eines salafistischen Autors begegnet, in dem positiv auf ihn Bezug genommen wird. Im Gegenteil: Auf der salafistischen Internetseite tawhid.ws findet sich ein Text, in dem ʿAbduh scharf kritisiert wird.37 Ihm wird v.a. eine ungebührliche Nähe zum Westen vorgeworfen, die nicht zuletzt an seiner Freundschaft zum britischen Kolonialbeamten und Generalkonsul in Ägypten „Lord Cromer“ festgemacht wird. ʿAbduh habe sich zwar in jungen Jahren gegen die physische Präsenz der Kolonialtruppen in Ägypten aufgelehnt, sei im Grunde jedoch ein Bewunderer des Westens und ein Befürworter der „kulturellen Kolonialisierung“ (al-istiʿmār aṯ-ṯaqāfī) gewesen. Diese wiederum stelle die folgenreichste Form der Kolonialisierung dar, weil sie nicht mit dem Abzug der Armeen ende, sondern sich langfristig im Denken einer Gesellschaft niederschlüge. Auch ʿAbduhs Islamverständnis wird in dem Text auf- und angegriffen. So sei ʿAbduh fälschlicherweise der Meinung gewesen, dass der Islam als Religion nicht aus detaillierten Vorschriften (qawānīn tafṣīlīya) bestehe, sondern in seinen Einzelheiten nur mit Hilfe der menschlichen Verstandesfähigkeiten (ʿuqūl, Sg. ʿaql) zu erschließen sei. Tatsächlich aber sei der Islam ein vollständiges Prinzip (mabdaʾ kāmil), das nicht nur auf ethischen Grundsätzen (qawāʿid aḫlāqīya), sondern ebenso auf detaillierten gesetzlichen Bestimmungen (aḥkām tafṣīlīya) beruhe. Der Salafismus eines Muḥammad ʿAbduh hat mit dem zeitgenössischen Salafismus inhaltlich wenig gemein. Dies ändert sich jedoch bereits mit seinen Schülern, von denen einige seine Ideen zu liberalen und säkularen Positionen fortentwickelten, andere sich jedoch stärker am Islamverständnis der Wahhābīya orientierten.38 Als prominentestes Beispiel für die letztgenannte Entwicklungsrichtung gilt Rašīd Riḍā, der in seinen späten Jahren maßgeblich zur Verbreitung „wahhābitischer“ Ideen auch außerhalb Saudi Arabiens beigetragen und nicht zuletzt über seine Zeitschrift al-Manār das Denken des erwähnten al-Albānī beeinflusst hat.39 36 Der Literaturwissenschaftler Naṣr Ḥāmid Abū Zaid beispielsweise sieht in ʿAbduhs Korankommentar Tafsīr al-Manār ein positives Beispiel für den Versuch die koranische Offenbarung mit der menschlichen Vernunft in Einklang zu bringen. Für Abū Zaid ist das Werk sogar „der erste explizite Versuch einer Rekontextualisierung des Koran vor dem kulturellen Hintergrund des 7.Jahrhunderts.“ Naṣr Ḥāmid Abū Zaid: Gottes Menschenwort – Für ein humanistisches Verständnis des Koran, Freiburg 2008, S. 221f. 37 Vgl. Ṭāriq Ḥamdī: Muḥammad ʿAbduh; rūwād al-iṣlāḥ am at-taġrīb? Unter: http://www.tawhed.ws/r?i=32puve0h, letzter Zugriff: 20.03.2013. 38 Vgl. Berger: Islamische Theologie, S. 130f. 39 Vgl. Lacroix: Nasir al-Din al-Albani, S. 64. 18 2.2 Islamismus Es wurde angedeutet, dass Salafisten im medialen sowie im wissenschaftlichen Diskurs oftmals pauschal als Islamisten bezeichnet werden. Wenngleich die Sinnhaftigkeit einer derartigen Bezeichnung zuweilen bezweifelt wurde, lässt sich doch feststellen, dass sie überwiegend unwidersprochen übernommen wird. Kann man Salafisten jedoch ohne nähere Prüfung dem islamistischen Milieu zuordnen? Sind Salafisten immer auch Islamisten? Der Begriff Islamismus wird oft als Synonym für den Terminus politischer Islam verwendet, der wiederum auf das zentrale Merkmal islamistischen Denkens hinweist: das Politische. Der Islamismus gilt als „political manifestation of islam“40 und als „politische Ideologie“41. Für Islamisten ist der Islam mehr als privat oder gemeinschaftlich gelebte Religiosität, mehr als ein ethisch-moralischer Leitfaden, nämlich immer auch Orientierungsrahmen staatlicher Politik, eine Religion also, die durchaus konkrete politische Ordnungsvorstellung beinhaltet. In der staatlichen Anwendung dieser Ordnungsvorstellungen sehen Islamisten die Garantie für eine erfolgreiche Politik; sofern in der Opposition und nicht bereits Träger politischer Macht, wird die Umsetzung dieser Ordnungsvorstellungen als Ausweg aus der diagnostizierten gesellschaftlichen Krise angesehen. Zwei noch heute unter Islamisten verbreitete Slogans bringen diese Vorstellungen auf den Punkt: al-islām dīn wa-daula, der Islam ist Religion und Staat, und al-islām huwa l-ḥall, der Islam ist die Lösung.42 Islamisten leiten aus der Religion also politische Forderungen ab, etwa die Einführung der Scharia, die sie an den Staat richten und für deren Umsetzung sie sich einsetzen. In der Form ihres politischen Engagements unterscheiden sich Islamisten gleichwohl erheblich. Die ägyptische Muslimbruderschaft (alIḫwān al-Muslimūn), oft als Mutterbewegung des Islamismus angesehen, zeichnet sich seit frühesten Jahren durch eine straffe Organisationsstruktur aus, versucht die ägyptische Bevölkerung z.B. durch karitative Arbeit zu unterstützen und nimmt – falls möglich – an kommunalen sowie gesamtägyptischen Wahlen teil. Von den Muslimbrüdern führt über Saiyid Quṭb gleichfalls ein Strang zum oftmals netzwerkartig organisierten ǧihādistischen Islamismus, der auf Gewalt für die Umsetzung seiner Ziele zurückgreift, für den revolutionären Umsturz „unislamischer“ Regimes wirbt und die Demokratie als Staatsform ganz überwiegend ablehnt. Gruppen wie Hamas und Hizbollah wiederum unterhalten einerseits bewaffnete Milizen, partizipieren andererseits seit Jahren und mitunter sehr 40 Martin Kramer: Coming to Terms: Fundamentalists or Islamists? 2003, unter: http://www.meforum.org/541/coming-to-terms-fundamentalists-or-islamists, letzter Zugriff: 20.03.2013. 41 Berger: Islamische Theologie, S. 153. 42 Vgl. Berger: Islamische Theologie, S. 159 bzw. S. 189. 19 erfolgreich am demokratischen Prozess. Und die erste islamistische Revolution fand weder in Ägypten noch in Palästina oder Libanon statt, sondern 1979 in Iran, als die Anhänger Āyatollāh Ḫumainīs die Regierung stürzen konnten und die Islamische Republik Iran begründeten.43 Die genannten Beispiele weisen auf zwei wichtige Aspekte des Islamismus hin: Erstens verrät der Begriff zunächst nichts über die Einstellung der mit ihm bezeichneten Kräfte zur Demokratie. Es lassen sich unter Islamisten sowohl Anhänger als auch Gegner dieser Staatsform finden. Zweitens besitzt der Terminus Islamismus unterhalb seines Islambezugs keine theologische Aussagekraft. Es gibt sunnitische, schiitische, ja sogar sufische Islamisten, der Begriff bezeichnet also keine konkreten Glaubensinhalte, sondern vielmehr eine besondere Lesart des Islams als politischem Programm: Aus der Sicht des Islamismus ist der Islam immer auch eine politisch-religiöse Ideologie. Eine unpolitische Religiosität ist für ihn nicht vorstellbar […]. Die Erlangung der politischen Herrschaft ist für Islamisten dabei zuweilen wichtiger als eine Umsetzung aller Einzelbestimmungen des islamischen Rechts, so wie es traditionell verstanden wurde.44 Inwieweit die gesamte salafistische Bewegung, in der bedeutende Teile die politische Partizipation beispielsweise in Parteien ablehnen und fast ausschließlich auf Missionsarbeit setzen (Vgl. Kapitel 5), als islamistisch bezeichnet werden kann, hängt nicht zuletzt von der Beantwortung folgender Fragen ab: Wo verläuft die Grenze zwischen politischem und nichtpolitischem sozialen Handeln? Wann also ist religiöser Aktivismus politisch? In dem knappen aber bemerkenswerten Artikel „What is Political Islam?“ vertritt der Anthropologe Charles Hirschkind die These, dass eine Einteilung in politischen und nichtpolitischen islamischen Aktivismus nicht vorgenommen werden kann, dass der Begriff politischer Islam bzw. Islamismus keine analytische Aussagekraft besitzt.45 Dies begründet er nun keinesfalls mit der prominenten und essentialistischen Auffassung vom wesenhaft politischen Islam, sondern mit der strukturellen Verfasstheit des modernen Nationalstaates. Hirschkind sieht in der Ausweitung des staatlichen Einflussbereiches ein entscheidendes Merkmal der Nationalstaatsbildung, vormals der staatlichen Kontrolle entzogene gesellschaftliche Teilbereiche wie Bildung, Familie, Wohlfahrt oder Religion seien in den 43 Für einen Überblick über verschiedene islamistische Gruppierungen vgl. Guido Steinberg/Jan-Peter Hartung: Islamistische Gruppen und Bewegungen, in: Werner Ende/Udo Steinbach: Der Islam in der Gegenwart, München 2005, S. 681-695. 44 Berger: Islamische Theologie, S.121. 45 Vgl. Charles Hirschkind: What is Political Islam?, 1997, unter: http://www.merip.org/mer/mer205/whatpolitical-islam, letzter Zugriff: 20.03.2013. 20 Staatsapparat inkorporiert und dadurch politisiert worden. Jeder Versuch einer gesellschaftlichen Gruppe in diesen Teilbereichen die eigenen Interessen durchzusetzen, sei dadurch notgedrungen mit staatlichem Handeln verknüpft und deshalb politisch. Konsequenterweise siedelt Hirschkind nun sowohl solche religiösen Bewegungen in der politischen Sphäre an, deren Ziel die Übernahme staatlicher Institutionen darstellt, als auch Gruppierungen, die sich der religiösen Mission oder Wertevermittlung widmen. Letztgenannte würden zwar nicht nach institutionalisierter Macht streben, ihre Aktivitäten seien jedoch insofern politisch, „that they are subject to restrictions imposed by the state (such as licensing), and in so much as they must often compete with state or state-supported institutions (pedagogic, confessional, medical) promoting Western models of family, worship, leisure and social responsibility.“46 Folgt man Hirschkinds weitgefasstem Politikverständnis, so ist die analytische Aussagekraft des Begriffes Islamismus bzw. politischer Islam tatsächlich arg begrenzt. Er würde unterschiedlichste im Namen des Islams aktive Gruppen mit einschließen: Gruppen, welche die Übernahme staatlicher Institutionen anstreben, ob mit legalen oder militanten Mitteln, genauso wie Gruppen, die sich explizit gegen die Übernahme staatlicher Institutionen aussprechen. Gruppen, die in parteipolitischen Organisationen politische Forderungen artikulieren und auf ihre Durchsetzung drängen sowie solche Gruppen, die jede Form formeller Organisation ablehnen, sich ausschließlich der religiösen Mission widmen und Demonstrationen und öffentliche Kritik an Regierungen als „unislamisch“ verurteilen. Aus meiner Sicht kann der Islamismusbegriff allerdings durchaus einen wissenschaftlichen Wert besitzen, gerade dann nämlich, wenn er die erwähnten Unterschiede islamischer Gruppierungen in den Blick nimmt und diesbezüglich als analytische Orientierungshilfe dient. Ansonsten würde er nicht mehr als die Grenze zwischen privater und öffentlicher Religiosität markieren, vorausgesetzt, man würde ihn wie Hirschkind nicht vollständig verwerfen. Die geforderte Unterscheidungskraft kann der Islamismusbegriff jedoch nur dann aufweisen, wenn er klar definiert wird und ihm ein vergleichsweise enggefasstes Politikverständnis zugrunde liegt, welches davon ausgeht, dass politischer Aktivismus immer einen staatlichinstitutionellen Fokus aufweist, dass politische Aktivisten also nach institutioneller Macht streben und die staatliche Durchsetzung ihrer Ansichten fordern.47 In Anlehnung an Noah Salomon werden Islamisten in der vorliegenden Arbeit daher als Akteure verstanden, die auf die Islamisierung des Staates und seiner Institutionen drängen, ganz gleich ob mit friedlichen 46 Hirschkind: What is Political Islam? 47 Zur äußerst komplexen Debatte über die Wesenszüge politischen Handelns vgl. Mark E. Warren: What is Political?, in: Journal of Theoretical Politics, 1999, 11:207, S. 207-231. 21 oder gewalttätigen Mitteln.48 Wenngleich der Islamismusbegriff mittlerweile in inflationärer Weise und weit über die hier definierten Grenzen hinaus verwendet wird, folgt die genannte Definition im Kern dem Verständnis von Islamismus als einer staatsorientierten Bewegung und „Herrschaftstheorie“49. Die in dieser Arbeit verwendete Islamismusdefinition hat jedoch nicht nur den Vorteil die verschiedenen Handlungsmuster islamischer Aktivisten zu kategorisieren und zu ordnen. Die größte Rechtfertigung ihrer Verwendung findet sich im salafistischen Diskurs selbst. Wie Noah Salomon in seinem Artikel „The Salafi Critique of Islamism“ überzeugend darlegt, wird die Trennlinie zwischen Islamisten (islāmīyūn) und Nichtislamisten, zwischen politischem und nicht-politischem Islam, oft genau dort gezogen, wo Aktivisten beginnen, den Staat als primäres Ziel der Islamisierung zu betrachten.50 Dass sich nicht wenige Salafisten durch eine bemerkenswerte Skepsis gegenüber staatlichen Institutionen und den Mechanismen staatlicher Politik auszeichnen, wurde angedeutet und wird im weiteren Verlauf der Arbeit näher ausgeführt. 2.3 Fundamentalismus Salafisten werden nicht nur als Islamisten, sondern auch als Fundamentalisten bezeichnet. Ganz ähnlich wie der Islamismusbegriff wird auch der Terminus Fundamentalismus dabei vielfach ohne vorherige Definition verwendet, was dazu führt, dass er weniger als wissenschaftliche Kategorie denn als diskreditierendes Schlagwort fungiert. Wie aber kann eine Fundamentalismusdefinition aussehen, welche die Verwendung des Begriffes rechtfertigt und eine wissenschaftliche Aussagekraft besitzt? Und eignet sich ein eindeutig definierter Fundamentalismusbegriff bei der Beschäftigung mit dem zeitgenössischen Salafismus womöglich besser als der auf politische Gruppierungen beschränkte Islamismusbegriff? Eine der wenigen klaren und differenzierten theoretischen Definitionen des Fundamentalismus bietet der Religionssoziologe Martin Riesebrodt an. 51 Insbesondere aus zwei Gründen liegt es nahe die Grundzüge seiner Fundamentalismustheorie an dieser Stelle kurz vorzustellen und im weiteren Verlauf der Arbeit im Hinterkopf zu behalten: Erstens trifft Riesebrodt detaillierte Aussagen über Inhalt und Struktur der fundamentalistischen Ideologie, 48 Vgl. Noah Salomon: The Salafi Critique of Islamism, hier besonders Fußnote 4. 49 Martin Riexinger: Islamismus und Fundamentalismus, 2007, unter: http://www.bpb.de/themen/SXR79M,0,0,Islamismus_und_Fundamentalismus.html, letzter Zugriff: 20.03.2013. 50 Vgl. Salomon: Salafi Critique of Islamism, S. 143-168, hier besonders Fußnote 4. 51 Vgl. Riesebrodt: Fundamentalismus, v.a. S. 11-40. Und Riesebrodt: Rückkehr der Religionen, v.a. S. 50-52. 22 misst der Ideologie fundamentalistischer Bewegungen also große Bedeutung bei. Zweitens begreift er den Fundamentalismus nicht als genuin politische Bewegung, schließt quietistischpietistische Bewegungen ohne politische Ambitionen vielmehr ausdrücklich in seine Theorie mit ein.52 Vor dem Hintergrund der Fundamentalismustheorie Riesebrodts ist der vielerorts betriebenen Gleichsetzung von islamischem Fundamentalismus und Islamismus daher entschieden zu widersprechen.53 Bevor wir einen genaueren Blick auf die theoretischen Annahmen Riesebrodts hinsichtlich der Grundstrukturen fundamentalistischer Ideologie werfen, sei kurz auf einige generelle Vorbehalte gegen die Verwendung des Fundamentalismusbegriffes im islamischen Kontext hingewiesen. Oftmals wird die Verwendung des Begriffes im Zusammenhang mit islamischen Strömungen und Bewegungen mit dem Verweis auf seinen christlichen Ursprung abgelehnt.54 In der Tat ist der Fundamentalismusbegriff erstmals zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Bezeichnung einer religiösen Strömung innerhalb des amerikanischen Protestantismus verwendet worden, die sich u.a. gegen die moderne Bibelkritik richtete und für eine literalistische Auslegung der heiligen Schrift eintrat. Bei der religionsübergreifenden Verwendung von Begriffen, die in ihrem Entstehungs- sowie Anwendungskontext mit einer bestimmten religiösen Tradition verknüpft sind, ist tatsächlich Vorsicht geboten. Dennoch erscheint es mir nicht angemessen eine derartige Begriffsübertragung a priori abzulehnen. Eine solche Ablehnung basiert auf der irrigen Annahme von der prinzipiellen Unvergleichbarkeit von Religionen und Kulturen, die letztendlich - wenn auch ungewollt - zur „Exotisierung und Essentialisierung gerade nicht-westlicher Kulturen und religiöser Traditionen“55 beiträgt. Auch der Islam ist nicht derart anders, dass sich Vergleiche mit anderen Religionen von vornherein verbieten. Ein weiteres gängiges Argument gegen die Übertragung des Fundamentalismusbegriffes geht davon aus, dass er im Zusammenhang mit islamischen Gruppen und Strömungen keine analytische Aussagekraft besitzt. So würden im christlichen Kontext jene Strömungen als fundamentalistisch bezeichnet und von anderen Gruppen unterschieden, welche die Irrtumsfreiheit der Bibel proklamieren, sie als verbalinspiriertes Wort Gottes ansehen und ihre wortwörtliche Auslegung fordern. Im islamischen Kontext sei eine Unterscheidung nach derartigen Kriterien jedoch unmöglich, da alle Muslime in ihrem Verständnis vom Koran als geoffenbartem Wort Gottes einer literalistischen Auslegung der religiösen Texte anhängen 52 Vgl. Riesebrodt: Fundamentalismus, S. 20. 53 Albrecht Metzger beispielsweise setzt zunächst die Begriffe Islamismus und Islamischer Fundamentalismus gleich, um sich dann für den Islamismusbegriff zu entscheiden. Vgl. Albrecht Metzger: Der Himmel ist für Gott, der Staat für uns – Islamismus zwischen Gewalt und Demokratie, Göttingen 2000, S. 19. 54 So beispielsweise bei Jan Künzl: Islamisten – Terroristen oder Reformer? Marburg 2008, S. 18. 55 Riesebrodt: Rückkehr der Religionen, S. 52. 23 würden. In diesem Punkt ist es meiner Ansicht nach elementar, zwischen dem muslimischen Verständnis vom Koran und dem exegetischen Zugang zu diesem zu unterscheiden. Zwar halten (die allermeisten) Muslime den Koran in der Tat für das unerschaffene, fehlerfreie und unmittelbare Wort Gottes, dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass sie sich in der Auslegung des ambigen koranischen Textes nicht unterscheiden würden. Die mancherorts vertretene Auffassung, alle Muslime würden sich durch einen literalistischen Zugang zum Korantext auszeichnen, ist aus meiner Sicht nicht nur stark verallgemeinernd, sondern schlichtweg falsch. Man muss nicht auf „modernistische“ Gelehrte wie ʿAbduh zurückgreifen, um festzustellen, dass allegorische, symbolische und kontextuelle Deutungen des Koran in der vielfältigen islamischen Exegesetradition ihren festen Platz haben.56 Ganz Ähnliches gilt im Übrigen für die Sunna, der zweiten zentralen religiösen Quelle des Islams. Ein literalistischer Zugang zu den religiösen Quellen lässt sich laut Riesebrodt als wesentliches Merkmal fundamentalistischer Religiosität betrachten. Hier unterscheiden sich fundamentalistische Bewegungen seiner Meinung nach gravierend von anderen religiösen Revitalisierungsbewegungen, die ebenfalls die Rückkehr zu den religiösen Ursprüngen und die Orientierung an einer als ideal wahrgenommenen Frühzeit als Lösung für die diagnostizierte Gesellschaftskrise propagieren. Während Fundamentalisten die buchstabengetreue Anwendung der Ordnungsprinzipien der Urgemeinde, der Gebote des Stifters und des Offenbarungstextes forderten, die jeweilige religiöse Tradition demnach vor allem in Hinblick auf ihre gesetzesethische Dimension betrachteten, gehe es nichtfundamentalistischen Bewegungen nicht um die wörtliche Umsetzung jener Traditionen und Prinzipien, sondern um ihre „analoge Anwendung“57 vor dem Hintergrund der sich wandelnden gesellschaftlichen Umstände: „Nicht den Buchstaben, sondern den „Geist“ der in der Vergangenheit einmal verwirklichten idealen Ordnung gilt es unter neuen Bedingungen zu realisieren.“58 Es ist offensichtlich, dass die modernistische Salafīya diesem Anforderungsprofil weitestgehend entspricht, trotz ihres Bezugs auf die „Fundamente“ des Islams hiernach also nicht als fundamentalistisch bezeichnet werden kann. Ein ausgeprägter Literalismus bildet in der Fundamentalismustheorie Riesebrodts jedoch nicht das einzige Merkmal fundamentalistischen Denkens. Vielmehr ließen sich bei Fundamentalisten unterschiedlichster Religionen gemeinsame ideologische Grundmuster 56 Für einen Überblick über Entstehung und Entwicklung der verschiedenen koranischen Exegesetraditionen vgl. Hussein Abdul-Raof: Schools of Qur´anic Exegesis – Genesis and Development, New York 2010, S. 101. 57 Riesebrodt: Rückkehr der Religionen, S. 53. 58 Riesebrodt: Fundamentalimus, S. 20. 24 erkennen.59 Vier dieser Grundmuster seien an dieser Stelle näher betrachtet. Zum Ersten zeichnet sich die fundamentalistische Ideologie laut Riesebrodt durch einen patriarchalischen Moralismus aus. Demnach steht der moralische Verfall der Gesellschaft im Zentrum der fundamentalistischen Gesellschaftskritik. Dieser moralische Verfall äußere sich für Fundamentalisten in Phänomenen wie Prostitution, Pornographie, Ehebruch, Scheidungen, Alkoholkonsum oder ausschweifenden Tanz- und Musikveranstaltungen, deren Existenz als Resultat der Abkehr vom göttlichen Gesetz mit seiner festgelegten Geschlechterordnung angesehen wird. Als Ausweg aus dieser moralischen Dekadenz wird die Rückkehr zu einer gottgewollten Ordnung betrachtet, die durch eine klare geschlechtsspezifische Rollenverteilung gekennzeichnet ist, dem Mann mithin die Rolle des in der öffentlichen Sphäre tätigen Ernährers zukommen lässt und die Aufgaben der Frau vorwiegend im häuslichen Bereich, etwa in der Kindererziehung, verortet. Diese Rollenverteilung wird nach Riesebrodt dabei einerseits mit den „wesenhaften“ und „natürlichen“ Unterschieden der Geschlechter begründet und ist andererseits das Resultat eines bestimmten Blickes auf die weibliche Sexualität, die als potentiell bedrohlich angesehen wird und die es um der gesellschaftlichen Ordnung willen zu zähmen gelte. Vor diesem Hintergrund seien die Versuche fundamentalistischer Kräfte zu verstehen, bestimmte Kleidungsvorschriften für Frauen durchzusetzen oder die Vermischung der Geschlechter an öffentlichen Orten zu verhindern.60 Als zweiten elementaren Bestandteil der fundamentalistischen Ideologie führt Riesebrodt eine spezifische organische Sozialethik an, die sich darin äußert, dass Fundamentalisten dem modernen Konflikt- und Klassendenken ein religiöses Integrationsmodell entgegenstellen. Die gesellschaftlichen Konfliktlinien verlaufen für Fundamentalisten demnach nicht entlang von Kategorien wie Arm und Reich, Arbeiter und Unternehmer, sondern entlang der Kategorien Glaube und Unglaube. Entscheidendes Kriterium für die Gruppenzugehörigkeit sei somit die Akzeptanz bestimmter religiöser Werte, nicht das Vorhandensein gemeinsamer materieller Interessen.61 Drittens ist die fundamentalistische Ideologie nach Riesebrodt durch einen gesetzesethischen Monismus gekennzeichnet. So existiere für Fundamentalisten nur die eine im göttlichen Gesetz verankerte Ethik, die ewige Gültigkeit beanspruchen könne und alle Situationen und Lebensbereiche regele. Laut der Fundamentalismustheorie Riesebrodts ist die fundamentalistische Ideologie durch eine antipluralistische Grundhaltung charakterisiert, da 59 Vgl. Riesebrodt: Fundamentalimus. S. 217-224. 60 Vgl. Riesebrodt: Fundamentalimus. S. 217-219 61 Vgl. Riesebrodt: Fundamentalimus. S. 219f. 25 sie die Existenz anderer gesellschaftlicher Teilethiken nicht anerkennen würde.62 Darüberhinaus nennt Riesebrodt einen religiösen Nativismus mit universellem Geltungsanspruch als viertes wichtiges ideologisches Element des Fundamentalismus. Dieser könne sowohl einen regressiven als auch einen expansiven Aspekt besitzen und baue vor allem auf einem für das fundamentalistische Denken charakteristischen manichäischen Weltbild auf, das die Welt in „zwei oppositionelle Lager, in Gut und Böse“ 63 einteile. Der fundamentalistische Nativismus zeige sich dabei in der Besinnung auf die eigenen religiösen Traditionen und der gleichzeitigen Ablehnung als fremd wahrgenommener Einflüsse. In diesem Sinne zeichnet sich die fundamentalistische Ideologie durch eine isolationistischexklusivistische Grundhaltung aus, die durchaus offen xenophobe Züge tragen kann. Insbesondere wenn wir uns im weiteren Verlauf der Arbeit mit den theologischen Positionen des Salafismus auseinandersetzen, werden wir sehen, dass Riesebrodts Fundamentalismustheorie einen hohen wissenschaftlichen Wert besitzt und sich zentrale Grundmuster fundamentalistischer Ideologie 62 Vgl. Riesebrodt: Fundamentalimus. S. 220f. 63 Riesebrodt: Fundamentalimus. S. 222. 26 auch im Salafismus finden lassen. 3 Ideologischer Hintergrund: Saudi Arabien und die Wahhābīya In einem seltenen Moment der Einigkeit riefen Teile der ägyptischen Salafīya und die Muslimbruderschaft im Juli 2011 zu einer gemeinsamen Demonstration auf dem Taḥrīr-Platz in Kairo auf. Die teilnehmenden Salafisten, mittlerweile offenkundig im islamistischen Spektrum angelangt, fielen dabei neben der Forderung nach der Einführung der Scharia durch das Schwenken einiger saudi-arabischer Nationalflaggen auf.1 Insbesondere die nichtislamistischen Kräfte in Ägypten sahen sich dadurch in ihrer Annahme bestätigt, die Salafisten würden nach der Errichtung eines Staatswesen nach saudischem Vorbild streben und vom saudischen Königshaus finanziert. Ähnliche Gerüchte über saudische Finanzströme waren sowohl bei den ägyptischen Parlamentswahlen als auch bei den Präsidentschaftswahlen zu vernehmen und wurden nicht zuletzt durch die aufwendigen Wahlkämpfe salafistischer Parteien und Kandidaten genährt.2 Die Gerüchte folgten dabei einem Argumentationsmuster, das im Zusammenhang mit dem globalen Salafismus vielerorts anzutreffen ist, selten jedoch in so unverblümter Weise formuliert wird wie von dem Sozialisten Muḥammad Wakīd, der in einem Interview die ägyptischen Salafisten als „saudische Stützpunkte“ und „Marionetten der Saudis“ bezeichnete.3 Es ist zunächst einmal richtig, dass der zeitgenössische Salafismus ohne Kenntnis der innenpolitischen Entwicklungen in Saudi Arabien und der dort dominierenden Lesart des Islams nicht zu verstehen ist. Saudi Arabien kann durchaus als Mutterland des Salafismus angesehen werden. Bereits ein Blick auf die Biographien prominenter Gelehrter des Salafismus zeigt die immense Bedeutung Saudi Arabiens und seiner religiösen Institutionen bei der Vermittlung und Verbreitung der salafistischen Ideologie. Sofern nicht wie Ibn Bāz, Ibn al-ʿUṯaimīn oder al-Fauzān direkt aus Saudi Arabien stammend, verbrachte eine Vielzahl der renommiertesten Salafisten längere Abschnitte ihres Lebens an saudischen Lehranstalten: angefangen bei Nāṣir ad-Dīn al-Albānī und Muqbil al-Wādiʿī über die heute in Großbritannien bzw. Kuwait tätigen Muḥammad Surūr Zain al-ʿĀbidīn und ʿAbd ar-Raḥmān Ibn ʿAbd al-Ḫāliq bis hin zu dem populären ägyptischen Fernsehprediger Muḥammad Ḥassān. Selbst der deutsche Salafist Pierre Vogel alias Abū Ḥamza studierte mehrere Semester an der Umm al-Qurā Universität in Mekka. 1 Vgl. Islamopedia: Salafi Influences, unter: http://www.islamopediaonline.org/country-profile/egypt/salafiinfluences. Letzter Zugriff: 1.3.2013. 2 Vgl. Christoph Sydow: US-Pass bringt Islamisten in Erklärungsnot, unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/passaerger-fuer-aegyptens-praesidentschaftskandidat-hazem-salah-abuismail-a-825987.html. Letzter Zugriff: 1.3.2013. 3 Interview mit Muḥammad Wakīd in der Jungen Welt, 21.5.2011, abrufbar unter: http://www.agfriedensforschung.de/regionen/Aegypten/wakid.html. Letzter Zugriff: 1.3.2013. 27 Es lässt sich gleichfalls schwerlich bezweifeln, dass die Ausbreitung des saudischen Islamverständnisses über die Grenzen des Königreichs hinaus einen festen Bestandteil der außenpolitischen Agenda des saudischen Königshauses darstellt und durchaus auch machtpolitischen Erwägungen folgt. Insbesondere seit den 70er Jahren und verstärkt nach der iranischen Revolution fließen nicht wenige saudische Petrodollars in den internationalen Vertrieb religiöser Schriften, in die Errichtung und den Unterhalt von Moscheen, Bildungseinrichtungen und Organisationen außerhalb Saudi Arabiens und in den Aufbau eines überregionalen Mediennetzwerkes.4 Was Noorhaidi Hasan mit Blick auf den indonesischen Salafismus feststellt, gilt für die salafistische Bewegung insgesamt: Its very existence demonstrates how the dynamics of Islamic activism have taken their form in the context of the intensification of globalisation spurred by an increasing ease of travel, communication, learning and flow of ideas. Despite its local nuances and characteristics, the movement primarily evolved out of the dynamics of transnational politics in the Muslim world. In fact, its rapid proliferation constitutes a manifestation of the rising influence of Saudi Arabia in the world´s politics.5 Dennoch sollten Salafisten außerhalb Saudi Arabiens nicht als bloße Handlanger und Interessenvertreter der saudischen Regierung angesehen werden, wie es die Metaphern von den saudischen Stützpunkten und Marionetten nahelegen. Bereits die Finanzierung des globalen Salafismus ist komplexer als vielfach angenommen. Keinesfalls alle salafistischen Gruppierungen werden direkt vom saudischen Staat finanziert, die Geldströme innerhalb der Salafīya sind vielmehr häufig nebulös und informell und gehen oftmals auf nichtstaatliche Akteure zurück, die der saudischen Regierung nicht zwangsläufig in bedingungsloser Loyalität gegenüberstehen.6 Auch Staaten wie Qatar oder Kuwait spielen für die Finanzierung salafistischer Gruppen keine unerhebliche Rolle. Darüber hinaus wirken sich die lokalen politischen, gesellschaftlichen und sozialen Gegebenheiten naturgemäß auf das Handeln salafistischer Gruppen aus. Wie wir sehen werden, zeigt gerade das Beispiel der postrevolutionären ägyptischen Salafīya wie gesellschaftspolitische Entwicklungen das Verhalten und die ideologische Ausrichtung salafistischer Akteure prägen und in einer Weise verändern können, die nicht unbedingt im Interesse des saudischen Königshauses liegen dürfte und der These von den „ferngesteuerten“ 4 Vgl. Saeed Shehabi: The role of religious ideology in the expansionist policies of Saudi Arabia, in: Madawi al-Rasheed: Kingdom without Borders – Saudi Arabia´s Political, Religious and Media Frontiers, London 2008, S. 183-199. 5 Noorhaidi Hasan: Saudi Expansion, The Salafi Campaign and Arabised Islam in Indonesia, in: al-Rasheed: Kindom without Borders, S. 263-281, hier: S. 264. 6 Vgl. Madawi al-Rasheed: An Assesment of Saudi Political, Religious and Media Expansion, in: al-Rasheed: Kingdom without Borders, S. 1-38, hier: S. 18-24. 28 Salafisten widerspricht. Sowohl in Ägypten als auch auf globaler Ebene ist die salafistische Bewegung weit vielschichtiger und dynamischer als die erwähnten Sprachbilder suggerien. Insbesondere an der Frage nach der richtigen Haltung gegenüber der saudischen Regierung entzünden sich im salafistischen Milieu bis heute heftige Debatten. Die dabei vertretenen Standpunkte folgen nicht zuletzt den in Saudi Arabien selbst vertretenen Auffassungen. Dies ist für das Verständnis des Salafismus zentral: Auch der saudische Islam, vielfach als „wahhābitisch“ bezeichnet, ist alles andere als homogen. Im Gegenteil: Die politische Fragmentierung des zeitgenössischen Salafismus ist nicht zuletzt Abbild und Folge der Heterogenität des saudischen Islams höchstselbst. Eine genauere Betrachtung der theologischen Grundannahmen der Wahhābīya sowie der politischen Debatten im Saudi Arabien des 20. Jahrhunderts ist für unser Thema deshalb unabdingbar. 3.1 Zum Begriff Wahhābīya Während der Begriff Wahhabismus in den deutschen Medien relativ selten verwendet wird, hat sich der Terminus in der Wissenschaft zur Bezeichnung einer religiösen Bewegung durchgesetzt, die Mitte des 18. Jahrhunderts in Saudi Arabien entstanden ist. Die Bezeichnung Wahhābīya wird abgeleitet von Muḥammad Ibn ʿAbd al-Wahhāb, dem Begründer der Bewegung. Es ist allerdings wichtig festzuhalten, dass sich Ibn ʿAbd al-Wahhāb und seine Anhänger selbst nie als Wahhābiten bezeichnet haben, der Begriff Wahhābīya ist vielmehr eine Wortschöpfung der frühesten Gegner der Bewegung. Kritiker Ibn ʿAbd al-Wahhābs allen voran sein Bruder Sulaimān – unterstrichen mit der Bezeichnung ihre Ansicht, nach der die Unterstützer Ibn ʿAbd al-Wahhābs einer fanatischen Lehre folgen, die ihre Wurzeln nicht in der sunnitisch-islamischen Tradition, sondern in den häretischen Gedanken eines einzelnen Gelehrten habe.7 Bis heute wird der Begriff im innerislamischen Diskurs auf ähnliche Weise genutzt. Im Internet beispielsweise kursieren zahlreiche Videoclips über den deutschen Salafisten Pierre Vogel, in denen vor seinem „wahhabitischen“ Islamverständnis gewarnt wird. Ibn ʿAbd al-Wahhāb und seine Gefolgsleute wiederum bezeichneten sich selbst als „Bekenner der Einheit Gottes“ (al-muwaḥḥidūn), als „Anhänger des tauḥīd“ (ahl at-tauḥīd), als Salafisten (as-salafīyūn) oder schlicht als Muslime.8 Heute wird in Kreisen, die in der 7 Vgl. Esther Peskes: Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb (1703-92) im Widerstreit – Untersuchungen zur Rekonstruktion der Frühgeschichte der Wahhābīya, Beirut 1993, S.15. 8 Vgl. Guido Steinberg: Religion und Staat in Saudi-Arabien – Die wahhabitischen Gelehrten 1902-1953, Würzburg 2002, S.28. 29 Wissenschaft oftmals der Wahhābīya zugeordnet werden, die Bezeichnung Salafist jedoch bevorzugt.9 Wenngleich der Begriff Wahhabismus in der Wissenschaft - trotz seines Charakters als diskreditierender Fremdbezeichnung - oft verwendet wird, herrscht keine Einigkeit über seinen exakten Bedeutungsgehalt. Verstehen manche unter Wahhabismus eine historisch abgeschlossene Reformbewegung,10 nutzt die Mehrzahl der Wissenschaftler den Begriff auch für die Beschreibung des heute in Saudi Arabien dominierenden Islamverständnisses.11 Die letztgenannte Anwendungspraxis hat jedoch seltsame Konstellationen zur Folge, da gewisse in Saudi Arabien vertretene Standpunkte als wahhabitisch bezeichnet werden, während dieselben ideologischen Auffassungen anderswo als salafistisch gelten. Was Wissenschaftler als zeitgenössischen Wahhabismus beschreiben ist jedoch nichts anderes als Salafismus, weshalb die Verwendung des Terminus Wahhabismus für das vielschichtige Islamverständnis großer Teile der heutigen saudischen Muslime wenig einleuchtend erscheint. Daher wird in dieser Arbeit unter Wahhābīya eine historische Reformbewegung verstanden, die mit der Missionstätigkeit Ibn ʿAbd al-Wahhābs begann und mit dem Zusammenbruch des ersten saudischen „Staates“ im Jahre 1818 endete. Diese Reformbewegung bildet wiederum die wichtigste ideologische Quelle des zeitgenössischen Salafismus, ist jedoch nicht mit diesem gleichzusetzen. Im Folgenden sollen die theologischen Grundpositionen der Wahhābīya skizziert werden, an den Stellen jedoch, an denen die saudischen religös-politischen Debatten des 20. Jahrhunderts berührt werden, befinden wir uns bereits im salafistischen Diskurs. 3.2 Theologie Wie erwähnt, wird die Wahhābīya auch als religiöse Reformbewegung bezeichnet. Im Zusammenhang mit Offenbarungsreligionen wird der Begriff Reform dabei oftmals als Rückkehr zu den Ursprüngen der Religion verstanden, d.h. zu den Lehren des jeweiligen Religionsbegründers und den Offenbarungstexten.12 In diesem Sinne kann die Wahhābīya als religiöse Reformbewegung gelten. Muḥammad Ibn ʿAbd al-Wahhāb ging es zuvorderst darum, den aus seiner Sicht wahren Islam wiederherzustellen, dessen Grundlagen Koran und Sunna bilden sollten und der zuletzt zu Lebzeiten der salaf in Gänze verwirklicht worden sei. 9 Vgl. Madawi al-Rasheed: Contesting the Saudi State – Islamic Voices from a New Generation, Cambridge 2007, S.2. 10 So beispielsweise Bonnefoy in seiner Studie über den Salafismus im Jemen. Vgl. Bonnefoy: Salafism in Yemen, S. 39-42. 11 Vgl. Steinberg: Religion und Staat, S.29-30. Vgl. al-Rasheed: Contesting the Saudi State, S.2. Vgl. David Commins: The Wahhabi Mission and Saudi Arabia, New York 2006, S.185. 12 Vgl. Rudolph Peters: Erneuerungsbewegungen im Islam vom 18. bis 20. Jahrhundert und die Rolle des Islams in der neueren Geschichte: Antikolonialismus und Nationalismus, in: Ende/Steinbach: Der Islam in der Gegenwart, S. S. 90-123, hier: S. 90. 30 Die von der Mehrheit seiner Umgebung praktizierte Religion hatte für ihn mit den echten Lehren des Islams nichts mehr gemein. Vielmehr hätten sich die Menschen derart weit von den islamischen Grundlagen entfernt, dass sie in den Zustand vorislamischer Unwissenheit (ǧāhilīya) zurückgefallen seien.13 Den Mittelpunkt der Mission (daʿwa) Muḥammad Ibn ʿAbd al-Wahhābs bildete sein zweigliedriges Konzept des tauḥīd.14 Dabei wich er mit der Betonung der Relevanz des tauḥīd nicht von der damals dominierenden Gelehrtenmeinung ab, die das Einheitsbekenntnis neben der Erfüllung der religiösen Pflichten als konstituierendes Element des Muslimseins ansah. Das zentrale Unterscheidungsmerkmal der Lehre Ibn ʿAbd al-Wahhābs war seine Auffassung darüber, was für die Erfüllung des tauḥīd erforderlich ist bzw. welche Handlungen eine Verletzung des tauḥīd darstellen und damit den Tatbestand der Vielgötterei (širk) erfüllen.15 Da es unter den sunnitischen Gelehrten überwiegend anerkannt war (und ist), dass širk in seiner gravierendsten Form (širk akbar) einen Muslim zum Apostaten macht, dessen Leben rechtlich nicht mehr geschützt ist, ging es in diesem Zusammenhang also um nicht weniger als um die Frage nach der Festlegung der Trennlinie zwischen Glaube (imān) und Unglaube (kufr). Während das Aussprechen des Glaubensbekenntnisses (šahāda) von den damaligen Theologen mehrheitlich als hinreichende Bedingung für die Erfüllung des tauḥīd angesehen wurde, widersprach Muḥammad Ibn ʿAbd al-Wahhāb dieser Auffassung vehement.16 Zwar würde die Mehrzahl der Menschen seiner Umgebung tatsächlich die šahāda aussprechen und den religiösen Pflichten wie dem Gebet nachkommen, gleichwohl seien sie keinesfalls Muslime, weil sie den zentralen Aspekt des tauḥīd vernachlässigen würden: den tauḥīd alulūhīya, oder von Muḥammad Ibn ʿAbd al-Wahhāb synonym verwendet: den tauḥīd alʿibāda. Esther Peskes übersetzt den Begriff tauḥīd al-ulūhīya mit „Bekenntnis zur Einheit Gottes durch den Dienst an Gott“ und definiert ihn als „das aktive Element, mit dem der Gläubige durch sein eigenes Handeln, durch den Dienst an Gott allein, das Bekenntnis zur Einheit Gottes in die Tat umsetzt.“17 In seinem auch von heutigen Salafisten viel beachteten Werk, dem Kitāb at-Tauḥīd,18 definiert 13 Vgl. Commins: The Wahhabi Mission, S.19. 14 Muḥammad Ibn ʿAbd al-Wahhāb gliederte den tauḥīd, wie schon Ibn Taimīya, in die Kategorien tauḥīd arrubūbīya und tauḥīd al-ulūhīya bzw. tauḥīd al-ʿibāda. Wir werden sehen, dass heutige Salafisten dieses Konzept um eine dritte, in ganz seltenen Fällen sogar um eine vierte Kategorie erweitern. Vgl. Kapitel 4. und Peskes: Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb, S. 21-24, v.a. Fußnote 33. 15 Vgl. Peskes: Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb, S.18. 16 Vgl. Commins: The Wahhabi Mission, S.14, und: Peskes: Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb, S.21. 17 Peskes: Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb, S.23. 18 Das Kitāb at-Tauḥīd von Muḥammad Ibn ʿAbd al-Wahhāb gilt als das dogmatische Grundlagenwerk der 31 Muḥammad ibn ʿAbd al-Wahhāb den tauḥīd al-ulūhīya vorwiegend negativ. Er listet eine Vielzahl von Vergehen auf, die diesen aus seiner Sicht verletzen. Nicht alle aufgelisteten Vergehen stuft er dabei als širk akbar ein, so jedoch folgende: das Ersuchen von Segen z.B. von Bäumen, das Gelübde (naḏr) gegenüber jemand anderem als Gott oder das Richten einer Anrufung bzw. eines Bittgebets (duʿāʾ) oder eines Hilfegesuchs (istiġāṯa) an einen anderen als Gott.19 Heftige Kontroversen zwischen Anhängern der Wahhābīya und ihren Gegnern entzündeten sich an der Frage nach der Rechtmäßigkeit des tawassul, d.h. der Bitte um Vermittlung bei Gott durch den Propheten oder einen verstorbenen Heiligen. Ibn ʿAbd alWahhāb verurteilte den tawassul scharf und richtete sich damit v.a. gegen Zwölferschiiten und sunnitische Sufiorden, für die der tawassul an den Gräbern der Imame bzw. der Ordensbegründer einen zentralen Bestandteil des religiösen Kultes darstellte.20 Ibn ʿAbd alWahhāb widersprach mit seiner Position jedoch auch den meisten Gelehrten der renommierten sunnitischen al-Azhar, die noch über hundert Jahre nach dem Ableben Ibn ʿAbd al-Wahhābs die Legitimität des tawassul betonten.21 Die wahhabitische Kritik richtete sich also vor allem gegen Praktiken aus dem Gebiet der Heiligenverehrung und des Gräberkultes, die als Verstoß gegen das islamischen Monotheismusgebot gewertet wurden. Da eine Vielzahl dieser als širk akbar eingestufter Praktiken unter Muslimen weite Verbreitung fanden, waren die Konsequenzen der Lehre Ibn ʿAbd al-Wahhābs so simpel wie weitreichend: Faktisch erklärte er einen großen Teil der Muslime zu Polytheisten und somit zu Ungläubigen (kuffār). Aus der Sicht Ibn ʿAbd al-Wahhābs musste der tauḥīd sowohl mit dem Herzen (qalb) und der Zunge (lisān), als auch durch die Tat (ʿamal) vollzogen werden. Tauḥīd durch die Tat hieß für ihn jedoch nicht nur das Ablassen von jenen Praktiken, die er als unerlaubte Neuerungen oder sogar als Ausdruck von Polytheismus wertete. Seine Lehre vom islamischen Monotheismus beinhaltete vielmehr sowohl eine offensiv-aktionistische als auch eine defensivisolationistische Dimension. So erhob er das feindschaftliche Vorgehen gegen seine „polytheistische“ Umgebung zur religiösen Notwendigkeit: Wahhābīya. Es wird heute auf verschiedensten salafistischen Internetseiten in unterschiedlichsten Sprachen vertrieben. 19 Vgl. Muḥammad Ibn ʿAbd al-Wahhāb: Kitab at-Tauhid – The Book of Monotheism, Riad 1996, S. 57-63. Und: Peskes: Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb, S.24-26. 20 Vgl. Werner Ende: Religion, Politik und Literatur in Saudi-Arabien: Der geistesgeschichtliche Hintergrund der heutigen religiösen und kulturpolitischen Situation, in: Orient, Jahrgang 22/1981, S.370-390, hier: S.380. 21 Vgl. Dirk Boberg: Ägypten, Naǧd und der Ḥiǧāz – Eine Untersuchung zum religiös-politischen Verhältnis zwischen Ägypten und den Wahhabiten, 1923-1936, anhand von in Kairo veröffentlichten pro- und antiwahhabitischen Streitschriften und Presseberichten, Bern 1991, S.32-34. 32 Bedenke, daß der Islam nur mit dem feindschaftlichen Vorgehen gegen die, die širk betreiben, vollständig vollzogen ist. Wer nicht feindschaftlich gegen sie vorgeht, der ist einer von ihnen, auch 22 wenn er ihn [den širk] nicht selbst vollzieht. Diese offensiv-aktionistische Dimension der Ideologie der Wahhābīya bildet einen entscheidenden Faktor für das Verständnis der raschen Ausdehnung des wahhabitischen Machtbereiches auf der arabischen Halbinsel. Während Ibn Saʿūd die militärischen Ressourcen bereitstellte, forderte Ibn ʿAbd al-Wahhāb die offene Feindschaft gegen die „Pseudomuslime“ seiner Umgebung, legitimierte durch den takfīr den ǧihād gegen diese und lieferte dadurch das ideologische Rüstzeug für eine expansive Politik, die in den Jahren 1803 bzw. 1804 mit der Eroberung Mekkas und Medinas ihren zwischenzeitlichen Höhepunkt erreichte. Neben der Pflicht zum feindlichen Vorgehen betonte Ibn ʿAbd al-Wahhāb die Notwendigkeit der innerlichen und räumlichen Distanzierung von den Ungläubigen und forderte gleichzeitig eine unbedingte innerwahhabitische Loyalität ein. Nachdem der ägyptische Gouverneur Muḥammad ʿAlī den Āl Saʿūds in den Jahren 1812 bzw. 1813 die Herrschaftsgewalt über Mekka und Medina vorübergehend entreißen konnte, wurde dieser Gedanke zusehends zum Leitmotiv in vielen Schriften der religiösen Gelehrsamkeit. Insbesondere im zweiten saudischen „Staat“ (1824-1891), als die geopolitische Lage eine Expansion durch den ǧihād nicht zuließ, rückten Forderungen nach der Abgrenzung von der ungläubigen Umgebung und der Abwehr fremder Einflüsse ins Zentrum des theologischen Diskurses und verliehen diesem eine stark defensiv-isolationistische und xenophobe Färbung.23 Wir werden sehen, dass diese Ideen unter der Losung al-walāʾ wa-l-barāʾ Eingang in die Ideologie des zeitgenössischen Salafismus gefunden haben und die salafistische Theologie insgesamt vom Denken Ibn ʿAbd al-Wahhābs maßgeblich beeinflusst worden ist. Dies zeigt sich etwa in der salafistischen tauḥīd-Konzeption sowie in dem ausgeprägten Antischiismus und Antisufismus der Salafīya. 3.3 Politik Muḥammad Ibn ʿAbd al-Wahhāb hat nur Rudimente einer politischen Theorie hinterlassen. In seiner Allianz mit Ibn Saʿūd sicherte er diesem das alleinige Recht zum Ausruf des ǧihād zu und hob die Gehorsamspflicht gegenüber dem Herrscher hervor. Als Gegenleistung versprach Ibn Saʿūd die Ausbreitung der wahhabitischen Lehre voranzutreiben und deren Geltung im 22 Muḥammad Ibn ʿAbd al-Wahhāb zitiert nach Peskes: Muḥammad b. ʿAbdalwahhāb, S.31-32. 23 Vgl. Commins: The Wahhabi Mission, S.41. 33 eigenen Machtbereich durchzusetzen. Während die Durchsetzung des göttlichen Gesetzes nach wahhabitischer Lesart eine der Hauptaufgaben des Herrschers bildete, sollten die Gelehrten die Scharia-Konformität seiner Politik kontrollieren und ihn mit „gutem Rat“ (naṣīḥa) unterstützen.24 Schon in jener Allianz spiegelte sich also wider, was bis heute eines der bedeutendsten Charakteristika saudischer Staatlichkeit darstellt: die eigentümliche Verbindung von politischer Macht und religiöser Doktrin, von politischen Herrschern (umarāʾ) auf der einen und religiösen Gelehrten (ʿulamāʾ) auf der anderen Seite. Die Entstehung und Konsolidierung des saudischen Nationalstaates Mitte des 20. Jahrhunderts bildet eine historische Wegmarke im Verhältnis von saudischem Herrscherhaus und religiöser Gelehrsamkeit. Durch die Eingliederung von Teilen der Gelehrten in den Staatsapparat konnten diese in einigen Gesellschaftsbereichen an Einfluss gewinnen, während ihre Einflussmöglichkeiten andernorts deutlich zurückgegangen sind. So wurden Institutionen wie die haiʾāt al-amr bi-l-maʿrūf wa-n-nahy ʿan al-munkar geschaffen, über welche die Gelehrten die Religionspolizei kontrollieren und somit ihre Funktion als Wächter über die öffentliche Moral institutionell manifestieren konnten.25 Mit der Institutionalisierung der Gelehrsamkeit ging jedoch gleichfalls ein Verlust an Unabhängigkeit einher, der letztendlich die weitgehende Verdrängung der Gelehrten aus den politischen Entscheidungsprozessen zur Folge hatte. Die staatlich gebundenen Gelehrten scheuten zunehmend die Konfrontation mit dem saudischen Regime und beschränkten sich stattdessen auf die schwierige Aufgabe, den der Partizipation im internationalen Staatensystem und in der globalen Wirtschaftsordnung geschuldeten politischen Pragmatismus der Regierung religiös zu legitimieren, der sich beispielsweise in einer engen Zusammenarbeit mit den USA äußerte und nicht selten mit wahhabitischen Dogmen wie der Feindschaftspflicht gegenüber Ungläubigen kollidierte. Vor diesem Hintergrund entwickelten sich in Saudi Arabien ein hegemonialer religiöser Diskurs und eine offizielle politische Theorie, deren Kernpostulate die nahezu bedingungslose Gehorsamspflicht gegenüber dem Herrscherhaus und die Wahrung der Einheit der Gesellschaft bzw. die Vermeidung jeder Form von Uneinigkeit und Chaos (fitna) bildeten.26 So wurde der Gehorsam gegenüber dem Herrscher auch im Falle einer sündhaften und despotischen Regierungsführung für verpflichtend erklärt. Zur Stütze ihrer Argumentation diente den Gelehrten dabei jener berühmte und auch von Salafisten außerhalb Saudi Arabiens 24 Vgl. Steinberg: Religion und Staat, S.423-425 und Guido Steinberg: Saudi Arabien, in: Ende/Steinbach: Der Islam in der Gegenwart, S. 537-547, hier: S.537. 25 Zur Institutionalisierung des amr bi-l-maʿrūf wa-n-nahy ʿan al-munkar im Naǧd und Hiǧāz vgl. Steinberg: Religion und Staat, S.406-418. 26 Vgl. Steinberg: Religion und Staat, S. 428f. Und: Madawi al-Rasheed: The minaret and the palace: obedience at home and rebellion abroad, in: al-Rasheed: Kingdom without Borders, S. 199-220, hier: S. 204206. 34 vielfach zitierte Ausspruch Ibn Taimīyas: „Sechzig Jahre mit einem tyrannischen Imam sind besser als eine Nacht ohne Imam.“27 Wie Ibn Taimīya hielten auch die saudischen (Staats-) ʿulamāʾ eine Aufkündigung des Gehorsams nur dann für statthaft, wenn der Herrscher seine Untertanen zur Verletzung der Scharia zwingt, wobei sie sich bezüglich der genauen Kriterien dieses Falles bezeichnenderweise vornehmlich in Schweigen hüllten. In den seltenen Fällen, in denen man derlei Kriterien erörterte, wurde beispielsweise das Verbot des Gebets als hinreichende Bedingung für eine Rebellion angeführt. Führt man sich vor Augen, dass in der islamischen Geschichte ein Verbot des Gebets selbst dann eine Seltenheit war, wenn Muslime unter nichtmuslimischer Herrschaft standen, wird die politische Stoßrichtung der ʿulamāʾ überdeutlich: Eine Rebellion gegen den Herrscher wird zwar als theoretisch möglich betrachtet, praktisch jedoch so gut wie ausgeschlossen. 28 Diese von den in die staatlichen Organe eingebundenen Gelehrten und über Moscheen und „neue“ Medien wie dem Fernsehen verbreitete politische Theorie wurde von Madawi alRasheed auf die griffige Formel „Theologie des Gehorsams“29 gebracht. Damit verweist alRasheed auf die theologische Fundierung der Theorie, die nicht zuletzt durch eine weit über das Postulat des Gehorsams hinausreichende Auslegung folgenden Koranverses hergestellt wurde: Ihr Gläubigen! Gehorchet Gott und dem Gesandten und denen unter euch, die zu befehlen haben (oder:zuständig sind)! Und wenn ihr über eine Sache streitet (und nicht einig werden könnt), dann bringt sie vor Gott und den Gesandten, wenn (anders) ihr an Gott und den jüngsten Tag glaubt! So ist es am besten (für euch) und nimmt am ehesten einen guten Ausgang.30 In seiner Funktion als saudischer Großmufti leitete Ibn Bāz aus diesem Vers nicht nur die Gehorsamspflicht gegenüber dem Herrscher und das Verbot einer gewaltsamen Rebellion (ḫurūǧ bi-s-saif) ab. Vielmehr erklärte er auch Demonstrationen, Akte des zivilen Ungehorsams und öffentliche Kritik am Herrscherhaus unter Rückgriff auf den Koran für illegitim. Das religiöse Establishment entwarf damit ein politische Theorie, in der jede Form politischen Engagements und öffentlicher Kritik am saudischen Staat als Gefahr für den Zusammenhalt des Gemeinwesens und potentielle Quelle der Unordnung verboten und als 27 28 29 30 Vgl. Steinberg: Religion und Staat, S.423-425. Vgl. al-Rasheed: Contesting the Saudi State, S.48. Al-Rasheed: The minaret and the palace, S. 204. Koran 4,59, Übersetzung nach Rudi Paret: Der Koran, Stuttgart 2007, S.66. Mit einer Ausnahme folgen alle weiteren in dieser Arbeit zitierten Koranstellen Parets Übersetzung. 35 unislamische Rebellion gegen den Herrscher (ḫurūǧ ʿalā l-ḥākim) gebrandmarkt wurden.31 Mit der „Theologie des Gehorsams“ wurde das Bild eines wahrhaft frommen Muslim gezeichnet, der sein Leben der strikten Einhaltung der religiösen Gebote widmet, sich von den politischen Belangen des Staatswesens jedoch vollständig fernzuhalten habe. Am 20. November 1979 besetzte der Prediger Ǧuhaimān al-ʿUtaibī mit annähernd 500 Gefolgsleuten die große Moschee in Mekka. Obgleich die Besetzung stark millenaristische Züge trug, verfolgten die Besetzer, die sich als al-ǧamāʿa as-salafīya al-muḥtasiba bezeichneten, auch genuin politische Ziele: Sie forderten die Rückkehr zum wahren Islam der salaf und das Ende der Monarchie, die sie als unislamisches Herrschaftssystem wahrnahmen. Daneben kritisierten sie das saudische Herrscherhaus für die Aufgabe des ǧihād und für die engen Verbindungen zu den USA.32 Die Besetzung der heiligsten Stätte des Islams offenbarte, dass es eine beträchtliche Anzahl von Saudis gab, die weder die Auffassung von der Gehorsamspflicht gegenüber dem Herrscher teilten, noch der Meinung des religiösen Establishments folgten, nach der das saudische Herrscherhaus in einigen politischen Bereichen womöglich fehlerhaft agiere, im Grunde jedoch den einzig wahrhaft islamischen Staat, den daulat at-tauḥīd, regiere. Es hatte sich unterhalb der staatlichen Ebene also ein inoffizieller religiös-politischer Diskurs entwickelt, der die von den „offiziellen“ Gelehrten propagierte „Theologie des Gehorsams“ herauszufordern begann und sich gegebenenfalls sogar in offenem Aktivismus äußerte. Die al-ǧamāʿa as-salafīya al-muḥtasiba entsprang dem Dunstkreis der sogenannten aṣ-ṣaḥwa al-islāmīya, oder schlicht ṣaḥwa, einer saudischen Oppositionsbewegung, die in den 60er Jahren v.a. im universitären Umfeld entstand und spätestens in den 90er Jahren zur einflussreichsten islamistisch-oppositionellen Strömung in Saudi Arabien heranwuchs. Zu den wichtigsten Ideengebern der ṣaḥwa gehörten sowohl in Saudi Arabien geborene und in der salafistischen Lehre ausgebildete Gelehrte wie Safar al-Ḥawālī und Salmān al-ʿAuda als auch Gelehrte wie Muḥammad Quṭb - der Bruder Saiyid Quṭbs - und Muḥammad Surūr Zain alʿĀbidīn, die sich als Exilanten in Saudi Arabien aufhielten und ursprünglich aus dem Umfeld der Muslimbrüder in Ägypten bzw. Syrien stammten.33 Die unterschiedliche Herkunft der Gelehrten spiegelte sich in der hybriden Ideologie der ṣaḥwa wider, in der Elemente des staatszentrierten Islamismus v.a. ägyptischer Prägung mit den puristischen Aspekten der „klassischen“ wahhabitischen Theologie sowie mit ihrer stärker aktivistisch ausgerichteten Dimension verschmolzen. 31 Vgl. al-Rasheed: The minaret and the palace, S. 205. 32 Vgl. Steinberg/ Hartung: Islamistische Gruppierungen und Bewegungen, S. 689. 33 Zur ṣaḥwa vgl. al-Rasheed: Contesting the Saudi State, S.65-81. 36 Für die ṣaḥwis standen religiöser Anspruch und politische Wirklichkeit in Saudi Arabien nicht mehr in Einklang miteinander. Sie kritisierten die aus ihrer Sicht fortschreitende Vernachlässigung religiöser Prinzipien in der saudischen Politik, die sie, wie Ǧuhaimān alʿUtaibī, u.a. an der engen Zusammenarbeit mit den „ungläubigen“ Amerikanern festmachten. Dieser Werteverfall sei nun keinesfalls hinzunehmen, sondern müsse korrigiert werden. Politik fiele nicht nur in den Handlungsbereich einer kleinen Elite im Herrscherhaus, sondern sei Aufgabe aller Gläubigen. Dementsprechend richtete sich die Kritik sowohl an das politische Regime selbst, dessen Pragmatismus scharf angegriffen wurde, als auch an das religiöse Establishment, das die Trennung von Politik und Religion in den Augen der Oppositionellen maßgeblich befeuert hatte. Die ṣaḥwa brach dabei zusehends eines der verbreitetesten Tabus innerhalb der saudischen Gesellschaft, da sie die Āl Saʿūd öffentlich kritisierte. Auch die offiziellen ʿulamāʾ wurden scharf angegriffen, v.a. auf Grund ihrer Fokussierung auf rituelle und sozio-moralische Aspekte der Religion. Nicht, dass die Anhänger der ṣaḥwa derlei Themen als völlig unwichtig empfanden, für die ṣaḥwa war der Islam jedoch mehr als Orthopraxie und Geschlechtertrennung, nämlich v.a. ein ideologischer Weisungsrahmen für die Politik.34 Mit der ṣaḥwa entstand also ein stärker politisierter Salafismus, der den theologischen Annahmen des in Saudi Arabien vorherrschenden Islamverständnisses loyal gegenüber stand, die quietistische „Theologie des Gehorsams“ jedoch ablehnte. Nach einem seiner führenden Vertreter, Muḥammad Surūr Zain al-ʿĀbidīn, wird dieser ideologische Strang des Salafismus auch als surūrīya bezeichnet. Ihre ideologische Ausrichtung wiederum wird mancherorts als salafī-iḫwānī beschrieben, was eine Nähe zum politischen Aktivismus der Muslimbruderschaft suggerieren soll. In ihrer Genese und Entwicklung ein Phänomen der saudischen Politik und ihres Diskurses entfaltete die Ideologie der ṣaḥwa eine weit über die Grenzen Saudi Arabiens hinausreichende Wirkung – nicht zuletzt, weil Gelehrte wie Muḥammad Surūr Zain al-ʿĀbidīn seit geraumer Zeit außerhalb Saudi Arabiens leben und lehren (Vgl. Kapitel 5).35 Auch die weitere Radikalisierung von Teilen des salafistischen Milieus, die in der Entstehung einer militanten Spielart des Salafismus mündete, ist nicht zuletzt als Reaktion auf politische Entwicklungen innerhalb Saudi Arabiens zu verstehen. Da dieser Strang innerhalb der Salafīya, der v.a. allem auf die Ideen des gebürtigen Jordaniers Abū Muḥammad al-Maqdisī zurückzuführen ist, im weiteren Verlauf dieser Arbeit jedoch keine Relevanz besitzt, können 34 Vgl. al-Rasheed: Contesting the Saudi State, S. 69-72. 35 Vgl. al-Rasheed: Contesting the Saudi State. S. 72-77. 37 wir auf diese Entwicklungen hier nicht tiefer eingehen.36 Mit Blick auf den „politischen“ Teil dieser Arbeit bleibt an dieser Stelle jedoch folgendes festzuhalten: Im Saudi Arabien des späten 20. Jahrhunderts ist es zu einer tiefgehenden Fragmentierung des salafistischen Milieus gekommen. Diese Fragmentierung war v.a. eine Reaktion auf die Politik des saudischen Königshauses, die nicht wenige als Verrat an salafistischen Kerndogmen wahrnahmen. Mit der Ausbreitung des salafistischen Islams weit über die Grenzen Saudi Arabiens hinaus konnten deshalb nicht nur jene theologische Grundüberzeugungen weltweit Fuß fassen, die bis heute von allen Salafisten gleichermaßen geteilt werden. Darüber hinaus verbreiteten sich ebenso die verschiedenen Interpretationen der politischen Implikationen salafistischer Ideologie: When Wahhabi [salafi] religio-political discourse began to be transnationalised in the last decades of the twentieth century, it travelled with its potential for both consent and contestation. Both at home and abroad, it carried the seeds of its own mutation.37 36 Vgl. zu dem erwähnten al-Maqdisī Joas Wagemarkers: Defining the Enemy: Abū Muḥammad al-Maqdisī`s Radical Reading of Sūrat al-Mumtaḥana, in: Die Welt des Islams 48 (2008) S. 348-371. 37 Al-Rasheed: Contesting the Saudi State, S. 104. 38 4 Das einende Band: Die salafistische ʿaqīda Die Juden haben sich in 71 Gruppen (firqa) gespalten, die Christen in 72 Gruppen und diese Gemeinschaft (umma) wird sich in 73 Gruppen spalten, wovon alle bis auf eine in das Höllenfeuer (an-nār) eingehen. Wir fragten: Wer ist sie [die eine Gruppe], oh Gesandter Gottes? Er sagte: Wer sich so verhält wie ich heute und meine Gefährten.1 Dieser in der häresiographischen Literatur in unterschiedlichen Varianten bekannte Ḥadīṯ wird in theologischen Texten der Salafīya häufig zitiert.2 Er dient v.a. der Selbstvergewisserung und Abgrenzung. Salafisten reklamieren für sich jene in der Überlieferung erwähnte Gruppe zu bilden, die der Höllenstrafe Gottes auszuweichen vermag und direkt ins Paradies eingehen wird. Sie vertreten die Ansicht, die einzig heilsbringende Variante des Islams zu vertreten und bezeichnen sich dementsprechend auch als „die errettete Gruppe“ (al-firqa an-nāǧīya).3 Während Salafisten in ihrer Eigenwahrnehmung fest in den Fußstapfen des Propheten und seiner Gefährten stehen, ist dies aus ihrer Sicht bei vielen anderen Muslimen nicht der Fall. Für Salafisten ist die in dem Ḥadīṯ angekündigte Spaltung der muslimischen Gemeinschaft Realität: Eine große Zahl der Muslime würde defizitären Glaubenslehren anhängen und sei folglich zu den 72 der Bestrafung Gottes ausgesetzten Gruppen zu zählen. Diese Spaltung gelte es zu überwinden. Während es islamische Gruppierungen und Strömungen gibt, die eine Einigung der muslimischen umma auch über theologische Differenzen hinweg für möglich erachten, ist dies für Salafisten undenkbar. Die Aufhebung der wahrgenommenen Spaltung ist aus salafistischer Perspektive nur durch eine Rückkehr aller Muslime zum Islam der salaf aṣ-ṣāliḥ zu verwirklichen. Es kann kaum ausreichend betont werden, dass die Salafīya in erster Linie eine theologische Bewegung darstellt, deren Hauptaugenmerk auf der religiösen Reform liegt und die sich in ihrer Kritik zuvorderst gegen die religiöse Praxis und die Glaubensüberzeugungen anderer Muslime wendet. Folgerichtig ist ein nicht unwesentlicher Teil der salafistischen Texte dem Genre der islamischen 1 Dieser Ḥadīṯ ist auch unter dem Namen „Sekten-Ḥadīṯ“ bekannt. Für die verschiedenen Varianten dieser Überlieferung und ihre Verwendung im theologischen Diskurs durch unterschiedliche theologische Strömungen vgl. Josef van Ess: Der Eine und das Andere – Beobachtungen an islamischen häresiographischen Texten, Bd. 1, Göttingen 2011, S. 7-58. 2 Zitiert z.B. bei Ṣāliḥ Ibn Fauzān al-Fauzān: Min uṣūl ʿaqīdat ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa, S. 5, unter: http://www.islamhouse.com/p/314810. Vgl. auch Ṣāliḥ Ibn Fauzān al-Fauzān: Muǧmal ʿaqīdat as-salaf aṣṣāliḥ, S. 3, unter: http://www.islamhouse.com/p/314798. Vgl. auch folgenden Text des ägyptischen Daʿwa as-Salafīya-Gelehrten ʿAlāʾ Bakr: Asʾila wa-aǧwiba ḥaula s-salafīya, 2001, siehe Abschnitt 11, unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=5098 Bakr weist hier explizit darauf hin, dass al-Albanī die hier angegebene Variante der Überlieferung als besonders verlässlich einstuft. 3 Vgl. al-Fauzān: Muǧmal ʿaqīdat as-salaf aṣ-ṣāliḥ, S. 3. 39 häresiographischen Literatur zuzurechnen.4 Salafisten beschränken sich jedoch nicht nur auf die Kritik an den „defizitären Glaubenslehren“ anderer Muslime. Vielmehr bieten sie ein alternatives Islamverständnis an, das aus konkreten Dogmen besteht, die nach salafistischem Selbstverständnis die theologischen Überzeugungen der ersten Generationen der Muslime widerspiegeln und deshalb auch unter den Begriff „Glaubenslehre der frommen Altvorderen“ (ʿaqīdat as-salaf aṣ-ṣāliḥ) zusammengefasst werden. Während der Bezug auf die Zeit der salaf, wie oben angemerkt, als Definitionsmerkmal des zeitgenössischen Salafismus nicht ausreicht, sind es eben diese Dogmen, die Salafisten von anderen Muslimen unterscheiden und es gestatten vom Salafismus als einer eigenständigen Bewegung zu sprechen: The various factions of the Salafi community are united by a common religious creed or aqida. This creed outlines the basic dogma or articles of faith that constitute the core precepts of religious understanding and interpretation.5 In diesem Kapitel sollen einige Kernaspekte der salafistischen ʿaqīda näher betrachtet werden. Die folgenden Ausführungen stützen sich dabei zuvorderst auf die Schriften prominenter saudischer Gelehrter wie Ibn Bāz, Muḥammad Ibn al-ʿUṯaimīn oder Ṣāliḥ Ibn Fauzān al-Fauzān. Wie erwähnt, wird die Quellenauswahl v.a. mit dem überregionalen Einfluss der genannten Gelehrten begründet. Ihre theologischen Schriften sind in zahlreichen Sprachen zugänglich, werden von Salafisten weltweit gelesen und bieten sich deshalb an, um Einblicke in die Grundzüge der salafistischen Glaubenslehre zu gewinnen.6 Überdies soll bereits in diesem Kapitel v.a. auf einige Texte Yāsir Burhāmīs und anderer Gelehrter der ägyptischen Daʿwa as-Salafīya verwiesen werden, um die theologischen Gemeinsamkeiten 4 Auf vielen salafistischen Internetseiten finden sich einzelne Unterkapitel, in denen Texte zu finden sind, die sich vorwiegend der Kritik an anderen theologischen Strömungen und Gruppierungen widmen. Vgl. beispielsweise die Rubrik „firaq wa-maḏāhib“ auf der Seite der ägyptischen ad-Daʿwa as-Salafīya, unter: http://www.salafvoice.com/class.php?id=137. Vgl. auch die gleichnamige Rubrik auf www.tawhed.ws, wo sowohl theologische Strömungen wie der Sufismus, der Schiismus oder die Ašʿarīya angegriffen werden, gleichfalls jedoch Texte zur Verfügung stehen, die sich kritisch mit politischen Konzepten wie der Demokratie und mit den politischen Ausrichtungen nichtǧihādistischer Salafisten auseinandersetzen. Letzter Zugriff auf beiden Seiten: 1.2.2013. 5 Wiktorowicz: Anatomy of the Salafi Movement, S. 208. 6 Um den globalen Einfluss von Gelehrten wie Ibn Bāz, Ibn al-ʿUṯaimīn und al-Fauzān zu illustrieren, sei hier nochmals auf Internetseiten salafistischer Gruppierungen verwiesen, auf denen die Texte der genannten Gelehrten – z.T. in Übersetzung – zum kostenlosen Download zur Verfügung stehen. Vgl. für eine Internetseite deutscher Salafisten: http://www.selefiyyah.de/aqidah-tauhid/ Für Texte der genannten Gelehrten auf der Internetseite der ägyptischen Daʿwa as-Salafīya: http://www.salafvoice.com/class.php?id=135 und: http://www.salafvoice.com/class.php?id=137. Letzter Zugriff: 15.03.2013. Vgl. für den Einfluss der Gelehrten in England: Sadek Hamid: The Attraction of „Authentic Islam“: Salafism and British Muslim Youth, in Meijer: Global Salafism, S. 384-403, hier: S. 389f. In Indonesien: Hasan: Ambivalent Doctrines, S. 172f. Und in Jemen: Laurent Bonnefoy: How Transnational is Salafism in Yemen? In: Meijer: Global Salafism, S. 321-341, hier: S. 330 und S. 338. 40 unter Salafisten zu veranschaulichen. 4.1 Das salafistische tauḥīd-Konzept Wie bei der Wahhābīya steht auch beim zeitgenössischen Salafismus eine bestimmte Konzeption des tauḥīd im Zentrum der Glaubenslehre. Leicht ironisierend hat Bernard Haykel den Inhalt der salafistischen Theologie wie folgt zusammengefasst: „tawhid, tawhid and more tawhid.“7 Während Muḥammad Ibn ʿAbd al-Wahhāb den tauḥīd, zumindest explizit, nur in die Kategorien tauḥīd ar-rubūbīya und tauḥīd al-ulūhīya unterteilte, ergänzen Salafisten ihre Konzeption vom islamischen Monotheismusbekenntnis mit dem tauḥīd al-asmāʾ wa-ṣ-ṣifāt um einen dritten Aspekt. Der gebürtige Ägypter ʿAbd ar-Raḥmān Ibn ʿAbd al-Ḫāliq, der heute in Kuwait lebt und neben dem erwähnten Muḥammad Surūr Zain al-ʿĀbidīn als einer der maßgeblichen Ideengeber eines stärker politisierten Salafismus angesehen werden kann, fügt dem salafistischen tauḥīd-Konzept mit dem tauḥīd al-ḥukm bzw. tauḥīd al-ḥākimīya sogar eine vierte Kategorie hinzu.8 Diese vierte Kategorie ist jedoch von nur wenigen Salafisten übernommen und von renommierten Gelehrten wie al-Albānī als bidʿa verworfen worden (Vgl. Kapitel 5). 4.1.1 Tauḥīd ar-rubūbīya Den Terminus tauḥīd ar-rubūbīya in sinnvoller Weise ins Deutsche zu übersetzen ist nicht einfach. Seinem Bedeutungsgehalt am nächsten kommt wohl die Übersetzung „Bekenntnis zur bzw. Anerkennung der Einheit Gottes in der Herrschaft.“ Im Kern geht es beim tauḥīd arrubūbīya darum, dass der Mensch Gott als alleinigen Schöpfer, als Ernährer, als Herr über Leben und Tod und als alleinigen Vorherbestimmer aller Dinge anerkennt.9 Der tauḥīd arrubūbīya umfasst also v.a. die Anerkennung der Attribute göttlicher Allmacht. Abgeleitet wird diese Kategorie des tauḥīd aus zahlreichen Koranversen, es sei hier nur auf einen Vers verwiesen: „Gott (allein) hat die Herrschaft über Himmel und Erde. Er macht lebendig und läßt sterben. Außer ihm habt ihr weder Freund noch Helfer.“10 Aus salafistischer Perspektive reicht die Umsetzung des tauḥīd ar-rubūbīya jedoch nicht aus, um als Muslim gelten zu können. Viele Menschen würden Gott als einzigen Schöpfer betrachten, würden sich in schwierigen Lebenssituationen an ihn wenden und somit seine Position als Lenker des Schicksals akzeptieren – und seien dennoch keine Muslime. Selbst 7 Haykel: Salafi Thought and Action, S. 38. 8 Vgl. ʿAbd ar-Raḥmān Ibn ʿAbd al-Ḫāliq: aṣ-Ṣirāṭ – uṣūl manhaǧ ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa fī l-iʿtiqād wa-lʿamal, 2000, S. 5-11. unter: http://salafi.net/books/book3.html . Letzter Zugriff: 1.2.2013. 9 Vgl. al-Fauzān: Muǧmal ʿaqīdat as-salaf aṣ-ṣāliḥ, S. 7f. 10 Koran 9, 116. 41 Iblīs, das „Oberhaupt des Unglaubens“ (raʾs al-kufr),11 hätte den tauḥīd ar-rubūbīya anerkannt, als er bestätigte, dass er nicht durch seine freie Entscheidung vom wahren Weg abgewichen ist, sondern durch Gott irregeleitet wurde.12 Der tauḥīd ar-rubūbīya ist demnach eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Zugehörigkeit zur muslimischen Gemeinschaft. Er manifestiert sich in inneren Überzeugungen, möglicherweise verbal artikuliert, jedoch nicht in Taten im Sinne nichtverbaler Handlungen. Es ist eine elementare Grundannahme der salafistischen Theologie, dass sich der wahre Glaube nicht nur in inneren Überzeugungen und verbalen Bekenntnissen, sondern auch in äußeren Handlungen zu offenbaren habe.13 Glaube und menschliches Handeln sind für Salafisten untrennbar miteinander verknüpft. Der Glaube könne durch Taten ansteigen und sinken, bestimmte Handlungen würden sogar zu seiner vollständigen Auslöschung führen und einen Muslim zum Apostaten machen. Damit widersprechen Salafisten theologischen Auffassungen murǧʾitischer Tradition, die den Glauben als „Zustimmung mit dem Herzen“14 definieren und es ablehnen jemanden aufgrund seiner Handlungen den Status des Muslims zu entziehen.15 4.1.2 Tauḥīd al-ulūhīya Der Einfluss des wahhābitischen Islams auf den zeitgenössischen Salafismus wird in der Rubrik des tauḥīd al-ulūhīya überdeutlich. Wie bei Ibn ʿAbd al-Wahhāb bildet der tauḥīd alulūhīya auch im Salafismus das Herzstück der tauḥīd-Konzeption. Er ist der „trennende Faktor“16 (al-fāriq) zwischen Islam und Polytheismus und „das Leitmotiv der Botschaft der Gesandten Gottes“17 (mauḍūʿ daʿwat ar-rusul). Er manifestiert sich bereits im ersten Teil des islamischen Glaubensbekenntnisses („Es gibt keinen Gott außer Gott“), in dem nach salafistischer Lesart nicht nur die Existenz des einen und einzigen Gottes, sondern v.a. seine alleinige Anbetungswürdigkeit bekräftigt wird. Wie bei Ibn ʿAbd al-Wahhāb ist der tauḥīd alulūhīya auch in der salafistischen Theologie das aktive Element, mit dem der Gläubige durch sein eigenes Handeln das islamische Monotheismusgebot in die Tat umsetzt.18 Und wie bei Al-Fauzān: Muǧmal ʿaqīdat as-salaf aṣ-ṣāliḥ, S. 7. Vgl. al-Fauzān: Muǧmal ʿaqīdat as-salaf aṣ-ṣāliḥ, S. 7f. Vgl. Haykel: Salafi Thought and Action, S. 40. Berger: Theologie, S. 66. Vgl. zu Inhalt und Entstehung der murǧʾitischen Theologie Wilferd Madelung: Murdjiʾa, in: EI, New Edition, VII, S.605-607. 16 Al-Ḫāliq: aṣ-Ṣirāṭ, S. 6. 17 Ṣāliḥ Ibn Fauzān al-Fauzān: ʿAqīdat at-tauḥīd, S. 17. Unter: http://www.islamhouse.com/p/2071. Letzter Zugriff: 1.2.2013. 18 Yāsir Burhāmī z.B. bezeichnet den tauḥīd al-ulūhīya vor diesem Hintergrund auch als „Anerkennung der Einheit des Herrn durch die Taten des Menschen (tauḥīd ar-rabb bi-afʿʿāl al-ʿibād) “. Vgl. Yāsir Burhāmī: Tauḥīd al-ulūhīya – šarḥ al-minna (17), 2007, unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=962 Letzter 11 12 13 14 15 42 Ibn ʿAbd al-Wahhāb richtet sich der tauḥīd al-ulūhīya auch im Salafismus v.a. gegen zahlreiche Praktiken aus dem Bereich des Gräberkultes und der Heiligenverehrung. Ṣāliḥ Ibn Fauzān al-Fauzān definiert den tauḥīd al-ulūhīya vor diesem Hintergrund wie folgt: Der tauhīd al-ulūhīya ist seine [Gottes] Alleinsetzung (ifrād) durch die Taten der Menschen, durch die sie ihm näher kommen […] wie z.B. die Anrufung, die Furcht, die Hoffnung, die Liebe, die Schlachtung, das Gelübde, die Zuhilfenahme, die Zufluchtnahme, das Hilfegesuch, das Gebet, das Fasten, die Pilgerfahrt und die Ausgabe auf dem Wege Gottes.19 In seiner Definition des tauḥīd al-ulūhīya weist al-Fauzān also bereits auf einige Handlungen hin, mit denen die Gläubigen aus seiner Sicht Gott näher kommen und das islamische Monotheismusgebot in die Tat umsetzen. Da dies im Umkehrschluss bedeutet, dass das Richten derartiger Handlungen an einen anderen als Gott per definitionem eine Verletzung des tauḥīd al-ulūhīya darstellt, ist die Stoßrichtung al-Fauzāns offensichtlich. Seine Definition impliziert eine scharfe Kritik an all jenen Muslimen, für die Praktiken wie die Anrufung verstorbener Persönlichkeiten an deren Gräbern zum religiösen Kultus gehören. Salafisten bezeichnen solche Muslime oft abfällig als Qubūrīyūn -„Gräberverehrer“- und begreifen die Reinigung des Islams von ihren „polytheistischen“ Praktiken als eine der dringlichsten Aufgaben salafistischer Mission.20 4.1.2.1 Das Hilfegesuch beim Propheten und die Richtlinien des takfīr Als eine dieser „polytheistischen“ Praktiken betrachten Salafisten das Hilfegesuch (alistiġāṯa) beim Propheten. Diese Praxis ist sowohl unter sunnitischen wie schiitischen Muslimen verbreitet, findet oftmals am Prophetengrab statt und äußert sich darin, dass der Prophet z.B. in schwierigen Lebenssituationen um Hilfe gebeten wird. Während salafistische Gelehrte das Richten eines Hilfegesuchs an eine lebendige und anwesende Person unter Rückgriff auf die prophetische Sunna für legitim erachten, halten sie ein Hilfegesuch bei einer verstorbenen Person, sei es der Prophet Muḥammad, für eine gravierende Verletzung des tauḥīd. So heißt es bei al-Fauzān: Denn viele von denen, die behaupten (inna kaṯīran min man yaddaʿī), dass sie seiner Gemeinschaft [der Gemeinschaft des Propheten] angehören, überschreiten das Maß bezüglich seines Rechts (afraṭa fī ḥaqqihi) und übertreiben darin, so dass sie ihn über den Rang des demütigen Gottesverehrers hinaus Zugriff: 28.03.2013. 19 Al-Fauzān: Uṣūl, S. 9. 20 Vgl. Haykel: Salafi Thought and Action, S. 41. 43 in den Rang des Angebeteten unter Ausschluss Gottes erheben. Denn sie rufen ihn und nicht etwa Gott um Hilfe an (fa-staġāṯa bihi min dūni llāh) und bitten ihn um etwas, wofür nur Gott die Kraft besitzt – wie die Erfüllung der Bedürfnisse oder die Vertreibung der Sorgen.21 Die Idee, dass Muḥammad in irdischen Belangen Hilfestellung geben kann, ist für Salafisten eine unzulässige Überhöhung des Propheten. Ihm würden Kräfte zugestanden, über die nur Gott verfügt. Damit stelle man ihn auf eine Stufe mit Gott, erhebe ihn zu einem Objekt der Anbetung und mache ihn schlussendlich zum Teilhaber Gottes. Konsequenterweise verstößt das Hilfegesuch beim Propheten aus salafistischer Perspektive gegen die Grundlagen der islamischen Glaubenslehre und wird als širk akbar eingestuft.22 In gleicher Weise bewerten Salafisten religiöse Riten wie die Bitte um Vermittlung bei Gott durch den Propheten oder die Anrufung verstorbener Persönlichkeiten. Mit dem Wissen, dass die erwähnten Praktiken insbesondere in der schiitischen und sufischen Religiosität eine wichtige Rolle spielen, wird verständlich, warum Salafisten Schiiten und Sufisten als Häretiker einstufen und mancherorts nicht einmal vor der Zerstörung ihrer Kultstätten zurückschrecken.23 Es ist an dieser Stelle jedoch wichtig darauf hinzuweisen, dass die Verrichtung jener von salafistischen Theologen als širk akbar bzw. kufr akbar eingestufter Praktiken den jeweiligen „Delinquenten“ nicht zwangsläufig zum Apostaten macht, der nach klassischem islamischen Recht – bei der Abwesenheit von Reue - mit dem Tode zu bestrafen ist.24 Während die salafistische Lehre vom takfīr derlei Handlungen an sich als Unglaube bewertet und nicht davor zurückschreckt theologische Strömungen wie den Sufismus pauschal aus der islamischen Gemeinschaft auszuschließen, seien beim takfīr auf ein einzelnes Individuum (takfīr al-ʿain) spezifische Verfahrenswege und Richtlinien zu beachten.25 So muss zunächst der eindeutige Nachweis (ḥuǧǧa) erbracht werden, dass die im Einzelfall vorliegende Handlung tatsächlich die Schwere eines kufr-akbar-Vergehens besitzt. Es muss also geprüft werden, ob die formellen Kriterien für die Einleitung eines Apostasieverfahrens erfüllt sind. Sind diese Kriterien erfüllt, gilt es im nächsten Schritt zu prüfen, inwieweit die notwendigen Bedingungen (šurūṭ, Sg. šarṭ) für eine Exkommunizierung vorliegen. Diesen Bedingungen stehen wiederum verschiedene Hinderungsgründe (mawāniʿ, Sg. māniʿ) gegenüber, welche die Exkommunizierung des Beschuldigten unmöglich machen.26 21 Al-Fauzān: ʿAqīdat at-tauḥīd, S. 20. 22 Vgl. ʿAbd al-ʿAzīz Ibn Bāz: The Rule on Those Who Seek Help in Other Than Allah, Riad 2003, S. 5-22. 23 Vgl. Mit der Axt in Mali – Salafisten zerstören das Weltkulturerbe in Timbuktu, ohne Autor und Datum, unter: http://www.zeit.de/2012/28/Weltkulturerbe-Timbuktu. Letzter Zugriff: 1.2.2013. 24 Vgl. Rohe: Das islamische Recht, S. 134f. 25 Vgl. u.a. Muḥammad Ibn al-ʿUṯaimīn: Shaikh Ibn Uthaimeen on Takfir of an Individual, unter: http://www.spubs.com/sps/. Letzter Zugriff: 1.2.2013. 26 Vgl. Muḥammad Ibn al-ʿUṯaimīn: Imaam Ibn al-Uthaymeen on the Conditions For Takfir, unter: 44 Ibn al-ʿUṯaimīn führt zwei Bedingungen an, die vorliegen müssen, um einen Muslim aufgrund einer bestimmten Handlung zum Apostaten zu erklären: Wissen (ʿilm) und Absicht (qaṣd). Es sei eine notwendige Voraussetzung für den takfīr, dass der Beschuldigte zum Tatzeitpunkt ein ausreichendes Maß an Wissen über die Schwere seines Vergehens besaß. Wer den Propheten also um Hilfe anruft, kann nur dann seinen Status als Muslim verlieren, wenn er Kenntnis über die Illegalität dieser Handlung besessen hat. Hatte er dies nicht, tritt der Hinderungsgrund der Unwissenheit (ǧahl) in Kraft und der Beschuldigte wird vom Vorwurf der Apostasie freigesprochen.27 Neben dem Wissen um die Strafbarkeit muss aus der Sicht Ibn al-ʿUṯaimīns noch die Bedingung der Absicht vorliegen, um einen Muslim aufgrund einer bestimmten Handlung zum Ungläubigen zu erklären. So muss die jeweilige Handlung willentlich und freiwillig vollzogen worden sein. Kam sie indes unter Zwang oder im Zustand geistiger Verwirrtheit - etwa unter Alkoholeinfluss oder in wütender Raserei - zustande, muss vom takfīr abgesehen werden.28 Dass die Forderung nach der Erfüllung der Bedingungen zum takfīr auf Einzelpersonen und somit - zumindest implizit - die Warnung vor einer leichtfertigen Exkommunizierung von Individuen einen hohen Stellenwert im salafistischen Gelehrtendiskurs einnimmt, lässt sich gut anhand eines Rechtsgutachtens verdeutlichen, das auf der Internetseite des Ägypters Yāsir Burhāmī veröffentlicht ist, sich im Kern mit der Frage nach der Rechtmäßigkeit des takfīr auf schiitische Muslime befasst und sich dabei v.a. auf die Ansichten des „Šaiḫ al-Islām“ Ibn Taimīya stützt.29 Zu Beginn des Rechtsgutachtens wird zwischen den schiitischen Strömungen der Zaidīya und Zwölferschia unterschieden. Während die Erstgenannte vom Vorwurf des Unglaubens freigesprochen wird, wird die Zwölferschia zunächst der Gruppe der „Zurückweiser (ar-rāfiḍa)“ zugeordnet - eine unter salafistischen Muslimen vielfach verwendete diffamierende Bezeichnung für die große Mehrheit der Schia, die auf die schiitische Ablehnung der Legitimität der ersten drei Kalifen und zahlreicher auf die Prophetengenossen zurückgeführter Überlieferungen abzielt. Im Folgenden werden zwei Rechtsgutachten Ibn Taimīyas zitiert, in denen dieser auf die Existenz unterschiedlicher Meinungen hinsichtlich der Frage nach der Legitimität des takfīr u.a. auf die Rāfiḍa, d.h. die Zwölferschia, aufmerksam macht, schlussendlich jedoch ohne Angabe näherer Details festhält, dass diese Gruppe in ihren Worten (aqwāl) und Handlungen (afʿāl) ungläubig sei.30 http://www.spubs.com/sps/. Letzter Zugriff: 1.2.2013. 27 Vgl. Muḥammad Ibn al-ʿUṯaimīn: Imaam Ibn al-Uthaymeen on the Conditions For Takfir. 28 Vgl. Ibn al-ʿUṯaimīn: Imaam Ibn al-Uthaymeen on the Conditions For Takfir. 29 Vgl. Yāsir Burhāmī: Hal ar-rawāfiḍ kuffār? 2006, unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=215 Letzter Zugriff: 1.4.2013. 30 Für eine Sammlung der gängigsten Vorwürfe gegen die Zwölferschia vgl. auf der Internetseite Burhāmīs: ArRadd ʿalā man zaʿama bi-anna maḏhab aš-šīʿa al-iṯnai ʿašarīya maḏhab ḫāmis li-l-muslimīn, 2009, unter: 45 Dies ist für Burhāmī jedoch nicht das Entscheidende an der Position Ibn Taimīyas. Vielmehr sei es Ausdruck der Gerechtigkeit (inṣāf) Ibn Taimīyas, dass dieser die Exkommunizierung eines spezifischen Individuums an eine strikte Beweisführung knüpfe. So wird Ibn Taimīya wie folgt zitiert: „Aber der takfīr auf ein bestimmtes Individuum von ihnen [u.a. der 12er Schia] und das Urteil über sein ewiges Verweilen in der Hölle sind gebunden an das Vorhandensein der Bedingungen (šurūṭ) des takfīr und das Fehlen seiner Hinderungsgründe (mawāniʿ )...“31 Eine ganz ähnliche Haltung nimmt die große Mehrzahl salafistischer Gelehrter im Übrigen auch in der Frage nach der Exkommunizierung politischer Herrscher ein. Vor diesem Hintergrund attackieren salafistische Gelehrte oftmals den militanten Ideologen Saiyid Quṭb und seine Anhänger, denen sie vorwerfen, muslimische Herrscher für ungläubig zu erklären, weil diese nicht nach schariatischen Bestimmungen regieren, ohne jedoch vorab zu prüfen, inwieweit die für die Exkommunizierung notwendigen Bedingungen wie Wissen und Absicht erfüllt sind.32 Trotz der erwähnten Schranken und Mahnungen hinsichtlich der Exkommunizierung einzelner Individuen sollte nicht der falsche Eindruck entstehen, dass der takfīr in der salafistischen Ideologie eine marginale Rolle spielt. In gewisser Weise ist sogar das Gegenteil der Fall. Während salafistische Gelehrte vielfach vor der leichtfertigen Exkommunizierung spezifischer Individuen warnen, nicht zuletzt wegen ihrer weitreichenden juristischen (und politischen) Konsequenzen, bildet der pauschalisierende und juristisch zunächst einmal folgenlose takfīr auf ganze Strömungen des Islams einen festen Bestandteil der salafistischen Ideologie. Salafisten stützen ihre exklusivistische Grundhaltung dabei zuvorderst auf ihr Konzept des tauḥīd al-ulūhīya, mit dem sie die Grenzen der Zugehörigkeit zum Islam definieren und das sie gegen all jene „Pseudomuslime“ ins Feld führen, die sich aus salafistischer Perspektive zwar formal zum Islam bekennen, in ihrer alltäglichen religiösen Praxis jedoch die Grenze zum Polytheismus längst überschritten haben. 4.1.2.2 Der Prophetengeburtstag und die Doktrin al-walāʾ wa-l-barāʾ Am 12. Tag des Monats rabīʿ al-auwal feiern Muslime weltweit den Geburtstag ihres Propheten Muḥammad (al-maulid an-nabawī). Sie veranstalten zu diesem Anlass festliche Mahlzeiten und Prozessionen, tragen Gedichte zu Ehren des Propheten vor, lesen aus seiner http://www.salafvoice.com/article.php?a=3364 Letzter Zugriff: 1.4.2013. U.a. wird hier an die Adresse der Schia der Vorwurf des Polytheismus (širk) und der übermäßigen Verehrung ihrer Imame erhoben, die sich z.B. in der Verehrung ihrer Gräber und ihrer Anrufung um Hilfe äußere. 31 Burhāmī: Hal ar-rawāfiḍ kuffār? 32 Vgl. u.a. Nāṣir ad-Dīn al-Albānī: An Explanation of the Deception of the Qutubiyyah, 2000, unter: www.spubs.com. Letzter Zugrif: 1.2.2013. 46 Biographie, spenden Almosen an Bedürftige oder nehmen an sufischen Gedenkzeremonien teil.33 Wenngleich unter muslimischen Theologen und Juristen nie unumstritten, bilden die Feierlichkeiten spätestens seit dem 12. Jahrhundert einen elementaren Bestandteil schiitischer sowie sunnitischer Frömmigkeit und Spiritualität. Drückte sich in vormoderner Zeit in den Feierlichkeiten v.a. die Hoffnung der Gläubigen auf Erlösung durch die Liebe und spirituelle Nähe zum Propheten aus,34 verweisen zeitgenössische Befürworter der Feier wie der populäre Gelehrte Yūsuf al-Qaraḍāwī verstärkt auf ihren didaktischen Wert. Sie betrachten die Aktivitäten rund um den Prophetengeburtstag als emotionale Akte sozialer Sinnstiftung, die die Erinnerung der muslimischen Gemeinschaft an eines der bedeutendsten Ereignisse der Menschheitsgeschichte festigen und wachhalten.35 Für Salafisten ist die Feier des Prophetengeburtstages eine religiöse Sünde (maʿṣiya). Zwar werten sie die Feier nicht als offenen Ausdruck von Unglaube, sehen in ihr jedoch eine verbotene und verwerfliche religiöse Neuerung (bidʿa mamnūʿa bzw. bidʿa munkara), die das Risiko der Verletzung des tauḥīd in sich trägt und mit dem authentischen Islam der salaf unvereinbar ist.36 In seinem Ḥukm al-iḥtifāl bi-ḏikrā l-maulid an-nabawī führt al-Fauzān die gängigsten Argumente der Salafīya gegen die Feier an. Es sei an dieser Stelle auf die Argumentation alFauzāns näher eingegangen, weil dies einerseits zu einem tieferen Verständnis des salafistischen tauḥīd-Konzeptes beitragen kann und andererseits verdeutlicht, welche soziale Funktion der Bezug auf die islamische Frühzeit und die prophetische Sunna im salafistischen Milieu besitzt. Wir werden sehen, dass der Islam des Propheten und der „frommen Altvorderen“ zeitgenössischen Salafisten weniger als Quelle spiritueller Frömmigkeit, sondern v.a. als Orientierungsrahmen einer rechtlich einwandfreien Lebensführung dient. Darüber hinaus lässt sich anhand der salafistischen Argumentation bezüglich der maulid-Feier mit der Doktrin al-walāʾ wa-l-barāʾ ein wesentlicher Aspekt der Ideologie des Salafismus näher erläutern. Die historische Tatsache, dass die Feier des Prophetengeburtstages keine Tradition aus der 33 Vgl. Aviva Schussmann: The Legitimacy and Nature of Mawlid al-Nabī, in: Islamic Law and Society 5/2 Leiden 1998, S. 214-234. Hier: S. 214f. 34 Vgl. Marion Holmes Katz: The Birth of the Prophet Muḥammad – Devotional piety in Sunni Islam, New York 2007. Hier besonders den Abstract. 35 Vgl. Yūsuf al-Qaraḍāwī: Ḥukm al-iḥtifāl bi-l-maulid an-nabawī, 2008, unter: http://www.qaradawi.net/fatawaahkam/30/1444.html. Letzter Zugriff: 1.2.2013. 36 Vgl. Ṣāliḥ Ibn Fauzān al-Fauzān: Ḥukm al-iḥtifāl bi-ḏikrā l-maulid an-nabawī, S. 5, 12, 14, unter: http://www.ahlalhdeeth.com/vb/showthread.php?t=303529. Ein im Wortlaut nahezu identischer Text findet sich unter http://d1.islamhouse.com/data/ar/ih_articles/ar_Prophetic_Birthday_Fawzan.pdf . Vgl. auch den Text des ägyptischen Daʿwa as-Salafīya-Gelehrten ʿAlāʾ Bakr: al-Iḥtifāl bi-l-maulid an-nabawī bidʿa šīʿīya ṣūfīya, unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=3137 Bakr begründet seine Ablehnung der Feierlichkeiten hier nicht zuletzt unter Rückgriff auf die Positionen des saudischen Salafisten Ibn Bāz. Letzter Zugriff auf allen Seiten: 1.4.2013. 47 Zeit Muḥammads und der salaf darstellt, gilt Salafisten wie al-Fauzān als eines der wichtigsten Argumente gegen die Legitimität der Geburtstagsfeier. Weder Muḥammad noch seine Gefährten hätten den Geburtstag des Propheten gefeiert, vielmehr sei die Feier eine hinterlistige Erfindung der schiitischen Fatimiden, die diese zum Zwecke der Zerstörung der Religion der Muslime (ifsād dīn al-muslimīn) eingeführt hätten.37 Mit dieser Argumentation versucht al-Fauzān den Feierlichkeiten in zweifacher Hinsicht die Legitimation zu entziehen: Erstens verweist er auf den vermeintlich häretischen Ursprung der Praxis, macht sie zu einem dem sunnitischen Islam fremden Element, das sogar willentlich und mit der Absicht seiner Zerstörung in diesen integriert wurde. Indirekt wird dadurch jeder Teilnehmer an den Feierlichkeiten zu einem Handlanger der Angreifer des Islams. Zweitens macht al-Fauzān deutlich, dass die prestigeträchtigsten Muslime, jene „frommen Altvorderen“, die durch ihre lebensgeschichtliche Nähe zum Propheten über ein exklusives religiöses Wissen verfügten, den Prophetengeburtstag nie als Anlass für besondere Festivitäten betrachtet haben. Dies ist für Salafisten weltweit einer der wichtigsten Gründe für ihre Ablehnung der Geburtstagsfeier des Propheten und bildet die argumentative Grundlage für die Bewertung des maulid-Festes bidʿa munkara.38 Damit widersprechen Salafisten den Ansichten zahlreicher v.a. vormoderner Rechtsgelehrter. Zwar hatten diese den Status der maulid-Feier als Neuerung ohne Präzedenzfall in der Zeit der salaf anerkannt, sie aber wegen ihrer positiven Effekte für die muslimische Gemeinschaft geradezu als Paradebeispiel für die rechtliche Kategorie der „guten Neuerung“ (bidʿa ḥasana) angesehen.39 Für Salafisten ist die schiere Existenz derlei guter Neuerungen unvorstellbar. In ihrer strikten Frühzeitorientierung lehnen sie jede religiöse Handlung, jeden Akt spiritueller Frömmigkeit kategorisch ab, für den es keine explizite Entsprechung im Islam der salaf und keinen eindeutigen Hinweis in den religiösen Quellen gibt. In diesem Zusammenhang berufen sie sich oftmals auf folgenden Ḥadīṯ, der im salafistischen Milieu zu den meistzitierten Überlieferungen überhaupt zählt: „Jede Neuerung (muḥdaṯa) ist eine bidʿa und jede bidʿa ist ein Irrtum (ḍalāla).“40 Wie Marion Holmes Katz in ihrer ausführlichen Studie zur Genese und Entwicklung des 37 Vgl. al-Fauzān: Ḥukm al-iḥtifāl, S. 5. Im zweiten oben angegeben Dokument: S. 149. Auch der Ägypter ʿAlāʾ Bakr verweist auf den schiitischen Ursprung der Feierlichkeiten. Vgl. Bakr: al-Iḥtifāl bi-l-maulid annabawī bidʿa šīʿīya ṣūfīya. 38 Vgl. u.a. Bakr: al-Iḥtifāl bi-l-maulid an-nabawī bidʿa šīʿīya ṣūfīya. 39 Vgl. Raquel M. Ukeles: The Sensitive Puritan? Revisiting Ibn Taymiyya´s Approach to Law and Spitituality in Light of 20th-century Debates on the Prophet´s Birthday (mawlid al-nabī), in: Shahab Ahmed/Yossef Rapoport: Ibn Taymiyya and His Times, Oxford 2010, S. 319-337, hier: S. 320 und S. 328. 40 Al-Fauzān: Ḥukm al-iḥtifāl, S. 5. Im zweiten oben angeführten Dokument: S. 149. Vgl. auch Bakr: al-Iḥtifāl bi-l-maulid an-nabawī bidʿa šīʿīya ṣūfīya. Bakr führt hier zum Ende seines Textes ein Zitat von Ibn Bāz an, in dem diese Überlieferung erwähnt wird. 48 maulid-Festes darlegt, hat die Ausbreitung des salafistischen Islams über die Grenzen Saudi Arabiens hinaus ihre Spuren im theologischen Diskurs um die Legitimität der Geburtstagsfeier hinterlassen und auf Seiten ihrer Befürworter zu einer Akzentverschiebung in der Argumentation geführt.41 Wurde in vormoderner Zeit, wie erwähnt, der rechtliche Status der maulid-Feier als bidʿa ḥasana hervorgehoben, ist diese Position heute bei den Verteidigern der Feierlichkeiten weit weniger populär. Stattdessen wird versucht, die Feier aus der Sphäre der religiösen Riten auszugliedern, d.h. sie wird zunehmend nicht mehr als religiöse Aktivität, sondern als weltlicher und gesellschaftlich nützlicher Brauch betrachtet.42 Der Zweck einer solchen Argumentation ist offenkundig. Da die Feierlichkeiten nicht die Religion betreffen, können sie auch keine illegitime Neuerung darstellen, die salafistische bidʿa-Kritik wird somit ihrer Grundlage beraubt. Diese neue Schwerpunktsetzung in den Verteidigungsschriften weist gleichwohl auf einen tiefgehenden Wandel der Diskursstruktur hin. Unter dem Eindruck des Erstarken des Salafismus meiden selbst die Befürworter des maulid-Festes den Bezug auf die Kategorie der guten Neuerung – sei es, weil sie die salafistische Skepsis gegen Neuerungen übernommen haben oder aber weil sie befürchten, dass ihre Argumentation mit dem Rückgriff auf das zunehmend negativ konnotierte Konzept der bidʿa an Schlagkraft einbüßt und womöglich sogar die Grenze des Sagbaren überschreitet. Neben der Klassifizierung des maulid-Festes als verwerflicher Neuerung führen Salafisten wie al-Fauzān noch weitere Gründe für ihre ablehnende Haltung an. Aus ihrer Sicht werden die Feierlichkeiten oftmals von elementaren Verstößen gegen den tauḥīd al-ulūhīya überschattet, etwa dann, wenn der Prophet um Hilfe angerufen wird oder wenn zu seinen Ehren Gedichte mit polytheistischem Inhalt vorgetragen werden. Salafisten kritisieren die Geburtstagsfeier des Propheten vor diesem Hintergrund als ein unzulässiges Mittel zur Überschreitung der gebührenden Grenze in der Verherrlichung (taʿẓīm) des Propheten.43 Es ist in diesem Zusammenhang interessant die salafistischen Ansichten hinsichtlich einer bestimmten Emotion zu beleuchten, die aus islamrechtlicher Perspektive für jeden Gläubigen verpflichtend ist und aus Sicht vieler Muslime in der Feier des Prophetengeburtstages ihren beispielhaften Ausdruck findet: die Liebe (maḥabba) zum Propheten.44 Auch Salafisten unterstreichen den obligatorischen Charakter dieser Emotion. So betont al-Fauzān, dass es für jeden Muslim verpflichtend ist, den Propheten stärker zu lieben als sich selbst, die eigenen 41 42 43 44 Vgl. Katz: The Birth of the Prophet Muḥammad, S. 169-207. Vgl. Katz: The Birth of the Prophet Muḥammad, S. 188-207. Vgl. al-Fauzān: Ḥukm al-iḥtifāl, S. 6. Im zweiten oben angeführten Dokument: S. 150. Vgl. Katz: The Birth of the Prophet Muḥammad, S. 117-125. 49 Kinder, die Eltern und die Menschen insgesamt.45 Allerdings beschränkt al-Fauzān die legitimen Ausdrucksformen dieser Liebe auf zwei Dimensionen: den Gehorsam (ṭāʿa) und die Gefolgschaft (ittibāʿ). Die wahre Liebe zum Propheten offenbare sich einzig und allein in der strikten Befolgung seiner Lebensweise und seiner Ver- und Gebote: Die Liebe zum Propheten verlangt die Anwendung seiner Sunna (iḥyāʾ sunnatihi), das verbissene Festhalten an dieser (al-ʿaḍḍ ʿalaihā bi-n-nawāǧiḏ) und das Vermeiden von Aussagen und Handlungen, die im Widerspruch zu ihr stehen. Es gibt keinen Zweifel, dass alles was seiner Sunna widerspricht eine tadelnswerte Neuerung (bidʿa maḏmūma) und eine offensichtliche Sünde (maʿṣiya 46 ẓāhira) darstellt. Die Liebe zum Propheten stellt für al-Fauzān also keine legitime Begründung für die maulidFeier dar. Auch aus dem Gefühl der Liebe heraus bleibt das Fest eine sündhafte Handlung ohne Nutzen für den Gläubigen. Es ist bemerkenswert, dass sich al-Fauzān in diesem Punkt von Ibn Taimīya, einem der wichtigsten Ideengeber des Salafismus, unterscheidet. Hatte Ibn Taimīya die Feier des Prophetengeburtstages auf normativer Ebene als verwerfliche Neuerung ohne Wurzeln in den autoritativen Quellen und der Epoche der salaf verurteilt, vertrat er gleichfalls die Ansicht, dass den Gläubigen eine „große Belohnung“ zuteil werden würde, sollte ihren Feiern das edle Motiv der Liebe des Propheten zugrundeliegen.47 In seiner ambivalenten Haltung zum prophetischen Geburtstagsfest war Ibn Taimīya also bereit, einer in juristischer Hinsicht verwerflichen Handlung positive Aspekte abzugewinnen. Hier zeigt sich eine gewisse Offenheit gegenüber den spirituellen Bedürfnissen der Menschen, die so von heutigen Salafisten nicht geteilt wird. Diese dulden Akte spiritueller Frömmigkeit ausschließlich innerhalb des normativen Rahmens der Scharia und stehen der Idee, dass juristisch verwerfliche Neuerungen positive Begleiterscheinungen aufweisen können, mit entschiedener Ablehnung gegenüber: „Es gibt nichts gutes in den Neuerungen (laisa fī l-bidaʿ šaiʾ ḥasan).“48 Wie an der Position al-Fauzāns zur Liebe des Propheten deutlich wird, sehen Salafisten in Muḥammad nicht primär ein Objekt spiritueller Frömmigkeit. Im Gegenteil, sie kritisieren Rituale wie die maulid-Feier gerade deshalb, weil sie diese für unzulässige Formen der Verehrung des Propheten halten. Ihre Beziehung zum Propheten, aber auch zum Islam der salaf insgesamt, ist vielmehr stark instrumenteller Natur: Salafisten leiten aus der 45 Vgl. al-Fauzān: Ḥukm al-iḥtifāl, S. 12. Im zweiten oben angeführten Dokument: S. 155. 46 Al-Fauzān: Ḥukm al-iḥtifāl, S. 12. Im zweiten oben angeführten Dokument: S. 155. Die Textstelle beginnt hier mit „Die Liebe zu ihm [dem Propheten] verlangt…“ und ist im Wortlaut ansonsten identisch. 47 Vgl. Ukeles: The Sensitive Puritan? S. 325. 48 Al-Fauzān: Ḥukm al-iḥtifāl, S. 10. Im anderen Dokument: S. 153. 50 prophetischen Sunna und der Frühzeit des Islams v.a. normative Handlungsweisen und rechtliche Vorschriften ab, deren rigorose Nachahmung und Befolgung als wahrhaft fromme Lebensführung und einziger Heilsweg betrachtet und als Alternative zu all jenen durch unterschiedliche Einflüsse korrumpierten Islaminterpretationen angeboten werden. In diesem Sinne gilt für den Salafismus, was Riesebrodt als charakteristisches Merkmal fundamentalistischer Bewegungen anführt: „Das „Goldene Zeitalter“ soll durch Rückkehr zu seinen wörtlich tradierten Ordnungsprinzipien wiederhergestellt werden.“49 Die Forderung nach der Wahrung der Reinheit der islamischen Lehre und nach ihrem Schutz vor fremden und unislamischen Einflüssen bildet das Leitmotiv hinter einem weiteren wichtigen Argument, das al-Fauzān gegen die maulid-Feierlichkeiten hervorbringt. Er kritisiert diese als illegitime Nachahmung (tašabbuh) der christlichen Religion im Allgemeinen und des christlichen Weihnachtsfestes im Speziellen. Die Nachahmung Ungläubiger, so al-Fauzān, habe der Prophet Muḥammad jedoch mit folgender Überlieferung entschieden verboten: „Wer ein Volk nachahmt, der ist von diesem (man tašabbaha bi-qaum fa-huwa minhum).“50 Dieses Nachahmungsverbot ist ein prominentes Motiv in den Schriften salafistischer Gelehrter und steht in einem größeren theoretischen Zusammenhang. Unter der Devise alwalāʾ wa-l-barāʾ (etwa: Loyalität und Lossagung) propagieren Salafisten die bedingungslose innermuslimische Loyalität einerseits und die Lossagung und Distanzierung von allem Nichtmuslimischen andererseits. Die Nachahmung Ungläubiger wird in diesem Kontext als Ausdruck unzulässiger Loyalität betrachtet. So heißt es in einer Schrift Yāsir Burhāmīs, die im Internet auch in deutscher Übersetzung kursiert: Von den klarsten Erscheinungsformen der verbotenen Loyalität (muwālāt) zu den Polytheisten ist ihre Nachahmung in ihrem Verhalten (at-tašbīḥ bihim fī hadīhim) – egal ob im Äußeren (aẓ-ẓāhir) oder im Inneren (al-bāṭin).51 Während die Feier des maulid aus salafistischer Perspektive eine besonders verwerfliche Form der Imitation Ungläubiger darstellt, weil sie mit dem Weihnachtsfest eine Aktivität aus dem religiös-rituellen Bereich einer anderen Religion kopiert, wird das Verbot der Imitation von Ungläubigen nicht auf Aktivitäten aus der religiösen Sphäre beschränkt. Al-Fauzān beispielsweise lehnt bereits eine Anpassung im Kleidungsstil und in der Ausdrucksweise oder 49 Riesebrodt: Fundamentalismus, S. 20. 50 Al-Fauzān: Ḥukm al-iḥtifāl, S. 5. Im anderen Dokument: S. 150. 51 Yāsir Burhāmī: Lā ilāh illā llāh miftāḥ al-ǧanna, 2006, unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=50 S.11. Für die deutsche Übersetzung siehe auf: www.diewahrereligion.de Letzter Zugriff auf beide Seiten: 1.4.2013. 51 die Benennung muslimischer Kinder mit den „fremden Namen“ (asmāʾ aǧnabīya) der kuffār als unzulässige Nachahmung ab.52 Mit der Doktrin al-walāʾ wa-l-barāʾ teilen Salafisten die Welt in zwei Sphären, in eine gute islamische und eine schlechte unislamische, vor deren Einfluss es sich um der Reinheit der islamischen Lehre willens zu schützen gelte.53 In diesem Zusammenhang halten Gelehrte wie al-Fauzān Reisen in nichtislamische Länder für illegitim, es sei denn, sie dienen der medizinischen Behandlung, dem wirtschaftlichen Handel oder einer nützlichen Ausbildung, die nur dort absolviert werden kann. Motive wie die Lust auf Vergnügen oder das Bedürfnis nach Erholung gelten nicht als legitime Antriebe für Reisen in nichtislamische Länder.54 Ideologische Ansätze für die Doktrin al-walāʾ wa-l-barāʾ finden Salafisten bereits in den Schriften Ibn Taimīyas, der v.a. vor einer jüdischen und christlichen Einflussnahme auf den Islam gewarnt hatte und diese als maßgebliche Ursache für die Verfälschung der islamischen Lehre und die Abkehr vieler Muslime von der wahren Religion ausgemacht hatte. Ibn Taimīya kritisierte dabei insbesondere die Aufnahme fremder religiöser Riten in den Islam und riet in diesem Kontext z.B. von der Teilnahme an jüdischen und christlichen Festen ab, die er unter Rückgriff auf den Koran als unbotmäßigen Ausdruck von Loyalität und Freundschaft zu Nichtmuslimen wertete.55 Ihr Gläubigen! Nehmt euch nicht Juden und Christen zu Freunden! Sie sind untereinander Freunde (aber nicht mit euch). Wenn einer von euch sich ihnen anschließt, gehört er zu ihnen (und nicht mehr zu der Gemeinschaft der Gläubigen). Gott leitet das Volk der Frevler nicht recht.56 Mehr als 400 Jahre später griffen Muḥammad Ibn ʿAbd al-Wahhāb und seine Anhänger die Ideen Ibn Taimīyas auf und entwickelten diese weiter. Während Ibn Taimīya v.a. vor allzu engen Kontakten mit Juden und Christen warnte und die Doktrin al-walāʾ wa-l-barāʾ als Mittel zur Wahrung der Reinheit des Islams und als Instrument gegen die Einführung unrechtmäßiger Neuerungen begriff, ging die Wahhābīya über seine Ansichten hinaus, indem sie neben der Vermeidung enger Beziehungen zu Ungläubigen die offene Feindschaft gegen 52 Vgl Ṣāliḥ Ibn Fauzān al-Fauzān: al-Walāʾ wa-l-barāʾ fī l-islām, unter: http://d1.islamhouse.com/data/ar/ih_books/single/ar_Loyalty_and_Enmity_in_Islam.pdf und unter: http://www.saaid.net/book/open.php?cat=1&book=792. Hier: S. 4 und S.8. Letzter Zugriff: 1.2.2013. 53 Für einen detaillierten Überlick zur Genese und Entwicklung des Konzeptes vgl. Joas Wagemakers: Al-Walaʾ wa-l-baraʾ in the Ideology of Abu Muhammad al-Maqdisi, in: Meijer: Global Salafism, S. 81-106. 54 Vgl. al-Fauzān: al-Walāʾ wa-l-barāʾ, S. 5. 55 Vgl. Wagemakers: Al-Walaʾ wa-l-baraʾ, S. 86. Zeitgenössische Salafisten begegnen nicht nur der Teilnahme an nichtislamischen religiösen Feiern mit großer Skepsis, sondern halten bereits Glückwünsche oftmals für unangebracht. Diese Haltung hat z.B. in Ägypten unter Kopten für Empörung gesorgt und unterscheidet salafistische Kräfte dort z.B. von der Muslimbruderschaft, die ihren koptischen Mitbürgern auf großen Plakaten zum koptischen Weihnachtsfest gratulierte. Vgl. für die Haltung der ägyptischen Daʿwa as-Salafīya zu diesem Thema: al-Iḥtifāl bi-aʿyād ġair al-muslimīn wa-tahniʾatuhum bihā, 2007, unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=2048 Letzter Zugriff: 1.4.2013. 56 Koran 5,51. 52 diese einforderte. Wie oben angemerkt, wurde der distanzierte und feindschaftliche Umgang mit den Ungläubigen zu einer elementaren Bedingung zur Erfüllung des tauḥīd erklärt. Die Doktrin al-walāʾ wa-l-barāʾ wurde somit in den Rang einer religiösen Notwendigkeit und zu einem „litmus test of true belief of all Muslims“57 erhoben. Zeitgenössische Salafisten haben die Ideen Ibn Taimīyas und der Wahhābīya in ihr ideologisches Weltbild integriert. Die Doktrin al-walāʾ wa-l-barāʾ bildet einen integralen Bestandteil der salafistischen Ideologie. So gehört es für al-Fauzān zu den Grundlagen der islamischen Glaubenslehre, die Anhänger des tauḥīd (ahl at-tauḥīd) zu lieben und den Polytheisten (ahl al-išrāk) mit Feindschaft und Hass zu begegnen.58 Dass al-Fauzān hier zwischen den Anhängern des tauḥīd und den Polytheisten unterscheidet, nicht explizit zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, kommt nicht von ungefähr. Wie wir sehen werden, fordern Salafisten mit der Doktrin al-walāʾ wa-l-barāʾ nicht nur die Distanzierung von Christen und Juden, sondern von all jenen, die aus salafistischer Perspektive nicht die richtige Auffassung vom tauḥīd vertreten. Es ist offensichtlich, dass die Doktrin al-walāʾ wa-l-barāʾ zentrale Strukturelemente fundamentalistischen Denkens aufweist. Sie gründet auf einem manichäischen Weltbild, das die Welt in Gut und Böse einteilt und die Zugehörigkeit zu einer dieser beiden Sphären unmittelbar an die religiöse Ausrichtung knüpft. Die Doktrin stützt sich also auf ein religiöses Integrationsmodell - nach Riesebrodt ein wesentliches Merkmal fundamentalistischer Ideologie. Auch ihr xenophober Akzent ist unübersehbar. Die Reinheit der islamischen Lehre und ihre Abschirmung vor fremden und als bedrohlich wahrgenommenen Einflüssen nehmen einen zentralen Platz innerhalb der Doktrin ein. Von einem engen Kontakt zu Nichtmuslimen gilt es abzusehen, ihnen soll sogar, mindestens im Herzen, mit Abscheu und Hass begegnet werden. Es wäre in diesem Zusammenhang sicherlich zu einfach, Gewalttaten wie die jüngsten Ausschreitungen salafistischer Kräfte gegen koptische Einrichtungen in Ägypten ausschließlich auf die Doktrin al-walāʾ wa-l-barāʾ zurückzuführen. Dennoch werden solche Vorkommnisse mit dem Wissen um die xenophoben Elemente der salafistischen Ideologie aus meiner Sicht weit fassbarer.59 57 Wagemakers: Al-Walaʾ wa-l-baraʾ, S. 87. 58 Vgl. al-Fauzān: al-Walāʾ wa-l-barāʾ, S. 2. 59 Vgl. für Ablauf und Hintergründe antichristlicher Gewalt in Ägypten Gauvain: Salafi Ritual Purity, S. 237259. 53 4.1.3 Tauḥīd al-asmāʾ wa-ṣ-ṣifāt Die dritte Kategorie des tauḥīd, die alle Salafisten teilen, ist der tauḥīd al-asmāʾ wa-ṣ-ṣifāt.60 Übersetzt werden kann diese Kategorie des tauḥīd mit „Bekenntnis zur Einheit Gottes in seinen Namen und Attributen (Eigenschaften).“ Der tauḥīd al-asmāʾ wa-ṣ-ṣifāt bildet zweifelsohne den komplexesten Teil des salafistischen tauḥīd-Konzeptes, da er auf tiefschürfende frühislamische theologische Debatten Bezug nimmt, die hier nur in oberflächlicher Weise behandelt werden können. Im Kern drehten sich diese Debatten um die Frage nach der richtigen Auslegung jener Stellen in Koran und Sunna, in denen Gott mit anthropomorphen Eigenschaften beschrieben wird.61 So spricht der Koran von Gottes Augen, seinem Gesicht und seinen Händen.62 Darüber hinaus werden in Koran und Sunna bestimmte Handlungen Gottes erwähnt, die durchaus ein anthropomorphes Gottesbild nahelegen können: Gott spricht, kommt, geht und steigt in den niedrigsten Himmel hinab. Hitzige Debatten im Zusammenhang mit diesen Handlungen Gottes, die in Abgrenzung zu seinen Wesenseigenschaften (ṣifāt aḏ-ḏāt) manchmal auch als Tateigenschaften (ṣifāt al-fiʿl) bezeichnet werden,63 entzündeten sich v.a. an jenen koranischen Versen, in denen davon die Rede ist, dass sich Gott über seinen Thron erhebt:64 „Siehe, euer Herr ist Allah, Welcher die Himmel und die Erde in sechs Tagen erschuf und sich hierauf über seinen Thron erhob.“65 In der Debatte um die Auslegung dieser anthropomorphen Textstellen wurden (und werden bis heute) unterschiedliche und miteinander unvereinbare Ansichten vertreten. Eine 60 Vgl. für Texte zum tauḥīd al-asmāʾ wa-ṣ-ṣifāt auf der Internetseite von al-Maqdisī: http://www.tawhed.ws/c?i=30. Vgl. auch al-Ḫāliq: aṣ-Ṣirāṭ, S. 10-13 und al-Fauzān: Muǧmal ʿaqīdat as-salaf aṣ-ṣāliḥ, S. 9-11. Für ein fatwā hinsichtlich der Frage nach den Arten des širk im Zusammenhang mit dem tauḥīd al-asmāʾ wa-ṣ-ṣifāt vgl. auf der Internetseite des ägyptischen Salafisten Yāsir Burhāmī: Hal aš-širk fī tauḥīd al-asmāʾ wa-ṣ-ṣifāt yašmalu l-akbar wa-l-aṣġar? Unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=5649. Letzter Zugriff: 12.2.2013. 61 Vgl. für die Hintergründe dieser Debatten u.a. Joseph van Ess: Tashbīh wa-Tanzīh, Encyclopaedia of Islam, Second Edition. Brill Online, unter: http://referenceworks.brillonline.com/entries/encyclopaedia-of-islam2/tashbih-wa-tanzih-COM_1190 . Letzter Zugriff: 12.2.2013. 62 Vgl. u.a. Koran 28,88 und 38,75. 63 Vgl. Claude Gilliot: Attributes of God, Encyclopaedia of Islam, THREE, Brill Online, unter: http://referenceworks.brillonline.com/entries/encyclopaedia-of-islam-3/attributes-of-god-COM_0163. Letzter Zugriff: 12.02.2013. Ibn al-ʿUṯaimīn teilt die Attribute Gottes in „dauerhafte bzw. wesenhafte Attribute“ (aṣṣifāt aḏ-ḏātīya) und „handlungsbezogene Attribute“ (aṣ-ṣifāt al-fiʿlīya). Unter die erste Kategorie fasst er göttliche Attribute wie Wissen, Macht und Weisheit, während er unter die zweite Kategorie Handlungen Gottes, etwa sein Erheben über den Thron, einordnet, die er als zeitlich begrenzt und direkte Folge des göttlichen Willens betrachtet. Vgl. Muḥammad Ibn al-ʿUṯaimīn: Exemplary Principles Concerning the Beautiful Names and Attributes of Allaah, Toronto 2009, S. 75f. Die arabische Originalausgabe dieses Buches ist unter dem Titel al-Qawāʿid al-muṯlā erschienen und kann im Internet - mit Schwierigkeiten heruntergeladen werden. 64 Im Koran wird in diesem Zusammenhang das ambige Verb istawā verwendet, das sowohl mit „erheben über“ als auch mit „niederlassen“, „hinsetzen oder „zurechtsetzen“ übersetzt werden kann. Paret übersetzt den Beginn von Vers 7,54 beispielsweise wie folgt:„Euer Herr ist Gott, der Himmel und Erde in sechs Tage geschaffen und sich daraufhin auf dem Thron zurechtsetzt hat.“ 65 Koran 7,54. Hier folgt die Übersetzung ausnahmsweise nicht Paret, sondern Frank Bubenheim und Nadeem Elyas, unter: http://tanzil.net/#7:54 Letzer Zugriff: 12.02.2013. 54 Extremposition nahm die sogenannte Ǧahmīya ein, die ein radikal transzendentes Gottesbild vertrat und die Existenz der göttlichen Attribute rundheraus ablehnte.66 Theologen wie Ibn Ḥanbal, Ibn Taimīya, aber auch (der späte) Abū l-Ḥasan al-Ašʿarī, kritisierten diese Haltung als eine unzulässige „Entleerung des göttlichen Wesens (taʿṭīl).“ Auch die oftmals als rationalistisch bezeichnete Strömung der Muʿtazila sah sich mit dem Vorwurf des taʿṭīl konfrontiert, weil sie die anthropomorphen Beschreibungen Gottes metaphorisch interpretierte. So wurde die Hand Gottes als Ausdruck seiner Gnade, seine Augen als Sinnbild seiner Wissenskraft gedeutet.67 Ihre Auffassung von der absoluten Andersartigkeit Gottes und ihre Zurückweisung einer wörtlichen Übernahme der göttlichen Attribute stützten die muʿtazilitischen Theologen v.a. mit folgender Koranstelle: „Es gibt nichts, was ihm [Gott] gleichkommen könnte (laisa ka-miṯlihi šaiʾ).“68 Insbesondere im ḥanbalitischen Milieu regte sich heftiger Widerstand gegen die muʿtazilitische Metaphorik, die von den Ḥanbaliten als Bedrohung der Integrität des koranischen Textes und als Gefahr für ihr stärker personal ausgerichtetes Gottesbild wahrgenommen wurde. Vor diesem Hintergrund wurde die Forderung nach der wortwörtlichen Akzeptanz der Attribute Gottes erhoben. Um dem Vorwurf des offenen Anthropomorphismus zu entgehen, bediente man sich allerdings eines Formelkompromisses, der unter der Losung bi-lā kaif (ungefähr: „ohne nach dem Wie zu fragen“) Eingang in die islamische Theologie gefunden hat: Man postulierte einerseits das Festhalten am exakten Wortlaut des Textes, schränkte andererseits jedoch ein, dass die genaue Beschaffenheit der göttlichen Attribute dem Menschen unergründlich bleibt, dass diese nicht mit den Eigenschaften der göttlichen Schöpfung zu vergleichen seien und dass ein intellektuelles Nachdenken über die Attribute Gottes zu unterbleiben habe.69 Damit konnte man an einem insbesondere unter der Ḥanbalīya verbreiteten koranischen Literalismus festhalten, ohne dabei Gott anthropomorphe Eigenschaften zuzuschreiben. Mit dem tauḥīd al-asmāʾ wa-ṣ-ṣifāt knüpfen zeitgenössische Salafisten an diese Ideen ḥanbalitischen Ursprungs an. Sie fordern die Bestätigung (iṯbāt) der Attribute Gottes ohne Veränderung ihres Sinngehaltes (lā taḥrīf), ohne ihre Verneinung bzw. Entleerung (lā taʿṭīl), ohne Suche nach ihren spezifischen Details (lā takyīf) und ohne sie mit den Eigenschaften der 66 Vgl. Van Ess: Tashbīh wa-Tanzīh. 67 Vgl. Daniel Gimaret: Muʿtazila, Encyclopaedia of Islam, Second Edition. Brill Online, unter: http://referenceworks.brillonline.com/entries/encyclopaedia-of-islam-2/mutazila-COM_0822. Letzter Zugriff: 12.02.2013. 68 Koran 42,11. Vgl. Van Ess: Tashbīh wa-Tanzīh. 69 Vgl. Binyamin Abrahamov: The „bi-lā kayfa“ Doctrine and its Foundation in Islamic Theology, in: Arabica, 42 (1995), S. 365-379. 55 Schöpfung zu vergleichen (lā tamṯīl).70 Gott hat aus salafistischer Perspektive also tatsächlich eine Hand, tatsächlich Augen und erhebt sich tatsächlich über seinen Thron, die spezifischen Details dieser Eigenschaften und Handlungen bleiben aber notgedrungen unklar, wenngleich ihre Existenz durch Koran und Sunna eindeutig belegt ist.71 Während Salafisten mit dem Verbot des takyīf und tamṯīl der Gefahr eines offenen Anthropomorphismus entgegenwirken wollen, verrät ihre Warnung vor dem taḥrīf und taʿṭīl die Hauptstoßrichtung des tauḥīd al-asmāʾ wa-ṣ-ṣifāt: Er richtet sich v.a. gegen jene Muslime, die sich aus salafistischer Perspektive durch eine rationale Interpretation (taʾwīl) der Attribute Gottes der Abkehr von ihrem offensichtlichen Bedeutungsgehalt (ẓawāhir) und damit des taʿṭīl schuldig machen. Vor diesem Hintergrund kritisieren Salafisten beispielsweise den berühmten tafsīr Saiyid Quṭbs, weil dieser Gottes istiwāʾ über (auf) den Thron als Ausdruck seiner Herrschaft über die Schöpfung auslegte.72 V.a. richtet sich die salafistische Kritik gegen zeitgenössische Ašʿariten, denen ein exzessiver Gebrauch der menschlichen Ratio bei der Auslegung der religiösen Quellen und, wie bei Quṭb, eine metaphorische Interpretation einiger Attribute Gottes angelastet werden.73 So wirft z.B. der ägyptische Salafist Yāsir Burhāmī der Ašʿarīya in einem fatwā vor, vom Weg der Ahl as-Sunna abgewichen zu sein, da sie bei manchen göttlichen Attributen auf den taʾwīl zurückgreifen und der Ratio (ʿaql) Vorrang vor der Überlieferung (naql) einräumen würde.74 In ihren Polemiken gegen die ašʿaritische Theologie finden Salafisten zum wiederholten Mal in Ibn Taimīya einen ihrer wichtigsten ideellen Bezugspunkte. Ibn Taimīya hatte zeitlebens heftige Kontroversen mit seinen ašʿaritischen Zeitgenossen ausgetragen. Diese fanden ihren Höhepunkt im sogenannten Damaszener Prozess (1306), in dem gegen Ibn Taimīya der Vorwurf der anthropomorphen Auslegung der göttlichen Attribute und die Anklage der Zurückweisung ihrer - damals unter den Ašʿariten dominanten - metaphorischen Interpretation erhoben wurde.75 In seiner Verteidigung führte Ibn Taimīya einige Argumente gegen die 70 Vgl. al-Fauzān: Muǧmal ʿaqīdat as-salaf aṣ-ṣāliḥ, S. 9. 71 Vgl. Ibn al-ʿUṯaimīn: Exemplary Principles, S.99-102. 72 Vgl. ʿAbd al-ʿAzīz Ibn Bāz: Shaikh Ibn Baz on Sayyid Qutb, unter: http://www.spubs.com/sps/. Letzter Zugriff: 12.02.2013. 73 Vgl. für die vielschichtige Kritik der Salafisten an der Ašʿarīya: Safar al-Ḥawālī: Manhaǧ al-ašāʿira fī lʿaqīda, unter: http://www.tawhed.ws/r?i=e6vdquvs. In dem Abschnitt zum tauḥīd wirft al-Ḥawālī der Ašʿarīya vor, die Existenz einiger göttlicher Attribute - wie das Gesicht Gottes, seine Hand und seine Augen - zu leugnen. In dem Abschnitt über den taʾwīl stellt er gleichwohl klar, dass sich die Fehler der ašʿaritischen Textauslegung keinesfalls auf Fragen zu den Attributen beschränken, vielmehr würden sie auch in anderen Aspekten von der offensichtlichen Bedeutung des Wortlauts der religiösen Texte abweichen und den Sinn dieser verdrehen (taḥrīf). Letzter Zugriff: 12.02.2013. 74 Vgl. Yāsir Burhāmī: al-Inḥirāfāt fī ʿaqīdat al-ašāʿira wa-hal hum min ahl as-sunna? Unter:http://www.salafvoice.com/article.php?a=4131 Letzter Zugriff: 15.03.2013. 75 Vgl. Racha el Omari: Ibn Taymiyya´s Theology of the Sunna and his Polemics with the Ashʿarites, in: 56 Ašʿarīya und ihre metaphorische Deutung der göttlichen Attribute an, die von heutigen Salafisten vielfach übernommen werden. So vertrat Ibn Taimīya die Ansicht, dass der metaphorische taʾwīl dem von den salaf vertretenen Verständnis der betreffenden Textstellen zuwiderlaufe. Diese hätten die fraglichen Textstellen ihrem Wortlaut nach akzeptiert, die Realität der göttlichen Attribute also anerkannt, ohne jedoch über ihre genaue Beschaffenheit zu spekulieren und ohne Gott anthropomorphe Eigenschaften zuzuschreiben.76 Das zweite Argument Ibn Taimīyas gegen seine ašʿaritischen Opponenten ist zu einem Standardargument zeitgenössischer Salafisten in den theologischen Auseinandersetzungen um die Auslegung der göttlichen Attribute geworden. Wie heutige Salafisten versuchte schon Ibn Taimīya seinen Gegnern ihre argumentative und genealogische Grundlage zu entziehen, indem er al-Ašʿarī selbst zum Anwalt seiner eigenen Position machte. Dieser habe, so Ibn Taimīya und die zeitgenössische Salafīya, trotz seiner Nähe zur rationalistischen Theologie (kalām) die metaphorische Interpretation der göttlichen Attribute abgelehnt und stattdessen auf die bi-lā kaif-Formel zurückgegriffen.77 Das Hauptargument Ibn Taimīyas aber war ein anderes und betraf bestimmte Annahmen des kalām, wie sie insbesondere von Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī formuliert worden waren. Ar-Rāzī hatte der menschlichen Ratio im Zugang zu den religiösen Quellen eine enorme Bedeutung beigemessen und ihr im Konfliktfall sogar Vorrang vor dem exakten Wortlaut von Koran und Sunna eingeräumt. Da für ihn die wörtliche Akzeptanz einiger göttlicher Attribute mit der menschlichen Ratio kollidierte, plädierte er konsequenterweise für ihre metaphorische Auslegung. Diese Ansicht stellte für Ibn Taimīya eine unzulässige Priorisierung der menschlichen Ratio vor der religiösen Überlieferung dar. Er warf seinen ašʿaritischen Zeitgenossen vor, mit ihrer rationalistischen Interpretation den göttlichen Attributen fehlerhafte Bedeutungen beizumessen, anstatt sich auf die im Koran und in der Ḥadīṯliteratur präsenten Informationen zu beschränken. Ibn Taimīya hielt die menschliche Ratio also für kein geeignetes Mittel zur Lösung der hermeneutischen Probleme hinsichtlich der Attribute Ahmed/Rapoport: Ibn Taymiyya and His Times, S. 101-119, hier: S. 101f. 76 Vgl. el Omari: Ibn Taymiyya´s Theology of the Sunna and his Polemics with the Ashʿarites, S.112. 77 Zum Ende seines Lebens, nachdem er sich von der Muʿtazila losgesagt hatte und diese - unter Rückgriff auf die Methoden der rationalen Theologie - heftig attackierte, hat sich al-Ašʿarī tatsächlich gegen eine metaphorische Deutung der Attribute Gottes ausgesprochen. Dennoch gibt es graduelle Unterschiede zwischen al-Ašʿarīs Verständnis der bi-lā kaif Doktrin und dem der Ḥanbalīya. Al-Ašʿarī distanzierte sich insgesamt weit stärker von einer wörtlichen Übernahme der Attribute Gottes als die Ḥanbaliten. Dies könnte eine Ursache dafür sein, dass spätestens ab dem 11. Jahrhundert unter bedeutenden Theologen der Ašʿarīya die metaphorische Interpretation der göttlichen Attribute wieder populär wurde, während die Ḥanbaliten diese weiterhin strikt ablehnten. Vgl. Montgomery Watt: ʿAkīda, Encyclopaedia of Islam, Second Edition. Brill Online, unter: http://referenceworks.brillonline.com/entries/encyclopaedia-of-islam-2/akidaCOM_0037.Vgl. auch Mohammad Javad Anvari/Matthew Melvin Koushki: Al-Ashʿarī, Encyclopaedia Islamica, unter: http://referenceworks.brillonline.com/entries/encyclopaedia-islamica/al-ashari-COM_0300. Letzer Zugriff auf beide Artikel: 12.02.2013. 57 Gottes.78 Zeitgenössische Salafisten teilen diese Auffassung in uneingeschränkter Weise. Für sie sind die Attribute Gottes tauqīfīya, d.h. nur durch Koran und Sunna zu erkennen und dem individuellen Räsonnement unzugänglich. So heißt es bei al-Fauzān: Gott hat sich mit Attributen beschrieben und mit Namen benannt. Es ist unsere Pflicht, dass wir dies bestätigen und daran glauben, durch das, was in dem Buch Gottes steht, ohne mit unserer Ratio zu intervenieren (lā natadaḫḫalu bi-ʿuqūlinā), ohne mit unserer Intelligenz und unseren Verstandeskräften zu interpretieren (lā nuʾauwilu bi-afhāminā wa-madārikinā) und ohne über Gott zu urteilen (lā naḥkumu ʿalā llāh)...79 Diese Skepsis gegenüber dem rationalistischen taʾwīl beschränkt sich im salafistischen Milieu jedoch keinesfalls nur auf die Auslegung der göttlichen Namen und Attribute, wenngleich ihre rationalistisch-metaphorische Interpretation als besonders folgenschwere Abkehr von der offensichtlichen Bedeutung des Textes betrachtet wird, weil die Bestätigung der Existenz der Namen und Attribute mit dem tauḥīd al-asmāʾ wa-ṣ-ṣifāt in den Rang einer Glaubensnotwendigkeit erhoben wird.80 Der Salafismus zeichnet sich in seinem gesamten Zugang zu den religiösen Quellen durch einen ausgeprägten und für fundamentalistische Strömungen charakteristischen Literalismus aus, der sich v.a. darin äußert, dass sich Salafisten um eine wortwörtliche Auslegung der Texte bemühen und die Suche nach tieferliegenden Bedeutungen ablehnen und als potentielle Quelle für Uneinigkeit und Ketzerei verurteilen.81 So ist die Berücksichtigung der menschlichen Ratio und persönlichen Meinung bei der Exegese des Korans aus salafistischer Perspektive verboten, stattdessen seien koranische Verse nur im Lichte des Korans selbst, der prophetischen Sunna und der Aussagen der salaf zu interpretieren.82 Den Hintergrund des salafistischen Literalismus bildet dabei die Vorstellung von einem in klarer arabischer Sprache geoffenbarten Korans, dessen Bedeutungsgehalt als zeitlich unwandelbar und vergleichsweise einfach zu entschlüsseln gilt.83 Für Salafisten ist der Koran also kein ambiger Text, kein „gewaltiges Meer“, in dem ein Exeget „nie auf Grund stößt und nie durch ein Ufer zum Halten gebracht wird“, 84 sondern ein 78 Vgl. el Omari: Ibn Taymiyya´s Theology of the Sunna and his Polemics with the Ashʿarites, S.107-116. Vgl. auch Abrahamov: The „bi-lā kayfa“ Doctrine, S. 369f. 79 Al-Fauzān: Muǧmal ʿaqīdat as-salaf aṣ-ṣāliḥ, S. 10. 80 Vgl. al-Fauzān: Muǧmal ʿaqīdat as-salaf aṣ-ṣāliḥ, S. 11. 81 Vgl. Ibn al-ʿUṯaimīn: Exemplary Principles, S. 95-97. 82 Vgl. Ṣāliḥ Ibn Fauzān al-Fauzān: Reflecting upon the Qur´aan, Kanada 2006, S. 49-51. 83 "And the Qur´aan is the truth, and the meanings are the truth without any contradictions in it and the meanings do not change with the changing of times.“ Al-Fauzān: Reflecting upon the Qur´aan, S. 49. 84 So zitiert Thomas Bauer den mamlukischen Gelehrten Muḥammad Ibn al-Ǧazarī in: Bauer: Kultur der Ambiguität, S.116. 58 kontextunabhängiger Text, der sich in seiner Funktion als Rechtleitung für die Menschen weniger durch seine Bedeutungsfülle, als vielmehr durch seine Eindeutigkeit auszeichnet. Diese Ansicht begründet Ibn al-ʿUṯaimīn - durchaus rational - wie folgt: The fact that the Qur´aan is Arabic, and that those who understand Arabic can understand it, shows that its meaning must be understandable. Otherwise, there would be no significance in it being in Arabic or any other language. […] It is impossible to think that Allah, the Exalted, would send down a book, or that His Messenger would say things, intending for this book or this speech to be guidance for the Creation that they are in dire need of, while at the same time it is something that can not be understood, like some jumbled letters of the alphabet that do not make any sense. This is impossible since it is foolishness that could not coincide with the Wisdom of Allah, the Exalted.85 85 Ibn al-ʿUṯaimīn: Exemplary Principles, S.100. 59 5 Der trennende Faktor: Salafismus und Politik Während Salafisten auf theologischer Ebene die gleichen Grundprämissen teilen und sich dadurch von anderen Muslimen abgrenzen, kann im politischen Bereich von einer derartigen Einigkeit nicht die Rede sein. Wie bereits erwähnt wurde, lassen sich unter Salafisten verschiedenste politische Einstellungen und Handlungsmuster finden, die unterschiedlicher kaum sein könnten: von einer quietistischen Ablehnung jeder Form politischen Engagements über „klassischen“ parteipolitischen Aktivismus bis hin zu militanten Operationen im Namen des ǧihād. Roel Meijer ist zuzustimmen, wenn er das Verhältnis salafistischer Muslime zur Politik als „one of the most puzzling, slippery and fascinating aspects of Salafism“1 bezeichnet. Die Politikwissenschaft teilt den Salafismus mit Blick auf seine politische Vielfalt zumeist in die Kategorien des „puristischen“, „politischen“ und „ǧihādistischen“ Salafismus ein.2 Salafisten wiederum sprechen in diesem Zusammenhang von manhaǧ (Methode, Weg) und meinen damit die Art und Weise, mit der die salafistischen Glaubensüberzeugungen in der Realität umgesetzt und in der Gesellschaft verankert werden sollen. 3 Wir werden im Folgenden sehen, welch unterschiedliche Positionen unter Salafisten in der Frage nach dem richtigen manhaǧ vertreten werden. Dieses Kapitel beginnt mit der Darstellung der ideologischen Differenzen unter „puristischen“ und „politischen“ Salafisten. Darauf aufbauend wird das komplexe Verhältnis von Salafismus und Politik anhand eines näheren Blickes auf die ägyptische Salafīya veranschaulicht. 5.1 Puristischer Salafismus Die Propheten sind nicht gekommen, um Staaten (duwal) zu Fall zu bringen und andere zu errichten. Sie strebten weder nach Herrschaftsgewalt (mulk) noch haben sie dafür Parteien (aḥzāb) gegründet. Vielmehr kamen sie, um die Menschen rechtzuleiten, sie vor dem Irrtum und dem širk zu retten und sie aus den Dunkelheiten (aẓ-ẓulumāt) ans Licht zu führen...4 1 Roel Meijer: Introduction, in: Meijer: Global Salafism, S. 1-32, hier: S. 17. 2 Vgl. u.a. Wiktorowicz: Anatomy of the Salafi Movement, S. 217-234. Wie erwähnt, wird der ǧihādistische Salafismus im Folgenden keine Rolle spielen. 3 Vgl. Haykel: Salafi Thought and Action, S. 47. 4 "al-anbiyāʾ mā ǧāʾū li-isqāṭ duwal wa-iqāmat uḫrā wa-lā yaṭlubūn mulkan wa-lā yunaẓẓimūn li-ḏālika aḥzāban. innamā ǧāʾū li-hidāyat an-nās wa-inqāḏihim min aḍ-ḍalāl wa-š-širk wa-iḫrāǧihim min aẓẓulumāt.“ Rabīʿ Ibn Hādī al-Madḫalī: Manhaǧ al-anbiyāʾ fī d-daʿwa ilā llāh fīhi l-ḥikma wa-l-ʿaql, S.242f. Unter: http://www.rabee.net/books.aspx?pid=1 Letzter Zugriff: 22.02.2013. Dieses Buch ist auf der Internetseite al-Madḫalīs auch in englischer Sprache unter dem Titel The Methodology of the Prophets in Calling to Allah – that is the way of wisdom and intelligence herunterzuladen. Hier wurde vollständig transkribiert, weil der Text nur mit Schwierigkeiten herunterzuladen ist. 60 Dieses Zitat stammt von dem saudischen Salafisten Rabīʿ Ibn Hādī al-Madḫalī, der als einer der einflussreichsten und konsequentesten Vertreter jenes Stranges innerhalb des globalen Salafismus gilt, der in der westlichen Wissenschaft als puristischer, quietistischer oder apolitischer Salafismus bezeichnet wird und im arabischen Diskurs unter den Begriffen assalafīya ad-daʿwīya (missionarischer Salafismus), as-salafīya al-ʿilmīya (wissenschaftlicher Salafismus) oder as-salafīya at-taqlīdīya (traditionalistischer Salafismus) firmiert.5 Als bedeutende Vertreter dieser Richtung können überdies prominente Gelehrte wie Muqbil alWādiʿī, Nāṣir ad-Dīn al-Albānī, v.a. aber die Mitglieder des saudischen religiösen Establishments angesehen werden. Wie das angeführte Zitat verdeutlicht, vertritt al-Madḫalī die Ansicht, dass der Kampf gegen die polytheistischen Praktiken ihrer Umgebung den Kern der Mission aller Propheten bildete, während die Erlangung politischer Macht - oder mehr noch: die Herbeiführung revolutionärer Umstürze - niemals in ihrem Interesse lag. Damit versucht al-Madḫalī unter Rückgriff auf die Propheten, von Abraham über Jesus bis Muḥammad, zwei charakteristische Handlungsmuster strikt puristischer Salafisten religiös zu untermauern: den salafistischen Aufruf zur Rückkehr aller Muslime zum wahrhaftigen tauḥīd einerseits und die Zurückweisung jeglicher Form politischen Engagements andererseits. Im Mittelpunkt des puristischen Salafismus steht die daʿwa, die religiöse Mission. Unter der Devise taṣfiya wa-tarbiya (Reinigung und Erziehung) streben puristische Salafisten eine gesellschaftliche Reform unter religiösen Vorzeichen an.6 Das Herzstück dieser Reformbestrebungen bildet dabei die Forderung nach der Reinigung der Gesellschaft von all jenen Praktiken, die aus salafistischer Perspektive gegen den tauḥīd verstoßen und v.a. auf den Einfluss des sufischen und schiitischen Islam zurückgeführt werden. Darüber hinaus nimmt die Vermittlung rechtlicher und moralischer Wertmaßstäbe im Diskurs puristischer Salafisten einen großen Stellenwert ein, wobei in diesem Kontext Fragen zu den Geschlechterbeziehungen im Allgemeinen und zur gesellschaftlichen Rolle und Position der Frau im Speziellen im Vordergrund stehen. In diesem Punkt zeichnen sich (puristische) Salafisten durch ein für fundamentalistische Bewegungen charakteristisches patriarchales Weltbild aus. Sie fordern eine strikte Geschlechtertrennung, sehen die Aufgaben der Frau vorwiegend im häuslichen Bereich und in der Kindererziehung, während dem Mann die Aufgabe des familiären Ernährers zukommt. Dem salafistischen Patriarchalismus liegt dabei 5 Vgl. u.a. Salomon: The Salafi Critique of Islamism, S.146f., insbesondere Fußnote 10. Vgl. auch: Yāsir azZaʿātira: as-Salafīya at-taqlīdīya fī maʿārik al-umma wa-dīnihā, unter: http://www.aljazeera.net/pointofview/pages/c5bf3059-c2cb-43f0-aeb3-3e7e65601ebe. Letzter Zugriff: 22.02.2013. 6 Vgl. Haykel: Salafi Thought and Action, S. 49. 61 u.a. ein bestimmter Blick auf die weibliche Sexualität zugrunde, die als potentielle Quelle gesellschaftlichen Aufruhrs betrachtet wird und die es deshalb, etwa durch Segregation oder rigide Kleidungsvorschriften, zu bändigen gilt.7 Puristische Salafisten versuchen ihre Glaubens- und Moralvorstellungen auf gesellschaftlicher Ebene durchzusetzen und zu verbreiten. Sie setzen dafür beispielsweise auf religiöse Bildungsarbeit oder den Aufbau von Moscheen, nicht aber auf traditionelle Formen politischen Engagements – ganz gleich ob es sich dabei um parteipolitische Arbeit, Demonstrationen oder schlicht um die Teilnahme an demokratischen und damit „unislamischen“ Wahlen handelt.8 Während al-Madḫalī diesen manhaǧ durch einen Bezug auf alle Propheten argumentativ zu stützen versucht, ziehen andere puristische Salafisten oftmals eine Analogie zur Zeit des Propheten in Mekka, in der Muḥammad und seine Anhänger eine Minderheit bildeten und – so die Interpretation – nicht nach politischer Macht strebten und gegen die feindlich eingestellte mekkanische Elite rebellierten, sondern deren Repressionen duldsam ertrugen und sich ausschließlich der friedlichen daʿwa widmeten.9 In ihrer Skepsis gegenüber den verschiedenen Ausdrucksformen politischen Handelns lehnen puristische Salafisten die klassisch islamistische Forderung nach der Errichtung eines islamischen Staates zwar nicht rundheraus ab, sie halten die umfassende Islamisierung der Gesellschaft jedoch für eine notwendige Vorbedingung für den Aufbau eines solchen Staates. Der islamistischen Auffassung, mit der Islamisierung der staatlichen Institutionen die tiefgreifende Islamisierung der Gesellschaft vorbereiten zu können, wird somit widersprochen.10 Die mit z.T. bemerkenswerter Vehemenz vorgetragene Kritik puristischer Salafisten am politischen Aktivismus islamistischer Kräfte erschöpft sich jedoch nicht mit dem eben skizzierten Argument. Für puristische Salafisten stellt politisches Engagement v.a. deshalb keine ernstzunehmende Handlungsoption dar, weil dieses aus ihrer Sicht zu Uneinigkeit (fitna) führt und die Integrität der salafistischen daʿwa bedroht. Mit dem Eintritt in die politische Sphäre, so die Argumentation, würde sich der Fokus von der religiösen Mission auf die politische Auseinandersetzung verschieben, was letztendlich fast zwangsläufig zu internen 7 Salafisten betrachten den weiblichen Körper jedoch nicht nur als sexuell verführerische potentielle Quelle des Aufruhrs. Sie halten ihn im Vergleich zum männlichen Körper auch für defizitär und unrein, was sich für Salafisten nicht zuletzt in der monatlichen Menstruation zeigt. Vgl. für einige Rechtsgutachten saudischer Salafisten zu diesem und ähnlichen Themen: Khaled Abou El Fadl: Speaking in God´s Name – Islamic Law, Authority and Women, Oxford 2001, S.272-298. 8 Vgl. Bonnefoy: Salafism in Yemen, S. 51-64. 9 Vgl. Wiktorowicz: Anatomy of the Salafi Movement, S. 217f. 10 Dass diese Skepsis gegenüber den Mechanismen staatlicher Politik und den strategischen Ausrichtungen islamistischer Kräfte nicht nur unter strikt puristsichen Salafisten zu finden ist, sondern auch ins stärker politisierte Milieu hineinreicht, zeigt Noah Salomon in seinem bereits erwähnten Aufsatz. Vgl. Salomon: The Salafi Critique of Islamism, hier v.a. S. 148. 62 Streitigkeiten, v.a. aber zu unverzeihlichen Nachlässigkeiten in zentralen Glaubensbelangen führe.11 Genau hier setzt der Hauptkritikpunkt puristischer Salafisten an islamistischen Gruppen an. Ihnen wird vorgeworfen, in dem Streben nach politischer Macht die Interessen der eigenen Partei über die Religion zu stellen - für den politischen Erfolg also religiöse Überzeugungen zu opfern. Puristische Salafisten wie al-Albānī sprechen in diesem Zusammenhang von ḥizbīya, ein Begriff, der in einer Schrift über die Illegitimität parteipolitischen Engagements als „bigotted partisanship and blind attachment to personalities“12 übersetzt wird. Geradezu als Paradebeispiel für eine solche „bigotte Parteilichkeit“ betrachten puristische Salafisten die Muslimbruderschaft, die renommierte Salafisten wie der Jemenit Muqbil alWādiʿī auch abfällig als „bankrotte Bruderschaft“ (al-iḫwān al-muflisūn) bezeichnet haben.13 Es sei an dieser Stelle auf die salafistischen Vorwürfe gegen die Muslimbruderschaft näher eingegangen, weil mit deren Kenntnis ein tieferer Einblick in die „politische Theorie“ puristischer Salafisten gewonnen werden kann. Überdies werden uns die Vorwürfe zumindest in Teilen - bei der näheren Betrachtung der ägyptischen Salafīya wiederbegegnen. Die Grundlagen der Kritik puristischer Salafisten an der Muslimbruderschaft sollen an dieser Stelle anhand eines fatwā des saudischen Salafisten Aḥmad Ibn Yahyā Ibn Muḥammad anNaǧmī verdeutlicht werden. Dieses ist in seinem Werk al-fatāwā l-ǧalīya ʿan al-manāhiǧ addaʿawīya enthalten und fasst die gängigsten Argumente puristischer Salafisten gegen die Muslimbruderschaft beispielhaft zusammen.14 Den schwerwiegendsten Vorwurf erhebt an-Naǧmī gleich zu Beginn seines Rechtsgutachtens, indem er die Muslimbruderschaft für ihre Geringschätzung (tahāwun) des tauḥīd al-ʿibāda bzw. tauḥīd al-ulūhīya tadelt, den er - gemäß der salafistischen ʿaqīda - als „wichtigste Sache im Islam (huwa [der tauḥīd al-ʿibāda] ahammu šaiʾ fī l-islām)“15 bezeichnet. Vor diesem Hintergrund kritisiert er die Muslimbruderschaft für ihr Schweigen (sukūt) gegenüber den polytheistischen Praktiken ihrer Umgebung und für ihre Akzeptanz (iqrār) all jener Menschen, die in eben solche verwerflichen Praktiken verstrickt sind. Es ist offensichtlich, 11 Vgl. Bonnefoy: Salafism in Yemen, S. 52f. und S. 61-64. Vgl. auch Hasan: Ambivalent Doctrines, S. 171174. 12 Abū l-Ḥasan Mālik Ibn Ādam: „The Crime of Hizbiyyah Against the Salafi Daʾwah“, Michigan 2009, S. 4. Dieses Heft ist eine Sammlung von Schriften renommierter Gelehrter wie al-Albānī oder al-Wādiʿī zum Thema der Ḥizbīya. 13 Vgl. Bonnefoys Kurzbiographie zu al-Wādiʿī in: Meijer: Global Salafism, S. 431f. 14 Vgl. Aḥmad Ibn Yahyā Ibn Muḥammad an-Naǧmī: al-Fatāwā l-ǧalīya ʿan al-manāhiǧ ad-daʿawīya - alǧuzʾ al-auwal, 1999, S. 77-87. Unter: http://www.alnajmi.net/downloads.php?action=listdownloads&id=4 Direkter Link: http://www.alnajmi.net/files/77.pdf Letzter Zugriff: 22.02.2013. An-Naǧmī setzt sich in diesem Rechtsgutachten nicht nur kritisch mit der Muslimbruderschaft auseinander, sondern auch mit den Anhängern Saiyid Quṭbs, der Surūrīya und der Ǧamāʿat at-Tablīġ. 15 An-Naǧmī: al-Fatāwa, S. 78. 63 was an-Naǧmī mit diesem unter Salafisten populären Argument bezweckt: Er versucht der Muslimbruderschaft ihre religiöse Legitimität zu entziehen, indem er ihr vorwirft, in ihrer Fokussierung auf die Politik mit dem tauḥīd al-ʿibāda bzw. tauḥīd al-ulūhīya den elementarsten Aspekt der Religion zu vernachlässigen. Ein weiteres Argument, das an-Naǧmī und viele andere Salafisten gegen die Muslimbruderschaft hervorbringen, betrifft die bereits näher erläuterte salafistische Doktrin al-walāʾ wa-l-barāʾ. So wird der Muslimbruderschaft zur Last gelegt, durch ihre Bemühungen um eine Annäherung (taqrīb) zwischen Sunna und Schia zentrale Grundannahmen dieser Doktrin zu verletzen.16 An-Naǧmī zitiert in diesem Zusammenhang einen berühmten Ausspruch Ḥasan al-Bannās, dem Gründer der Muslimbruderschaft, der aus seiner Sicht die indifferente und fehlerhafte Einstellung der Muslimbrüder zur „häretischen“ Schia exemplifiziert: Wir arbeiten in den Dingen zusammen, in denen wir uns einig sind und wir vergeben einander dort, wo wir uns uneins sind (nataʿāwanu fīmā ttafaqnā ʿalaihi wa-yaʿḏiru baʿḍunā baʿḍan fīmā ḫtalafnā fīhi).17 Für Salafisten wie an-Naǧmī ist eine Zusammenarbeit und Annäherung mit der Schia unmöglich, da die theologischen Unterschiede als unüberbrückbar angesehen werden.18 Ein Hinwegsehen über diese Unterschiede, beispielsweise um bestimmte politische Ziele zu erreichen, wird vor diesem Hintergrund daher nicht als löbliche Kompromissbereitschaft, sondern als Beispiel für die Korrumpierung religiöser Überzeugungen durch die Teilnahme am politischen Wettbewerb angesehen. Während die gerade genannten Kritikpunkte im Kern den Vorwurf der Vernachlässigung religiöser Pflichten beinhalten, führt an-Naǧmī auch Argumente gegen die Muslimbruderschaft ins Felde, die in direktem Zusammenhang mit ihrem politischen Vorgehen und ihren politischen Forderungen stehen. So wirft an-Naǧmī der Muslimbruderschaft vor, nach Fehltritten und Mängeln bei den Machthabern zu suchen und ihre regierungskritischen Positionen mit der Absicht zu verbreiten, Hass gegen die politischen Autoritäten zu schüren.19 Das Verbreiten (našr) der Fehler der Machthaber aber sei verboten, weil dies zu chaotischen Zuständen (fitan, Sg. fitna) führe.20 An-Naǧmī nennt das Verbot der 16 An-Naǧmī: al-Fatāwa, S. 79. 17 Ḥasan al-Bannā zitiert aus: An-Naǧmī: al-Fatāwa, S. 79. 18 Diese Haltung von der großen Mehrzahl salafistischer Muslime geteilt. Vgl. z.B. Salomon: The Salafi Critique of Islamism, S. 157f. 19 An-Naǧmī: al-Fatāwa, S. 79. 20 Vgl. an-Naǧmī: al-Fatāwa, S. 86. 64 Verbreitung der Fehler der Machthaber dabei direkt in einem Atemzug mit salafistischen Glaubensgrundsätzen wie der Akzeptanz der Attribute Gottes und erhebt es zu einem elementaren Bestandteil des manhaǧ as-salafī.21 Dies ist durchaus bemerkenswert und verdeutlicht, welch wichtige Rolle die „politische Kritik“ puristischer Salafisten für die Identität dieser Strömung spielt. An-Naǧmī knüpft mit seinen Positionen in offensichtlicher Weise an die bereits näher beschriebene „Theologie des Gehorsams“ an, deren Leitmotive von vielen puristischen Salafisten geteilt werden. So zeichnen sich puristische Salafisten oftmals durch eine bemerkenswerte Loyalität gegenüber ihren jeweiligen Regierungen aus, die sich u.a. darin äußert, dass eine Rebellion gegen einen muslimischen Herrscher unabhängig von der Qualität seiner Regierungsführung abgelehnt wird, solange der Herrscher nicht offenkundig ungläubig ist.22 Vor diesem Hintergrund werden bereits Demonstrationen (muẓāharāt, Sg. muẓāhara) von Gelehrten wie al-Fauzān als „unislamische“ Handlungen verboten, weil sie Aufruhr und Blutvergießen (safk ad-dimāʾ) erzeugen und damit dem Wesen des Islams als „Religion der Disziplin“ (dīn inḍibāṭ) und „Religion der Ordnung“ (dīn niẓām) widersprechen würden.23 Diese Haltungen puristischer Salafisten wurden nicht zu Unrecht als „politischer Konformismus“ beschrieben.24 Wenngleich ein solcher politischer Konformismus v.a. auf die Positionen des saudischen religiösen Establishments zurückzuführen ist, lässt sich doch konstatieren, dass die quietistischen Positionen saudischer Prägung weit über die Grenzen des Königreichs hinaus Fuß fassen konnten und – zumindest bis zu den arabischen Revolutionen – wohl als Mainstream-Positionen innerhalb der globalen Salafīya angesehen werden können.25 So weist Noorhaidi Hasan nach, dass ein bedeutender Teil indonesischer Salafisten die puristische ḥizbīya-Kritik übernommen hat und gegen Gruppen wie die Muslimbruderschaft, aber auch gegen stärker politisierte Salafisten hervorbringt.26 Gleiches 21 Vgl. An-Naǧmī: al-Fatāwa, S. 85-87. 22 Die Frage, durch welche Taten ein Herrscher des Abfalls vom Glauben schuldig gesprochen werden kann, wird von puristischen Salafisten selten im Detail behandelt. Wie bereits angemerkt wurde, vertritt die Mehrzahl der Salafisten hinsichtlich des takfīrs auf Individuen und Regierungen eine äußerst zurückhaltende Position. Insbesondere puristische Salafisten werfen Gruppen wie al-Qaida dabei eine inflationäre Verwendung des takfīrs vor und vergleichen diese vor diesem Hintergrund nicht selten mit den frühislamischen Ḫāriǧiten. Vgl. Bonnefoy: Salafism in Yemen, S. 52f. 23 So urteilt Ṣāliḥ Ibn Fauzān al-Fauzān in einem Rechtsgutachten zur Frage nach der Legitimität von Demonstrationen. Abrufbar unter: https://www.pv.gov.sa/UIS/KebalOlama3/Pages/F37.aspx Letzter Zugriff: 22.02.2013. 24 Vgl. Omayma Abdel-Latif: Trends in Salafism, in: Islamist Radicalisation: The Challenge for EuroMediterranian Relations, 2009, S. 69-86, hier: S. 74, unter: http://www.isn.ethz.ch/isn/DigitalLibrary/Publications/Detail/?ots591=0c54e3b3-1e9c-be1e-2c24-a6a8c7060233&lng=en&id=101222 . Letzter Zugriff: 22.02.2013. 25 Vgl. Meijer: Introduction, in derselbe: Global Salafism, S.17f. 26 Vgl. Hasan: Ambivalent Doctrines, S. 171-174. 65 gilt für den Jemen, wo insbesondere Muqbil al-Wādiʿī zeitlebens gegen islamistische Organisationen nicht-militanter und militanter Natur agitierte und vor den fatalen Folgen regierungskritischer Aktivitäten warnte. Al-Wādiʿī und seine Anhänger gingen in ihrer apolitischen Grundhaltung sogar so weit, jede Form der formellen Institutionalisierung ihrer Aktivitäten abzulehnen und bereits die Mitgliedschaft in einer Partei als unrechtmäßige Neuerung (bidʿa) zu betrachten.27 Und auch unter Salafisten in Europa ist dieses „nonpolitical model of islamic activism“28 stark verbreitet. In Frankreich beispielsweise weisen Salafisten die Partizipation in demokratischen Wahlen, Parteien und politischen Debatten als „unislamisch“ zurück und grenzen sich damit nicht nur von der „ungläubigen“ französischen Gesellschaft, sondern auch von anderen islamischen Akteuren ab.29 Mit dem Wissen um die Kernpunkte der Kritik puristischer Salafisten an Organisationen wie der Muslimbruderschaft und an den verschiedenen Ausdrucksformen politischen Handelns erscheint es mir äußerst fragwürdig Salafisten pauschal in das islamistische Milieu einzuordnen. Zwar ziehen sich puristische Salafisten nicht vollständig aus der Gesellschaft zurück und ihre Missionsbestrebungen mögen durchaus langfristige politische Implikationen aufweisen, dennoch unterscheiden sie sich in ihren Handlungsmustern und ideologischen Grundannahmen vom staatszentrierten Islamismus in gravierender Weise. Puristische Salafisten propagieren weder die Islamisierung staatlicher Institutionen noch die Herbeiführung revolutionärer Umstürze. Im Gegenteil, sie stehen den Mechanismen staatlicher Politik mit großer Skepsis gegenüber und halten z.B. die Teilnahme an demokratischen Wahlen mehrheitlich für nicht vertretbar, nicht zuletzt weil sie die Demokratie als unislamisches System wahrnehmen.30 In ihren Reformbestrebungen setzen sie also weder auf eine Partizipation im politischen System noch auf Gewalt, sondern bewusst unterhalb der staatlichen Ebene an und betrachten das Meiden jeder Form politischen Engagements als besten Schutz für die daʿwa. Wir werden in unserem Fallbeispiel sehen, dass diese Haltung auch im vorrevolutionären Ägypten als charakteristisches Merkmal weiter Teile der Salafīya angesehen werden kann. Das Fallbeispiel wird jedoch auch illustrieren, dass die Ablehnung politischen Engagements bei Salafisten nicht immer aus tiefen ideologischen Überzeugungen resultieren muss, sondern schlicht das Ergebnis pragmatischer Erwägungen sein kann. 27 Vgl. Bonnefoy: Salafism in Yemen, S.61. 28 Hasan: Ambivalent Doctrines, S. 170. 29 Vgl. Mohamed-Ali Adraoui: Salafism in France – Ideology, Practices and Contradictions, in: Meijer: Global Salafism, S. 364-383, hier besonders: S. 371. 30 Vgl. Bonnefoy: Salafism in Yemen, S.61 66 5.2 Politischer Salafismus Nicht alle Anhänger des salafistischen Islams teilen den eben skizzierten „politischen Skeptizismus“ puristischer Salafisten. Insbesondere auf die Ideen der Gelehrten Muḥammad Surūr Zain al-ʿĀbidīn31 und ʿAbd ar-Raḥmān Ibn ʿAbd al-Ḫāliq32 ist ein stärker politisierter Salafismus zurückzuführen, der auch als as-salafīya al-ḥarakīya (aktivistischer Salafismus) und as-salafīya at-tanẓīmīya (organisatorischer Salafismus) bezeichnet wird.33 Mit diesen Bezeichnungen wird auf einige wesentliche Merkmale des „politischen Salafismus“ verwiesen. Politische Salafisten scheuen sich nicht, in der politischen Sphäre aktiv für ihre Ziele zu streiten. Die salafistische daʿwa und die Teilnahme am politischen Wettbewerb werden nicht als unvereinbare Widersprüche betrachtet, vielmehr wird die politische Arbeit als eines von mehreren nützlichen Instrumenten der Mission angesehen.34 Für Ibn ʿAbd alḪāliq z.B. ist die salafistische daʿwa in ihren Grundlagen und Konsequenzen eine politische Tat - mithin wesenhaft politisch. Es ist in diesem Zusammenhang durchaus bemerkenswert, dass auch Ibn ʿAbd al-Ḫāliq seine Position unter Rückgriff auf die mekkanische Zeit Muḥammads zu stützen sucht. Er widerspricht der Auffassung puristischer Salafisten, der Prophet habe sich während seiner Mission in Mekka von politischen Dingen vollständig ferngehalten, indem er den Begriff des Politischen vergleichsweise weit fasst. Es sei eine fehlerhaft Annahme, so Ibn ʿAbd al-Ḫāliq, das Handeln des Propheten in Mekka als apolitisch zu betrachten, weil politisches Handeln mehr beinhaltet als das bloße Streben nach Souveränität. Vielmehr sei Muḥammad bereits durch sein Vorgehen gegen die polytheistischen Praktiken seiner Umgebung in die politische Sphäre eingetreten.35 In seiner Offenheit gegenüber politischem Engagement weist der politische Salafismus überdies einen im Vergleich zum puristischen Salafismus hohen Institutionalisierungsgrad auf, weshalb er auch als as-salafīya at-tanẓīmīya bezeichnet wird. Während strikt puristische Salafisten, wie oben angemerkt, im Extremfall jede Form formeller Organisationsstrukturen als bidʿa verwerfen, halten Salafisten wie Muḥammad Surūr Zain al-ʿĀbidīn und Ibn ʿAbd alḪāliq die Gründung von und Partizipation in politischen Assoziationen und Parteien für legitim.36 Diese Ansicht hat in einigen Regionen bereits vor den arabischen Revolutionen 31 Für detaillierte Informationen zu Muḥammad Surūr Zain al-ʿĀbidīn vgl. al-Rasheed: Contesting the Saudi State, S. 72-77. Vgl. auch die Kurzbiographie al-ʿĀbidīns in Meijer: Global Salafism, S.435f. 32 Für Hintergründe zu ʿAbd ar-Raḥmān Ibn ʿAbd al-Ḫāliq vgl. Salomon: The Salafi Critique of Islamism, S. 167-167. 33 Vgl. Abdel-Latif: Trends in Salafism, S. 69. Vgl. auch Haykel: Salafi Thought and Action, S. 48. 34 Vgl. Salomon: The Salafi Critique of Islamism, S. 165. 35 Vgl. Salomon: The Salafi Critique of Islamism, S. 164f. 36 Vgl. die Kurzbiographie al-ʿĀbidīns in Meijer: Global Salafism, S.435f. Vgl. auch Salomon: The Salafi Critique of Islamism, S. 165. 67 Wurzeln schlagen können: In Bahrain, im Sudan, v.a. aber in Kuwait, dem Wohnort Ibn ʿAbd al-Ḫāliqs, wo sich die bereits 1992 gegründete Partei at-Taǧammuʿ al-Islāmī as-Salafī für die Einführung schariatischer Gesetze stark macht, gleichzeitig jedoch in durchaus ernstzunehmender Weise zu den ohnehin nur spärlich vorhandenen Mechanismen demokratischer Politik bekennt.37 Dieses stärker politisierte Weltbild findet bei einigen (wenigen) Salafisten bereits im Bereich der Glaubenslehre seinen Niederschlag. So erweitert Ibn ʿAbd al-Ḫāliq das salafistische tauḥīd-Konzept mit dem tauḥīd al-ḥākimīya bzw. tauḥīd al-ḥukm um eine vierte Kategorie, die sich sinngemäß mit „Anerkennung der Einheit Gottes in seiner Rolle als Gesetzgeber“ übersetzen lässt und im Kern die Forderung nach der vollständigen Anwendung der Scharia beinhaltet.38 Die Anerkennung der alleinigen Legislativgewalt Gottes erhebt Ibn ʿAbd alḪāliq dabei u.a. durch folgende unter Islamisten äußerst populäre Koranstelle zu einem elementaren Bestandteil der salafistischen ʿaqīda: „Diejenigen, die nicht nach dem entscheiden, was Gott (in der Schrift) herabgesandt hat, sind die (wahren) Ungläubigen“39 Die Parallelen zu Abū l-Aʿlā Maudūdīs und Saiyid Quṭbs berühmtem Postulat der Gottesherrschaft40 und der politische Charakter dieser Kategorie des tauḥīd sind unübersehbar. Dadurch, dass Ibn ʿAbd al-Ḫāliq die Anwendung der göttlichen Gesetze explizit zur Bedingung der Erfüllung des tauḥīd erklärt, schafft er ein Instrument, das zur Kritik an Regierungen herangezogen und – zumindest theoretisch – sogar als Legitimationsgrundlage des takfīr dienen kann. Wie bei Quṭb und anderen Islamisten wird also auch bei Ibn ʿAbd al-Ḫāliq die Anwendung der Scharia zum entscheidenden Gradmesser der Qualität der Regierungsführung. Damit integriert Ibn ʿAbd al-Ḫāliq altbekannte Forderungen und Positionen des Islamismus in die salafistische Glaubenslehre und verschiebt ihren Fokus von Fragen individueller Frömmigkeit auf die politische Sphäre – was ihm von Seiten puristischer Salafisten zum Teil beißende Kritik eingebracht hat.41 37 Vgl. Steve L. Monroe: Salafis in Parliament: Democratic Attitudes and Party Politics in the Gulf, in: The Middle East Journal, Volume 66, Number 3, Summer 2012, S. 409-424, hier v.a. S. 418-424. 38 Vgl. al-Ḫāliq: aṣ-Ṣirāṭ, S. 7-10. 39 Koran 5,44. 40 Vgl. hierzu u.a. Berger: Theologie, S. 155-158. 41 Vgl. Nāṣir ad-Dīn al-Albānī: Imaam al-Albani on Tawhid ul-Hakimiyyah, unter: http://www.spubs.com/sps/ Letzter Zugriff: 28.02.2013. 68 5.3 Fallbeispiel: Die ägyptische Salafīya vor, während und nach der Revolution Im folgenden Abschnitt sollen die politischen Positionen ägyptischer Salafisten vor, während und nach der Revolution näher betrachtet werden. Diese Betrachtung ist aus meiner Sicht v.a. deshalb spannend, weil sich die politische Einstellung weiter Teile des salafistischen Milieus mit der ägyptischen Revolution grundlegend gewandelt hat. Die ägyptische Salafīya liefert daher bestes Anschauungsmaterial für die komplexe Beziehung von Salafismus und Politik. 5.3.1 Die ägyptische Salafīya vor und während der Revolution Wie im Vorangegangenen erläutert wurde, lassen sich die verschiedenen politischen Einstellungen und Handlungsmuster unter Salafisten v.a. auf die unterschiedliche Beantwortung folgender Fragen zurückführen: Ist eine Partizipation im politischen System aus islamischer Perspektive erlaubt und mit Blick auf die Erfolgsaussichten der salafistischen daʿwa sinnvoll? Und inwieweit ist es legitim politische Autoritäten zu kritisieren oder sogar gegen diese zu rebellieren? In diesem Abschnitt sollen die Antworten ägyptischer Salafisten auf eben diese Fragen skizziert werden. Die politischen Grundpositionen der ägyptischen Salafīya vor und während der Revolution werden also anhand ihrer Einstellung zu politischem Engagement im Allgemeinen und zum Regime Ḥusnī Mubāraks im Speziellen dargestellt. Dass sich insbesondere die Frage nach der Legitimität der ägyptischen Regierung mit dem Aufkommen der Proteste Anfang 2011 auch für Salafisten mit neuer Dringlichkeit stellte, liegt auf der Hand und wird im weiteren Verlauf dieses Abschnittes deutlich werden. 5.3.1.1 Die ägyptische Salafīya und politische Partizipation Was die politische Partizipation im vorrevolutionären Ägypten anbelangt, so lässt sich die ägyptische Salafīya diesbezüglich auf den ersten Blick pauschal dem puristischen Salafismus zuordnen. Im Ägypten vor der Revolution existierten weder salafistische Parteien, noch beteiligten sich die ägyptischen Salafisten in nennenswerter Zahl am ohnehin nur in eingeschränkter Form möglichen politischen Diskurs. Statt über politische Kanäle für die Durchsetzung ihrer Ziele zu streiten, versuchten salafistische Gruppen wie die bereits 1926 gegründete Anṣār as-Sunna al-Muḥammadīya42 42 Die Anṣār as-Sunna al-Muḥammadīya wurde 1926 von einem Schüler Rašīd Riḍās gegründet und zeichnete sich von Beginn an durch einen ausgeprägten Antisufismus aus. Sie gilt als die größte und wichtigste 69 und die in den 1970er Jahren in Alexandria entstandene ad-Daʿwa as-Salafīya43 ihre Vorstellungen unterhalb der staatlichen Ebene zu verbreiten. Eine nicht unwesentliche Rolle bei der weiträumigen Vermittlung der salafistischen Ideologie spielten die populären Fernsehsender an-Naṣṣ und ar-Raḥma-TV, auf denen ausschließlich männliche Religionsgelehrte die Grundlagen der salafistischen ʿaqīda erläuterten und einem größeren Publikum zugänglich machten.44 Dass die Erörterung schariarelevanter Themen in der inhaltlichen Ausrichtung dieser salafistischen Sender höchstens einen marginalen Stellenwert besaß, verrät einiges über die politische Ausrichtung weiter Teile der vorrevolutionären ägyptischen Salafīya. Während Fragen zur ʿaqīda zuvorderst den Bereich individueller Frömmigkeit und Lebensführung berühren, hätte eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der islamischen Scharia fast zwangsläufig die Frage nach ihrer Anwendung bzw. Nichtanwendung durch die Staatsorgane aufgeworfen und somit den Eintritt in den politischen Diskurs bedeutet. Dies wurde durch den thematischen Fokus auf Aspekte der Glaubenslehre vermieden und von Nathan Field und Ahmed Hamam als „the most critical distinction between salafi and non-salafi programming“45 beschrieben. Auch in ihrer Haltung zur Muslimbruderschaft folgten zahlreiche Salafisten den Grundmustern puristisch-salafistischer Politikkritik, indem sie die Muslimbruderschaft bezichtigten, in ihrem Streben nach politischer Macht ihre religiösen Ideale zu opfern.46 So warf beispielsweise Yāsir Burhāmī – einer der prominentesten Gelehrten der Daʿwa asSalafīya und heute womöglich der einflussreichste „politische“ Salafist in Ägypten – der islamistischen Szene insgesamt und damit v.a. der Muslimbruderschaft vor, ihre islamischen Prinzipien (mabādiʾ) und ihre islamische Identität (huwīya) „für einen [politischen] Posten hier und eine Gelegenheit dort (li-manṣib hunna au furṣa hunāka)“ zu verraten.47 Die ägyptischen Salafisten waren sich vor der Revolution in ihrer Kritik am Islamismus, v.a. aber in ihrer Ablehnung jeder Form politischen Engagements ganz überwiegend einig. 43 44 45 46 47 salafistische Organisation in Ägypten und unterhält seit Gründungstagen enge Beziehungen zur saudischen Gelehrtenschaft. Vgl. Gauvain: Salafi Ritual Purity, S. 38. Wie erwähnt, wurde die Daʿwa as-Salafīya wurde in den 70er Jahren von Studenten der Universität Alexandria gegründet. Eine maßgebliche Antriebsfeder für die Gründung bildeten ideologische und später gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Salafisten und Anhängern der Muslimbruderschaft an eben dieser Universität. Zunächst eher ein loser Verbund, institutionalisierte die Daʿwa as-Salafīya ihre Aktivitäten in den 80er Jahren, indem sie z.B. ein Exekutivkomitee, ein Jugendkomitee und eine Generalversammlung aufbaute. Sie gilt bis heute als die am Besten organisierte salafistische Gruppierung in Ägypten. Vgl. Boehmer /Murphy: The Politicization of the Egyptian Salafiyya, S. 15-17. Vgl. auch Gauvain: Salafi Ritual Purity, Fußnote 44, S. 287. Vgl. Nathan Field/Ahmed Hamam: Salafi satellite TV in Egypt, in: Arab Media and Society, Frühling 2009, S. 1-11. Nathan Field/Ahmed Hamam: Salafi satellite TV in Egypt, S. 6. Vgl. Boehmer/Murphy: The Politicization of the Egyptian Salafiyya, S. 5. Vgl. für das angeführte Zitat Burhāmīs: ʿAbd al-Laṭīf: as-Salafīyūn fī miṣr wa-s-siyāsa, S. 7. Hier sei nochmals auf den Link verwiesen: http://www.dohainstitute.org/file/pdfViewer/fb4a7d15-29e4-49f8-97fb7db0fd298c15.pdf Letzter Zugriff: 1.4.2013. 70 Dennoch sollte nicht der Fehler begangen werden, die vorrevolutionäre ägyptische Salafīya in ihrer generellen Einstellung zu Politik und politischer Partizipation als völlig homogene Gruppe wahrzunehmen. So können innerhalb des salafistischen Milieus verschiedene Begründungsmuster für die Zurückweisung politischen Engagements identifiziert werden, die durchaus auf unterschiedliche Politisierungsgrade schon vor der Revolution schließen lassen. Während die Einen bereits die Stimmabgabe in Parlamentswahlen als „unislamisch“ ablehnten und politische Partizipation kategorisch ausschlossen, vertraten die Anderen eine weit pragmatischere Position und begründeten ihr Fernbleiben von der Politik zuvorderst mit dem Hinweis auf die politischen Strukturen, ohne jedoch politisches Engagement an sich als religiös illegitim zu betrachten und somit rundheraus abzulehnen.48 Als Beispiel für eine derartige pragmatische Position lässt sich ein bereits 2007 unter dem Titel „Die Politische Partizipation und die [politischen] Kräfteverhältnisse (al-mušāraka assiyāsīya wa-mawāzīn al-quwā)“ erschienener Text des erwähnten Burhāmī anführen.49 Wie der Titel verrät, setzt sich Burhāmī in diesem Text unmittelbar mit dem Thema der politischen Partizipation auseinander. Er erklärt die Partizipation im politischen System dabei mit Verweis auf die gegenwärtigen globalen, regionalen und innerägyptischen Kräfteverhältnisse für illegitim. Diese Kräfteverhältnisse, so Burhāmī, würden die Teilnahme am „politischen Spiel“ (al-laʿba as-siyāsīya) nur unter Aufgabe der eigenen Glaubensgrundsätze (ʿaqāʾid) und Prinzipien (mabādiʾ) gestatten, die jedoch viel zu wertvoll seien, als dass sie für politische Zwecke und Ziele geopfert werden könnten. Burhāmī lehnt eine Teilnahme an der Politik also deshalb ab, weil diese aus seiner Sicht zu unzulässigen Kompromissen v.a. in religiösen Belangen zwinge. Obwohl er damit durchaus in Teilen an altbekannte Argumentationsmuster des puristischen Salafismus anknüpft, unterscheidet sich Burhāmīs Text in der inhaltlichen Akzentuierung und im gesamten Grundton doch merklich von den Positionen strikt puristischer Salafisten wie Muqbil alWādiʿī oder Rabīʿ Ibn Hādī al-Madḫalī. Während al-Madḫalī, wie angemerkt, u.a. durch einen Rückgriff auf die Propheten des Islams das Fernhalten von der Politik zum einzig wahrhaft islamischen Lebensweg erklärt, begründet Burhāmī seine politische Zurückhaltung ausschließlich mit den gegenwärtigen politischen Kräfteverhältnissen (mawāzīn al-quwā al- 48 Vgl. ʿAbd al-Laṭīf: as-Salafīyūn fī miṣr wa-s-siyāsa, S. 7, S. 15. Boehmer/Murphy: The Politicization of the Egyptian Salafiyya, S. 17-21. Vgl. auch Jonathan Brown: Salafis and Sufis in Egypt, The Carnegie Papers, 2011, unter: http://carnegieendowment.org/files/salafis_sufis.pdf Letzter Zugriff: 1.3.2013. 49 Vgl. Yāsir Burhāmī: al-Mušāraka as-siyāsīya wa-mawāzīn al-quwā, 2007, unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=664. Letzter Zugriff: 3.3.2013. Auch Boehmer und Murphy analysieren diesen Text in: Boehmer/Murphy: The Politicization of the Egyptian Salafiyya, S. 18f. 71 muʿāṣira).50 Burhāmī stuft weder Parteien und politische Organisationen als unrechtmäßige Neuerungen ein, noch lehnt er die Teilnahme an der Politik unter Rückgriff auf theologische Argumente für alle Zeiten ab. Sein Text ist keine Streitschrift gegen politische Partizipation als solche, keine Polemik gegen all jene Kräfte, die den Islam auch als Aufruf zu politischem Engagement verstehen. Im Gegenteil: Gleich zu Beginn stellt Burhāmī ausdrücklich klar, dass der Islam einen umfassenden Charakter und damit auch eine politische Dimension besitzt. Aufgrund seiner Ausdrucksstärke sei der Textanfang hier in voller Länge wiedergegeben: Viele legen den Salafisten wegen ihrer Vermeidung der Teilnahme am politischen Spiel Passivität (assalbīya), Isolationismus (al-inʿizālīya) und einen Mangel an Anpassung an die Wirklichkeit (ʿadam musāyarat al-wāqiʿ) zur Last – und dies in den meisten Ländern, in denen die salafistische Mission in Erscheinung tritt. Die Wahrheit ist, dass die meisten Salafisten die Teilnahme am politischen Spiel nicht deshalb ablehnen [wörtlich: nicht deshalb nicht am politischen Spiel teilnehmen], weil weder Religion und Politik noch Politik und Religion zusammengehören, so wie dies die Säkularisten (alʿalmānīyūn) behaupten und wie Gruppen von ihnen träumen, dass die salafistische Mission es [die Trennung von Religion und Politik] theoretisch und praktisch genauso sieht. Denn die Anhänger des Islams im Allgemeinen – und die Anhänger der Sunna und die Gefolgschaft der salaf im Speziellen – glauben an den umfassenden Charakter des Islams in allen Bereichen des Lebens, darunter das Individuelle (al-fardīya) und das Kollektive (al-ǧamāʿīya), das Nationale (al-waṭanīya) und das Internationale (ad-duwalīya), das Dogmatische (al-iʿtiqādīya), das Gottesdienliche (al-ʿibādīya) und das Moralische (al-aḫlāqīya) und die Bereiche zwischenmenschlicher Beziehungen (al-muʿāmalāt), Politik (as-siyāsa), Wirtschaft (al-iqtiṣād) und Soziales (al-iǧtimāʿ).51 Das angeführte Zitat verdeutlicht eindrücklich das integristische Weltbild Burhāmīs. Für Burhāmī erstreckt sich der Geltungsbereich des Islams auf alle Bereiche menschlichen Lebens. Er wehrt sich mit einiger Vehemenz gegen die Ansicht, die Salafīya würde durch ihre Ablehnung politischen Handelns die Trennung von Religion und Politik (faṣl ad-dīn ʿan assiyāsa) anerkennen. Vielmehr betont er im weiteren Verlauf seiner Ausführungen, dass eine Trennung von Religion und Politik aus islamischer Perspektive unmöglich sei und bezeichnet diese als „Abirrung von der Religion“ (murūq min ad-dīn), als „Ketzerei“ (zandaqa), „Heuchelei“ (nifāq) und als „Leugnung des notwendigen Wissens von der Religion (ǧaḥd li-lmaʿlūm min ad-dīn bi-ḍ-ḍarūra).“52 So sei es Teil dieses notwendigen Wissens, dass der Koran umfassende Vorschriften (aḥkām šāmila) beinhalte, die u.a. die Politik und Fragen von Krieg und Frieden betreffen und überdies auch im Bereich des Rechtssystems, etwa in Form 50 Vgl. Burhāmī: al-Mušāraka as-siyāsīya wa-mawāzīn al-quwā. 51 Burhāmī: al-Mušāraka as-siyāsīya wa-mawāzīn al-quwā. 52 Vgl. Burhāmī: al-Mušāraka as-siyāsīya wa-mawāzīn al-quwā. 72 der koranischen Körperstrafen (ḥudūd), ihren Ausdruck finden. Dass Burhāmī die ḥudūd an dieser Stelle als elementaren Bestandteil der koranischen Vorschriften hervorhebt, ist bemerkenswert und kann durchaus als implizite politische Forderung, wenn nicht gar als versteckte Regierungskritik gedeutet werden, da das islamische Strafrecht im Ägypten unter Mubārak nicht angewendet wurde. Nicht zuletzt dies zeigt, dass sich Burhāmīs Argumentation im Grundton vom „politischen Skeptizismus“ strikt puristischer Salafisten mehr als nur graduell unterscheidet und dass keinesfalls alle Salafisten in Ägypten Fragen zur Anwendung der Scharia vor der Revolution vollständig gemieden haben. Zwar hält sich auch Burhāmī mit offener Regierungskritik zurück und lehnt die Partizipation im politischen System mit Verweis auf den vagen Begriff der politischen Kräfteverhältnisse ab, gleichwohl betont er eindringlich den politischen Charakter des Islams. Dies lässt durchaus den Schluss zu, dass Burhāmī und seine alexandrinische ad-Daʿwa as-Salafīya schon vor der Revolution einen weit höheren Politisierungsgrad aufwiesen als viele andere ägyptische Salafisten. In diesem Sinne ist Gauvain in seiner Feststellung ausdrücklich beizupflichten, „that the Egyptian Salafi Movement(s) should never have been regarded simply as a collection of apolitical pietists.“53 5.3.1.2 Die ägyptische Salafīya und das Mubārak-Regime Die Frage nach der Einstellung der ägyptischen Salafīya zum Regime Ḥusnī Mubāraks ist nicht einfach zu beantworten. Das vorrevolutionäre Ägypten lässt sich aus politikwissenschaftlicher Perspektive als autoritäres System einstufen, das seinen Bürgern u.a. fundamentale politische Partizipationsrechte wie die Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit vorenthielt und zivilgesellschaftliches Engagement nur in äußerst engen Grenzen zuließ.54 In autoritären politischen Systemen ist Oppositionsarbeit im Allgemeinen und die Artikulation dezidiert regierungskritischer Ansichten im Speziellen nur schwer möglich und mit dem Risiko schärfster Repressalien verbunden. Unter solchen Gegebenheiten müssen öffentlich verkündete politische Positionen nicht notgedrungen mit den tatsächlichen Überzeugungen eines jeweiligen Akteurs korrespondieren, was die wissenschaftliche Ermittlung politischer Einstellungen in autoritären Systemen z.T. erheblich erschwert. Nicht zuletzt in Abgrenzung zu anderen „islamischen“ Akteuren wie der Muslimbruderschaft können dennoch einige grundsätzliche Aussagen zum Verhältnis von Salafīya und MubārakRegime getroffen werden. Anders als die Muslimbruderschaft lässt sich die große Mehrheit 53 Gauvain: Salafi Ritual Purity, S. 46. 54 Zur Typologie politischer Systeme vgl. Wolfgang Merkel: Systemtransformation – Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, Wiesbaden 2010, S. 21-55. 73 der Salafīya außerhalb des oppositionellen Milieus einordnen. Wenngleich eine kleine Anzahl von Salafisten existierte, die vor offener Regierungskritik nicht zurückschreckte und sich deshalb staatlichen Repressionen ausgesetzt sah, zeigte sich das Gros der Salafisten in der Meidung öffentlicher Regierungskritik einig, was der salafistischen Bewegung im vorrevolutionären Ägypten einen vergleichsweise großen Bewegungsspielraum einbrachte.55 Insbesondere bedeutende Gelehrte der Anṣār as-Sunna al-Muḥammadīya folgten in ihrer Haltung zur ägyptischen Regierung den ideologischen Grundmustern des puristischen Salafismus samt seiner „Theologie des Gehorsams“ - weshalb ihre Auffassungen in Anlehnung an al-Madḫalī auch als „Madḫalismus“ bezeichnet wurden.56 Unter dem Motto „lā ḫurūǧ ʿalā l-ḥākim“ verboten diese Gelehrten nicht nur eine gewaltsame Rebellion gegen das Mubārak-Regime, sondern gleichfalls jede Form von Regierungskritik. Überdies erklärte man den Gehorsam gegenüber den politischen Autoritäten unter Rückgriff auf die Ansichten prominenter saudischer Salafisten und durch einen Bezug auf Koran 4:5957 zur religiösen Pflicht. In diesem Zusammenhang wurden z.T. heftige Vorwürfe gegen die ägyptischen Islamisten erhoben, deren Hang zur Regierungskritik als Anzeichen für den verwerflichen Einfluss der Ideen Saiyid Quṭbs angesehen wurde und ihnen mancherorts den diskreditierenden Beinamen „moderne Ḫāriǧīya“ einbrachte.58 Wenngleich diese regimefreundliche Haltung, wie angedeutet, v.a. in den Führungszirkeln der Anṣār as-Sunna al-Muḥammadīya dominiert haben dürfte, wurde sie im vorrevolutionären Ägypten nicht von allen Salafisten in Gänze geteilt. Am Beispiel Burhāmīs und der Daʿwa asSalafīya haben wir bereits feststellen können, dass im Ägypten vor der Revolution durchaus prominente und einflussreiche salafistische Stimmen existierten, die in ihrer Ablehnung politischen Engagements zwar schwerlich dem oppositionellen Lager zugeordnet werden können, gleichwohl der ägyptischen Regierung - wenn auch nur subtil – mit größerer Distanz begegneten. Gauvain geht in diesem Kontext sogar so weit, von einer Spaltung der ägyptischen Salafīya schon vor der Revolution zu sprechen: Während die Einen dem Mubārak-Regime in nahezu bedingungsloser Loyalität gegenübergestanden hätten, hätten die Anderen in der Regel zwar nicht zum gewaltsamen Sturz der Regierung aufgerufen, die Legitimität der Regierung jedoch, zumindest in informellen Kreisen, durchaus in ihren 55 Vgl. Stéphane Lacroix: Sheikhs and Politicians – Inside the New Eqyptian Salafism, Doha 2012, unter: http://www.brookings.edu/research/papers/2012/06/07-egyptian-salafism-lacroix. S.2. 56 Vgl. Gauvain: Salafi Ritual Purity, S. 41. 57 Ihr Gläubigen! Gehorchet Gott und dem Gesandten und denen unter euch die zu befehlen haben (oder:zuständig sind)!Und wenn ihr über eine Sache streitet (und nicht einig werden könnt), dann bringt sie vor Gott und den Gesandten, wenn (anders) ihr an Gott und den jüngsten Tag glaubt! So ist es am besten (für euch) und nimmt am ehesten einen guten Ausgang. Koran 4:59. 58 Vgl. Gauvain: Salafi Ritual Purity, S. 41f. 74 Grundlagen angezweifelt.59 Mit dem Aufkommen der Massenproteste gegen das Mubārak-Regime Anfang 2011 gewann die Frage nach dessen Legitimität auch im salafistischen Milieu naturgemäß an Bedeutung und Brisanz. Trotz der von Gauvain angedeuteten innersalafistischen Friktionen waren sich die wichtigsten salafistischen Organisationen in der Ablehnung der Proteste zunächst einig. Zwar nahmen Salafisten ganz vereinzelt an den regimekritischen Demonstrationen teil und riefen zum Aufstand gegen den „despotischen und tyrannischen Herrscher (al-ḥākim al-ǧāʾir aẓ-ẓālim)“ Mubārak auf, sowohl die Anṣār as-Sunna al-Muḥammadīya als auch die Daʿwa as-Salafīya sprachen sich jedoch in entschiedener Weise gegen die Proteste aus. 60 So veröffentlichte beispielsweise Burhāmī wenige Tage vor den landesweiten Demonstrationen vom 25. Januar 2011 ein Rechtsgutachten, in dem er die Teilnahme an den Protesten u.a. aus Sorge um das Wohl des Landes untersagte und sich kritisch über die „Absichten der Feinde (maqāṣid al-aʿdāʾ)“ äußerte, die auf die „Verbreitung chaotischer Zustände (našr al-fitan)“ abzielen würden.61 Zwar weist Burhāmī darauf hin, dass die Ablehnung der Demonstrationen nicht bedeute, dass man potentielle „kleine und großer Ungerechtigkeiten“ in Ägypten dulden würde und führt in diesem Zusammenhang das „Verbergen des göttlichen Gesetzes (taġyīb šarʿ allāh)“ als schwerwiegendstes Beispiel an. Die Situation in Ägypten sei jedoch nicht mit der in Tunesien zu vergleichen, wo der Machthaber Zain al-ʿĀbidīn Ibn ʿAlī wenige Tage vor Erscheinen des fatwā aufgrund anhaltender Proteste das Land verlassen hatte. Um seiner Position zusätzlich Nachdruck zu verleihen, schließt Burhāmī sein Rechtsgutachten mit dem Hinweis, dass sich alle alexandrinischen Gelehrten [d.h. die Gelehrten der Daʿwa as-Salafīya] in der Ablehnung der Demonstrationen umstandslos einig seien. Dieser ablehnenden Haltung blieb die Daʿwa as-Salafīya in den ersten Tagen nach den Protesten vom 25. Januar treu. Am 29. Januar veröffentlichte sie ein Schreiben, in dem sie zur Kooperation mit der staatlichen Armee und zur Sicherung des öffentlichen und privaten Eigentums aufrief.62 Zwei Tage später bekräftigte die Daʿwa as-Salafīya ihren Aufruf und forderte mit Blick auf die zunehmenden Plünderungen den Widerstand gegen „die kriminellen Banden (al-ʿiṣābāt al-iǧrāmīya).“63 Die Daʿwa as-Salafīya lehnte die Proteste in der Frühphase der Revolution demnach v.a. deshalb ab, weil sie diese als Gefahr für die öffentliche Ordnung des Landes betrachtete. Die 59 Vgl. Gauvain: Salafi Ritual Purity, S. 37-47. 60 Vgl. ʿAbd al-Laṭīf: as-Salafīyūn fī miṣr wa-s-siyāsa, S. 3-6. Vgl. auch: Boehmer/Murphy: The Politicization of the Egyptian Salafiyya, S. 27-33. 61 Vgl. Yāsir Burhāmī: Ḥukm al-mušāraka fī ṯaura yaum 25 min yanāyir iqtidāʾan bi-ṯaurat tūnis, 21. Januar 2011, unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=5115. Letzter Zugriff: 6.3.2013. 62 Vgl. ʿAbd al-Laṭīf: as-Salafīyūn fī miṣr wa-s-siyāsa, S. 3. 63 Vgl. ʿAbd al-Laṭīf: as-Salafīyūn fī miṣr wa-s-siyāsa, S. 4. 75 Argumentation der Anṣār as-Sunna al-Muḥammadīya wies dagegen eine stärker religiöse Färbung auf und folgte zentralen Grundannahmen des puristischen Salafismus. Noch am 10. Februar 2011, genau einen Tag vor dem Rücktritt Mubāraks, verurteilte die Organisation die Aufstände als illegitime Rebellion gegen einen muslimischen Herrscher, der nach der Scharia richte, der Bevölkerung das Gebet ermögliche und nicht offenkundig ungläubig sei.64 Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Einstellung der Daʿwa as-Salafīya bereits grundlegend gewandelt. Zwar rief sie nach wie vor nicht zur Teilnahme an den Demonstrationen auf, gegenüber dem Mubārak-Regime nahm sie mittlerweile jedoch eine offen oppositionelle Haltung ein. Ein am 1. Februar veröffentlichtes Schreiben demonstriert die neue Haltung und den fundamentalen Positionswechsel der alexandrinischen Organisation: Statt die Aufforderung zur Zusammenarbeit mit den staatlichen Organen erneut zu bekräftigen, wurde auf die Unvermeidbarkeit grundlegender Veränderung verwiesen und die Idee der Schaffung einer Übergangsperiode zur Vorbereitung freier Wahlen unterstützt. Mit Blick auf die amtierende ägyptische Regierung zeigte sich die Organisation in dem Schreiben unmissverständlich: „Es ist unmöglich, dass diejenigen [im Amt] bleiben, die das Land an den Rand des Abgrunds (ḥāfat al-hāwiya) geführt haben.“65 Über die genauen Ursachen dieses abrupten Positionswandels lässt sich aus der Ferne nur spekulieren. Boehmer und Murphy legen nahe, dass es sich hierbei um eine wohlkalkulierte Entscheidung handelt, die als Reaktion auf die steigenden Erfolgsaussichten der Protestbewegung zu verstehen ist. Demnach änderte die Daʿwa as-Salafīya ihren Standpunkt erst zu dem Zeitpunkt, als sie den Sturz des Mubārak-Regimes für wahrscheinlich und realistisch hielt.66 Fernab solch „opportunistischer“ Motive erscheint es mir durchaus denkbar, dass die zunehmende Brutalität des Regimes und das Anwachsen der Opferzahlen auf Seiten der Demonstranten zu einem Umdenken innerhalb der Führungselite der Organisation geführt haben. Fakt jedenfalls ist, dass sich die Daʿwa as-Salafīya mit dem Schreiben vom 1. Februar erstmalig öffentlich und unzweideutig gegen die ägyptische Regierung positionierte. Daneben wurden einige Forderungen erhoben, die sich als explizit politisch bezeichnen lassen, darunter u.a. Forderungen nach dem Ende staatlicher Unterdrückung und Folter, dem Verbot von Festnahmen ohne Gerichtsverhandlungen und nach der Aufhebung des Notstandsgesetzes.67 Andernorts verlangte man darüber hinaus die Beseitigung aller Gesetze, die nicht im Einklang 64 65 66 67 Vgl. Boehmer/Murphy: The Politicization of the Egyptian Salafiyya, S. 29. Das Schreiben wird zitiert aus: ʿAbd al-Laṭīf: as-Salafīyūn fī miṣr wa-s-siyāsa, S. 4. Vgl. Boehmer/Murphy: The Politicization of the Egyptian Salafiyya, S. 27f. Vgl. ʿAbd al-Laṭīf: as-Salafīyūn fī miṣr wa-s-siyāsa, S.4. Vgl. auch: Boehmer/Murphy: The Politicization of the Egyptian Salafiyya, S. 28. 76 mit der islamischen Scharia stehen.68 Damit trat die Daʿwa as-Salafīya zum ersten Mal in ihrer Geschichte in offenkundiger Weise in den politischen Diskurs ein. Dass dieser Eintritt nicht nur vorübergehender Natur sein sollte, zeigte sich wenige Monate später, als die Organisation mit der Ḥizb an-Nūr ihre eigene Partei gründete, die sich im postrevolutionären Ägypten als wichtigste politische Kraft der Salafīya etablieren konnte. Auf eben diese Entwicklungen soll im folgenden Abschnitt näher eingegangen werden. 5.3.2 Die ägyptische Salafīya nach der Revolution Im März 2011 gründeten Salafisten in Kairo mit der al-Faḍīla die erste salafistische Partei in der Geschichte Ägyptens. Kurze Zeit später zog die Daʿwa as-Salafīya nach und schuf mit der Ḥizb an-Nūr ihren eigenen politischen Arm.69 Der Entschluss von nun an dauerhaft am „politischen Spiel“ teilzunehmen, wurde zuvorderst mit den neuen politischen Freiheiten im postrevolutionären Ägypten begründet: Während die Kräfteverhältnisse unter Mubārak politisches Engagement nur unter Aufgabe der eigenen Ideale erlaubt hätten, sei es nun erstmals möglich, ohne Verzicht auf die eigenen Ansichten und Positionen an der Politik teilzunehmen und für die Durchsetzung politischer Ziele zu streiten.70 Salafistische Organisationen wie die Daʿwa as-Salafīya betrachten politisches Engagement demnach nicht mehr als Bedrohung für die Missionsarbeit. Vielfach wird der Eintritt in die politische Sphäre sogar als notwendiger Schritt gedeutet, um die Selbige zu schützen und den islamischen Charakter Ägyptens v.a. vor dem Einfluss säkularer Kräfte zu bewahren.71 Nicht wenige ägyptische Salafisten teilen heute also die Auffassungen politischer Salafisten wie IbnʿAbd alḪāliq, der seinen eigenen ideologischen Einfluss im Übrigen als einen maßgeblichen Faktor für die Politisierung der ägyptischen Salafīya und die Entstehung salafistischer Parteien betrachtet.72 Mit den strukturellen Veränderungen im Zuge der Revolution hat sich die politische Einstellung weiter Teile der ägyptischen Salafīya also grundlegend gewandelt. Zwar existieren in Ägypten nach wie vor Salafisten, welche die Partizipation im politischen System 68 Vgl. ʿAbd al-Laṭīf: as-Salafīyūn fī miṣr wa-s-siyāsa, S.4. Vgl. auch: Boehmer/Murphy: The Politicization of the Egyptian Salafiyya, S. 27f. 69 Vgl. Boehmer/Murphy: The Politicization of the Egyptian Salafiyya, S. 30. 70 Vgl. ʿAbd al-Laṭīf: as-Salafīyūn fī miṣr wa-s-siyāsa, S.9. Vgl. auch Burhāmīs Stellungnahme in einem Interview mit der ägyptischen Zeitung al-Ahrām: Ḥiwār ǧarīdat al-Ahrām maʿa š-šaiḫ Yāsir Burhāmī, 12 November 2011, unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=5777 Letzter Zugriff: 15.03.2013. 71 Vgl. Boehmer/Murphy: The Politicization of the Egyptian Salafiyya, S. 31. Vgl. auch: Ḥiwār ǧarīdat alAhrām maʿa š-šaiḫ Yāsir Burhāmī. U.a. warnt Burhāmī hier vor der drohenden Gefahr einer liberalen und säkularen Verfassung. 72 Vgl. folgenden Artikel der kuwaitischen Zeitung al-Waṭan: ʿAbd ar-Raḥman ʿAbd al-Ḫāliq: anā dafaʿtu salaf miṣr li-taškīl al-aḥzāb, 2012, unter: http://alwatan.kuwait.tt/ArticleDetails.aspx?Id=164541 Letzter Zugriff:15.03.2013. 77 in puristisch-salafistischer Tradition kategorisch ablehnen, viele ägyptische Salafisten stehen politischem Engagement heute jedoch weit weniger skeptisch gegenüber oder nehmen über eine der mittlerweile vier salafistischen Parteien direkt am politischen Wettbewerb teil.73 Nathan Field fasst die Entwicklung innerhalb der ägyptischen Salafiya weitestgehend richtig wenngleich etwas pauschalisierend - zusammen und deutet an, dass nicht zuletzt die Angst vor einer gesellschaftlichen Marginalisierung im hochpolitisierten postrevolutionären Ägypten eine Ursache für den Positionswandel weiter Teile der Salafīya gewesen sein mag: During the Mubarak era, Salafis judged that they couldn´t achieve meaningful reform by trying to get involved in politics, so they focused on preaching, i.e. teaching Egyptians how to be better Muslims. However, post-February 2011, the equation changed and as the political process opened up, they saw an opportunity to achieve change by working within the system, and without having to compromise on their values. In fact, if they didn´t enter the political game, they would probably have lost support.74 Mit dem für viele Beobachter überraschenden Erscheinen ägyptischer Salafisten auf der politischen Bühne rückt die Frage nach ihren politischen Forderungen im Allgemeinen und nach ihrer Einstellung zur Demokratie im Speziellen naturgemäß in den Fokus der Aufmerksamkeit. Insbesondere die salafistischen Positionen zur Demokratie sind in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse, nicht zuletzt, weil sich ägyptische Salafisten vor der Revolution, wenn überhaupt, überwiegend negativ über diese Staatsform geäußert haben und diese in der Tradition puristischer Salafisten als unislamische Staatsordnung wahrnahmen.75 Das Parteiprogramm der Ḥizb an-Nūr spricht in diesem Kontext auf den ersten Blick eine deutlich andere Sprache.76 So bekennt sich die Ḥizb an-Nūr zu zentralen Dimensionen einer demokratischen Staatsordnung wie der Teilung der Gewalten in Legislative (at-tašrīʿīya), Judikative (al-qaḍāʾīya) und Exekutive (at-tanfīḏīya) und betont die Position des Volkes als Quelle dieser Gewalten („aš-šaʿb huwa maṣdar ǧamīʿ as-sulṭāt“).77 Darüber hinaus hebt das Parteiprogramm das Recht des Volkes auf die Wahl (iḫtiyār), Kontrolle (murāqaba) und Absetzung (ʿazl) der politischen Autoritäten und auf die Gründung politischer Parteien 73 Vgl. Boehmer/Murphy: The Politicization of the Egyptian Salafiyya, S. 12f. 74 Vgl. Nathan Field: Salafis: Why the Surprise? Dezember 2012, unter: http://www.arabist.net/blog/2011/12/12/salafis-why-the-surprise.html. Letzter Zugriff: 15.03.2013. 75 Vgl. Boehmer/Murphy: The Politicization of the Egyptian Salafiyya, S. 55f. 76 Das Parteiprogramm kann auf der offiziellen Seite der Partei eingesehen werden. Unter: http://www.alnourparty.org/ Oder an dieser Stelle heruntergeladen werden: http://archive.org/details/hezb_alnoor. Letzter Zugriff: 15.03.2013. 77 Vgl. Ḥizb an-Nūr: Ḥizb an-Nūr – al-barnāmiǧ, S. 4f. und S.6. Vgl. dazu auch: ʿAbd al-Laṭīf: as-Salafīyūn fī miṣr wa-s-siyāsa, S.12f. Und: Boehmer/Murphy: The Politicization of the Egyptian Salafiyya, S. 55f. 78 (takwīn aḥzāb siyāsīya) hervor.78 Nicht zu Unrecht bezeichnet ʿAbd al-Laṭīf das Parteiprogramm vor diesem Hintergrund als Präzedenzfall in der Geschichte der ägyptischen Salafīya. Erstmals, so ʿAbd al-Laṭīf, würden Salafisten mit dem Parteiprogramm eine demokratische Staatsordnung anerkennen und damit zahlreichen vorrevolutionären Rechtsgutachten und Ansichten der salafistischen Bewegung (al-ḥaraka as-salafīya) widersprechen, in denen die Demokratie „als Prinzip (ka-mabdaʾ)“ zurückgewiesen wurde.79 Dennoch ist an dieser Stelle ein differenzierterer Blick notwendig. Obwohl die Ḥizb an-Nūr in dem Parteiprogramm grundlegende Mechanismen einer demokratischen Staatsordnung als notwendig erachtet, liest es sich nicht als uneingeschränktes Bekenntnis zur Demokratie. Gleich zu Beginn des Parteiprogrammes hebt die Ḥizb an-Nūr hervor, dass Ägypten aufgrund des Glaubens (ʿaqīda) und der Religion (dīn) der großen Mehrheit der Bevölkerung eine „islamisch-arabische Identität (huwīya islāmīya ʿarabīya)“ aufweise. In diesem Zusammenhang wird die Anerkennung des Islams als Religion des Staates und der islamischen Scharia als Hauptquelle der Gesetzgebung gefordert (aš-šarīʿa al-islāmīya hiya lmaṣdar ar-raʾīsī li-t-tašrīʿ).80 Mit Blick auf die staatliche Ordnung des neuen Ägyptens plädiert das Parteiprogramm für die „Verwirklichung der Demokratie im Rahmen der islamischen Scharia (taḥqīq ad-dimuqrāṭīya fī iṭār aš-šarīʿa al-islāmīya).“81 Es ist offensichtlich, dass die Formulierung „Demokratie im Rahmen der Scharia“ einen nicht unerheblichen Interpretationsspielraum offen lässt. Um einen tieferen Einblick in das Demokratie- und Staatsverständnis von Teilen der ägyptischen Salafīya zu gewinnen, erscheint deshalb ein Blick über das Parteiprogramm der Ḥizb an-Nūr hinaus sinnvoll. An dieser Stelle sollen daher die Staatsvorstellungen einiger Gelehrter der Daʿwa as-Salafīya, der Mutterbewegung der Ḥizb an-Nūr, näher beleuchtet werden. Es ist in diesem Kontext jedoch wichtig darauf hinzuweisen, dass die im folgenden dargelegten Ansichten nicht notgedrungen mit der politischen Einstellung aller Mitglieder der Ḥizb an-Nūr korrespondieren müssen. Wir werden sogar sehen, dass sich die Positionen der Daʿwa-Gelehrten zumindest in Stoßrichtung und Akzentuierung vom Parteiprogramm der Ḥizb an-Nūr unterscheiden. Im Zentrum der Ausführungen der Daʿwa-Gelehrten steht die Forderung nach der Bewahrung der islamischen Identität Ägyptens und der Einführung eines „islamischen Staates“ (daula islāmīya), wobei dieser vorwiegend negativ, d.h. in Abgrenzung zu anderen Staatsformen 78 79 80 81 Vgl. Ḥizb an-Nūr: Ḥizb an-Nūr – al-barnāmiǧ, S.6. Vgl. ʿAbd al-Laṭīf: as-Salafīyūn fī miṣr wa-s-siyāsa, S. 13. Vgl. Ḥizb an-Nūr: Ḥizb an-Nūr – al-barnāmiǧ, S. 2f. Vgl. Vgl. Ḥizb an-Nūr: Ḥizb an-Nūr – al-barnāmiǧ, u.a. S. 6. 79 definiert wird.82 So wird oftmals hervorgehoben, dass ein auf dem Islam aufbauender Staat nicht mit einem theokratischen Staat (daula ṯiyuqrāṭīya) bzw. einem religiösen Staat nach westlichem Verständnis zu vergleichen sei.83 Letztgenannter sei im Europa vor der Renaissance (nahḍa) verwirklicht und durch die übermächtige Stellung der Kirche gekennzeichnet gewesen. Während sowohl die Herrschafts- als auch die Gesetzgebungsgewalt damals in den Händen der Kirche lag, habe das Volk nur über ein äußerst geringes Maß an Freiheiten verfügt und sei stattdessen der Willkür (istibdād) und Tyrannei (ṭuġyān) der Herrscher ausgeliefert gewesen, die ihre absolute Macht auf das Konzept der Unfehlbarkeit (ʿiṣma) und Heiligkeit (qadāsa) stützten.84 Ein solches Herrschaftskonzept sei dem Islam jedoch nicht nur fremd, sondern müsse als Ausdruck von Polytheismus gewertet werden.85 Der Gelehrte ʿAlāʾ Bakr, einer der wichtigsten „politischen Theoretiker“ der Daʿwa as-Salafīya, untermauert diese Ansicht durch einen Rückgriff auf folgende bekannte Koranstelle:86 „Sie nehmen ihre Rabbiner und Mönche und den Messias, Sohn der Maria, neben Allah zu Herren an...“87 In einem an islamischen Normen orientierten Staat, so die Gelehrten der Daʿwa einmütig, sei der Herrscher weder unfehlbar noch heilig, sondern ein normaler und fehlbarer Mensch, ein „Mensch von den Menschen (bašar min al-bašar)“,88 der die Funktion des Bevollmächtigten der umma in der „Durchführung der Religion und der weltlichen Politik durch die Religion (iqāmat ad-dīn wa-siyāsat ad-dunyā bi-d-dīn)“89 innehabe.90 Mit der Unterscheidung zwischen einem islamischen und einem theokratischen Staat ist von salafistischer Seite v.a. der Versuch verbunden, all jenen Kritikern zu begegnen, die der Salafīya vorhalten, in Ägypten eine autoritäre Theokratie errichten zu wollen. Salafisten wie Bakr und Burhāmī beschränken sich jedoch nicht nur auf die Verteidigung ihrer eigenen Staatsvorstellungen gegen äußere Kritik, sondern greifen gleichfalls aktiv in den politischen 82 Vgl. ʿAlā Bakr: al-Furqān baina d-daula aṯ-ṯiyuqrāṭīya wa-d-daula al-madanīya wa-daulat al-islām. 2011, unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=5232 Vgl. ʿAlā Bakr: Malāmiḥ raʾīsīya li-d-daula alislāmīya, 2011, unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=5205 Vgl. für einen Text, in dem v.a. an die Adresse säkular orientierter Kräfte der Vorwurf erhoben wird, die Identität Ägyptens zu bedrohen ad-Daʿwa as-Salafīya (ohne Nennung eines spezifischen Autors): ad-Daʿwa as-Salafīya wa-Ḥizb an-Nūr wa-d-dustūr wa-š-šarīʿa, 2012, unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=6442. Letzter Zugriff auf alle Texte: 15.03.2013. 83 Vgl. Bakr: al-Furqān baina d-daula aṯ-ṯiyuqrāṭīya wa-d-daula al-madanīya wa-daulat al-islām, vgl. auch: Bakr: Malāmiḥ raʾīsīya li-d-daula al-islāmīya. Und: Yāsir Burhāmī: Māḏā nurīdu fī d-dustūr? 2012, unter:http://www.salafvoice.com/article.php?a=6183 Letzter Zugriff: 15.03.2013. 84 Vgl. Bakr: al-Furqān baina d-daula aṯ-ṯiyuqrāṭīya wa-d-daula al-madanīya wa-daulat al-islām, vgl. auch: Bakr: Malāmiḥ raʾīsīya li-d-daula al-islāmīya. Und: Burhāmī: Māḏā nurīdu fī d-dustūr? 85 Vgl. Bakr: Malāmiḥ raʾīsīya li-d-daula al-islāmīya. Vgl. auch Burhāmī: Māḏā nurīdu fī d-dustūr? 86 Vgl. Bakr: Malāmiḥ raʾīsīya li-d-daula al-islāmīya. 87 Koran 9:31. 88 Burhāmī: Māḏā nurīdu fī d-dustūr? 89 Siehe das erwähnte Interview mit Burhāmī unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=5777 90 Vgl. Bakr: Malāmiḥ raʾīsīya li-d-daula al-islāmīya. 80 Diskurs über die zukünftige Natur des ägyptischen Staates ein, indem sie v.a. die Ansichten nichtislamistischer Akteure scharf attackieren. Im Mittelpunkt der salafistischen Kritik steht das Konzept des zivilen (oder: bürgerlichen) Staates (ad-daula al-madanīya). Nicht selten beginnen die Gelehrten der Daʿwa as-Salafīya ihre Ausführungen dabei mit einer Klarstellung. So sei es ein verbreitetes Missverständnis, den zivilen Staat als Gegenentwurf zum militärischen Staat zu betrachten. Ein ziviler Staat sei jedoch keinesfalls antimilitaristisch, sondern antireligiös, weil er auf der Trennung von Religion und Staat (faṣl ad-dīn ʿan ad-daula) basiere und durch die Abwesenheit der Religion – jeder Religion – in sämtlichen staatlichen Belangen gekennzeichnet sei.91 Auch im Zusammenhang mit dem zivilen Staat verweisen die Gelehrten der Daʿwa asSalafīya häufig auf dessen vermeintlich westlichen Ursprung – nicht zuletzt, um ihn als ein dem Islam fremdes Element darzustellen und damit grundlegend die Legitimität zu entziehen.92 In einem Interview mit der ägyptischen Zeitung al-Ahrām betont Burhāmī überdies und in ähnlicher Absicht, dass ein derartiges Konzept bislang in keiner ägyptischen Verfassung Erwähnung gefunden habe und von seinen Anhängern v.a. deshalb hervorgebracht werde, um „Feuer unter den Gruppen der umma zu schüren (išʿāl an-nār fī ṭawāʾif alumma).“93 Besonders eingehend befasst sich ʿAlāʾ Bakr in seinen „staatstheoretischen“ Texten mit dem Konzept des zivilen Staates. Dieser sei in Folge der europäischen Renaissance und als Ergebnis der Rebellion (ḫurūǧ) gegen die Willkürherrschaft der christlichen Kirche entstanden.94 Während vormals sowohl die Herrschafts- als auch die Gesetzgebungsgewalt bei der Kirche lagen, seien beide Gewalten nun vollständig in die Hände des Volkes übergegangen. Damit sei jedoch im Grunde nur ein Unrechtsregime durch ein anderes ersetzt worden, da nun eine Demokratie entstanden sei, die auf der Trennung von Religion und Staat aufbaue und dem Volk als Inhaber der Legislativgewalt das Recht gewähre, Gesetze nach eigenem Gutdünken und ohne Bindung an Gottes Gesetz zu erlassen. Dadurch, so Bakr, sei in Europa eine der Religion feindlich gesinnte materialistische Kultur (ḥaḍāra mādīya) entstanden, in der religiös verwerfliche Dinge wie Wucher (ar-ribā), Unzucht (az-zinā) und andere sexuelle Ausschweifungen (aš-šuḏūḏ al-ǧinsī) durch das Volk legalisiert wurden.95 91 Vgl. Bakr: Malāmiḥ raʾīsīya li-d-daula al-islāmīya und Bakr: al-Furqān baina d-daula aṯ-ṯiyuqrāṭīya wa-ddaula al-madanīya wa-daulat al-islām. Vgl. auch: ad-Daʿwa as-Salafīya: Ḥaula muṣṭalaḥ: ad-daula almadanīya ḏāt al-marǧiʿīya al-islāmīya, 2011, unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=5181 Letzter Zugriff 15.03.2013. Vgl auch das erwähnte Interview mit Burhāmī unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=5777 92 Vgl. u.a. Bakr: al-Furqān baina d-daula aṯ-ṯiyuqrāṭīya wa-d-daula al-madanīya wa-daulat al-islām. 93 Burhāmī im Interview unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=5777 94 Vgl. Bakr: al-Furqān baina d-daula aṯ-ṯiyuqrāṭīya wa-d-daula al-madanīya wa-daulat al-islām. 95 Vgl. Bakr: al-Furqān baina d-daula aṯ-ṯiyuqrāṭīya wa-d-daula al-madanīya wa-daulat al-islām. 81 Genau an dieser Stelle ziehen die Gelehrten der Daʿwa as-Salafīya die entscheidende Trennlinie zwischen einem islamischen und einem zivilen Staat bzw. des im Westen verbreiteten Verständnisses einer demokratischen Staatsordnung. Während auch in einem islamischen Staat das Volk das Recht auf die Wahl des Herrschers habe, also wie in einem zivilen Staat Träger der Herrschaftsgewalt sei, wird die Idee, dass das Volk über die alleinige Gesetzgebungsgewalt verfügt, als mit dem Islam unvereinbar angesehen und als Verletzung der Souveränität (as-siyāda) Gottes betrachtet.96 In einem islamischen Staat sei weder das Volk noch der Herrscher mit derart umfassenden legislativen Befugnissen ausgestattet, vielmehr läge die Gesetzgebungsgewalt in letzter Konsequenz ausschließlich bei Gott bzw. dem geoffenbarten Gesetz (aš-šarʿ): Der islamische Staat stimmt mit der Idee des zivilen Staates darin überein, dass die Herrschaftsgewalt (as-sulṭa al-ḥākima) vom Volk ausgeht und weicht vom zivilen Staat darin ab, dass die Gesetzgebungsgewalt (sulṭa at-tašrīʿ) vom geoffenbarten Gesetz ausgeht, nicht vom Volk. Das Volk besitzt in ihm nicht das Recht der Gesetzgebung (ḥaqq at-tašrīʿ)97 In den Augen der salafistischen Gelehrten zeichnet sich ein islamischer Staat also v.a. durch die Anwendung schariatischer Bestimmungen aus. Dass auch die koranischen Strafrechtsvorschriften einen Bestandteil dieser Bestimmungen bilden, hebt ʿAlāʾ Bakr explizit hervor. So gehörten die ḥudūd, ähnlich wie die islamischen Erbschaftsregelungen, in jenen Bereich der Scharia, der eigentlich unabhängig von Ort und Zeit Geltung haben müsste. Die islamische Scharia, so Bakr, sei ein „passender Lebensweg für alle Orte und Zeiten bis zum jüngsten Tag (manhaǧ li-l-ḥayāt yaṣluḥu fī kull zamān wa-makān wa-ḥattā qiyām assāʿa).“98 Die Gelehrten der Daʿwa as-Salafīya betonen darüber hinaus, dass die Anwendung der Scharia kein wünschenswerter Akt, sondern vielmehr eine religiöse Pflicht und einen elementaren Teil der islamischen Glaubenslehre darstellt. Der Islam erschöpfe sich nicht in Akten individueller Frömmigkeit, sondern verlange die gesellschaftliche Umsetzung seiner Regelungen und Vorschriften: [Die] demütige Gottesverehrung (al-ʿubūdīya) umfasst die Übernahme des geoffenbarten Gesetzes in allen Aspekten (iltizām aš-šarʿ fī kull an-nawāḥī), in dem, was das Individuum (al-fard), die 96 Vgl. Bakr: al-Furqān baina d-daula aṯ-ṯiyuqrāṭīya wa-d-daula al-madanīya wa-daulat al-islām und Bakr: Malāmiḥ raʾīsīya li-d-daula al-islāmīya. Vgl. auch Burhāmī in einem Interview mit der Zeitung al-Ahrām im September 2012, unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=6388 Letzter Zugriff: 15.03.2013. 97 Bakr: al-Furqān baina d-daula aṯ-ṯiyuqrāṭīya wa-d-daula al-madanīya wa-daulat al-islām. 98 Bakr: al-Furqān baina d-daula aṯ-ṯiyuqrāṭīya wa-d-daula al-madanīya wa-daulat al-islām. 82 Gesellschaft (al-ǧamāʿa), die umma und den Staat (ad-daula) betrifft.99 Vor diesem Hintergrund wird das Erlassen von Gesetzen, die nicht im Einklang mit der islamischen Scharia stehen, zu einem religiös illegitimen Akt, ja sogar zu einem Ausdruck von Unglaube. Wie Ibn ʿAbd al-Ḫāliq in seiner Konzeption vom tauḥīd al-ḥākimīya bezieht auch Bakr sich in diesem Punkt nicht zuletzt auf Koran 5:44:100 „Diejenigen, die nicht nach dem entscheiden, was Gott (in der Schrift) herabgesandt hat, sind die (wahren) Ungläubigen.“ Die eben skizzierten Vorstellungen haben die Salafisten der Daʿwa as-Salafīya nicht zuletzt in der ägyptischen Verfassung verankern wollen. So unternahm man beispielsweise den Versuch, der Verfassung einen Artikel beizufügen, in dem die Souveränität Gottes explizit hervorgehoben wird (as-siyāda li-llāh).101 In einem Interview vor einigen Monaten verriet Burhāmī, selbst Mitglied der verfassungsgebenden Versammlung in Ägypten, den Hintergrund dieser Forderung: Während in einer Demokratie westlichen Verständnisses die Souveränität und damit die Gesetzgebungsgewalt vollständig in den Händen des Parlamentes liege, würde die Einführung eines Artikels, der Gott die Souveränität zubillige, genau dies für Ägypten ausschließen. Dadurch sei es dem Parlament nicht möglich, religiös illegitime Dinge zu legalisieren und nach europäischem Vorbild „Verbotenes zu erlauben und Erlaubtes zu verbieten (taḥlīl al-ḥarām wa-taḥrīm al-ḥalāl).“ Diese Staatsauffassung bringt Burhāmī dabei auf die Formel einer „durch die Scharia disziplinierten Demokratie (dimuqrāṭīya munḍabaṭa bi-š-šarīʿa).“102 Wie erwähnt, richten sich die Gelehrten der Daʿwa as-Salafīya mit ihrer Forderung nach der Errichtung eines islamischen Staates und mit ihrer Kritik am Konzept des zivilen Staates in erster Linie gegen stärker säkular orientierte Gruppen in Ägypten, die sie nicht selten als Anhänger einer Verwestlichung Ägyptens und als Gegner des Islams darstellen. So hebt die Daʿwa as-Salafīya in einem Text hervor, dass die Ḥizb an-Nūr v.a. deshalb gegründet wurde, um all jenen Kräften zu begegnen, welche die „Identität der umma“ auszulöschen versuchen und sich dabei nicht zuletzt auf „leere und geschwollene Parolen (šiʿārāt maʿsūla faḍfāḍa)“ von der „Freiheit (al-ḥurrīya), Gleichheit (al-musāwāt) und Menschenwürde (al-karāma alinsānīya)“ stützen würden.103 Gleichwohl bilden „Säkularisten“ und „Liberale“ nicht die einzige Zielscheibe salafistischer 99 Iyhāb aš-Šarīf: al-islām wa-d-daula, 2011, unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=5656 Letzter Zugriff: 15.03.2013. 100Vgl. Bakr: Malāmiḥ raʾīsīya li-d-daula al-islāmīya. 101Vgl. ad-Daʿwa as-Salafīya: ad-Daʿwa as-Salafīya wa-Ḥizb an-Nūr wa-d-dustūr wa-š-šarīʿa 102Burhāmī in einem Interview mit der Zeitung al-Ahrām im September 2012, unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=6388 103ad-Daʿwa as-Salafīya: ad-Daʿwa as-Salafīya wa-Ḥizb an-Nūr wa-d-dustūr wa-š-šarīʿa. 83 Kritik. Auch Teile des islamistischen Milieus werden von Seiten der Daʿwa-Gelehrten z.T. scharf attackiert, v.a. deshalb, weil sie in der Debatte um die Natur des zukünftigen ägyptischen Staates zu nachgiebig und kompromissbereit agieren und sich der „lauten Stimme“ der Säkularen unterwerfen würden.104 So wird an die Adresse anderer Islamisten der Vorwurf erhoben, die Forderung der vollständigen Anwendung der Scharia fallen gelassen zu haben. Man würde über Fragen der Anwendung bestimmter Prinzipien der Scharia schweigen, statt für ihre vollständige Einführung zu werben.105 Ein weiteres Beispiel für die Indifferenz einiger islamistischer Kräfte bildet aus Perspektive der Daʿwa as-Salafīya die Idee von der Einführung eines „zivilen Staates mit islamischer Autorität (ad-daula al-madanīya ḏāt al-marǧiʿīya al-islāmīya)“, die v.a. auf Teile der Muslimbruderschaft zurückgeführt wird.106 Eine solche Staatsvorstellung sei jedoch ein Widerspruch in sich, da ein ziviler Staat ontologisch areligiös sei und somit in keiner Weise mit einem an der islamischen Religion ausgerichteten Staat in Verbindung gebracht werden könne. Darüber hinaus basiere die Idee von einem zivilen Staat mit islamischer Autorität auf der Annahme, dass Freiheit und Gleichheit die wichtigsten Werte im Islam seien. In einem Rechtsgutachten über das Konzept des zivilen Staates mit islamischer Autorität hebt die Daʿwa as-Salafīya jedoch explizit hervor, dass dies nicht uneingeschränkt richtig ist, da der Islam gewisse Freiheitsrechte, etwa die Freiheit zur Apostasie (ḥurrīyat ar-ridda) oder zur Schmähung (ṭaʿn) Gottes, seines Gesandten und seiner Bücher und Verse, nicht kenne.107 Der nähere Blick auf die Staatsvorstellungen führender Gelehrter der Daʿwa as-Salafīya offenbart einige interessante Aspekte: Erstens zeigt sich anhand der betrachteten Schriften, in welch offenkundiger Weise sich salafistische Kräfte mittlerweile am politischen Diskurs in Ägypten beteiligen. Die Gelehrten haben ihre zurückhaltende Einstellung aus vorrevolutionären Tagen aufgegeben und fordern öffentlich und in klassisch islamistischer Manier die Einführung eines islamischen Staates. Als entscheidendes Kennzeichen eines solchen Staates wird die vollständige Anwendung der islamischen Scharia angesehen, die als umfassendes und zeitloses Regelwerk sowohl für individuelle als auch gesellschaftliche Belange betrachtet wird. Die Anwendung der göttlichen Normen und Vorschriften wiederum wird von salafistischer Seite zum Ausdruck wahrhaftigen Glaubens und zur religiösen Pflicht erhoben. In diesem Punkt weisen die Staatsauffassungen von Gelehrten wie Burhāmī ein 104Vgl. ad-Daʿwa as-Salafīya: ad-Daʿwa as-Salafīya wa-Ḥizb an-Nūr wa-d-dustūr wa-š-šarīʿa. 105Vgl. ʿAbd al-Munʿim aš-Šaḥāt: Manhaǧ al-iṣlāḥ baina d-daʿwa wa-s-siyāsa, 2012, unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=6075 Letzter Zugriff: 15.03.2013. 106Vgl. ad-Daʿwa as-Salafīya: Ḥaula muṣṭalaḥ: ad-daula al-madanīya ḏāt al-marǧiʿīya al-islāmīya. Unter: http://www.salafvoice.com/article.php?a=5181. Letzter Zugriff: 15.03.2013. 107Vgl. ad-Daʿwa as-Salafīya: Ḥaula muṣṭalaḥ: ad-daula al-madanīya ḏāt al-marǧiʿīya al-islāmīya. 84 zentrales Strukturmerkmal fundamentalistischen Denkens auf: Sie gründen auf einem gesetzesethischen Monismus, der das göttliche und in der heiligen Schrift überlieferte Gesetz als einzig gültige Ethik des Staates anerkennt. Andere Staatsauffassungen, etwa das Konzept des zivilen Staates, werden vor diesem Hintergrund nicht nur als westliche und kulturell fremde Importe dargestellt, sondern als Negation fundamentaler Glaubenspflichten gedeutet. Zweitens weichen die Ansichten der salafistischen Gelehrten von verbreiteten Annahmen über die Grundzüge einer demokratischen Staatsordnung ab. In einem an islamischen Werten orientierten Staat, so die Argumentation, besäße das Volk zwar das Recht auf die Wahl der politischen Autoritäten, verfüge also über die Herrschaftsgewalt, habe jedoch nicht die vollständige Gesetzgebungsgewalt inne. Diese läge in letzter Konsequenz bei Gott bzw. dem geoffenbarten Gesetz, dessen Regeln als unantastbar gelten und auch durch Parlamentsbeschlüsse nicht aufgehoben werden dürfen. Wer die Beschlüsse des Parlamentes wiederum auf ihre Schariakonformität überprüft, wird in den betrachteten Texten nicht im Detail erläutert. Laut ʿAbd al-Laṭīf regte der Daʿwa-Gelehrte ʿAbd al-Munʿim aš-Šaḥāt kurze Zeit nach der Revolution in diesem Zusammenhang jedoch die Gründung eines vom Parlament unabhängigen Rates (maǧlis fiqhī) an.108 Die Gelehrten der alexandrinischen Organisation bekennen sich in ihren Schriften also zu demokratischen Mechanismen wie der Wahl, lehnen die Idee einer Volksgesetzgebung jedoch im Kern entschieden ab. Zumindest in der Entschiedenheit ihrer Argumentation unterscheiden sie sich vom Grundton des Parteiprogrammes der Ḥizb an-Nūr. Zwar spricht auch das Parteiprogramm von einer „Demokratie im Rahmen der Scharia“ und erklärt die islamische Scharia zur Hauptquelle der Gesetzgebung, andererseits wird jedoch das Volk als Quelle aller Gewalten bezeichnet und die Errichtung eines islamischen Staates nicht in aller Klarheit gefordert. Ob die Ambivalenz des Parteiprogramms schlicht aus politischem Kalkül resultiert oder bereits ideologische Differenzen zwischen Partei und Mutterbewegung abbildet, ist aus der Ferne schwer zu beurteilen, dürfte jedoch ein interessanter Gegenstand weiterer Forschungen sein. Drittens verraten die Ansichten der Gelehrten einiges über die politische Positionierung der Daʿwa as-Salafīya in der nachrevolutionären politischen Landschaft Ägyptens. In ihrer Argumentation richten sich die Gelehrten zuvorderst gegen stärker säkular ausgerichtete Kräfte. Die Auseinandersetzung wird dabei im Stile eines Kulturkampfes geführt, in dem es aus salafistischer Perspektive um nicht weniger als um die Bewahrung der islamischen Identität des Landes geht. Auch hier weist die Argumentation durchaus fundamentalistische 108 Vgl. ʿAbd al-Laṭīf: as-Salafīyūn fī miṣr wa-s-siyāsa, S.13. 85 Züge auf: Sie ist durch einen ausgeprägten religiösen Nativismus gekennzeichnet, der sich v.a. darin äußert, dass die eigenen Auffassungen als Abbild der religiös-kulturellen Tradition Ägyptens dargestellt werden und andere Staatskonzepte wie der zivile Staat auf kulturell fremde, weil westliche und daher unislamische Ideen zurückgeführt werden. Während die Salafisten der Daʿwa as-Salafīya Säkulare und Liberale vor diesem Hintergrund zu Feinden des Islams erklären, stilisiert man sich selbst zum Verteidiger der eigenen Kultur und Religion. Überdies grenzen sich die Salafisten auch von anderen islamistischen Akteuren ab. Wie schon vor der Revolution wird in diesem Zusammenhang v.a. der Vorwurf der Vernachlässigung religiöser Ideale erhoben. Wenngleich die Gelehrten der Daʿwa as-Salafīya das islamistische Denken in keiner Weise um innovative Aspekte erweitern, versuchen sie sich als einzig wahrhafte Vertreter des Islams darzustellen und islamistische Opponenten wie die Muslimbruderschaft auf der „islamischen 86 Straße“ zu überholen. 6 Fazit In dieser Arbeit wurde der Versuch unternommen, die theologischen Gemeinsamkeiten und politischen Differenzen unter zeitgenössischen Salafisten näher zu beleuchten. Vor allem in dem Kapitel über die politischen Ansichten salafistischer Muslime wurden die ägyptische Salafīya im Allgemeinen und die alexandrinische Daʿwa as-Salafīya im Speziellen in besonderer Weise berücksichtigt. Ich hoffe, es ist in dieser Arbeit deutlich geworden, dass sich Salafisten auf theologischer Ebene v.a. durch gewisse Auffassungen von der „Einheit Gottes“ auszeichnen, die mindestens und überwiegend in den drei Kategorien des tauḥīd ar-rubūbīya, tauḥīd al-ulūhīya und tauḥīd al-asmāʾ wa-ṣ-ṣifāt konzeptualisiert werden. Wie schon bei der religiösen Reformbewegung der Wahhābīya, deren ideologischer Einfluss auf den Salafismus kaum hoch genug eingeschätzt werden kann, steht auch im zeitgenössischen Salafismus der tauḥīd al-ulūhīya im Zentrum der Glaubenslehre. Aus salafistischer Perspektive bildet der tauḥīd al-ulūhīya die entscheidende Trennlinie zwischen Glaube und Unglaube, zwischen Islam und Polytheismus. Während sich Salafisten auf dem geraden Pfad der salaf aṣ-ṣāliḥ wähnen und vor diesem Hintergrund als die einzig errettete Gruppe bezeichnen, würden große Teile der Muslime die Grenze zum Polytheismus regelmäßig überschreiten und damit ihr Seelenheil aufs Spiel setzen. Wie am Beispiel des Hilfegesuchs beim Propheten illustriert, richtet sich die salafistische Kritik in diesem Kontext zuvorderst gegen Praktiken aus dem Bereich der Gräber- und Heiligenverehrung, die als fundamentaler Verstoß gegen den tauḥīd al-ulūhīya angesehen werden. Dass sich die salafistische Glaubenslehre v.a. gegen verbreitete Formen der „Volksfrömmigkeit“ richtet, konnte auch anhand der salafistischen Standpunkte zur Feier des Prophetengeburtstages festgestellt werden. Wenngleich Salafisten die Feier des Prophetengeburtstages, anders als das Hilfegesuch, nicht per se als polytheistische Praxis einstufen, so werten sie diese als eine von schiitischen Häretikern erfundene verwerfliche Neuerung, die weder von Muḥammad noch von den salaf je praktiziert wurde. An dieser Stelle wird deutlich, was Salafisten unter Salafismus verstehen: den wahrhaftigen und unverfälschten Islam, basierend nur auf Koran und Sunna und dem Vorbild der salaf und gereinigt von all jenen kulturellen Neuerungen, die der Religion im Laufe der Zeit hinzugefügt wurden und diese in den Augen der Salafisten entstellt haben. Zumindest außerhalb Saudi Arabiens tritt der salafistische Islam daher oftmals als eine Art „Gegenkultur“ in Erscheinung. Er richtet sich gegen lokale Traditionen und Bräuche, die aus seiner Sicht nicht mit den normativen Grundlagen des Islams zu vereinen sind. 87 Dass die Ideologie des Salafismus auf einem exklusivistischen und manichäischen Weltbild aufbaut, konnte in dieser Arbeit zusätzlich durch einen näheren Blick auf die salafistische Doktrin al-walāʾ wa-l-barāʾ verdeutlicht werden. Unter Rückgriff auf die Ideen Ibn Taimīyas und Muḥammad Ibn ʿAbd al-Wahhābs fordern Gelehrte wie al-Fauzān und Burhāmī die Abgrenzung und Distanzierung von allem Nichtmuslischem ein. Wie in Abschnitt 5.1 angedeutet, wird in diesem Kontext nicht nur die Meidung enger Kontakte zu Juden und Christen postuliert, sondern gleichfalls die Idee einer Zusammenarbeit und Annäherung mit dem schiitischen Islam aufgrund tiefster theologischer Gräben verworfen. Nicht nur in der exklusivistischen und in Teilen durchaus xenophoben Doktrin al-walāʾ wa-lbarāʾ spiegeln sich ideologische Prämissen wider, die mit der Fundamentalismustheorie Riesebrodts als Ausdruck fundamentalistischen Denkens gewertet werden können. Auch in seinem Zugang zu den religiösen Quellen weist der salafistische Islam durchaus fundamentalistische Züge auf, da er sich durch einen ausgeprägten Literalismus auszeichnet. Wenngleich sich Salafisten hinsichtlich der Frage nach der richtigen Auslegung der göttlichen Attribute entschieden vom Vorwurf des Antropomorphismus distanzieren, plädieren sie im Zuge des tauḥīd al-asmāʾ wa-ṣ-ṣifāt und ganz in ḥanbalitischer Tradition für das Festhalten an ihrer wörtlichen Bedeutung und richten sich in ihrer gesamten Koranhermeneutik v.a. gegen Theologen ašʿaritischer Prägung, die sich der heiligen Schrift in rationaler Weise nähern und möglicherweise sogar einige göttliche Attribute metaphorisch auslegen. Während diese theologischen Überzeugungen das einende Band unter Salafisten bilden und es ermöglichen vom Salafismus als einer eigenständigen religiösen Tradition und Bewegung zu sprechen, konnte in dieser Arbeit gezeigt werden, dass von einer salafistischen Einigkeit im politischen Bereich keine Rede sein kann. Nicht zuletzt die politischen Entwicklungen im Mutterland des Salafismus, in Saudi Arabien, haben zu einer tiefen Fragmentierung der Salafīya auch außerhalb des Königreichs beigetragen. Obwohl mit dem ǧihādistischen Salafismus hier eine bedeutende politische Facette der Salafīya bewusst ausgeklammert wurde, konnten in Kapitel 5 tiefere Einblicke in die verschiedenen politischen Ideologien salafistischer Muslime und in das komplexe Verhältnis von Salafismus und Politik gewonnen werden. Zunächst wurden in diesem Kapitel die unterschiedlichen politischen Philosophien puristischer und politischer Salafisten skizziert, im Mittelpunkt stand jedoch die nähere Betrachtung der politischen Einstellungen ägyptischer Salafisten vor, während und nach der Revolution. Diese Betrachtung hat einige durchaus interessante Aspekte zu Tage gefördert: So wurde festgestellt, dass sich die ägyptischen Salafisten vor der Revolution in der Ablehnung politischen Engagements nahezu vollständig einig waren, sich ausschließlich der religiösen Missionsarbeit widmeten und damit einem unter Salafisten weltweit verbreiteten 88 Handlungsmuster folgten. Gleichwohl wurde dieses Handlungsmuster unterschiedlich begründet: Wie anhand der Ansichten Burhāmīs verdeutlicht, folgten keinesfalls alle ägyptischen Salafisten in ihrer politischen Zurückhaltung den ideologischen Prämissen puristischer Salafisten wie Muqbil al-Wādiʿī oder Rabīʿ Ibn Hādī al-Madḫalī. Statt politisches Engagement als religiös illegitim zu verdammen und die puristische ḥizbīya-Kritik in allen Aspekten zu teilen, rechtfertigte Burhāmī das Fernhalten vom „politischen Spiel“ ausschließlich mit den politischen Umständen und unterstrich schon 2007 den politischen Charakter des Islams. Auch in der Haltung zum Mubārak-Regime war das salafistische Milieu weit heterogener als es ein flüchtiger Blick suggerieren mag. Während renommierte Gelehrte der Anṣār as-Sunna al-Muḥammadīya den bedingungslosen Gehorsam gegenüber der Regierung Mubārak einforderten und Regierungskritik nicht zuletzt unter Rückgriff auf die Positionen saudischer Salafisten verurteilten, standen andere Salafisten der Regierung distanzierter gegenüber, in der Regel freilich ohne eine eindeutig oppositionelle Haltung einzunehmen. Vor diesem Hintergrund wird der postrevolutionäre Positionswandel von Teilen der ägyptischen Salafīya verständlicher. Schon vor der Revolution nicht in Gänze „madḫalistisch“, setzten die politischen Umwälzungen Anfang 2011 im salafistischen Milieu einen Politisierungsprozess in Gang, der schlussendlich in der Gründung mehrerer salafistischer Parteien mündete und einen „neuen ägyptischen Salafismus“ entstehen ließ. Erste Einblicke in diesen „neuen Salafismus“ haben wir im letzten Abschnitt dieser Arbeit gewinnen können. So wurde verdeutlicht, dass sich insbesondere die Gelehrten der Daʿwa asSalafīya zu Verteidigern der islamischen Identität Ägyptens aufschwingen und in diesem Kontext v.a. die vollständige Anwendung der Scharia fordern. Mit ihren politischen Forderungen richten sich die Salafisten dabei zuvorderst gegen säkular orientierte Akteure, versuchen sich jedoch gleichfalls als islamische Alternative zur Muslimbruderschaft zu etablieren. Dass der alteingesessenen Muslimbruderschaft durch die Politisierung von Teilen der ägyptischen Salafīya eine durchaus ernstzunehmende islamistische Konkurrenz erwachsen ist, hat sich mit den ägyptischen Parlamentswahlen gezeigt und lässt sich zweifelsohne als eine der politisch bedeutsamsten Entwicklungen im postrevolutionären Ägypten betrachten. 89 7 Literaturverzeichnis 7.1 Bücher, Aufsätze und Artikel Abdul-Raof, Hussein: Schools of Qur´anic Exegesis – Genesis and Development, New York 2010. Abou El Fadl, Khaled: Speaking in God´s Name – Islamic Law, Authority and Women, Oxford 2001. Abrahamov, Binyamin: The „bi-lā kayfa“ Doctrine and its Foundation in Islamic Theology, in: Arabica, 42 (1995), S. 365-379. Abū Zaid, Naṣr Ḥāmid: Gottes Menschenwort – Für ein humanistisches Verständnis des Koran, Freiburg 2008. 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