Die Chagas-Krankheit: Auch in der Schweiz eine Herausforderung für die Versorgung mit Blutkomponenten? Dr. François Chappuis Privatdozent Service de Médecine Internationale et Humanitaire Universitätsspital Genf [email protected] Carlos Chagas 1879-1934 Brasilien 1909 Aufderheide C PNAS 2007 Trypanosoma cruzi Begeisselter Einzeller Formen im Menschen trypomastigot amastigot Vektor Blutsaugende Raubwanze (Triatoma) Übertragungsarten Vektoren - häufig nur in Amerika Weitere Übertragungsarten über Plazenta: 5 -10% je nach Land Transfusion: 10-20% Transplantation Nahrungsmittel Laborunfälle Endemische und nichtendemische Gebiete Epidemiologie 8-10 Millionen infizierte Personen Inzidenz: 50’000 Fälle/Jahr Mortalität: 14’000 Fälle/Jahr WHO 2007 WHO 1960 WHO 1976 WHO 1981 PAHO 1984 Walsh 1984 WHO 1985 WHO 1990 PAHO 1994 Schmunis 1998 Weltbank 2006 Prävalenz (Mio.) 0 10 20 30 Klinik: 2 Phasen Akut: selten, Fieber, Enzephalitis, Myokarditis Chronisch Unbestimmte, asymptomatische Form (~2/3 der Patienten) Symptomatische Form Herz: 20-30% Verdauungssystem: 10% gemischte Symptome ZNS (Immunsuppression): <5% (~1/3 der Patienten) Mortalität 30% Prata, Lancet Inf Dis 2001 Kardiopathie Akute Form (Myokarditis): <5% Primärinfektion Chronische Form: 20% bis 30%, Latenz >20 Jahre Hauptursache für Kardiomyopathien in endemischen Gebieten Hauptursache für kardiovaskuläre Todesfälle bei den 30- bis 50-Jährigen in endemischen Gebieten Dritthäufigster Grund für Herztransplantationen in Lateinamerika Rassi, NEJM 2006; 355: 799-808 Chronische Kardiopathie • Arrhythmien - tachykarde Rhythmusstörungen - bradykarde Rhythmusstörungen • Herzinsuffizienz - biventrikulär • Thromboembolie - ventrikuläres Aneurysma (apikal) - Schlaganfall Tod Tod Störungen des Verdauungssystems Dysautonomie parasitäre Beeinträchtigung des Plexus mesentericus «Mega-Syndrom» Megaösophagus (Pseudo-Achalasie) Megacolon (Pseudo-Hirschsprung) Rassi, Lancet 2010;375:1388-1402 Neurologische Störungen Immunsuppression Hirnabszesse DD: Toxoplasmose Diagnostik Akute Phase Mikroskopische Untersuchungen (Konzentrationen) PCR Chronische Phase «klassische Serologie»: ELISA, IF, HAI… (doppelt gemäss WHO) Schnelltests: z.B. StatPak Krankheitsverlauf Mikroskopie PCR Serologie: ELISA, IF (PCR) Symptome Parasitämie Wochen AKUT 10 - 30 Jahre CHRONISCH ASYMPTOMATISCH CHRONISCH SYMPTOMATISCH Spezifische Behandlung 2 wirksame Medikamente - o o o o Benznidazol (Lafepe Benznidazol®, Rochagan®) Nifurtimox (Lampit®) 60 Tage ähnliche Wirksamkeit mittlere Verträglichkeit unsichere Verfügbarkeit Jannin, Mem Inst Oswaldo Cruz 2007;102 Suppl 1:95-7. Behandlung: Indikationen, Verträglichkeit und Wirksamkeit akute Infektion, angeborene Infektion, Kinder <18 Jahre, Immunsuppression 70-90% ++ Frauen im gebärfähigen Alter, <50 Jahre mit/ohne mittelschwere(r) Kardiopathie, vor der Immunsuppression 30-50% >50 Jahre mit leichter Kardiopathie, Störungen des Verdauungssystems 30-50% + (+) Wirksamkeit Verträglichkeit +++ Schwere Kardiopathie oder schwere Störung des Verdauungssystems Kontraindikationen Schwangerschaft, schwere Nieren- oder Leberinsuffizienz Bern, JAMA 2007, 298(18):2171-81 Transfusionsrisiko Erste Fälle der Chagas-Krankheit nach Transfusion 1952 publiziert Freitas et al, 1952; Rev Paul Med;40:36-40 Obligatorisches Screening der Blutspenden in Lateinamerika = einer der Pfeiler der Kontrollprogramme Ausserhalb Lateinamerikas seit den 1980er-Jahren (USA) und 2000 (Spanien) ein anerkanntes Problem Transfusionsrisiko Überlebensdauer T. cruzi: - 18 Tage bei 4°C - 250 Tage bei Raumtemperatur Alle zellulären Blutprodukte können T. cruzi übertragen - Vollblut (Übertragungsrate nach 1 Beutel = 12-25%) - Erythrozyten-Konzentrat - Thrombozyten-Konzentrat: gegenwärtig am häufigsten Etwa 350 publizierte Fälle einer Übertragung Determinanten des Risikos Bei der Transfusion übertragene Blutmenge Stamm des Parasiten Ausmass der Parasitämie beim Spender Dauer zwischen Entnahme und Verabreichung Zustand des Immunsystems des Empfängers Typ der verabreichten Blutkomponente Chagas infolge Transfusion: Klinik Inkubationszeit: 20-40 Tage (Extremwerte: 8-120d) Fieber = häufigstes Symptom Schwere Formen: - Lymphadenopathie, Hepatosplenomegalie - akute Myokarditis - Infektionen des ZNS (Immunsuppression) ~ 20% asymptomatische Infektionen Klinische Remission nach 6-8 Wochen → latente Phase Chagas infolge Transfusion: Prävention 1. Anamnese/Fragebogen der Spender - 1. Phase des Screenings 2. Serologische Tests - Verschiedene Methoden verfügbar: ELISA = 1. Wahl - Positive Ergebnisse erfordern Bestätigungstest(s) - NB: Kultur und PCR zu wenig empfindlich 3. Verfahren zur Pathogeninaktivierung - Keine einheitliche Methode für alle Produkte anwendbar - NB: Leukozytenfilter: Wirksamkeit bei T. cruzi nicht bewiesen Otani, Transfusion 2009 Transfusionsrisiko Schofield 2008, Trends in Parasitology Chagas-Krankheit: Situation ausserhalb Lateinamerikas Wenig Daten Wenig spezifische Programme Mangelnde Kenntnisse / spezifische Kompetenzen im Gesundheitswesen Migration Schmunis, Mem Inst Oswaldo Cruz 2007 Nicht-endemische Länder USA (>13 Mio. Immigranten) Schätzung: ~100’000 infizierte Personen 5 Fälle nach Transplantation (3 Herz-, 2 Nieren-) MMWR 2006;55:798-800 7 Fälle nach Transfusion American Red Cross 2007: systematisches Screening (Serologie: 1 ELISA-Test) Seroprävalenz bei Blutspendern: 1:27’500 (14 Mio. Tests zwischen Jan. 2007 und Juni 2008) Bern et al. Curr Opin inf Dis 2008; 21:476-82 67% PCR+ bei 52 sero-positiven Spendern (bestätigt) Leiby et al. J Inf Dis 2008;198:609-13 Europa Guerri-Guttenberg et al. Eur Heart J 2008;29:2587-91 Nicht-endemische Länder Spanien (>1,5 Mio. Immigranten) Schätzung: 36’000 – 122’000 infizierte Personen 2 Fälle nach Transplantation 5 Fälle nach Transfusion Gesetz: Risikospender (Fragebogen) müssen ausgeschlossen oder getestet werden (Serologie) = selektives Screening Seroprävalenz bei Blutspendern: ~0,5% Situation in der Schweiz ~ 100’000 Lateinamerikaner (~35’000 dokumentiert) 1. Welle 1970er - 80er Jahre Chile, Argentinien, … 60’000 städtische Bevölkerung, Mittel-/Oberschicht geringes Risiko für Chagas-Krankheit 2. Welle 1990er – 2000er Jahre Bolivien>Brasilien>Ecuador>Peru, Kolumbien… 30-50’000, Sans-Papiers ++ aus Vorstädten, Unter-/Mittelschicht mehrheitlich junge Frauen, Hauswirtschaft hohes Risiko für Chagas-Krankheit Chagas-Krankheit in der CH Bern: 1990: 3 Fälle von Chagas-Myokarditis bei jungen Frauen (Herkunft: Kolumbien, Chile, Brasilien) Liechti et al. 1990. Schweiz Med Wochenschr; 120:1493-6 Genf: - 1996: 1. beschriebener Fall - 2001 und 2005: 2 Fälle angeb. Infektion - seit 2008: ~200 diagnostizierte Fälle Jackson, EID 2009;15(4):601-3 Lausanne: - 2 diagnostizierte Fälle Geschätzte Anzahl infizierter Personen in der Schweiz ~3000 Lindsay & Zumbrunnen, thèse Master, UNIGE, 2010 Chagas-Studie, Genf 2008 Ziele: Prävalenz der Chagas-Krankheit bei erwachsenen Sans-Papiers aus Lateinamerika Krankheitsstadium Validierung Schnelltest (Stat-Pak®) Evaluation lokales Übertragungsrisiko (Blut oder Organ) Verträglichkeit der Behandlung mit Nifurtimox Chagas-Studie, Genf 2008 Prävalenz = 130/1012 (12,8%) - Bolivianer 127/485 (26,2%) - 83% der Infizierten wissen nicht, dass sie infiziert sind! Risikofaktoren OR korr. Bolivien 95%-CI 33.2 7.5-147.5 Infektion Mutter 6.9 1.9-24.3 Alter > 35 6.7 2.4-18.8 Jackson PLOS NTD 2010;4(2) : e592 Spanien Piron EID 2009 Chagas-Studie, Genf 2008 Migranten aus Lateinamerika (n = 1012) N (%) Migranten aus Bolivien (n= 486) N (%) Migranten mit Chagas-Krankheit (n = 130) N (%) Frühere Blutspenden 247* (24.4) 109 (22.4) 22 (16.9) in Lateinamerika 208 (84.2) 96 (88.1) 22 (100) 17 (6.9) 1 (0.9) 0 12 (4.9) 0 0 27 (10.9) 13 (11.9) 0 206 (20.4) 70 (14.4) 24 (18.5) in Europa in der Schweiz keine Angabe Absicht zur Blutspende ausserhalb Lateinamerikas Jackson PLOS NTD 2010;4(2) : e592 Chagas-Aktivitäten am HUG, 2010 Einführung von zwei serologischen Tests Chagas-Schnelltest Stat-Pak ELISA BioKIT Screening: - schwangere Frauen (mit Aufenthaltsbew. und Sans-Papiers) - Neugeborene von infizierten Müttern - erwachsene Personen aus Lateinamerika (UMSCO) - Patienten aus Lateinamerika mit Immunsuppression, Schlaganfall… Klinische Untersuchung +/- Behandlung infizierter Personen Chagas-Aktivitäten am HUG, 2010 Transfusionszentrum Diskussion 2009 initiiert Aktuelles Screening: Ein positiv getesteter Spender 2010 - Untersuchung verbleibender Blutkomponenten (PCR) und Empfänger negativ Entscheidung (mit CHUV): serologisches Screening (Bern) bei Risikogruppen, bis gesamtschweizerische Richtlinien vorliegen: - Spender (oder Mutter des Spenders) in Lateinamerika geboren - > 12 Monate Aufenthalt in Lateinamerika Blutspenden: Praxis in Europa Indikationen für serologisches Screening: Spanien: Frankreich: - Spender (oder Mutter) in endemischem Land geboren - Wohnsitz oder Reise in endemischem Land Andere Länder: - Spender (oder Mutter/Grossmutter) in endemischem Land geboren - Wohnsitz in endemischem Land - Transfusion in endemischem Land erhalten - keine Serologie; +/- detaillierter Fragebogen Schlussfolgerung Die Chagas-Krankheit ist ein weltweites Problem für die öffentliche Gesundheit Übertragung in Europa und CH (angeborene Infektion, Blutund Organspende) Die Prävention einer Übertragung durch Transfusion muss in der Schweiz intensiviert werden Ein selektives Screening von Risikogruppen wäre vorteilhaft für: - die oft immunsupprimierten Empfänger - die Spender und deren Kinder Dr. Yves Jackson http://www.who.int/neglected_diseases/i ntegrated_media_chagas_statement/en/