Urban II. spricht auf dem Konzil von Clermont. Buchillustration, 15. Jh. KAMPF UM DIE WELTHERRSCHAFT iacenza, eine kleine Stadt 60 Kilometer südöstlich der lombardischen Metropole Mailand, verschlafen, eher unbedeutend. Und plötzlich, für ein paar Tage im März des Jahres 1095, übervölkert, wichtig. Papst Urban II. hatte zu einer Synode geladen, fast 35 000 Menschen waren seinem Ruf gefolgt, so berichtet es jedenfalls ein Chronist. Die meisten von ihnen Laien, aber auch 4000 Geistliche, unter ihnen 200 Bischöfe, französische, italienische und deutsche. Ein starkes Heer des Herrn, der rechte Ort also, um große Politik zu machen. Eigentlich wollte Urban, im ewigen Gezänk zwischen Kaiser und Papst, zwischen regnum und sacerdotium, mit einer solchen Massenveranstaltung nur unter Beweis stellen, welche Autorität er doch besaß. Erst versuchte er, Lösungen für die ehelichen Probleme zweier Regenten zu finden; dann aber folgte der Konzilsordnung wichtigster Punkt, und was nun verhandelt wurde, sollte entscheidend werden für das Abendland und das Morgenland. P Papst Urban II. rief 1095 zum Kreuzzug gegen die Muslime auf, die Jerusalem und das Heilige Land besetzt hatten. Den Teilnehmern des Waffengangs versprach er Erlösung von den Sünden und ewiges Leben. Heiliger Krieg Von GEORG BÖNISCH zu Gesicht bekommen hatte“, schreibt UNITED ARCHIVES / PICTURE ALLIANCE / DPA Türkische Seldschuken, Muslime, der britische Kirchenhistoriker Jonaso trugen Gesandte des byzantinischen Monarchen Alexios I. Komnenos vor, fegten durch Kleinasien und stünden kurz vor Konstantinopel, der Hauptstadt. Militärische Hilfe für ihr Volk und die Christen im Osten sei deshalb dringend nötig – um ihr Begehren zu forcieren, untermauerten sie es geschickt mit dem Hinweis, vielleicht könne dabei Jerusalem vom heidnischen Joch befreit werden. Jerusalem, die heilige Stadt. Die Urmetropole der Christenheit, dort, wo Jesus seinen Leidensweg ging. Seit einem knappen Vierteljahrhundert besetzt durch ebendiese Seldschuken. Dass sich der Mann aus Byzanz nicht an den Gegenpapst Clemens III. gewandt hatte, den der römisch-deutsche Kaiser Heinrich IV. stützte, sondern an Urban, muss für diesen ein enormer diplomatischer Erfolg gewesen sein. Von Piacenza aus ritt er mit seiner Entourage gen Westen und durch Frankreich – um, wie er sagte, das „Denken und Fühlen“ der Adligen und Ritter zu „stimulieren“. Hin auf ein Ziel: die Rückeroberung Jerusalems. Ein halbes Jahr lang dauerte diese Werbetour. Urban, die Tiara immer auf dem Kopf, zog durch Ortschaften, „in denen man seit Menschengedenken nie oder kaum jemals ein gekröntes Haupt SPIEGEL GESCHICHTE 4 | 2012 verkünden, er werde eine wichtige Rede halten. Vor den Toren der Stadt, weil es – wie schon in Piacenza – einen riesigen Zulauf Interessierter gab. Eloquent, rhetorisch geschickt, schilderte er die angebliche Unterdrückung und grausame Verfolgung der christlichen Brüder durch Muslime, die „Feinde Gottes“, wie sie hießen. Und beschwor die Menschenmenge, ganz im Sinne von Alexios, endlich gegen sie zu marschieren. „Nicht ich bin es, der euch ermutigt“, rief er angeblich aus, „es ist der Herr. Zu den Anwesenden spreche ich, den Anwesenden befehle ich, doch Christus herrscht“. Und Urban erinnerte an ein Bibelwort Jesu beim Evangelisten Matthäus (10,38): „Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht würdig.“ Die Rede des Papstes sollte schon bald ungeheure Folgen haben, zumal da er andeutete, der Zug in die Levante könnte ein Akt der Buße für Sünden sein und in der Stunde des Todes würden sie gar erlöschen. Ewiges Leben also stand in Aussicht, und so fand Urban die Formel, Hunderttausende Menschen für eine Idee zu begeistern, die, so der Geschichtswissenschaftler Hans Eberhard Mayer, eine Mischung gewesen sei „aus „Wallfahrt, Heidenkrieg und geistlichem Lohn“. Eine Idee, die „gleichmäßig alle Stände ergriffen“ habe, auch das „niedere Volk“. than Riley-Smith. Und Urbans Auftritte seien „überall bewusst theatralisch gehalten“ worden: Er weihte beständig Altäre, Kirchen, Kathedralen. Stimmenfang heißt dies heute. Als Urban Clermont in der Auvergne erreichte, rief er wiederum ein „concilium generale“ zusammen. Am letzten „Deus lo vult!“ – „Gott will es!“, riefen Tag, dem 27. November 1095, beraumte immer wieder Urbans Zuhörer. Jener er eine öffentliche Sitzung an und ließ November-Tag vor fast tausend Jahren riss eine Kluft auf zwischen Orient und Okzident, zwischen Islam und ChristenKreuzfahrerstaaten um 1135 tum – vielleicht kann sie nie wieder geKönigreich Jerusalem Grafschaft Tripolis schlossen werden. Fürstentum Antiochia Grafschaft Edessa Kreuzzüge waren Kriegszüge, eigentEdessa KLEINlich waren es eher Angriffskriege. Auch SELDSCHUKEN ARMENIEN wenn sie, in verdächtig euphemistischer Verbrämung, einfach nur „Feldzug“ hieAntiochia Aleppo ßen (lateinisch: expeditio) oder schlicht zu BYZANZ „Reise“ (iter). ASSASSINEN Seit der Friedensbotschaft Jesu freilich galt Krieg als verwerflich. Ein überTripolis aus delikates Thema also, das radikal umNazareth Beirut geschrieben werden musste; dabei half das Wort des Kirchenvaters Augustinus: MittelSELDSCHUKEN „Krieg werde geführt, damit Friede einmeer kehre“, hatte er gesagt, und der passende Jerusalem Begriff war gefunden: bellum iustum, „gerechter Krieg“. Ein Krieg für Gott, ein heiliger Krieg. Diese Theorie „und die damit verbundene Ausbildung eines christlichen Ritter- 63 KAMPF UM DIE WELTHERRSCHAFT tums durch die Kirche und für die Kirche“, sagt Mayer, habe den „Boden aufgewühlt und vorbereitet“ – und erst so einen „Kreuzzug überhaupt möglich“ gemacht. Und dieser musste, der Durchschlagskraft wegen, von einer rechtmäßigen Autorität verkündet werden: dem Papst. Schon bevor Urban in Clermont agitierte, hatten Päpste keineswegs Bedenken oder Einwände gegen soldatische Gewalt, wenn es denn um die „Expansion lateinischen Christentums“ ging, notiert Mayers Kollege Nikolas Jaspert. So kämpften sie bereits 1053 gegen die Normannen in Süditalien – und söhnten sich nur wenig später mit ihnen aus. Oder sie unterstützten die Vertreibung der Muslime aus Spanien, stets bereit, als Belobigung die Tilgung aller Sünden in Aussicht zu stellen. Gewiss, Spanien war eher unbedeutend im Vergleich zur biblischen Tradition des Heiligen Landes. Dessen Verteidigung gegen Muslime, oder besser: die Rückgewinnung der christlich-historischen Stätten, galt als ein Ziel, für das Menschen sich bereitfinden könnten, ihren Besitz zu opfern und möglicherweise ihr Leben. Schon Gregor VII., der als Reformpapst in die Geschichte des Mittelalters einging, die „Zuchtrute Gottes“, wie er auch hieß, hegte ganz offenbar den Plan, gen Osten zu ziehen; viel ist darüber nicht bekannt. Aber der Zeitpunkt dieser Idee: das Jahr 1074. Dies ist schon deswegen von großem Interesse, weil eine bereits seit langem schwelende Auseinandersetzung zwischen geistlichem und weltlichem Herrscher ihrem Höhepunkt entgegenging: tionärer Akt schon deshalb, weil er zeigte, dass der Statthalter Christi unter allen Umständen politischer Taktgeber sein wollte. Dem Papst kam auch zupass, dass mehrere europäische Herrscher gar nicht in der Lage waren, einem Aufruf Die Aussicht auf Beute und Reichtum war riesengroß. der Investiturstreit. Im Grunde lautete die einfache Frage, wer von beiden das Recht besäße, klerikale Spitzenleute wie Bischöfe oder Äbte in ihre Ämter zu berufen. Tatsache ist, dass Gregor allein mit der Überlegung, einen solchen Feldzug ins Auge zu fassen, sich emanzipierte vom Kaiser, dem traditionellen Beschützer des Papsttums – und so auch auf diese Weise, wie es Mayer definiert, einen „Oberherrschaftsanspruch des Papstes“ geltend zu machen suchte. Ein revolu- 64 zu folgen. Frankreichs König Philipp I. stand infolge einer Ehekrise unter Kirchenbann; Englands König Wilhelm II. Rufus stritt heftig mit dem Erzbischof von Canterbury, deshalb war er unabkömmlich. Und Heinrich, den Kaiser, hatte der Papst in Sachen Investitur exkommuniziert. Als Gregors Nachfolger Urban dann in Clermont predigte, das Kreuz zu nehmen, schien die erste Reaktion, trotz der „Deus lo vult“-Schreie, noch einigermaßen zurückhaltend zu sein. Wohl des- halb, „weil sich unter der Zuhörerschaft nur wenige Laien von Bedeutung befanden“, mutmaßt Riley-Smith. Urban hatte zuvor seine Bischöfe angewiesen, die prominentesten Adligen ihrer Diözesen zum Konzil mitzubringen; doch offenbar war diese Botschaft nicht angekommen. So musste der Papst weiter durch Frankreich ziehen – nach Limoges und Angers, Le Mans, Tours und Nîmes, Le Puy und Poitiers. Und erst nach diesem gewaltigen Propagandaakt war klar, dass sein Aufruf endlich den erhofften Widerhall fand – wahrscheinlich war er noch viel gewaltiger, als Urban und seine Strategen je zu hoffen wagten. Plötzlich hatte die Menschen ein regelrechter Taumel erfasst, auch deshalb, weil die Kirche vielen Hoffnung machte, sie könnten ihr armseliges Leben hinter sich lassen. Die Aussicht auf Beute, auf Reichtum war riesengroß, und als im Sommer 1096 der erste Kreuzzug startete, bestand die Armee Richtung Morgenland aus wohl 50 000 Männern, vor SPIEGEL GESCHICHTE 4 | 2012 Wohl war der Papst durchaus die Autorität, eine solche Form des heiligen Krieges zu legitimieren, ihn zu predigen, zu proklamieren und teilweise auch zu finanzieren. Doch die Rekrutierung der Kreuzfahrer konnte er kaum kontrollieren, und die Macht des Papstes war, „sobald das Heer sich auf den Marsch begeben hatte, eher theoretischer Natur“ (Riley-Smith). Da nutzte es auch nichts, dass er Vertreter, Legaten, mitschickte. Im Laufe der Jahrzehnte reihte Kreuzritter belagern die Festung Antiochia. Illustration aus der Chronik des Wilhelm von Tyrus, 13. Jh. allem Franzosen, Lothringern und Normannen. ART MEDIA / IMAGESTATE / PICTURE-ALLIANCE / DPA Drei Jahre später, am 15. Juli 1099, eroberten sie Jerusalem, nach einem gewaltigen Blutbad. „Ein solches Töten“, schilderte es ein Augenzeuge, „hat noch niemand bislang gehört oder gesehen.“ Danach, heißt es, seien die „Unsrigen“ gezogen zum „Grab unseres Erlösers“ – „glücklich und vor Freude weinend“. Solch zeitgenössische Jubeltöne ließen eines vergessen: die Opferquote unter den Kreuzfahrern selbst. Riley-Smith schätzt, dass bei diesem ersten Kreuzzug etwa 35 Prozent von ihnen auf dem Marsch starben oder vor Ort; andere Beobachter gehen von bis zu 75 Prozent aus. Dennoch gelang es mit dem verbliebenen Personal, vier sogenannte Kreuzfahrerstaaten zu gründen, drei längs der Mittelmeerküste und strategisch günstig gelegen, weil die Versorgung über See einfacher war als über Land. Schnell konnte auch eine Art Wachtruppe auf die Beine gestellt werden: die SPIEGEL GESCHICHTE 4 | 2012 Templer, der erste geistliche Ritterorden überhaupt. Tollkühne Männer waren das meistens, diszipliniert, oft aber auch arrogant und, wie könnte es anders gewesen sein, durch die Bulle „Omne datum optimum“ unmittelbar dem Papst unterstellt. Allerdings, selbst eine ständige Verteidigungsbereitschaft konnte nicht verhindern, dass die Seldschuken zu Weihnachten 1144 nach wochenlanger Belagerung die Hauptstadt eines dieser Staaten, Edessa, eroberten und die Bewohner vertrieben. Ein Schock für Europa und ein Schock für den Papst. Umgehend rief Eugen III. zu einem neuen Kreuzzug auf, und der wortgewaltige Abt Bernhard von Clairvaux sollte diesmal das Feuer entfachen. Zwar gelang es ihm, den deutschen König Konrad III. und dessen französischen Kollegen Ludwig VII. ins Boot zu holen, anders als bei Urban sei jedoch der „Widerhall eher bescheiden“ gewesen, analysiert der Saarbrücker Mediävist Peter Thorau. sich Niederlage an Niederlage. Nachdem in der Schlacht bei Hattin im Juli 1187 der muslimische Chefstratege Saladin das größte Kreuzfahrerheer der Geschichte vernichtend geschlagen und anschließend die heilige Stadt Jerusalem zurückerobert hatte, konnten selbst militärische Koryphäen wie der Engländer Richard Löwenherz das Blatt nicht mehr wenden; Friedrich Barbarossa, der römisch-deutsche Kaiser, schaffte es erst gar nicht bis ins Gelobte Land – er ertrank auf dem Weg dorthin. Und wie begrenzt doch der Einfluss des Papstes nach der aus christlicher Sicht glanzvollen Ouvertüre war, zeigt der verzweifelte Versuch Innozenz’ III., Anfang des 13. Jahrhunderts erst die Plünderung der Christenstadt Zara an der Adriaküste und dann die Konstantinopels zu verhindern. Die ursprüngliche Idee eines Kreuzzuges wurde pervertiert, weil die Gier nach Geld und Gold religiöses Handeln glatt außer Kraft setzte. Wenige Jahre später nur bewies Barbarossas Enkel Friedrich II., dass die Verpflichtung dem Papst gegenüber, das Kreuz zu nehmen, mitnichten Krieg zu bedeuten hatte. „Stupor mundi“, nannten ihn vielleicht auch deshalb später seine Anhänger, „Staunen der Welt“. Friedrich, vom Papst exkommuniziert, weil er immer wieder den Marsch gen Osten verzögert hatte, setzte ganz auf die Diplomatie – und handelte 1229 mit Sultan Malik al-Kamil einen Friedensvertrag auf zehn Jahre aus, der den Christen große Teile Jerusalems, Nazareth und Bethlehem zurückbrachte. Vielleicht war es Friedrichs Politik im Morgenland, die ein Umdenken einleitete. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, resümiert Riley-Smith, hätten die Päpste schließlich die „Vergeblichkeit ihres Bemühens“ erkannt, wieder „einen großen Feldzug zu organisieren“. Das Heilige Land, so viel war klar, konnte durch Kreuzzüge nicht für die Christenheit gehalten werden. 65