Urban, Martin Protestantischer Fundamentalismus: "Die Kirchen haben Angst vor der Wissenschaft" Die evangelische Kirche wird immer konservativer. Sie hat vergessen, dass sie eine Kirche der Aufklärung ist. Fundamentalismus und Aberglaube breiten sich in allen Kirchen aus. Mit diesen Thesen will der Wissenschaftspublizist Martin Urban seine Kirche aufrütteln. Gerade auch angesichts des Reformationsjubiläums. Martin Urban im Gespräch mit Andreas Main Andreas Main: Herr Urban, Sie teilen den Eindruck, dass EKD und Evangelikale auf Schmusekurs gehen. Woran machen Sie das fest? Martin Urban: Ja, die Kirche war mal eine geistige Macht und wird zum bloßen Sozialverein. Die Ursache dafür ist: Die Kirche rutscht ab in den Fundamentalismus, indem sie die Erkenntnisse der Wissenschaften – die Theologie eingeschlossen – nicht beachtet, die der Naturwissenschaften nicht versteht und auf archaischen Vorstellungen beharrt, die bereits seit hundert Jahren zumindest theologisch angezweifelt werden. Zunächst mal fing es an mit der Angst vor der Evolution, dann kam die Angst vor den frühen historischen Erkenntnissen. Vor gut hundert Jahren gab es den sogenannten Bibel-Babel-Streit, weil man entdeckt hat, dass die Sintflut-Geschichte in der Bibel eine Abschrift aus dem Gilgamesch-Epos war, das im Zwei-Strom-Land vor Tausenden Jahre früher entstanden war, also nicht etwa eine Offenbarung Gottes für die Redakteure des Alten Testaments. Main: Sie sind fast 80 Jahre alt. Ihr Buch wird manch einen verärgern – vor allem in den Kirchen. Warum tun Sie sich das an? Urban: Es ist mir wichtig in meiner Kirche, in die ich hineingeboren und in der ich aufgewachsen bin, meiner Kirche treu zu bleiben. Aber da kann ich nur, wenn ich sowohl Wissenschaftler bleiben kann und Wissenschaftspublizist als auch Mitglied einer Kirche. Das heißt, diese Diskussion muss geführt werden. Sie wird in meiner Familie geführt, sie wird mit meinen Freunden geführt, aber sie muss öffentlich werden. Und das vermeidet die EKD jetzt insbesondere unter ihrem neuen Vorsitzenden. Man kann nicht mehr einfach von Offenbarungen sprechen, wie das üblich ist, seit die Neurowissenschaftler einem sagen können, dass Offenbarung ein kreativer Akt ist, der im Gehirn passiert und nicht von außen. Man kann nicht mehr von einem Geist oder Heiligen Geist gar sprechen, der von außen in das Hirn einwirkt, wenn die Naturwissenschaftler sagen, da gibt es überhaupt keine Bewegung von Neuronen, die die Voraussetzung wäre für so einen Einfluss von außen. Man muss liebgewonnene Vorstellungen aufgeben. Als Kind glaubt man an den Weihnachtsmann und den Osterhasen und das Christkind. Und es ist schmerzlich, wenn man dann mit dem Älterwerden noch als Kind merkt, ja – das sind schöne Geschichten, aber die haben mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Und ähnliche Gefühle haben offensichtlich viele Menschen, wenn sie ihren traditionellen Glauben so nicht mehr leben können. Denn so einfach sind die Verhältnisse nicht - mit dem Wissen, was wir heute haben. Da kann kein Gott oben auf irgendeinem Stuhl thronen. Das sind alles uralte Bilder, die auch zum Teil sehr schön und auch sehr poetisch sind. Aber wenn man dann ganz genau hinschaut, da sind viele dieser Vorstellungen eben Aberglaube geworden. Main Sie sind aber nach wie vor Kirchenmitglied. Was bleibt übrig, wenn man als Naturwissenschaftler Ostern feiert? Urban: Also, in der Tat ist es auch meine Meinung, die ja auch viele Theologen, insbesondere historisch arbeitende Neu-Testamentler teilen, dass das Grab Jesu nicht leer war, er also nicht leibhaftig auferstanden ist. Jesus ist auch nicht Gott geworden, sondern Jesus ist ein gottbegnadeter Mensch gewesen, der alles das entwickelt und uns erklärt hat, was unsere humanistischen Vorstellungen ausmacht. Er war derjenige, der uns deutlich machte, dass Mann und Frau gleichberechtigt sind, dass die fundamentalistischen Vorstellungen seiner jüdischen Umwelt, der Mensch ist für den Sabbat da, und der gesagt hat, nein der Sabbat ist für den Menschen da. Also all das, was das Humanum ausmacht, das verdanken wir Jesus. Und er hat uns ein Bild Gottes vermittelt, das ist auch ein Bild, mit dem die Menschen seit 2000 Jahren leben und sterben und Sinn in ihrem Leben finden können. Und das teile ich. Andreas Main: Und was bleibt übrig, wenn alles, was Spiritualität ausmacht, entkernt wird? Martin Urban: Also ich denke, viele oder fast alle dieser Aussagen, die wir im Glaubensbekenntnis nachsprechen, sind zu relativieren und nicht mehr absolut zu setzen – etwa gar die Vorstellung eines trinitaren Gottes. Jesus selbst hat nicht an die Trinität geglaubt, sonst hätte er sich ja selbst anbeten müssen. Es bleibt übrig – ja, das, was uns Jesus vorgelebt hat. Er hat den Psalm ausgesprochen im Sterben: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Und dazu aber noch immer gesagt: "In deine Hände befehle ich meinen Geist." Er hat die Hoffnung behalten, trotz der Erfahrung, keine Erfahrung mit Gott zu machen. Main: Herr Urban, Sie attackieren große Teile der christlichen Kirchen sehr direkt und offen. Es ist Kirchenkritik, aber an einigen Punkten auch noch grundsätzlicher Religionskritik. Wie ist es aus Ihrer Sicht in diesen Tagen bestellt um eine solche kritische Auseinandersetzung mir Religionsgemeinschaften? Urban: Die gibt es nicht. Wer sich mit dem Fundamentalismus des Islam auseinandersetzen will, und das müssten wir eigentlich, der muss sich erst mit seinem eigenen Fundamentalismus auseinandersetzen, denn Fundamentalismus macht die Menschen unfrei und neigt in allen Religionen zu Gewalt im Namen Gottes.