Agomelatin - Heinrich-Heine

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4. Jahrgang, 4. Ausgabe, 93-116
- - - Rubrik Neue Arzneimittel - - -
Agomelatin – ein neuer Ansatz in der
Therapie depressiver Störungen?
Eine kritische Bewertung
Chronobiologie
Klinische Wirksamkeit
Melatoninrezeptoren
Sicherheit und Verträglichkeit
Pharmakokinetik,
Einnahmezeitpunkt
Warnhinweise,
Vorsichtsmaßnahmen
Agomelatin
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Agomelatin – ein neuer Ansatz in der
Therapie depressiver Störungen?
Dr. rer. nat. Leonora Franke
Charité - Universitätsmedizin Berlin
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Campus Charité Mitte
Charitéplatz 1
10117 Berlin
[email protected]
Lektorat:
Dr. rer. nat. Gernot Kaber, Apotheker
Institut für Pharmakologie und Klinische Pharmakologie
Universitätsklinik, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
PD Dr. med. Christian H. Lange-Asschenfeldt,
Leitender Oberarzt Gerontopsychiatrie
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
der Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Den Fortbildungsfragebogen zur Erlangung eines Fortbildungspunktes zum
Fortbildungstelegramm Pharmazie finden Sie hier:
http://www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/FortbildungstelegrammPharmazie/Kurzportraet.html
Titelbild : Universitätsbibliothek New York , Urheber: Photoprof, Lizenz: Fotolia
Fortbildungstelegramm Pharmazie 2010;4(4):93-116
Agomelatin
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Abstract
Agomelatine is one of the newer antidepressants. It structurally resembles
melatonin, has a high affinity to the
melatonin receptors MT1 and MT2 and is
an agonist to these receptors. A substance with these characteristics may
impact chronobiologic processes in
particular. As such, the timing of the
application of the drug may be an important factor for its antidepressive action.
At the same time agomelatin acts as an
agonist on 5HT2C receptors, although
with a far lower affinity compared to the
melatonin receptors. Other antidepressants, e.g. nefazodone und mirtazepine
also act as direct agonists on 5HT2C
receptors. How these effects of agomelatine contribute to its antidepressive,
anxiolytic and sleep modulating action
remains largely unexplained. Results of
published clinical trials currently allow
the conclusion, that agomelatine with its
new mechanism of action does not
represent a considerable breakthrough in
the treatment of depression. The wellestablished antidepressants and agomelatine have one thing in common: not all
depressive patients benefit from treatment. The response rate in placebocontrolled trials was 46.8 % to 61.5 %
after 6 to 8 weeks of treatment, compared to a response rate of 33.1 % to
46.5 % in the placebo group. Taking
parameter like tolerability, adverse
effects and time to onset of action into
consideration, agomelatine appears to
have a certain advantage. In depressive
patients with sleep disturbances an
improvement in latency to sleep onset
and sleep quality was observed after
only one week of treatment with agomelatine. There were no differences in the
rate of treatment discontinuation due to
adverse effects in the agomelatin compared to the placebo group (3.5 % to 8
%), whereas discontinuation of treatment due to lack of effect was more
often observed in the placebo group
(6.7 % to 13.7 %) compared to the
agmelatine group (1,9 % to 13.0 %).
Abstrakt
Agomelatin, seit Anfang 2009 auf dem
europäischen Markt, ist ein Antidepressi-
vum mit einem neuartigen Wirkmechanismus. Es ist strukturell dem Melatonin
ähnlich, hat eine hohe Affinität zu Melatoninrezeptoren MT1 und MT2 und wirkt
an diesen Rezeptoren als Agonist. Eine
Substanz mit solcher Wirkung könnte
besonders chronobiologische Prozesse
beeinflussen. Demzufolge dürfte auch
das richtige „Timing“ der Agomelatingabe ein wichtiger Faktor für die Entfaltung
seiner antidepressiven Wirkung sein.
Agomelatin ist gleichzeitig auch ein
Antagonist des 5HT2C-Rezeptors, wenn
auch mit deutlich geringerer Affinität als
zu den beiden Melatoninrezeptoren.
Andere Antidepressiva, wie Nefazodon
und Mirtazapin sind ebenfalls direkte
5HT2C-Antagonisten. Wie diese Wirkungen des Agomelatins zum antidepressiven, anxiolytischen und schlafmodulierenden Potential der Substanz beitragen,
ist weitestgehend ungeklärt. Ergebnisse
publizierter klinischer Studien lassen
bisher den Eindruck entstehen, dass
Agomelatin
keinen
nennenswerten
Durchbruch in der Behandlung von
Depressionen
darstellt.
Die
bereits
etablierten Antidepressiva und Agomelatin haben eine Gemeinsamkeit: sie
helfen nicht allen depressiven Patienten.
In plazebokontrollierten Studien lagen
nach 6 bis 8 Wochen Behandlung mit
Agomelatin
die
Responderraten
im
Bereich 46,8 % bis 61,5 %, bei Plazebo
dagegen zwischen 33,1 % und 46,5 %.
Andererseits konnte eine Studie die
anxiolytische Wirkung von Agomelatin
nach 12 Wochen Behandlung bei Patienten mit generalisierter Angst belegen,
die dem Plazebo deutlich überlegen war
(Responderraten 70,7 % und 47,3 %).
Berücksichtigt man einige andere Parameter, wie Verträglichkeit, Nebenwirkungen und Wirkungseintritt, so scheint
Agomelatin einen gewissen Behandlungsvorteil zu haben. Bei depressiven
Patienten mit Schlafstörungen wurde
eine Verbesserung der Einschlaflatenz
und der Schlafqualität bereits nach 1
Woche Agomelatin beobachtet. Es gab
keine Unterschiede zwischen Agomelatin
und Plazebo bei Behandlungsabbrüchen
wegen Nebenwirkungen (3,5 % bis 8
%), wohingegen Abbrüche wegen fehlender Wirksamkeit häufiger bei Plazebo
(6,7 % bis 13,7 %) als bei Agomelatin
(1,9-13,0 %) auftraten.
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Agomelatin
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Einleitung
Ein großes Problem der Depressionsbehandlungen mit Antidepressiva liegt
darin, dass nicht alle Patienten eine
ausreichende Besserung erfahren. Es ist
auch nicht möglich Vorhersagen zu
treffen, ob ein behandlungsbedürftiger
depressiver Patient eher auf das eine
oder
aber
andere
Antidepressivum
ansprechen wird. So wurde in den
letzten Jahren die klinische Bedeutung
von neueren Antidepressiva, wie den
selektiven
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) oder Serotonin- und
Norandenalin-Wiederaufnahmehemmer
(SNRI), kritisch hinterfragt, vornehmlich
in metaanalytischen Übersichtarbeiten
(1,2).
Mitten in dieser Diskussion um die
antidepressive Wirksamkeit von SSRI
und SNRI wurde 2006 ein Zulassungsantrag für ein neues Antidepressivum, das
Agomelatin,
von
der
europäischen
Arzneimittelagentur
(EMEA)
negativ
beschieden, da die Wirksamkeit in Kurzund Langzeitstudien als nicht ausreichend belegt angesehen wurde. Es
bestanden
jedoch
keine
Bedenken
hinsichtlich der Nebenwirkungen, und auf
Grund des neuartigen Wirkmechanismus
konnte das Studienprogramm fortgesetzt
werden. Ein erneuter Antrag, der insbesondere ergänzende Unterlagen zur
Langzeitwirksamkeit enthielt, führte im
Februar 2009 zur Zulassung in Europa
mit der Indikation Depressive Episode
(Major Depression) bei Erwachsenen. Im
April 2009 erfolgte dann die deutschlandweite Markteinführung.
In der Fachliteratur wird Agomelatin
(S20098) erstmalig 1992 erwähnt. Es
gehört zu einer Serie von Naphtalinverbindungen, die strukturell dem Melatonin
sehr ähnlich sind (Abb. 1). Der Austausch des Indolringes im Melatonin
gegen ein Naphthalin-Grundgerüst führte
zu Verbindungen, die nicht so schnell wie
das Melatonin metabolisiert werden.
Agomelatin
(N-(2-(7-Methoxynaphth1yl)ethyl)acetamin,
Handelsnahme
Valdoxan®) ist ein Wirkstoff mit einem
neuartigen pharmakologischen Wirkprinzip. Es hat eine hohe Affinität zu zwei
Melatonin-Rezeptortypen, MT1 und MT2
und wirkt hier als Agonist. Es verdrängt
kompetitiv 2-(125J)-Jodomelatonin aus
seiner Bindung mit geklonten humanen
MT1 und MT2 Rezeptoren, die in verschiedenen Zelllinien exprimiert wurden.
Je nach Zelllinie wurden Ki-Werte zwischen 0,202 nM und 12,9 nM für den
MT1 Rezeptor bzw. zwischen 0,087 nM
und 21,3 nM für den MT2 Rezeptor
gefunden (3,4). Auf Grund dieser Wirkung wurde erwartet, dass das Agomelatin zirkadiane Rhythmen und insbesondere den Schlaf-Wach-Rhythmus beeinflussen kann.
Abb. 1: Strukturformel von Agomelatin
(S20098) und Melatonin
Bindungsstudien mit anderen Rezeptortypen zeigten, dass die Substanz eine
moderate Affinität nur zum 5HT2C–
Rezeptor hat und hier als Antagonist
wirkt. Ein Ki-Wert von 270 bis 700 nM
wurde für den 5HT2C–Rezeptor bei
Mensch und Ratte gefunden (3,5).
Melatonin hat dagegen keine nennenswerte Affinität zum 5HT2C–Rezeptor.
Dieser Unterschied zwischen Melatonin
und Agomelatin wird häufig als Erklärung
dafür verwendet, dass von den beiden
Substanzen nur das Agomelatin antidepressiv wirksam ist (6). Bekanntermaßen
sind auch andere Antidepressiva, wie
Nefazodon und Mirtazapin direkte 5HT2C–
Rezeptor Antagonisten. Der 5HT2C–
Rezeptor steht zurzeit in der Diskussion
als ein neuer Angriffspunkt in der Behandlung von affektiven Erkrankungen
und Angststörungen (7). Es gibt eine
umfangreiche Literatur, in der die Bedeutung des 5HT2C–Rezeptors für depressive
Erkrankungen
unterstrichen
wird (Übersicht in (8)). Selektive 5HT2C–
Rezeptor
Antagonisten
haben
eine
Antidepressiva-ähnliche
Wirkung
in
einigen Tiermodellen (9). Sie erhöhen
die dopaminerge Neurotransmission, was
die Stimmung und kognitive Funktionen
positiv beeinflussen soll (7).
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In den letzten 20 Jahren wurden neue
Gruppen von Antidepressiva entwickelt,
die sich in verschiedenen Wirkstoffklassen einordnen lassen (Tab. 1). Im
Vergleich zu Antidepressiva der ersten
Generation (Trizyklika) ist ihre bessere
Verträglichkeit hervorzuheben. Ob es
Unterschiede in der Wirksamkeit der
Antidepressiva gibt, ist nicht so einfach
zu beantworten. Mit einer neuen Methode einer Netzwerk-Metaanalyse wurde
versucht potentielle Unterschiede beim
Therapieansprechen und der Akzeptanz
zwischen 12 Antidepressiva bei schweren
unipolaren Depressionen zu analysieren
(10). Es wurde eine Rangliste erstellt, in
der die beste Nutzen-Akzeptanz-Bilanz
das Escitalopram, gefolgt von Sertralin
erzielte. Mit der Einführung von Agomelatin wird eine neue Wirkstoffklasse
eröffnet.
den bereits zahlreichen anderen Übersichtsarbeiten oft nicht genannt werden
oder zu kurz kommen, im Zusammenhang mit dem Agomelatin jedoch als
bedeutsam erscheinen. Auch der aktuelle
Wissensstand zur Verteilung der Melatoninrezeptoren im menschlichen Gehirn
soll dargestellt werden. Abschließend soll
auf dieser Grundlage eine unvoreingenommene Bewertung des Agomelatins
im Hinblick auf drei Fragen vorgenommen werden:
Die vorliegende Übersicht ist ein Versuch
aktuelle Daten zum Agomelatin zusammenzutragen und ergänzende Informationen zur Chronobiologie zu geben, die in
ten vom antidepressiven und anxiolytischen Potential dieses Medikamentes profitieren?
• Bringt
Agomelatin einen Durchbruch in der Behandlung depressiver Episoden, wie gelegentlich angenommen wird?
• Sind die Empfehlungen zu Dosie-
rung und Zeitpunkt der Einnahme
optimal?
• Welche Patienten könnten am ehes-
Wirkstoffklasse
Beispiele
Trizyklische Antidepressiva, TZA
(nicht selektive Hemmung der 5HT- und/oder NAWiederaufnahme, d.h. auch Affinität zu muskarinergen, histaminergen und adrenergen Rezeptoren)
>5HT: Clomipramin
SSRI
(selektive Hemmung der 5HT-Wiederaufnahme)
Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin, Citalopram,
Escitalopram
SNRI
(selektive Hemmung der NA-Wiederaufnahme)
Reboxetin
SSNRI
(selektive Hemmung der 5HT- und NAWiederaufnahme)
Venlafaxin, Duloxetin
SNDRI
(selektive NA- und DA-Wiederaufnahmehemmung)
Bupropion
α2-Rezeptor-Antagonist
(Blockade der präsynaptischen α2-Rezeptoren)
Mirtazapin
NaSSA
(Blockade der präsynaptischen α2-Rezeptoren und
postsynaptischer 5HT2 und 5HT3 Rezeptoren)
Mianserin
Melatoninanaloga
(Aktivierung der MT1 und MT2 Rezeptoren, Blockade
des postsynaptischen 5HT2C Rezeptors)
Agomelatin
5HT, NA: Amitriptylin,
Imipramin, Doxepin
>NA: Desipramin, Clomipramin
Tab. 1: 5HT = Serotonin, NA = Noradrenalin, DA = Dopamin, > = überwiegend, TZA =
trizyklische Antidepressiva, NaSSA = noradrenerge und spezifisch serotonerge Antidepressiva.
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Ein Durchbruch in der Behandlung
depressiver Episoden würde beinhalten,
dass das neue Medikament im Vergleich
zu etablierten Antidepressiva in vielen
Hinsichten überlegen ist: ein besseres
Ansprechen und Verträglichkeit, Wirksamkeit auch bei therapierefraktären
Verläufen, sowie geringeres Switchrisiko
in die Hypomanie oder Manie bei bipolaren Depressionen und Verminderung der
Suizidalität. Nach der Zulassung des
Agomelatins bleiben jedoch noch viele
Fragen offen. Die ersten veröffentlichten
Studien haben keinen deutlichen Vorteil
hinsichtlich der antidepressiven Wirksamkeit gegenüber zwei anderen Antidepressiva wie Venlafaxin und Sertralin
gezeigt.
Chronobiologie
Erkenntnisse aus der chronobiologischen
Forschung der letzten 20 Jahren haben
erheblich dazu beigetragen, dass die
zeitliche Organisation vieler biologische
Abläufen deutlich besser verstanden
werden. Der natürliche Wechsel von
Jahreszeiten, Licht und Dunkel beeinflussen den Lebensrhythmus vieler Organismen. Licht hat die Funktion eines
„Zeitgebers“ für alle biologischen Funktionen, die nach einem endogen vorgegebenen Rhythmus im Verlauf des Tages
(oder des Jahres) sich verändern. Der
Schrittmacher (die „innere Uhr“) für
diese Rhythmen befindet sich in einem
Kerngebiet des ventralen Hypothalamus,
dem Nucleus suprachiasmaticus (SCN).
Hier wird eine Periodenlänge, die nur
geringfügig von 24 Stunden abweicht,
generiert. Man spricht daher von zirkadianen Rhythmen. Die „innere Uhr“ wird
immer wieder neu eingestellt, um die
biologische Zeit mit der Umweltzeit zu
synchronisieren. Dies geschieht mit Hilfe
eines
komplizierten
Mechanismus
(entrainment), wobei die wichtigsten
Faktoren für die Synchronisation wahrscheinlich die Helligkeitsunterschiede bei
Sonnenaufgang und Sonnenuntergang
sind.
Mit der Einführung von Elektrizität und
künstlicher Beleuchtung, sowie Schichtarbeit wird der Mensch immer stärker
von
dem
natürlichen
Hell-DunkelRhythmus abgekoppelt. Die innere Uhr
muss also ständig auf „Zeitgeber“ zur
falschen Zeit reagieren. Ihre Flexibilität
hat jedoch Grenzen, es kommt zu Desynchronisationen und gesundheitlichen
Störungen. So leiden z.B. Schichtarbeiter
unter vielfältigsten Beschwerden.
Schlaf und andere physiologische Funktionen, wie Körpertemperatur, Herzfrequenz, Blutdruck und Hormonproduktion
sind
Bestandteile
der
zirkadianen
Rhythmik. So werden Schlafstörungen
als Fehlfunktionen der inneren Uhr
betrachtet (vorverlagertes Schlafphasensyndrom, rückverlagertes Schlafphasensyndrom,
unregelmäßiges
SchlafWachmuster,
Schlafstörungen
bei
Schichtarbeitern, Schlafstörungen bei
Zeitzonenwechsel).
Schlafstörungen gehen häufig einer
depressiven Episode voraus und ein
gestörter Schlaf zusammen mit anderen
Symptomen ist ein starker Prädiktor für
eine zukünftige Depression (11,12).
Bereits vor mehr als 20 Jahren wurden
Störungen zirkadianer Rhythmen bei
unipolaren Depressionen beschrieben
(13). Eine gute Übersicht zu diesen
Fragen findet man bei Monteleone und
Maj (2008) (14).
Obwohl man schon seit längerer Zeit
weiß, dass es bei Menschen erhebliche
individuelle Unterschiede gibt, wie gut
ihre innere Uhr an die Umweltzeit angepasst ist, wird erst in der jüngsten Zeit
diese Tatsache auch außerhalb der
chronobiologischen
Forschung
zur
Kenntnis genommen. Bezüglich der
individuellen Phasenlage und -dauer
unterscheidet man bei Menschen 3
verschiedene „Chronotypen”:
• den Morgentyp,
• den Indifferenztyp und
• den Abendtyp.
Im Vergleich zu Abendtypen gehen die
Morgentypen früher zu Bett und stehen
früher auf. Die Abendtypen zeichnen sich
hingegen durch eine relativ späte Einschlaf- und Aufwachzeit aus (15). Ihr
Schlaf ist also nicht per se gestört. Er ist
nur anders an den Tag-Nacht-Rhythmus
angepasst. Die Diskrepanz zwischen
gesellschaftlichen
Zeitvorgaben
und
biologischem Rhythmus führt bei Abendtypen häufiger zu einem kumulativen
Schlafdefizit im Laufe der Arbeitswoche.
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Eine große epidemiologische Studie an
55.000 Mitteleuropäern hatte gezeigt,
dass Indifferenztypen, deren innere
Zyklusdauer eng mit der Periodik der
Außenwelt übereinstimmt, phylogenetisch bevorteilt sind (16). Die Verteilung
der Chronotypen innerhalb der untersuchten Gesamtpopulation folgte annähernd der Gauß’schen Verteilung, war
jedoch abhängig von Geschlecht und
Alter. Dabei stellten die „Lerchen“ und
„Eulen“ jeweils zwei Extreme innerhalb
eines Kontinuums dar.
Ein einfaches Instrument zur Bestimmung
des
Chronotyps,
der
Morningness/Eveningness
Questionnaire
(MEQ) wurde bereits 1976 von Horne
und Östberg publiziert (17). Die Validierung des Fragebogens erfolgte anhand
der oral gemessenen Temperaturtagesverläufe bei 48 Probanden über 3 Wochen. Es zeigte sich, dass die MorgenTypen gegenüber den Abend-Typen ihr
Temperaturmaximum
(Akrophase)
signifikant früher erreichten (17). Seit
2001 liegt für den deutschen Sprachraum eine validierte Form des MEQ vor
(D-MEQ), die zur Identifizierung der
individuellen Phasenlagen geeignet ist
(18). Der D-MEQ umfasst insgesamt 19
Fragen zu tageszeitlichen Aspekten des
Schlaf-Wach-Verhaltens, der körperlichen Leistungsfähigkeit und subjektiven
Befindlichkeit. Dieser Fragebogen wurde
auch in einigen wenigen Untersuchungen
zum Chronotyp von Patienten mit Major
Depression oder Bipolarer Depression
verwendet (19-22). Abendtypen kommen signifikant häufiger bei depressiv
Erkrankten vor als in der Normalbevölkerung. So scheint eine Phasenverzögerung zirkadianer Rhythmen ein charakteristisches Merkmal für einige, jedoch
nicht alle depressiven Patienten zu sein.
Die „innere Uhr“ im SCN benutzt neuroendokrine und neuronale Mechanismen,
um Zeitinformationen zu vermitteln
(Abb. 2). Das Hormon Melatonin wird als
der beste Marker für die Phasenlage der
„innere Uhr“ bei Menschen gesehen (23).
Seine Hauptfunktion im Körper wird
heute als die eines internen „Zeitgebers“
verstanden. So soll das Melatonin Informationen über Licht und Dunkel, die aus
der Umwelt über die Retina, den SCN
und die Epiphyse kommen, an Zellen und
Organe weiterleiten, um so eine optimale
Anpassung im Stoffwechsel und Verhalten an diese Umwelt zu ermöglichen.
Darüber hinaus haben tierexperimentelle
Untersuchungen gezeigt, dass Melatonin
im Sinne einer Rückkopplungsschleife
auch die Aktivität des endogenen
Schrittmachers
für
die
zirkadianen
Rhythmen direkt beeinflusst.
Abb. 2: Licht als „Zeitgeber“ für die Synchronisation zwischen der inneren biologischen
Zeit und der Umweltzeit - Melatonin wird als der beste Marker für die Phasenlage der
biologischen Uhr gesehen (aus Weblink 3).
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Melatonin
Melatonin
(N-Acetyl-5-Methoxytryptamin) wird als Hormon der Dunkelheit
bezeichnet, da seine Synthese und
Freisetzung in der Nacht ihr Maximum
erreichen (Abb. 3). Hauptort der Melatoninsynthese ist die Epiphyse (Zirbeldrüse, Pinealorgan), die im Gehirn
lokalisiert ist. Die Epiphyse ist ein stark
vaskularisiertes Organ und besteht aus
Pinealozyten, welche das Melatonin
produzieren, und aus Neurogliazellen.
Melatonin kann nicht gespeichert werden
und als lipophile Substanz gelangt
Melatonin per Diffusion durch die Zellmembranen in das Blut und in den
Liquor. Im Blut und Liquor besitzt Melatonin eine Halbwertszeit von 0,5 bis 10
Minuten. Melatonin wird zu 92-95 %
während der ersten Leberpassage eliminiert und metabolisiert. In der Leber wird
Melatonin zum größten Teil mit Hilfe der
beiden Cytochrom P450 Isoenzyme
CYP1A2
und
CYP1A1
zu
6Hydroxymelatonin hydroxyliert. Nach der
Konjugation zu 6-Sulfatoxymelatonin ist
es hydrophil und im Urin ausscheidbar
(Übersicht in (24)).
An dieser Stelle soll darauf verwiesen
werden, dass Melatonin auch in extrapinealen Geweben wie der Retina und der
Mucosa
des
Gastrointestinaltraktes
synthetisiert wird. In den letzten 10
Jahren sind einige Übersichtsarbeiten zur
biologischen Bedeutung des Melatonins
im Gastrointestinaltrakt (GIT) erschienen
(z.B. (25)). Seine Konzentration im GIT
ist deutlich höher als in der Epiphyse.
Die während der Nacht erhöhte Ausschüttung von NA bewirkt bei allen
untersuchten Säugetieren eine Aktivierung des Schlüsselenzyms der Melatoninsynthese,
der
Arylalkylamin
NAcetyltransferase (AANAT) (Abb. 3).
Abb. 3: 24h-Rhythmus der Melatoninsynthese in der Epiphyse. Untersuchungen an
Ratten (Klein, 2007) (25)
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Es gibt jedoch erhebliche Speziesunterschiede bezüglich der Aktivierungsmechanismen, die ausführlich in einer
Übersichtsarbeit von Simonneaux und
Ribelayga (2003) beschrieben werden
(27). Die individuelle Phasenlage und dauer der Melatoninsynthese kann durch
Licht erheblich verändert werden. Eine
Lichtexposition
zum
Zeitpunkt
der
subjektiven Nacht unterdrückt die Synthese.
Melatoninrezeptoren
Zurzeit sind mehrere Plasmamembrangebundene Melatonin-Rezeptoren bekannt, für die verschiedene Nomenklaturen verwendet werden. Die Nomenklatur
des „Commitee for the International
Union of Pharmacology“ ist die zurzeit
gebräuchlichste. Sie unterscheidet 3
Typen des Melatoninrezeptors: MT1
(auch ML1 bzw. Mel1a), MT2 (auch ML1
bzw. Mel1b) und MT3 (auch ML2).
MT1 und MT2 Rezeptoren konnten
kloniert und genauer charakterisiert
werden (28). Beide Rezeptoren sind an
ein Pertussis-Toxin-sensitives inhibitorisches Guaninnukleotid-bindendes Protein
gekoppelt. Eine Melatoninbindung am
Rezeptor hat eine intrazelluläre Inhibition
der Adenylatzyklase zur Folge, was die
Produktion von zyklischem Adenosinmonophosphat (cAMP) verringert (29).
Wirkungen auf cGMP und Phospholipase
C sind ebenfalls bekannt (30).
Untersuchungen zu Lokalisation und
pharmakologischen Eigenschaften von
Melatoninbindungsstellen im ZNS (Radioligand: (125J)-Jodomelatonin) zeigten
erhebliche Speziesunterschiede (31).
Pars tuberalis der Adenohypophyse hat
sich als die anatomische Stelle mit der
höchsten Anzahl von Bindungsstellen von
allen untersuchten Hirnregionen der
Säugetiere erwiesen (32). Später konnte
gezeigt werden, dass der größte Anteil
der (125J)-Jodomelatonin-Bindung dem
MT1 Rezeptor zuzuordnen ist. Die regionale Verteilung des MT1-Rezeptortranskripte wurde hauptsächlich mittels
Reverser
Transkriptase-Polymerase
Kettenreaktion (RT-PCR) und in situ
Hybridisierung untersucht und im cerebralen Cortex, Thalamus, Hypothala-
mus, Cerebellum, Cornea und Retina
nachgewiesen (32).
Zur regionalen Verteilung von Melatoninrezeptoren im menschlichen Hirn gibt es
nur wenige Untersuchungen. Der Nachweis von Bindungsstellen für (125J)Jodomelatonin oder mRNA des MT1
Rezeptors im neonatalen humanen SCN
scheint einfacher zu sein als im adulten
Proben (33). Anders als bei Säugetieren
konnte
keine
spezifische
(125J)Jodomelatoninbindung im adulten humanen Pars tuberalis nachgewiesen werden
(34). Auch eine neuere Untersuchung an
fetalen humanen Hirnproben bestätigt
die Abwesenheit von Melatoninbindungsstellen oder der MT1 Genexpression im humanen Pars tuberalis (35). Mit
Hilfe der in situ Hybridisierung konnten
Mazzucchelli et al (1996) eine breite
Verteilung des MT1 Rezeptortranskriptes
im adulten humanen Hirn zeigen, auch
wenn die Expression sehr gering war
(36). Ein semiquantitativer Vergleich der
Hirnregionen bezüglich der mRNA Mengen ergab folgendes Bild: Cerebellum ≥
occipitaler Cortex ≥ parietaler Cortex >
temporaler Cortex > Thalamus > frontal
Cortex ≥ Hippocampus (36). Es wird
angenommen, dass die akute Inhibition
der Feuerungsrate des SCN durch Melatonin über den MT1 Rezeptortyp erfolgt,
da dieser Melatonineffekt bei MT1-KO
Mäusen ausbleibt (37).
Im Gegensatz zu dem MT1 Rezeptor ist
die Proteinexpression des MT2 Rezeptor
im SCN so niedrig, dass es mit (125J)Jodomelatonin nicht detektierbar ist. Es
gibt jedoch tierexperimentelle Untersuchungen, die belegen, dass der MT2
Rezeptor im SCN dennoch eine physiologische Bedeutung haben muss. Es
konnte gezeigt werden, dass Melatonin,
wenn es in der Morgendämmerung oder
Abenddämmerung appliziert wird, über
diesen Rezeptortyp eine Phasenverschiebung des zirkadianen Rhythmus erzeugt,
da ein MT2-Rezeptor-Antagonist (4PPDOT) diesen Effekt in vitro und in vivo
blockiert (38,39). Welche Bedeutung
physiologische
Melatonin-Konzentrationen für die Regulation des MT2
Rezeptors im nativen Gewebe des SCN
haben, ist wegen der geringen MT2
Rezeptordichte kaum möglich zu untersuchen. Deshalb wird auf neuronale und
nichtneuronale Zellen, in denen der
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humane MT2 Rezeptor überexprimiert
wird, zurückgegriffen (40). Aus den
Versuchen wurde geschlussfolgert, dass
die nächtliche Sekretion des Melatonins
den endogenen MT2 Rezeptor im SCN
desensibilisiert. Möglicher Weise erfolgt
auf diesem Weg eine Neujustierung der
inneren Uhr auf den Tag.
Bezüglich des Agomelatins und seiner
Wirkung auf zirkadiane Rhythmen sind
zwei Untersuchungen an gesunden
Probanden erwähnenswert.
1994 wurde in der Schweiz der Effekt
einer 18:00 Uhr Gabe von 5 oder
100 mg S-20098 und 5 mg Melatonin auf
die Thermoregulation und den Verlauf
der Melatoninausschüttung bei 8 jungen
gesunden Männern (keine Schlafstörungen, extreme Chronotypen ausgeschlossen) untersucht (41). Die Versuchspersonen hielten sich ab 15 Uhr in einem
Raum mit Dämmerlicht (< 10 Lx) auf, ab
23 Uhr wurde das Licht ausgeschaltet.
Im Vergleich zu Plazebo wurde unter
anderem ein signifikant schnellerer Abfall
der Kerntemperatur und der Herzfrequenz nach Gabe von Melatonin und S20098 gefunden. Dieser Effekt war auch
noch am nächsten Abend abgeschwächt
vorhanden und im Vergleich zu Plazebo
immer noch signifikant.
Wie die Abb. 4 zeigt, belegen Messungen der Melatoninkonzentration im
Speichel ein signifikant früheres Einsetzen des Melatoninanstieges nach S20098 im Vergleich zu Plazebo (21:04
(Plazebo), 20:07 (5 mg) und 19:41 (100
mg)). Ob es sich hierbei um eine echte
Vorverlegung des Synthesebeginns von
Melatonin handelt ist nicht eindeutig zu
beantworten. Melatonin wird wie das
Agomelatin über das Isoenzym CYP1A2
metabolisiert. So könnte auch eine
Kompetition zwischen beiden Stoffen
dafür verantwortlich sein, dass das
endogene Melatonin verzögert abgebaut
wird. Allerdings konnte eine Phasenvorverlagerung in der Melatoninproduktion
am nächsten Abend nach der S-20098Gabe gemessen werden.
Eine anderen Studie, durchgeführt in
Belgien an 8 älteren, gesunden Männern
ohne Schlafstörungen (Alter: 51-76
Jahre), hat Schlaf-EEG-Parameter und
Profile der Kerntemperatur und Hormonkonzentrationen (GH, PRL, Cortisol, TSH)
am Ende einer 2-wöchigen abendlichen
(ca. 18:30 Uhr) Einnahme von 50 mg
Agomelatin bzw. Plazebo mit einander
verglichen (42). Schlaf-EEG Ableitungen
wurden zwischen 23:00 und 07:00 Uhr
aufgezeichnet und haben ergeben, dass
es zwischen Plazebo und Agomelatin
keine Unterschiede gab. Da jedoch bei
der Kerntemperatur der AkrophaseZeitpunkt nach 2 Wochen Agomelatin vs.
Plazebo erheblich vorverlegt war (von
23:01 auf 18:13 Uhr), wäre zu erwarten
gewesen, dass die Probanden früher
müde werden und schneller einschlafen.
Der Zeitraum der EEG-Aufzeichnung
blieb jedoch unverändert von 23:00 bis
7:00 Uhr, so ist davon auszugehen, dass
diese
Studie
einen
möglicherweise
früheren Schlafeintritt nach 2 Wochen
Agomelatin gar nicht erfassen konnte.
Abb. 4: Verlauf der Melatoninkonzentration im Speichel nach Gabe von Agomelatin oder Melatonin um 18 Uhr bei
gesunden männlichen Probanden (Daten
aus Kräuchi et al. 1997 (41))
Pharmakokinetik
Dem europäischen Bewertungsbericht
(EPAR) zu Valdoxan® vom 18.03.2009 ist
zu entnehmen, dass die Pharmakokinetik
und/oder Pharmakodynamik an 409
erwachsenen Personen (alle Kaukasier)
untersucht wurden (Weblink 1-2).
Bisher sind diese Daten nicht publiziert.
Nach Einmalgabe (25 oder 50 mg)
werden maximale Plasmaspiegel nach
0,5 bis 4 Stunden erreicht. Die Plasmakonzentrationen unterliegen einer hohen
Fortbildungstelegramm Pharmazie 2010;4(4):93-116
Agomelatin
- 103 -
Variabilität, zu der fetthaltige Speisen
erheblich beitragen. Im therapeutischen
Dosisbereich nimmt die systemische
Agomelatin-Exposition proportional zur
Dosis zu. Bei höherer Dosierung kommt
es zu einer Sättigung des First-PassEffekts. Die mittlere maximale Plasmakonzentration, gemessen bei 8 gesunden
Probanden nach oraler Gabe von 25 mg
Agomelatin wird mit 3,0 ± 2,8 ng/ml
(12,3 ± 11,5 nM) angegeben (EPAR,
2009). Im Vergleich dazu, zeigten
Patienten mit einer Leberzirrhose eine
60-fach (milde Form, Child-Pugh Typ A)
und 110-fach (moderate Firm, ChildPugh Typ B) höhere maximale Plasmakonzentration.
Eine 2000 publizierte Untersuchung, in
der es primär um pharmakokinetische
Modelle für die Vorhersage individuelle
Plasmakonzentrationen ging, hat die
Substanz S20098 (Agomelatin) verwendet (43). Dieser Arbeit ist zu entnehmen,
dass die maximalen Plasmakonzentrationen bei gesunden männlichen Probanden
nach oraler Gabe von 50 mg (n = 24)
zwischen 27,5 und 1258 nM und bei der
30 mg Dosierung (n = 6) zwischen 8,22
und 61,7 nM lagen. Diese extremen
individuellen Unterschiede in Spiegelwerten erschweren die Bestimmung therapeutischer Dosen und können teilweise
auch für ungenügende Wirksamkeit bei
dem einen oder anderem Patient verantwortlich sein.
Die Plasmaproteinbindung beträgt 95 %,
und bleibt auch bei zunehmendem Alter
sowie bei Patienten mit Niereninsuffizienz unverändert. Bei Patienten mit
eingeschränkter Leberfunktion ist der
ungebundene Agomelatinanteil doppelt
so hoch.
Agomelatin wird extensiv hepatisch
metabolisiert.
Nach
in-vitro-Untersuchungen scheint die Metabolisierung
vorwiegend über Cytochrom P450 (CYP),
Isoenzyme
CYP1A2
(90 %)
und
CYP2C9/CYP2C19 (10 %) zu erfolgen.
Ein Hauptmetabolit bei Menschen ist das
weitgehend unwirksame 3-Hydroxy-7Desmethylagomelatin.
Die extensive hepatische Metabolisierung
von Agomelatin ist Ursache für eine hohe
Clearance und die geringe Bioverfügbarkeit. Die absolute orale Bioverfügbarkeit
wird mit 3-4 % angegeben.
80 % des absorbierten Agomelatins
werden vorwiegend in Form von Metaboliten über die Niere ausgeschieden. Die
Plasmaelimination erfolgt in zwei Phasen,
einer ersten Initialphase (t½ = 0,2 h)
und einer zweite, langsameren Phase
(t½ = 1,4 h).
Stoffe, die besonders mit CYP1A2 interagieren, können die Bioverfügbarkeit von
Agomelatin entweder vermindern oder
verstärken. So hemmt Fluvoxamin (ein
starker CYP1A2- Inhibitor) deutlich den
Agomelatinmetabolismus. Dies führt zu
einem 60-fachen (12- bis 412-fachen)
Anstieg der Agomelatinkonzentration.
Daher ist die gleichzeitige Anwendung
von Agomelatin und starken CYP1A2Inhibitoren (z.B. Fluvoxamin, Ciprofloxacin) kontraindiziert.
Die Bioverfügbarkeit von Agomelatin
wird durch das Rauchen verringert. Die
polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffe im Zigarettenrauch induzieren
das Isoenzym CYP1A2. Somit kann
davon ausgegangen werden, dass bei
starken Rauchern bei der Standarddosis
25 mg/d eine Unterdosierung vorliegen
könnte.
Da Frauen eine niedrigere Expression
und Aktivität der CYP3A3, CYP2D9 und
CYP1A2 Isoenzyme haben als Männer
(44), könnte der dadurch verzögerte
Agomelatin-Metabolismus dafür verantwortlich sein, dass bei Frauen höhere
Agomelatin-Konzentrationen im Plasma
gefunden wurden. Auch die Einnahme
eines Kontrazeptivum hat Einfluss auf
Pharmakokinetik und Dynamik (44,45).
Die Kombination von Agomelatin mit
Östrogenen
(mäßige
CYP1A2Inhibitoren) führt zu einer mehrfach
erhöhten Agomelatin-Exposition.
Es liegen keine Daten zum Einfluss der
Rasse auf die Agomelatin Pharmakokinetik.
Zurzeit gibt es keine publizierten Daten
zu Spiegelwerten von Agomelatin im
Verlauf einer Behandlung. Dennoch kann
wegen der kurzen Halbwertzeiten davon
ausgegangen werden, dass nach der
abendlichen Dosis am nächsten Morgen
kein Spiegel mehr nachweisbar sein
wird. Bei einer Substanz, die auf chronobiologische Mechanismen wirkt, ist ein
ständig konstanter Spiegel vermutlich
gar nicht notwendig. Der Spiegel muss
Fortbildungstelegramm Pharmazie 2010;4(4):93-116
Agomelatin
- 104 -
lediglich zum richtigen Zeitpunkt hoch
genug sein, um auf die Synchronisationsmechanismen
der
zirkadianen
Rhythmen einwirken zu können.
Bei Ratten wird Agomelatin rasch im
Körper verteilt. Seine Konzentration im
ZNS ist jedoch relativ niedrig und wird
schnell eliminiert. Überträgt man diesen
Befund auf Menschen, so ist fraglich, ob
eine ausreichende Konzentration des
Agomelatins im ZNS in jedem Fall erreicht werden kann um auch den 5HT2CRezeptor zu beeinflussen. Die Affinität
des Agomelatins zu diesem Rezeptortyp
ist um Faktor 10 bis 100 geringer als zu
den MT1 und MT2 Rezeptoren. Bei einem
Patienten mit extrem niedrigen Plasmakonzentrationen nach oraler Gabe von
50 mg Agomelatin würde eine Dosisverdopplung unter Umständen immer noch
nicht ausreichend sein um therapeutische Spiegel zu erreichen.
Zeitpunkt der Einnahme
Aus chronobiologischer Sicht müsste es
einen
optimalen
Einnahmezeitpunkt
geben, damit das Agomelatin als Agonist
an MT1 und MT2 Rezeptoren wirken
kann.
Für Menschen, deren innere Zyklusdauer
gut mit der Periodik der Außenwelt
übereinstimmt, ist es vermutlich die
Morgen- und die Abenddämmerung. Aus
tierexperimentellen Untersuchungen ist
bekannt, dass gerade zu diesen beiden
Zeitpunkten die MT1 und MT2 Rezeptoren besonders sensibel für das Melatonin
sind. Bei Menschen, die zum Abendtyp
oder Morgentyp gehören, ist die Übereinstimmung zwischen der inneren und
der äußeren Uhr nicht gegeben. Daher
ist zu vermuten, dass der optimale
Zeitpunkt der Agomelatineinnahme bei
diesen Personen verschoben ist.
In dem europäischem Bewertungsbericht
(EPAR) zu Valdoxan® (Weblink 1) wird
ausgeführt, dass der beste pharmakologische Effekt wahrscheinlich bei der
abendlichen
Gabe
(Licht-DunkelWechsel) erzielt wird. So wird die abendliche Dosierung als der günstigste Zeitpunkt bewertet, da niedrige Dosen nach
mehrfachen Einnahmen am Abend eine
Schlafverbesserung und Verkürzung der
Einschlaflatenz in EEG-Aufzeichnungen
gezeigt hatten und die morgendliche
Gabe zur moderaten Sedierung führte.
Diese Beobachtungen waren vermutlich
ausschlaggebend dafür, dass in der
Fachinformation des Herstellers von
Agomelatin empfohlen wird, das Medikament beim Zubettgehen zu nehmen.
Es ist jedoch fraglich, ob diese Festlegung generell den besten Einnahmezeitpunkt darstellt.
Publizierte klinische Studien zum Agomelatin machen entweder keine Angaben
zum Zeitpunkt der Einnahme, oder es
wird der Abend genannt. In den beiden
US-amerikanischen
Studien
(46,47)
sollten die Patienten ihre Medikation eine
Stunde vor dem Zubettgehen einnehmen. Obwohl momentan nicht klar ist,
ob eine Anpassung der Einnahmezeitpunktes an die individuellen Phaselage
der inneren Uhr eine Behandlungsverbesserung bedeuten würde, ist diese
Möglichkeit in Erwägung zu ziehen.
So ist z.B. bekannt, dass bei der Lichttherapie von Winter-Depressionen etwa
70 % der Patienten gut auf eine Lichtexposition in frühen Morgenstunden ansprechen, bei der abendlichen Lichtgabe
sind es nur 30 %. Eine weitere Steigerung der Responderraten kann dadurch
erzielt werden, dass der Chronotyp des
Patienten bei der Festlegung optimaler
Therapiezeiten berücksichtigt wird (48,
49). So liegt bei ausgeprägten Abendtypen der optimale Startzeitpunkt für die
Lichtexposition (10 000 Lux, 30 min
Dauer) zwischen 8:45 und 8:00 Uhr und
bei ausgeprägten Morgentypen bei 4:30
bis 5:00 Uhr.
Wird Melatonin abends oder in der ersten
Hälfte der Nacht gegeben, so führt dies
zu einer Phasenvorverlagerung der
inneren Uhr, einer Einnahme in der
zweiten Nachthälfte oder früh am Morgen ergibt einer Phasenverzögerung. Die
Stärke
dieser
Phasenverschiebungen
hängt von der Melatonindosis ab, wobei
auch Dosen von 0,3 mg erfolgreich sein
können (50,51). Daraus wäre abzuleiten,
dass auch beim Agomelatin in Abhängigkeit davon, ob eine Phasenvorverlagerung oder Phasenverzögerung für den
jeweiligen Patienten erwünscht ist, der
optimale Einnahmezeitpunkt individuell
unterschiedlich sein wird.
Fortbildungstelegramm Pharmazie 2010;4(4):93-116
Agomelatin
- 105 -
Prüfung der klinischen Wirksamkeit
Randomisierte
klinsiche
Prüfungen
(RCTs) gelten heute als die Methode der
Wahl zur Generierung der Evidenz. Das
Ansprechen auf antidepressive Behandlung wird häufig global beurteilt als eine
Besserung auf einer Depressionsskala
(Kasten 1). Geprüft wird im Vergleich
zu Plazebo und/oder im Vergleich zu
einem Standard-Antidepressivum. Zulassungsbehörden gründen ihre Entscheidungen grundsätzlich nicht auf
Meta-Analysen, sondern auf Bewertungen jeder einzelnen Studie.
Es ist bekannt, dass Antidepressiva sich
häufig nicht signifikant vom Plazebo
abgrenzen (52). Vielfältige methodische
Gründe sind hierfür verantwortlich (53).
Deshalb ist es wichtig, Studien mit neuen
Wirkstoffen mindestens dreiarmig anzulegen, d.h. nicht nur gegen Plazebo,
sondern auch gegen ein StandardAntidepressivum zu testen.
Die tägliche empfohlene AgomelatinDosis beträgt 25 mg. Diese Empfehlung
basiert auf zwei Dosisfindungsstudien,
die jedoch keinesfalls eindeutige Ergebnisse geliefert haben. In einer doppelblinden randomisierten Pilotstudie (28
Patienten mit Major Depression aus
Frankreich, MADRS-Punktwert Baseline
mindestens 25) wurden 5 mg/d und 100
mg/d über 4 bis 8 Wochen auf ihre
antidepressive Wirkung getestet (54,55).
Das Medikament wurde abends verabreicht. 9 Patienten haben die Studie
vorzeitig beendet, davon 2 wegen unerwünschter Wirkungen und 4 wegen
fehlender antidepressiver Wirkung. Nach
4 Wochen Behandlung enthielten die 5
mg-Gruppe noch 10 Patienten und die
100 mg Gruppe 9 Patienten. Beide
Dosierungen waren in ihrer antidepressiven Wirkung vergleichbar, die besseren
Ergebnisse wurden jedoch bei der 5 mg
Dosis erzielt. Eine signifikante Besserung
der Depressionssymptome von Woche 2
zu Woche 4 wurde nur in der 5 mg
Gruppe beobachtet. Eine signifikante
Schlafverbesserung trat in beiden Gruppen auf. In der 100 mg Gruppe wurden
häufiger unerwünschte und schwere
Nebenwirkungen erfasst. Aus diesen
Ergebnissen
wurde
geschlussfolgert,
dass 5 mg die effektivere und besser
verträgliche Dosis sei (54,55).
Bewertung der antidepressiven
Wirkung in klinischen randomisierten Studien
Messinstrumente
Hamilton-Depressionsskala mit 17 Items
(HAMD-17)
Montgomery-Asberg-Depressionsskala
(MADRS)
Clinical-Global-Impression Scale (CGI)
Ansprechen (Response)
Rückgang der depressiven Symptomatik
um mindesten 50 %
(Verringerung der Skalenwerte von
HAMD-17 oder MADRS um mindestens
50 % im Vergleich zum Ausgangswert)
Das Erreichen eines CGI-Wertes von 1
oder 2
Remission
Vollständige Wiederherstellung des
ursprünglichen Funktionszustandes oder
ein weitgehend symptomfreier Zustand
nach der Akuttherapie
Rückfall (Relapse)
Wiederkehr der depressiven Symptome
während der Erhaltungstherapie
Eine andere multizentrische, multinationale Studie verglich 1 mg, 5 mg und 25
mg Agomelatin sowie 20 mg/d Paroxetin
mit Plazebo (Patienten aus Finnland,
Kanada und Südafrika, Paroxetin wurde
morgens und Agomelatin abends eingenommen) (56). Endpunkt war die mittlere Änderung des Wertes auf der HAMD17-Skala nach 8 Wochen Behandlung vs.
Baseline. Eindeutige Abstufungen in der
antidepressiven Wirksamkeit der drei
Dosisgruppen waren nicht zu erkennen.
Statistisch schnitt am besten Agomelatin
25 mg/d ab, so dass geschlussfolgert
wurde, dass dies die zu empfehlende
Dosierung sein sollte.
Dennoch belegen die publizierten Daten,
dass die Unterschiede zwischen 1 mg
und 25 mg Agomelatin nur gering waren.
Das Ansprechen auf die Behandlung, der
so genannte Response, war bei Agomelatin 1 mg und 25 mg besser als in der
Plazebogruppe. Auf die Therapie angesprochen haben 62,5 % (1 mg) und
61.5 % (25 mg), was im Vergleich zur
Response in der Plazebogruppe (46,3 %)
Fortbildungstelegramm Pharmazie 2010;4(4):93-116
Agomelatin
- 106 -
für beide Dosierungen signifikant besser
war. Remission trat signifikant häufiger
in der 25 mg-Gruppe auf (30.4 % vs.
15,5 % bei Plazebo). Ob die Remissionsquote bei der 1 mg-Dosis (21.3 %) auch
signifikant besser war als bei Plazebo
wurde nicht berichtet. In der 5 mgGruppe gab es bezüglich Response
(51,4 %) und Remission (17,8 %) keine
signifikanten Unterschiede im Vergleich
zur Plazebo.
Bis Mai 2010 wurden Daten von fünf
doppelblinden, randomisierten plazebokontrollierten Kurzzeitstudien über sechs
bis acht Wochen bei Patienten mit
mittelschweren bis schweren Depressionen publiziert. Hier wurde die mittlere
HAMD-17-Score Änderung gegenüber
dem Basiswert als primärer Endpunkt
definiert. Über eine Plazebo-Verum
Differenz von mindestens 3 Punkten
nach 6-8 Wochen Behandlung (ein
Kriterium, das vom britischen National
Institute of Clinical Excelence (NICE) als
klinisch relevanter Behandlungseffekt
postuliert wurde) haben zwei Studien mit
Patienten aus Frankreich und Finnland
(57) oder aus Finnland, Kanada und
Südafrika (58) berichtet. Eine kleine
Plazebo-Verum-Differenz im HAMD-17
am Endpunkt schließt jedoch nicht aus,
dass es einzelne Patienten in den Gruppen gibt, die von dem Verum eindeutig
profitiert haben. Die Responderraten
lagen zwischen 46,8 % und 61,5 % für
Agomelatin in der Dosierung 25 mg/Tag,
was in 2 von 3 Studien signifikant besser
war als in Plazebogruppen (33,1 % bis
46,5 %) (Abb. 5).
Abb. 5: Responderraten bei depressiven Patienten (5 Studien) und Patienten mit generalisierter Angst (1 Studie) in plazebokontrollierten Studien
Patienten mit depressiver Episode
1. Lôo et al. (2002) (57) - 711 Patienten aus Belgien, Frankreich und Großbritannien randomisiert:
25 mg (137), Placebo (139) und Paroxetin 20 mg (147), Dauer 8 Wochen, Daten von Patienten mit
1 mg (141) und 5 mg (147) Agomelatin sind in der Graphik nicht enthalten
2. Kennedy and Emsley (2006) (58) - 211 Patienten aus Finnland, Kanada und Südafrika randomisiert: Agomelatin (106) und Placebo (105), Dauer 6 Wochen, nach 2 Wochen Dosiserhöhung bei
34 % der Agomelatingruppe
3. Olié and Kasper (2007) (57) - 238 Patienten aus Frankreich und Finnland randomisiert, Agomelatin (120), Placebo (118), Dauer 6 Wochen, nach 2 Wochen Dosiserhöhung bei 25,2 % der Agomelatingruppe,
4. Stahl et al. (2010) (46) - 503 Patienten aus USA randomisiert: 25 mg (168), 50 mg (169);
Placebo (166) Dauer 8 Wochen
5. Zajecka et al. (2010) (47) - 511 Patienten aus USA randomisiert: 25 mg (170), 50 mg(168),
Placebo(173), Dauer 8 Wochen
Patienten mit generalisierter Angst
6. Stein et al. (2008) (46) - 121 Patienten aus Finnland (80) und Südafrika (41) randomisiert: 25
mg (63), Placebo (58), nach 2 Wochen Dosiserhöhung bei 41,9 % der Agomelatin-Gruppe und
43,9 % der Placebogruppe, Dauer 12 Wochen
Fortbildungstelegramm Pharmazie 2010;4(4):93-116
Agomelatin
- 107 -
Es scheint keinen weiteren Vorteil zu
geben, wenn die Dosierung nach 2
Wochen Behandlung von 25 mg auf 50
mg erhöht wird, oder konstant bei 50 mg
liegt. In plazebokontrolierten Studien, in
denen eine flexible Dosierung angewendet wurde, hatten 34 % bzw. 25,2 % der
Patienten eine Dosissteigerung auf 50
mg Agomelatin erhalten (Abb. 5). Ob
dies zu einer Verbesserung des Therapieergebnisses geführt hat, ist aus den
mitgeteilten Daten nicht eindeutig zu
erkennen. Ein Vergleich zwischen Verum- und Plazebo-Patienten, die nach 2
Wochen keine ausreichende Besserung
der depressiven Symptomatik hatten,
ergab in der Studie von Kennedy und
Emsley (2006) einen signifikant stärkeren Abfall des HAMD-17-Scores am
Endpunkt in der Agomelatin-25/50Gruppe (von 26,1 ± 2,6 zu 17,5 ± 7,4)
als in der Plazebo-Gruppe (von 26,7 ±
2,8 zu 20,4 ± 6,0) (58). In der Diskussion wird zusätzlich mitgeteilt, dass die
Responderrate bei 27,8 % (Agomelatin
25/50) und 13,2 % (Plazebo) lagen. Die
Autoren werteten dieses Ergebnis als
Beleg dafür, dass die Patienten von der
Dosiserhöhung profitiert hätten.
In der Studie von Olié und Kasper
(2007) wurden Ansprechquoten von
48,3 % in der Agomelatin-25/50-Gruppe
und 25,9 % in der korrespondierenden
Plazebogruppe ermittelt (57). In beiden
Studien werden keine weiteren Daten für
Patienten mitgeteilt, die nach 2 Wochen
eine ausreichende Besserung der depressiven Symptome hatten und derer
Dosierung bei 25 mg belassen wurde.
Auch die US-amerikanische Studien mit
zwei Agomelatinarmen (25 mg und
50 mg) bringen keinen Aufschluss darüber, dass die höhere Dosierung eindeutig effektiver sei (Abb. 6) (46,47). So
fand die eine Studie mit 503 randomisierten Patienten, dass das Ansprechen
auf 25 mg Agomelatin (eine Stunde vor
Zubettgehen eingenommen), signifikant
besser war als bei Plazebo (HAMD-17
Scores, Response- und Remissionsraten), wohingegen die 50 mg Gruppe
keine statistisch signifikanten Unterschiede zu Plazebo zeigte (46). Bei der
Subanalyse einzelner HAMD-17 Items
war auffallend, dass im Vergleich zu
Plazebo eine signifikante Verbesserung
des Schlafes nach 8 Wochen Behandlung
mit 25 mg jedoch nicht mit 50 mg
Agomelatin auftrat. Die zweite Studie mit
511 randomisierten US-amerikanischen
Patienten und ähnlichem Studiendesign
zeigte, dass die 50 mg Gruppe signifikant besser ansprach als die PlazeboGruppe, und die 25 mg-Gruppe sich
nicht vom Plazebo unterschied (47).
Abb. 6: Responderraten bei depressiven
Patienten nach 6-8 Wochen Behandlung
mit Agomelatin und einem Vergleichsantidepressivum:
1. Lemoine et al. (2007) (60): 332 Patienten
randomisiert (November 2002 – Juni 2004,
Patienten aus Frankreich und Spanien), nach
2 Wochen Dosiserhöhung bei 13,9 % der
Agomelatingruppe und 10,2 % der Venlafaxin-Gruppe
2. Kennedy et al. (2008) (61): 276 Patienten
randomisiert (Patienten aus Kanada, Frankreich und Großbritannien), nach 2 Wochen
Dosiserhöhung in der Venlafaxin XR-Gruppe
3. Kasper et al. (2010) (62): 313 Patienten
randomisiert (2005-2006, Patienten aus
Frankreich, Deutschland, Österreich, Spanien,
Italien, Polen), nach 2 Wochen Dosiserhöhung bei 25,3 % der Agomelatingruppe und
24,5 % der Sertralingruppe
4. Goodwin et al. (2009) (59): 492 Patienten,
offene Studie bis Woche 8-10 (Februar 2005Feruar 2007, Patienten aus Österreich,
Finnland, Frankreich, Südafrika und Großbritannien), nach 2 Wochen Dosiserhöhung bei
20,7 % der Patienten
Die
Responderraten
bei
USamerikanischen Patienten lagen zwischen
41,6 und 49,7 % (Plazebo: 33,1 % und
37,7 %) und somit etwas niedriger als
bei Patienten aus anderen Ländern
Fortbildungstelegramm Pharmazie 2010;4(4):93-116
Agomelatin
- 108 -
(Frankreich, Finnland, Canada, England,
Südafrika) mit einer Response zwischen
49,1 % und 61,5 % (Plazebo: 34,3 % bis
46,3 %). Allen Studien gemeinsam sind
jedoch die geringen Abbruchraten wegen
fehlender therapeutischer Wirkung von
Agomelatin (Tab. 2). Ein sehr hoher
Response nach 8-10 Wochen Behandlung
mit Agomelatin 25 mg (bzw. Steigerung
auf 50 mg nach 2 Wochen bei 20,7 %
der Patienten) hat Goodwin et al (2009)
in einer multizentrischen Studie zur
Rückfallprophylaxe gefunden (59). Von
insgesamt 492 Patienten aus Australien,
Studie
Finnland, Frankreich, Südafrika und
Großbritannien haben 78,6 % eine
Reduktion der depressiven Symptomatik
(HAMD-17) um ≥ 50 % erzielt. Diese
Responder wurden weiter mit Agomelatin
oder Plazebo behandelt und nach 6
Monaten hatten Patienten mit Agomelatin signifikant seltener einen Rückfall der
depressiven Symptomatik erlitten als in
der Plazebogruppe (21,7 % vs. 46,6 %).
Eine andere, nicht publizierte Studie zur
Rückfallprophylaxe konnte keine Unterschiede zwischen Agomelatin und Plazebo feststellen.
Abbruch wegen
Nebenwirkungen
Abbruch wegen fehlender therapeutischer
Wirkung
Depressive Episode
Lôo et al. (2002)
1 mg (n=141)
5 mg (n= 147)
25 mg (n = 138)
Plazebo (n= 139)
Paroxetin 20 mg (n = 147)
Olié and Kasper (2007)
25-50 mg (n= 118)
Plazebo (n=120)
Lemoine et al. 2007
25-50 mg (n= 165)
Venlafaxin 75-150 mg (n=167)
Kennedy and Emsley (2006)
25-50 mg (n = 106)
Plazebo (n=105)
Kennedy et al. 2008
50 mg (n = 137)
Venlafaxin XR 75-150 mg
(n = 139)
Stahl et al. (2010)
25 mg (n=168)
50 mg (n=169)
Plazebo (n=166)
Zajecka et al. 2010
25 mg (n = 170)
50 mg (n = 168)
Plazebo (n = 173)
Kasper et al. 2010
25-50 mg (n= 154)
Sertralin 50-100 mg (n =159)
4,3
6,8
8,0
6,5
6,8
%
%
%
%
%
7,8 %
11,6 %
6,6 %
13,7 %
7,5 %
3,4 %
5,8 %
13,0 %
9,1 %
4,2 %
13,2 %
1,8 %
1,8 %
4,7 %
4,7 %
1,9 %
6,3 %
2,2 %
8,6 %
Keine Angaben
4,3 %
6,0 %
4,8 %
Keine Angaben
4,7 %
6,0 %
6,4 %
2,4 %
3,0 %
2,3 %
3,2 %
8,8 %
2,6 %
5,0 %
Generalisierte Angst
Stein et al. 2008
25-50 mg (n = 63)
Placebo (n= 58)
1,6
0
4,8
5,2
Tab. 2: Abbruchraten wegen Nebenwirkungen bzw. wegen fehlender therapeutischer
Wirksamkeit in publizierten Studien
Fortbildungstelegramm Pharmazie 2010;4(4):93-116
Agomelatin
- 109 -
Interessanter Weise wurden in solchen
Studien, die kein Plazebo, jedoch einen
aktiven
Komparator
verwendeten,
deutlich höhere Responderraten für das
Agomelatin gefunden (≥ 70 %) als in
den plazebokontrollierten Studien (Abb.
5,6) (60-62). Auch hier fällt auf, dass
die meisten Patienten konstant mit 25
mg behandelt wurden, nur bei einem
geringer Prozentsatz wurde die Dosis
nach 2 Wochen Behandlung auf 50 mg
erhöht. Diese Daten sprechen für einen
frühen Wirkungseintritt bei den meisten
Patienten, die gut auf das Agomelatin
ansprechen. In wie weit die speziellen
Patienten mit Dosiserhöhungen nach 2
Wochen
zu
der
ermittelten
Gesamtresponderrate am Endpunkt beitragen, wird in keiner der Studie berichtet.
Die anxiolytische Wirkung des Agomelatins wurde gezielt in einer randomisierten, doppelblinden plazebokontrollierten
Studie an 121 Patienten aus Finnland
und Südafrika mit generalisierter Angst
und ohne andere komorbide psychiatrische Störungen geprüft (63). Die Hamilton-Angstskala (HAM-A) wurde hier
primär zur Bewertung der Wirksamkeit
verwendet. Nach 2 Wochen Behandlung
haben 41,9 % der Patienten in der
Agomelatingruppe (25 mg abends) und
43,9 % in der Plazebo-Gruppe nicht
ausreichend angesprochen, so dass die
Dosierung erhöht wurde. Während nach
2 Wochen 11,1 % in der AgomelatinGruppe und 6,9 % in der Plazebogruppe
als Responder eingestuft wurden, betrug
die Responderrate nach 12 Wochen
Behandlung 70,7 % und 47,3 % entsprechend. Im Vergleich zu Responderraten, die in plazebokontrollierten Studien bei Patienten mit depressiven
Episoden beobachtet wurden (Abb. 5),
ist dies das beste Ergebnis.
In der Agomelatingruppe war die mittlere Score-Reduktion auf der HAM-A Skala
erst nach 6 Wochen Behandlung signifikant besser als in der Plazebogruppe. So
scheint die anxiolytische Wirkung des
Agomelatins bei Patienten mit generalisierter Angst deutlich später einzutreten
als seine antidepressive Wirkung bei
Patienten mit Major Depression, die in
der Regel bereits nach 2 Wochen Behandlung beobachtet wurde. Eine Dosissteigerung auf 50 mg erfolgte deutlich
häufiger bei Patienten mit generalisierter
Angst (41,9 %) als bei Patienten mit
depressiven Episoden in zwei plazebokontrillierten Studien (25,2 % und 34
%). Dies spricht dafür, dass zur Behandlung
von
Angstsymptomen
höhere
Agomelatindosen und längere Behandlungszeiten benötigt werden.
Verträglichkeit
Grundsätzlich wird die Verträglichkeit der
Substanz als relativ gut eingeschätzt.
Nebenwirkungen wurden von den Patienten als mild oder tolerierbar bewertet.
Nebenwirkungsbedingte
Abbruchraten
liegen lediglich bei 3,4 bis 8 %, verglichen mit 4,5 % bis 6,7 % bei Plazebo,
oder 6,8 % bis 13,2 % beim Vergleichsantidepressivum (Tab. 2).
In den beiden US-amerikanischen Studien (46,47) waren die häufigsten
Nebenwirkungen in der Agomelatingruppe:
• Kopfschmerzen (13,3 - 16,3 %),
• Schläfrigkeit (7,1 - 9,1 %),
• Schwindel (7,3 - 8,6 %),
• Diarrhö (7,3 - 10,3 %),
• Übelkeit (6,1 - 12,0 %),
• Sedierung (5,2 - 6,8 %),
• trockener Mund (4,8 - 7,7 %) und
• Nasopharyngitis (5,2 - 3,4 %),
während in der Plazebogruppe
• Kopfschmerzen (14,2 - 17,0 %),
• Diarrhö (6,7 - 7,1 %),
• trockener Mund (7,7 - 8,5 %) und
• Insomnie (6,1 - 10,7 %).
auftraten. Zajecka et al (2010) haben
darüber hinaus festgestellt, dass trockener Mund, Schläfrigkeit, Obstipation und
Nasopharyngitis signifikant häufiger in
der 50 mg-Gruppe als in der 25 mgGruppe auftraten (47). Stahl et al.
(2010) haben dagegen berichtet, dass es
keine Unterschiede in der Häufigkeit von
Nebenwirkungen in den 25 mg und 50
mg Gruppen gegeben hat (46).
In den anderen Studien wurden am
häufigsten solche Nebenwirkungen, wie
Schwindel (9,3 % bis 4,2 %), Kopf-
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schmerzen (9,6 % bis 5,1 %), Nasopharyngitis (6,5 % bis 3,4 %), Influenza
(6,5 % bis 2,5 %), Übelkeit (6,0 % bis
4,2 %) und Diarrhö (4,8 % bis 0 %) für
die Agomelatingruppen genannt.
Bei Patienten mit generalisierter Angst
traten am häufigstem Schwindel (7,9 %
Agomelatin vs, 3,4 % Plazebo ) und
Nausea (4,8 % Agomelatin vs. 1,7 %
Plazebo) auf. Trotz der relativ langen
Behandlungszeitraumes von 12 Wochen
und einer Dosis von 50 mg ab Woche 2
in 41,9 % der Fälle wurde über keine
anderen Nebenwirkungen berichtet.
Sexuelle
Funktionsstörungen
(z.B.
Impotenz, Ejakulations- oder Orgasmusstörungen) sind nicht nur Symptome der
Depression, sondern relativ häufig auch
Folge der Therapie mit Antidepressiva,
insbesondere mit SSRI. Dies führt häufig
zu Therapieabbrüchen bei jungen Patienten. Das Risiko für diese unerwünschte
Wirkung scheint bei Agomelatin auf
Plazebo-Niveau zu liegen (61).
Gewichtsverlust ist ein häufiges Symptom der Depression. Viele Patienten
nehmen während der Remission an
Gewicht zu, unabhängig davon ob eine
antidepressive Pharmakatherapie durchgeführt wird oder nicht. Bei einer Behandlung mit TZA (Tab. 1) kommt es
häufig zu Appetitsteigerung und innerhalb der ersten Behandlungsmonate zu
deutlichen
Gewichtszunahme
(64).
Ähnliches wurde auch für Mirtazapin bei
75 % der Patienten beobachtet (65).
Nach der vorliegenden Datenlage scheint
Agomelatin sich gewichtsneutral zu
verhalten.
Nach abruptem Absetzen von Agomelatin
25 mg traten in einer speziellen randomisierten, doppelblinden Studie seltener
Absetzerscheinungen auf als nach Absetzen von Paroxetin 20 mg (66).
Hepatotoxische unerwünschte Arzneimittelwirkungen unter der Therapie mit
Antidperessiva sind relativ häufig (67).
Bei der schwierigen Bewertung dieser
Wirkungen sind vorbestehende Leberschäden (z.B. virale, medikamentöse,
alkoholtoxische oder auch Fettleber bei
Adipositas) als ein Risikofaktor in Erwägung zu ziehen. Eine frühere Alkoholabhängigkeit auch ohne eindeutige Zeichen
eines chronischen Leberschadens kann
zu hepatotoxischen Arzneimittelwirkungen beitragen (68).
Depressive Patienten haben ebenfalls
häufig Übergewicht oder Adipositas. In
diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass über ALT/AST-Erhöhungen,
die das Dreifache der oberen Normwerte
überschritten,
nur
bei
US-amerikanischen Patienten bisher berichtet
wurde. Die Studie von Stahl et al. (2010)
hat Leberwert-Erhöhungen bei 7 (3,6 %)
Patienten, davon 6 mit 50 mg Agomelatin und bei einem Patienten der Plazebogruppe (1,3 %) beobachtet (46). Der
Anstieg trat zwischen der 6. und 8.
Behandlungswoche auf. In der zweiten
US-amerikanischen Studie wurden bei 7
(4,5 %) der 168 Patienten in der 50 mgGruppe Leberwerterhöhungen beobachtet, jedoch nicht bei den 25 mg- oder
Plazebo-Patienten (47). In beiden Studien werden keine Angaben zum Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit oder
dem BMI dieser Patienten gemacht.
Lediglich bei Zajecka et al. (2010) wird
darauf verwiesen, dass bei 3,1 % der
50 mg-Gruppe eine hepatobiliäre Störung aus der Krankengeschichte bekannt
war, wohingegen nur bei je 0,6 % der
Plazebo- oder 25-mg-Gruppe (47).
In keiner der publizierten europäischen
Studien wurde über Leberwerterhöhungen berichtet. Zum einen wurde in
diesen Studien nur ein geringer Prozentsatz der Patienten mit 50 mg Agomelatin
behandelt oder von 25 mg auf 50 mg
umgestellt, und zum anderen hatten
diese Studien bevorzugt einen Beobachtungszeitraum von 6 Wochen. Auch bei
Patienten mit generalisierter Angst, die
12 Wochen behandelt wurden, wurden
keine Leberwerterhöhungen beobachtet.
Besondere Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen für die
Anwendung
Agomelatin wird für die Behandlung der
Depression bei Kindern und Jugendlichen
bzw. älteren Patienten mit Demenz nicht
empfohlen, da die Unbedenklichkeit und
Wirksamkeit von Agomelatin in diesen
Altersgruppen noch nicht belegt wurde.
Bei Patienten mit Manie oder Hypomanie
in der Anamnese soll Agomelatin mit
Vorsicht eingesetzt werden. Die Behand-
Fortbildungstelegramm Pharmazie 2010;4(4):93-116
Agomelatin
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lung ist abzubrechen, wenn bei einem
Patienten manische Symptome auftreten.
Depressive Erkrankungen sind mit einem
erhöhten Risiko für Suizidgedanken,
Suizidversuche oder einem vollendetem
Suizid verbunden. Daher sollte die
Arzneimitteltherapie mit einer engmaschigen Überwachung der Patienten, vor
allem der Patienten mit hohem Suizidrisiko, besonders zu Beginn der Behandlung
und
nach
Dosisanpassungen,
einhergehen. Dieses erhöhte Risiko
besteht, bis es zu einer signifikanten
Linderung der Symptome kommt. Da
diese nicht unbedingt schon während der
ersten
Behandlungswochen
auftritt,
sollten die Patienten daher bis zum
Eintritt einer Besserung engmaschig
überwacht werden. Die bisherige klinische Erfahrung zeigt, dass das Suizidrisi-
ko zu Beginn einer Behandlung ansteigen
kann.Die gleichzeitige Anwendung von
Agomelatin
mit
starken
CYP1A2Inhibitoren ist kontraindiziert. Bei gleichzeitiger
Anwendung
mit
mäßigen
CYP1A2-Inhibitoren (z. B. Propranolol,
Grepafloxacin, Enoxacin) ist Vorsicht
geboten, da dies zu einer erhöhten
Agomelatin-Exposition führen könnte.
Es liegen nur begrenzt Erfahrungen zur
Überdosierung von Agomelatin vor.
Während der klinischen Entwicklung gab
es vereinzelt Berichte zur Überdosierung
von Agomelatin. Die objektiven und
subjektiven Symptome waren begrenzt
und umfassten Benommenheit und
Schmerzen im Epigastrium. Für Agomelatin ist kein spezifisches Antidot bekannt. Eine Überdosierung sollte symptomatisch und unter laufender Überwachung behandelt werden.
Unter der Behandlung mit Agomelatin wurden erhöhte Transaminase-Werte
nach 6 - 8 Wochen Behandlung, vor allem bei 50 mg Dosierung beobachtet, die
das Dreifache der oberen Normwerte überschritten. Daher sollten bei allen
Patienten Leberfunktionstests zu Beginn der Behandlung und danach im Abstand von ca. sechs, zwölf und 24 Wochen und – wenn klinisch indiziert – auch
darüber hinaus erfolgen. Ein Ausschleichen der Dosis ist beim Absetzen der
Medikation nicht notwendig. Vorsicht ist geboten bei der Anwendung von Valdoxan bei Patienten, die beträchtliche Mengen Alkohol konsumieren oder mit
Arzneimitteln behandelt werden, die zu einer Leberschädigung führen können.
Da der angenommene therapeutische Vorteil einer Dosiserhöhung von 25 mg
auf 50 mg bei Depressionen nicht belegt ist, kann das Risiko erhöhter Leberwerte auch durch Vermeidung hoher Dosierung reduziert werden.
Zusammenfassende Bewertung und
Ausblick
Mehr als 25 Substanzen stehen aktuell
für die antidepressive Pharmakotherapie
zur Verfügung. Verschiedene plazebokontrollierte Studien belegen für diese
Präparate Ansprechraten zwischen 45 %
und 65 % (69). Mit Agomelatin kommt
ein weiteres Antidepressivum hinzu.
Zurzeit ist es jedoch noch nicht möglich,
seinen Stellenwert innerhalb der etablierten Antidepressiva zu definieren. Zu
wenig so genannter „Head-to-HeadStudien“, die einen direkten Vergleich
zwischen dem Agomelatin und einem
Standard-Antidepressivum durchführen,
sind bis jetzt publiziert worden. Zum
anderen kommt hinzu, dass für die
randomisierten Zulassungsstudien eine
strenge Selektion der Patienten erfolgte,
um möglichst homogene Gruppen zu
erhalten. Therapieresistente Patienten,
Patienten mit Suizidversuchen in der
Vorgeschichte oder mit aktueller Suizidalität, sowie Patienten mit einer depressiven Episode im Rahmen bipolarer Störungen wurden nicht eingeschlossen. Ob
die an solchen Patientenkollektiven
gewonnenen Ergebnisse sich auch unter
den Bedingungen des klinischen Versorgungsaltages bewähren werden, ist
unbekannt. Nach der Zulassung des
Agomelatins bleiben also viele Fragen
offen.
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Geht man davon aus, dass plazebokontrollierte, randomisierte Zulassungsstudien für neue Wirkstoffe ihre prinzipielle Wirksamkeit zeigen sollen, so kann
aus den zurzeit vorliegenden Daten
abgeleitet werden, dass das Agomelatin
eine antidepressive Potenz besitzt. Alle
publizierten plazebokontrollierten Studien, einschließlich der beiden USamerikanischen ergaben einen moderaten therapeutischen Vorteil für das
Agomelatin. Die antidepressive Wirksamkeit des Agomelatins scheint in
Kurzzeitstudien im Vergleich zu etablierten Antidepressiva (Venlavaxin oder
Sertralin) nicht schlechter zu sein.
Generell hohe Responderraten (> 70 %)
wurden berichtet. Weitere Vergleichsstudien mit anderen Antidepressiva sind
notwendig, um die hin und wieder
angenommenen
Überlegenheit
von
Agomelatin zu belegen.
Trotz der kurzen Halbwertszeit scheint
eine Einmalgabe des Agomelatins pro
Tag wirksam zu sein. Es gibt jedoch
einen erheblichen Klärungsbedarf bezüglich der eingesetzten Dosierungen. So ist
die vom Hersteller empfohlene Dosiserhöhung von 25 mg auf 50 mg bei Patienten, die nach 2 Wochen Behandlung
nicht ausreichend ansprechen, in 6
Studien angewendet worden. 13,9 % bis
34 % der Studienpatienten haben eine
Dosissteigerung
bekommen.
Diese
Vorgehensweise brachte jedoch offensichtlich keine nennenswerte Verbesserung, da die Autoren über Vergleiche mit
Patienten, die konstant mit 25 mg
behandelt wurden, nichts berichten. Der
Nutzen einer Dosiserhöhung ist somit
fraglich.
Leberwerterhöhungen, wie in zwei USamerikanischen Studien vorwiegend bei
Patienten mit 50 mg Agomelatin beobachtet wurden, sprechen ebenfalls
gegen diese hohe Dosierung. Da die
einzige Dosisfindungsstudie, in der 1 mg,
5 mg und 25 mg Agomelatin mit einander verglichen wurden, auch für die 1mg
Dosis gute Ergebnisse gebracht hatte,
wären weitere Untersuchungen zur
Bestimmung der niedrigsten effektiven
Dosis notwendig. Eine andere, ebenso
wichtige Frage ist der Zeitpunkt der
Agomelatineinnahme. Auch hier ist
anzuzweifeln, in wie weit der Hersteller
mit seiner Empfehlung, das Agomelatin
vor dem Zubettgehen zu nehmen, für
alle Patienten den optimalen Zeitpunkt
trifft. Aus der umfangreichen Forschung
zur Wirkung des Melatonins auf die
Phasenlage zirkadianer Rhythmen geht
eindeutig hervor, dass der Zeitpunkt der
Melatoningabe wesentlich die Richtung in
der Phasenverschiebung bestimmt.
Deshalb müssten Folgestudien klären, in
wie weit eine individuelle Anpassung des
Einnahmezeitpunktes das Absprechen
auf das Agomelatin verbessern kann und
welche Patienten für diese Therapieform
besonders geeignet sind. Hier sind an
erster Stelle bipolare depressive Patienten und Patienten mit saisonalen Depressionen, sowie depressive Patienten
mit eindeutigen Störungen zirkadianer
Rhythmen zu nennen. Die bisher einzige
publizierte
Studie
zur
AgomelatinWirkung bei Patienten mit generalisierter
Angst gibt Hinweise, dass für die anxiolytische Wirkung von Agomelatin höhere
Dosierungen angewendet werden müssten.
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1947 in Jakutien geboren, studierte von 1966 bis
1971 Chemie/Biochemie an der HumboldtUniversität in Berlin, promovierte 1973 am Institut
für Biochemie der Charité unter der Leitung von
Prof. Dr. S.M. Rappoport, seit 1973 in der Klinik für
Psychiatrie der Charité, jetzt Campus Mitte, in
einer Forschungsgruppe tätig, die im gleichen Jahr
von Prof. R. Uebelhack gegründet wurde und sich
mit Störungen im Serotoninsystem bei psychiatrischen Erkrankungen befasst.
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Impressum:
http://www.uni-duesseldorf.de/kojda-pharmalehrbuch/FortbildungstelegrammPharmazie/impressum.html
Fortbildungstelegramm Pharmazie 2010;4(4):93-116
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