Die Mathematik am Oberstufenkolleg – Betrachtungen für Einsteiger

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Die Mathematik am Oberstufenkolleg, so wie ich sie sehe
- Betrachtungen für mehr oder weniger skeptische Einsteiger -
- Dr. Mircea Radu 1. Die Mathematik und das „Dilemma des Kellners“
Ein Kellner wartet in seinem Restaurant auf Gäste. Endlich erscheinen welche. Der Kellner ist
ein erfahrener Mann. Ein Blick genügt ihm um zu erkennen, dass die gerade eingetroffenen
Gäste wohl kaum zu denjenigen gehören, von denen ein ordentliches Trinkgeld zu erwarten
ist. Entsprechend „freundlich“ ist seine Bedienung. Am Ende sind die Gäste von dieser
Bedienung nicht gerade begeistert. Sie zahlen und gehen. Das Trinkgeld fällt dabei recht
mager aus. Jetzt müsste jeder ahnen, wie die Geschichte endet. Der Kellner betrachtet
unzufrieden die wenigen Münzen und denkt: „Ich hab’s ja gewusst!“.
2. Eine Anwendung
Viele haben eine skeptische Haltung gegenüber der Mathematik. „Mathematik? Nein,
danke!“, sagen sie sich. „Ich bin jahrelang daran gescheitert und kann es kaum erwarten ein
Studium aufzunehmen, welches weitgehend ‚mathematikfrei’ ist.“
Am OS ist es nicht ohne weiteres möglich die Mathematik zu vermeiden. Also sieht
sich jede/r Kollegiat/in zunächst gezwungen, sich doch damit zu beschäftigen. Dann machen
viele die folgende Erfahrung.
Man versucht irgendwie mit einer mathematischen Aufgabe fertig zu werden. Man
liest sie durch und findet sie schwierig. Irgendwann schaltet sich die innere Stimme ein. Diese
flüstert einem die ganze Zeit zu: „In Mathe warst du immer schlecht! Du bist schlecht!
Mathematik ist trocken, es macht keinen Spaß! Es ist nur für wenige, für Naturtalente. Diese
Aufgabe ist schwer. Erfahrungsgemäß ist es dir klar, dass du scheitern wirst. Deine
Anstrengung wird am Ende nicht belohnt werden.“
Daraus ergibt sich eine negative Erwartungshaltung gegenüber sich selbst in
Zusammenhang mit der gegebenen Aufgabe. Man behandelt dann die Aufgabe entsprechend.
Nach wenigen Minuten gibt man enttäuscht auf und sagt sich: „Ich hab’s ja gewusst!
Mathematik ist nichts für mich!“.
Meines Erachtens hat man es in einem solchen Fall mit einer klassischen Situation zu
tun, in der das Dilemma des Kellners ,zuschlägt’. Die generelle negative Einstellung
gegenüber der Mathematik beeinflusst die Auseinandersetzung mit der Aufgabe. Sie tötet jede
Hoffnung und jede Motivation. Schlimmer noch, das führt dazu, dass man im Zusammenhang
mit der Mathematik ein Gefühl der Entfremdung hat. Beinahe jede Aufgabe erscheint dann
nicht - so wie es eigentlich sein sollte - als eine produktive Herausforderung, eine günstige
Gelegenheit das eigene Denken zu prüfen, weiter zu entwickeln, zu schärfen und zu stärken.
Sie erscheint eher wie eine lästige Angelegenheit oder gar als eine Bedrohung: als böser
Vorbote des unvermeidlichen Scheiterns. Eine Arbeit, die eigentlich eine produktive
Auseinandersetzung mit der Mathematik sein soll, wird so zur bitteren Strafe. Am Ende
weigert man sich, sich mit der Mathematik zu beschäftigen und erfindet dann allerhand
Vorwände, welche dieser instinktiven Fluchtreaktion einen Hauch von Rationalität verleihen
sollen. Diese Reaktion ist zunächst verständlich. Es lohnt sich aber zu versuchen, sich dem zu
widersetzen.
3. Der Geist und das Gerippe der Mathematik
Viele beschweren sich über ihre schlechten Erfahrungen mit der Mathematik, die sie
irgendwann in der Schule gemacht haben. Diese unangenehmen Erfahrungen haben in der
Regel eine ganz einfache Ursache.
1
Es zeigt sich, dass viele Mathematik nur als eine langweilige „ausführende“ Tätigkeit
kennen gelernt haben. Mathematik ist ihnen vor allem in Form von „Päckchenrechnen“
bekannt. Dabei kommt es nur darauf an, einige Lösungsrezepte zu lernen und diese möglichst
ohne Fehler anzuwenden. Eine solche Mathematik kann man nur so gut es geht bewältigen.
Gefragt ist dann nicht das eigenständige Denken und ein selbstständiges Lernen. Das einzige,
was zu zählen scheint ist, keine Fehler zu machen oder die Fehler so gut es geht zu
vertuschen.
Für uns bedeutet Mathematik etwas anderes. Es ist nicht so sehr das tote Wissen an
sich, das Gerippe der Mathematik, was im Vordergrund steht. Vielmehr geht es um eine
lebhafte, gehaltvolle, beinahe sportliche Auseinandersetzung um mathematische Fragen und
Themen. Vor diesem Hintergrund glaube ich, dass viele, die sich über „die Mathematik“
beschweren oder diese sogar ablehnen, Menschen sind, die – aus welchen Gründen auch
immer – noch niemals der Mathematik begegnet sind. Sie sind zwar ihren trockenen
Techniken, ihrem toten Gerippe also, begegnet. Das Lebhafte, das Interessante ist ihnen
jedoch fern geblieben. Man sollte sich deshalb eine Chance geben, die Mathematik – ich
meine die lebhafte - zu entdecken. Das kann nur dann gelingen, wenn man sich der
Mathematik neu und unvoreingenommen stellt.
4. Von Sherlock Holmes und Dr. Watson lernen
Es ist 1890. Alles passiert irgendwo in England. Das berühmte Rennpferd „Silver Blaze“ wird
eines Nachts aus dem Stall gestohlen. Die Suche nach Dieb und Pferd bleibt erfolglos.
Irgendwann wird der Trainer des Pferds aufgefunden: Er war von einem „heftigen Schlag“
tödlich getroffen worden.
Wer hat das Pferd entführt? Wer den Trainer erschlagen? Verdächtige gibt es viele,
doch eindeutige Hinweise fehlen. Die Frage, mit der sich die Untersuchung immer wieder
beschäftigt, lautet: Was ist in jener finsteren Nacht, als das Pferd gestohlen und der Trainer
erschlagen wurde, eigentlich passiert? An dieser Stelle taucht Sherlock Holmes auf. Der
Inspektor des Scotland Yard, der die Untersuchung führt, sucht nach Rat. Er fragt Holmes:
„Gibt es vielleicht einen Umstand, der uns bislang entgangen ist?“
Holmes: „Das seltsame Ereignis mit dem Hund in jener Nacht.“
Inspektor: „Der Hund? In jener Nacht hat sich im Zusammenhang mit diesem Hund gar nichts
ereignet!“
Holmes: „Genau dieses ist das seltsame Ereignis!“
Holmes hatte vorab nichts weiter als einige recht banale Fragen gestellt. „Hatte es in jener
Nacht einen Wachhund in jenem Stall gegeben?“ Die Antwort war: „Ja“. „Bellte der Hund in
jener Nacht?“ Die Antwort lautete: „Nein“. „Ist der Hund wohlauf?“ Als das bejaht wurde,
fragte er: „Wie ist es möglich, dass ein Wachhund nicht gebellt hat, während jemand
versuchte, heimlich das von ihm bewachte Pferd zu stehlen?“
Die Antwort fällt nun recht einfach aus: Der Dieb muss der Trainer selbst gewesen
sein, weil er mit Sicherheit dem Hund bekannt war. Der Fall ist beinahe gelöst. In solchen
Fällen wundert sich Dr. Watson, Holmes’ Assistent, über die kühne Lösung. Und Holmes
erwidert: „Elementar, mein lieber Watson“. 1
Was hat das alles mit der Mathematik zu tun? Entscheidend für den Erfolg ist die
Bereitschaft, sich mit der Sache zu beschäftigen und es zu wagen einfache Fragen zu stellen.
Manchmal hat man dann recht schnell Erfolg. Manchmal braucht man etwas Geduld. Das
Fragenstellen setzt einen selbstbewussten Lerner voraus. Er muss bereit sein, in
eigenständiger Regie seinen eigenen Lernprozess zu planen und zu steuern.
1
Nach: Hintikka J., Bachmann, J. (1991). What if ... ? London: Mayfield Pub. Co., S. 7.
2
5. Take A Chance on Math!
Das alles mag ja gut klingen. Ist das aber auch realistisch oder ist das alles bloß didaktische
Rhetorik? Die Antwort auf diese Frage muss jeder für sich finden. Das einzige, was ich an
dieser Stelle tun kann ist, jeden dazu zu ermutigen einen ernsthaften Versuch zu wagen.
6. Mathematik = Rechnen, aber Rechnen ≠ Rechnen!
Eine weit verbreitete Volksweisheit sagt, dass Mathematik „Rechnen“ sei. Was aber ist
„Rechnen“? Im Folgenden versuche ich, diese Frage anhand eines wie ich finde schönen
Beispiels zu beantworten.
Ein klassisches Beispiel
Berechne die Summe 1+2+3+…+98+99+100.
Eine andere Formulierung:
Berechne die Summe der ersten hundert natürlichen Zahlen.
Ich werde neun verschiedene wohl bekannte Lösungsansätze für diese Aufgabe darstellen und
kommentieren.
Erste Lösung: Stumpfes Rechnen I
Es ist denkbar, diese Aufgabe „durch Gewalt“ zu lösen, d.h. durch schrittweises Addieren.
Man würde dann etwa wie folgt vorgehen: 1+2=3; 3+3=6; 6+4=10; 10+5=15 usw.
Irgendwann erreicht man das (bittere!) Ende.
Ich nenne diese Lösung „stumpfes Rechnen“, weil es dabei nur um eine mechanische,
ausführende Tätigkeit geht. Der Lösungsweg ist nicht nur mühsam, er lehrt uns auch nichts.
Der Weg ist hier nicht das Ziel! Es geht hier nur um Routine. Das stumpfe Rechnen ist
sicherlich ein Bestandteil der Mathematik, jedoch nur ein kleiner Teil. Außerdem ist es
langweilig.
Zweite Lösung: Effizientes stumpfes Rechnen II
Wenn man ein Wörterbuch oder das Internet durchsucht, wird man rasch feststellen, dass es
dafür eine Formel gibt (siehe
Kasten).
n(n + 1)
1+2+3+…+(n-2)+(n-1)+n=
Hier steht n für eine beliebige
2
natürliche Zahl. Um die
Aufgabe zu lösen, genügt es
Eine andere Formulierung
nun n=100 in die Formel
einzusetzen. Das Ergebnis ist
Die Summe der ersten n natürlichen Zahlen ist
dann 100 × 101/2=5050.
n(n + 1)
Diese
Lösung
ist
effizienter
als
die
erste.
Sie
2
erfordert auch etwas mehr als
jene. Man braucht die
3
Fähigkeit, die angegebene allgemeine Formel zu verstehen und dann die passende Zahl
einzusetzen. Sie bleibt jedoch ein stumpfes Rechnen.
Dritte Lösung: Strategisches Vorgehen; Verallgemeinern
Für die höhere und sogar für die elementare Schulmathematik ist das stumpfe Rechnen (ob
effizient oder nicht) hilfreich und oft unvermeidbar. Es ist jedoch nicht hinreichend! Stumpfes
Rechnen ist im Grunde nichts weiter als ein notwendiges Übel.
Es muss in aller Deutlichkeit gesagt werden: Jemand, der die Mathematik
ausschließlich als ein stumpfes Rechnen begreift und entsprechend betreibt, wird diese
Disziplin niemals beherrschen. Auch wird eine solche Auseinandersetzung mit der
Mathematik frustrierend und unproduktiv sein.
Wie aber könnte eine andere Art Mathematik zu betreiben, eine andere Art zu rechnen
aussehen? Betrachten wir erneut die obige Aufgabe: „Bestimme die Summe der ersten 100
natürlichen Zahlen.“ Wie sollte man mit ihr umgehen?
Aufgaben erweisen sich in der Regel genau dann als schwierig, wenn man sie isoliert
betrachtet. Es ist immer hilfreich, wenn man versucht den Rahmen der Aufgabe zu erweitern,
indem man verschiedene verwandte Aufgaben erzeugt. Man versucht dann nicht bloß eine
Aufgabe zu lösen, sondern eine ganze Gattung von verwandten Aufgaben, die man selbst
erzeugt hat. Wie sollte man das in diesem Fall tun?
Betrachten wir die Aufgabe genauer und erzeugen wir „ähnliche“ Aufgaben.
(i) 1+2+3=?
(ii) 1+2+3+4=?
(iii) 1+2+3+4+5=?
(iv) 1+2+3+4+5+6=?
Usw.
Um diese Aufgaben genauer untersuchen zu können, ist es hilfreich eine Tabelle aufzustellen.
Anzahl der Summanden Summe S=1+2+3+…+n Wert der Summe
n=1
1
1
n=2
1+2
3
n=3
1+2+3
6=3 × 2
n=4
1+2+3+4
10
n=5
1+2+3+4+5
15=5 × 3
n=6
1+2+3+4+5+6
21
n=7
1+2+3+4+5+6+7
28=7 × 4
n=8
1+2+…+8
36
n=9
1+2+..+9
45=9 × 5
n=10
1+2+…+10
55
n=11
1+2+…+11
66=11 × 6
n=12
1+2+…+12
78
Untersuchen wir nun die Zahlen der rechten Spalte und suchen wir nach einer
Gesetzmäßigkeit. Für ein ungerades n erkennt man rasch, dass da ein bestimmtes Muster
vorhanden ist. Wie lässt sich dieses genau beschreiben?
Diese Frage scheint zunächst nicht ganz einfach. Hier ist unsere Beobachtungsgabe
gefordert! Wichtiger noch, man braucht an dieser Stelle Mut, um verschiedene Ideen
vorzuschlagen und zu erproben. Man sollte die mit dieser Herangehensweise verbundene
Unsicherheit als eine positive Herausforderung betrachten.
Wenn wir die Ergebnisse der Summe für die ungeraden Werte von n beobachten,
merken wir, dass sich diese Ergebnisse als Produkte zweier Faktoren schreiben lassen. Der
eine Faktor ist offenbar die Zahl n selbst. Wie lässt sich der zweite Faktor begrifflich
4
erfassen? Er beträgt ungefähr die Hälfte von n. Dieser zweite Faktor lässt sich als
darstellen. Wir sehen also, dass für ungerade Werte von n, S= n
n + 1 n(n + 1)
=
.
2
2
n +1
2
Was passiert, wenn n eine gerade Zahl ist? Testen wir die vorhergehende Formel auch
für diese Zahlen aus. Wir sehen sofort, dass sie auch in diesem Fall funktioniert. Die Aufgabe
ist gelöst.
In diesem Fall haben wir also nicht bloß eine Formel, die wir blind anwenden, sondern
es ist uns gelungen eine allgemeine Formel abzuleiten, die es möglich macht alle Summen
dieser Art zu berechnen.
Vierte Lösung: Zählstrategien I
An einer Versammlung nehmen 101 Personen teil. Bei der Ankunft schüttelt jede Person die
Hand jeder der übrigen 100 Personen. Wie oft wurde ein Händeschütteln registriert?
Diese Aufgabe scheint viel einfacher zu lösen zu sein als die vorangehende. Es gibt
100 Personen. Jede Person schüttelt 100 andere Hände. Insgesamt werden also 101 × 100 Mal
die Hände geschüttelt. Wir sind nicht ganz fertig. Jedes Händeschütteln wird so zweimal
gezählt (weil es zwei Personen involviert). Das Ergebnis lautet deshalb 101 × 100/2.
Diese Zahl erinnert an die vorangehende Formel. Es ist die Formel für die Summe der
ersten 100 natürlichen Zahlen. Ist das Zufall? Um dieses zu klären, versuchen wir die
Handschläge anders zu zählen.
Betrachten wir eine Person, die wir P1 nennen. Diese schüttelt 100 Hände. Betrachten
wir nun eine zweite Person, die wir P2 nennen. Diese schüttelt ebenfalls 100 Hände. Der
Handschlag mit P1 wurde jedoch bereits gezählt. P1 und P2 zusammen schütteln deshalb
100+99 Hände. Betrachten wir nun eine dritte Person, die wir P3 nennen. Diese schüttelt 100
Hände. Ihre Handschläge mit P1 und P2 haben wir jedoch vorhin bereits gezählt. P1, P2 und P3
schütteln deshalb 100+99+98 Hände. Das Prinzip dürfte klar sein. Wir fahren so fort bis wir
zur 100. Person gelangen. Nennen wir sie P100.
Die Summe der bis dahin gezählten Handschläge ist 100+99+98+…+2 (warum?). Was
bleibt für P100 übrig? Wir haben bereits alle Handschläge von P100 mit P1, P2, usw. bis P99
gezählt. Um die Summe der Handschläge der Personen P1 bis P101 zu erhalten, müssen wir nur
noch den Handschlag zwischen P100 und P101 hinzufügen. Die Zahl lautet nun
100+99+98+…+2+1. Wir erkennen leicht, dass wir somit auch alle Handschläge der 101.
Person berücksichtigt haben.
Beide Zählstrategien müssen dasselbe Ergebnis haben. Deshalb muss das folgende
Ergebnis gelten 1+2+3+…+98+99+100=101 × 100/2.
Diese Lösung einer scheinbar anderen Aufgabe liefert eine andere unerwartete Lösung
der ursprünglich gestellten Aufgabe. Wir erkennen so, dass hinter der Summe 1+2+…+n ein
interessantes Zählprinzip steckt. Solche Zählstrategien bilden den Kern einer mathematischen
Disziplin, die man „Kombinatorik“ nennt und die von großer Bedeutung für die
Wahrscheinlichkeitsrechnung ist.
Fünfte Lösung: Zählstrategien II – Der Zusammenhang mit den Vielecken
Betrachten wir ein regelmäßiges 101-Eck. Wie viele Seiten und Diagonalen besitzt es? Der
Verdacht müsste nun aufkommen, dass auch diese Aufgabe nur eine neue Verkleidung der
ersten ist. Um das zu sehen genügt es, jede Ecke als eine Person zu betrachten und jede Seite
oder Diagonale als ein Händeschütteln zwischen zwei Personen. Wir erkennen also, dass
diese Aufgabe mit der vorangehenden identisch ist.
5
P2
P3
P4
P1
P5
P5
Die Figur veranschaulicht den einfacheren Fall mit sechs Personen. Die blauen Strecken
zeigen die Handschläge der Person P1.
Sechste Lösung: Zählstrategien III - Tabellen
Wir versuchen die Anzahl der Handschläge erneut mit Hilfe einer Tabelle zu bestimmen.
Erzeugen wir eine Tabelle, die alle Handschläge zeigt. Die Tabelle zeigt alle Paare, die man
aus den 101 Personen bilden kann. Das fett markierte Sternchen steht für das Paar (P1;P2).
P1
P2
P3
P4
.
.
.
P96
P97
P98
P99
P100
P101
P1 P2 P3
* *
*
*
* *
* * *
P4
*
*
*
…
…
…
…
…
P96
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
…
…
…
…
…
…
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
P97
*
*
*
*
P98
*
*
*
*
P99
*
*
*
*
P100
*
*
*
*
P101
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
*
Jedes Sternchen zeigt einen Handschlag. Die Tabelle enthält 101² Kästchen (Paare). Davon
muss man 101 abziehen, da die Kästchen der Diagonale nicht markiert sind (man
berücksichtigt Paare wie (P1;P1) nicht; keine Person schüttelt sich selbst die Hand). So
erhalten wir 101²-101 Sternchen (Paare; Handschläge). Nun sehen wir, dass hierbei jeder
Handschlag doppelt gezählt wird. Warum? Weil die Tabelle zwischen (P1;P2) und (P2;P1)
101² − 101 101(101 − 1) 101 × 100
unterscheidet. So lautet die Lösung
.
=
=
2
2
2
Siebte Lösung: Flächen und Rechtecke
Die Summe 1+2+3+…+99+100 ähnelt einer Treppe. Einer Treppe?
6
Die Summe 1+2+3+…+9+10 ist beispielsweise die Anzahl der Kästchen des obigen
Diagramms. Wie sollte man aber die Gesamtzahl erfassen? Kästchenzählen? Das bedeutet in
der Regel Flächen berechnen. Flächen? Vielleicht lässt sich unsere Treppe umformen, damit
man ein Rechteck erhält. Am einfachsten geht das so. Man klebt zwei solcher Treppen
zusammen.
Die Fläche des Rechtecks beträgt 10 × 11. Die Fläche der Hälfte der Treppe beträgt dann
10 × 11/2. Ähnlich erhalten wir dann die Formel für die Summe der ersten hundert natürlichen
Zahlen.
Achte Lösung: Die arithmetische Version derselben Lösung
Es ist möglich, dieselbe Idee wie vorhin rein arithmetisch umzusetzen. Es sei
S=1 + 2+ 3+…+98+99+100
S=100+98+97+… +3 +2 +1
Addiert man diese Gleichungen, so erhält man:
2S=(1+100)+(2+99)+…+(99+2)+(100+1)=100 × 101. Wir erhalten so erneut S=100 × 101/2.
Neunte Lösung: Dreieckszahlen
Die hier untersuchte Summe war bereits in der Antike bekannt. Die alten Griechen sahen die
Glieder dieser Summe als Dreiecke an:
7
usw.
T1=1
T2=1+2
T3=1+2+3
T4=1+2+3+4
Allgemein:
T1=1
Tn+1=Tn+(n+1), n ≥ 1 (Die Differenz zwischen der (n+1)ten und der n-ten Dreieckszahl ist n+1)
Tn bezeichnet die n-te Dreieckszahl
Die Lösung, die man mit Hilfe dieser Darstellungen erzeugen kann, ist dieselbe wie die 7.
Lösungsvariante. Was jedoch hervorgehoben werden muss ist, dass die Dreieckszahlen
zahlreiche interessante Eigenschaften besitzen.
Beispiele
1. Die Summe zweier aufeinander folgender Dreieckszahlen ist eine Quadratzahl.
Tn+1+Tn=n²
2. Keine Dreieckszahl kann mit der Ziffer 2, 4, 7 oder 9 enden.
Zahlreiche
Eigenschaften
dieser
http://www.shyamsundergupta.com/triangle.htm
Zahlen
findet
man
unter
Zehnte Lösung: Schnittpunkte
Gegeben sind 101 Geraden. Jede dieser Geraden schneidet jede andere. Durch jeden
Schnittpunkt verlaufen genau zwei Geraden. Wie viele Schnittpunkte gibt es?
8
Der aufmerksame Leser wird vermutlich erkennen, dass wir es hier mit der „gleichen“
Aufgabe zu tun haben. Die vorangehenden Lösungen lassen sich leicht anpassen, um auch
diese Aufgabe zu erfassen.
Rechnen ≠ Rechnen?
In der Mathematik begnügt man sich nicht damit Rechenmethoden auszuführen. Die ständige
Suche nach neuen Rechenwegen ist oft wichtiger. Diese Suche erlaubt die Optimierung
vergangener Rechenwege. Sie erlaubt aber auch etwas anderes. Oft gelingt es dadurch,
unerwartete Verbindungen zwischen unterschiedlichen Aufgaben herzustellen. Die zunächst
unscheinbare Summe 1+2+3+…+n verbirgt, die Lösungen haben es gezeigt, eine Fülle von
unvermuteten Eigenschaften. Es gelingt, unvermutete Verbindungen zwischen verschiedenen
Bereichen der Mathematik herzustellen. Genau darin besteht die eigentliche Würze und
Stärke der Mathematik. Diese Stärke kann (und sollte!), das haben die obigen Lösungen auch
zur Genüge bewiesen, ihren Platz in der Schulmathematik finden!
Einwand
Der Leser mag an dieser Stelle Kritik an dieser Diskussion üben. Um Lösungen zu finden, die
nicht wie die ersten beiden „stumpf“ sind, muss man viel mehr arbeiten. Man kann
befürchten, dass man womöglich mehrere Stunden harter Arbeit benötigt, um Lösungen wie
die letzten sechs zu finden. Allein das Lesen und Verstehen dieser Lösungen erfordert
Konzentration und Zeit. Solche Lösungswege sind also nur etwas für „Mathefreaks“. Für den
normalen Menschen ist das stumpfe Rechnen passender.
Gegenthese
Dieser Einwand greift nur, wenn man das Lösen einer mathematischen Aufgabe als „schnelles
Finden der richtigen Antwort“ betrachtet. Vertritt man diese Auffassung, dann zählen
tatsächlich vor allem:
• die Schnelligkeit
• die Einfachheit der Lösung
• die Sicherheit des Ergebnisses.
Das sind Eigenschaften, die vor allem dann entscheidend sind, wenn es um „Päckchenrechnen“ geht. Entscheidend sind sie nur dann, wenn wir es mit Aufgaben zu tun haben, deren
Sinn allein darin besteht uns die Gelegenheit zu geben, bestimmte Rechentechniken und
bestimmte Methoden, die wir bereits gelernt haben, sicher auszuführen.
Solche Aufgaben, so wichtig sie auch sein mögen, haben jedoch einen wesentlichen
Nachteil. Sie schränken die mathematische Arbeit so stark ein, dass man am Ende kaum noch
zwischen dem Lösen einer mathematischen Aufgabe und dem Kochen eines Fertiggerichts
nach den Anweisungen auf der Packung unterscheiden kann. Wenn man es einseitig betreibt,
droht die Schulmathematik zu degenerieren und zu einer Fast-Food-Mathematik zu werden.
Eine solche, leider oft praktizierte „Mathematik“, hat mit einer intelligenten Leistung gar
nichts zu tun. Es geht dann nicht mehr um Nachdenken, sondern vor allem um eine Art
mathematische Dressur. Eine so betriebene Mathematik fordert eine passive Haltung und so
auch die geistige Unmündigkeit derjenigen, die ihr ausgesetzt sind.
Das Ziel einer „guten“ Aufgabe ist es herauszufordern. Sie muss uns irritieren, unsere
eigenen Grenzen zeigen und uns so helfen oder zwingen diese Grenzen zu überwinden. Dabei
sollte es nicht vordergründig um Schnelligkeit und Fehlerfreiheit gehen, sondern um
eigenständiges Nachdenken. Es gibt eben Rechnen und Rechnen!
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