Buch-Rezension

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SWR2 Cluster 24.07.2013, Musikmarkt extra: Buch-Tipp
„Urbild des modernen Konzertsaals“
Wilfried Wang, Dan Sylvester (Hrsg.)
Hans Scharoun: Philharmonie, Berlin 1956 – 1963
Ernst Waßmuth Verlag ISBN 978-3-8030-0758-2, 39,80 €
Autor: Matthias Nöther
O-Ton: Herbert von Karajan
Rede zur Grundsteinlegung 1960
„Der Geist der Harmonie, dem dieser Bau geweiht ist, möge von hier ausstrahlen zu einem
wahrhaft friedlichen Wiederaufbau von Berlin.“
Grundsteinlegung zur Berliner Philharmonie am 19. September 1960. Herbert von Karajan,
damals seit sechs Jahren Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, hält eine Ansprache.
Zirkus Karajani sollte der Bau danach im Berliner Volksmund genannt werden. In der Tat
ähnelte die neuartige Dachform der Philharmonie, die streng nach akustischen Gesichtspunkten konstruiert war, einem Zirkuszelt. Das neue, aufwendig gestaltete Buch zum
50-jährigen Philharmonie-Jubiläum wirft Schlaglichter auf den zähen Diskussionsprozess
um das Bauwerk, aber vor allem auch auf Scharouns architektonisches Denken, das
schließlich zu diesem späten Hauptwerk führte. Die alte Philharmonie wurde im Zweiten
Weltkrieg zerstört, eine neue musste her. Gemeinsam mit elf anderen Architekten reichte der
62-jährige Scharoun 1956 seinen Entwurf für einen Neubau des Konzertsaals anonym bei
einer Jury ein. Es gab weitaus traditionellere Entwürfe. Der Architekt Wilfried Wang, Autor
des neuen Bandes über die Berliner Philharmonie, spricht über Intrigen, die in 50er Jahren
andere Konzertsaal-Pläne Scharouns verhindert hatten. Auch in Berlin gab es Widerstand
von konservativer Seite.
O-Ton: Wilfried Wang
„Das Ausschlaggebende ist aber, dass die Bauherrenschaft in Berlin eine ziemlich
geschlossene war. Es waren alles Überlebende des Zweiten Weltkriegs, die überzeugt
waren, dass das, was da angeboten wurde, exzeptionell war, sich so unterschied von den
anderen Wettbewerbsbeiträgen – was man heute sehr gut nachvollziehen kann. Wenn Sie
sich die Entwürfe angucken: Da gab‘s einen 50er-Jahre-Stil-Hörsaal, der eigentlich ein
klassisches Barock-Theater darstellt. Also rein oberflächlich mit stilistischen Mitteln
modernisiert wurde. Und da haben die Juroren genau durchschaut, dass das nicht das ist,
was sie sich von einer neuen Architektur erhoffen.“
Doch was genau erhofften sie sich für einen modernen Konzertsaal? Dass die Juroren am
Ende Scharouns ungewöhnlichen Entwurf prämierten, deutet Wilfried Wang als Ausdruck
einer gesellschaftlichen Stimmung. Hans Scharoun habe ein Bauwerk im Sinn gehabt, das
durch und durch aus einem neuen Bedürfnis nach Demokratie heraus gedacht war und sich
sehr konkret von der Architektur der Monarchie und der zurückliegenden Diktatur
abwendete. Bestes Beispiel: die neue Rolle des Zuhörers: Die asymmetrischen Wände des
Raums sind das Ergebnis von zwei ineinander verschränkten Fünfecken. Keine Innenwand
läuft parallel zu einer anderen, und die Wände sind nicht glatt, sondern aufgrund der
unregelmäßig eingelassenen Sitzblöcke vielfach facettiert. Scharoun und sein Akustiker
bauten die Balkone und Vorsprünge, um den Nachhall aktiv gestalten zu können und ihn
auch – ebenfalls etwas ganz Neues – aufs Podium zurückzuschicken, damit die Musiker sich
selbst gut hören konnten. Doch Wilfried Wang betrachtet den vielfältig facettierten
Zuschauerraum auch eine Ebene höher: Seiner Meinung nach verwandelte Scharoun in ihm
das eindimensionale, autoritäre Verhältnis zwischen Sender und Empfänger in eine
mehrdimensionale Kommunikationsform. Es war dem Architekten wichtig ...
O-Ton: Wilfried Wang
„... dass diese Nicht-Gerichtetheit der unterschiedlichen Sitzblöcke einen ganz klaren Zweck
erfüllte, nämlich dass es eine Auflösung der Zentralperspektive gibt, weil es die einzelnen
Gruppen, sowohl das Orchester als auch die Zuhörer, in eigenständigere Elemente deutet.
Und dadurch gibt es eben auch eine Balance zwischen Akteuren und Passiven.“
Auch das flache, von allen Seiten einsehbare Podium hebt die Hierarchie zwischen Musikern
und Publikum auf und wird dadurch, so Wilfried Wang, zu einem konkreten Sinnbild der
Demokratie. Dies alles, betont Wang, sah die Jury im Jahr 1956 als positiven Gegenentwurf
zur Architektur der Nationalsozialisten. Die monumentale Ruhmeshalle, die der Architekt
Albert Speer keine 15 Jahre zuvor für Adolf Hitler entworfen hatte, hätte am Ende 230.000
Menschen gefasst, eine amorphe Masse. Die Frage, was der einzelne Mensch in so einem
Gebäude noch gilt, sollte nun eindeutig anders beantwortet werden.
O-Ton: Wilfried Wang
„Natürlich suchten diese Architekten nach einer Formsprache, die sich eindeutig absetzte
von der Architektur des Neoklassizismus des Speerschen Duktus. Und das hat eine
selbstverständliche kulturelle Logik.“
Ein großes Verdienst des neuen Bandes ist es, klarzumachen, wie Scharouns eigener
geistiger und künstlerischer Weg zur Philharmonie verlief. Die Beiträge zu Architektur und
Geschichte sind in einem unkomplizierten Englisch verfasst, das auch für ein deutsches
Publikum mit durchschnittlichen Englischkenntnissen gut les- und verstehbar ist. Am
eindrucksvollsten sind ohnehin die Bilder. Gleich zu Beginn ist ein Entwurf des 16-jährigen
Hans Scharoun mit dem Titel „Kirche als Fels“ aus dem Jahr 1910 zu sehen – eine kühn
expressionistische Zeichnung, die die Strukturen eines naturhaften Gebildes aufnimmt, um
sie dann in den geometrischen Figuren eines architektonischen Bauplans aufgehen zu
lassen – ebenso wie es der Innenraum der Philharmonie mit seinem abstrahierten
Anklängen an Himmelszelt und Weinberge tut. Mit solchen Entwürfen wurde Scharoun dann
in den 20er Jahren Mitglied der Architektenvereinigung „Gläserne Kette“.
O-Ton: Wilfried Wang
„Die Gläserne Kette ist Ausdruck der Suche der Architekten damals nach einer zeitgemäßen
Alternative zu einer religiösen Bauform, nämlich der Kathedrale. Man wollte ein nichtreligiöses Bauwerk, welches als Mittelpunkt für die neue Gesellschaft fungieren konnte.“
Die Idee, dass sich eine Stadt in der Moderne nicht mehr um eine Kirche, sondern um einen
säkularen Kunsttempel herum gruppieren sollte, hielt sich in Scharouns Denken. Schließlich
war am Ende auch die Berliner Philharmonie als Mittelpunkt eines ganzen Kulturforums
gedacht – auch wenn das unfertige Kulturforum sich Anfang der 60er Jahre nach dem
Mauerbau urplötzlich nicht im Zentrum, sondern am äußersten Rand einer Stadt wiederfand.
Scharouns Vorliebe für leuchtende Baumaterialien folgte ebenfalls dem Glas-Schwerpunkt
der Gläsernen Kette. Schon dort hatte dieses Material einen stadtplanerischen Grund
gehabt: Es sollte dem Gebäude im Mittelpunkt der Stadt eine glänzende Krone aufzusetzen.
O-Ton: Wilfried Wang
„Die Gläserne Kette hatte sich in dieses Baumaterial verliebt, das auch als leuchtendes
Objekt natürlich nachts in der Gemeinde, in der Gemeinschaft funktionieren würde. Und
diese Idee, etwas als Alternative zum Kirchturm in der mittelalterlichen Stadt ... dass man so
etwas entgegensetzen wollte, das ist einer der Ursprungsgedanken. Und das Kulturforum an
sich hat ja auch mit den verschiedenen goldenen Dachelementen diese Stadtkronenthematik
aufgenommen.“'
So kompliziert und immer wieder neu der Raum der Philharmonie dem Konzertbesucher
erscheint, so einfach sind seine Grundprinzipien von Scharoun erdacht. Der heimliche
Höhepunkt des neuen Buches sind die Reprints von Hans Scharouns kleinen Urskizzen zur
Philharmonie aus dem Jahr 1957. Die Musik musste in die Mitte, die Zuhörer nicht vor die
Musiker, sondern im Kreis um sie herum, diesen leitenden Gedanken kann man schon auf
diesen frühen Buntstiftzeichnungen genau erkennen.
O-Ton: Wilfried Wang
„Er sprach eben davon, dass, wenn in einer Stadt auf einem Platz Musiker spielen, dass sich
wie selbstverständlich so eine Art Kreis bildet, so eine Traube. Es sei denn, die Musiker
stehen mit dem Rücken zu einer Wand oder so. Aber sonst ... Stellen Sie ein paar Musiker
auf dem Pariser Platz auf, dann sehen Sie, dass da eine Gruppe sich bildet in Kreisform.“
Natürlich hat es in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Erscheinungen zur Berliner
Philharmonie gegeben. Das Alleinstellungsmerkmal des neuen Buches jedoch ist sein
historischer Abstand zu den architektonischen Diskursen der Nachkriegszeit, was nicht
bedeutet, dass mit diesem Abstand für die Autoren die vielschichtigen Denkprozesse des
Architekten Hans Scharoun im Nebel der Geschichte verschwimmen – im Gegenteil.
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