Auf den Geschmack gekommen?

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Special | Interview
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Ernährung wissenschaftlich zu erkunden und zugleich als Erlebnis erfahrbar
zu machen, ist das Anliegen von Prof. Dr. Angelika PLOEGER. Sie hat die erste
und bislang einzige Professur „Ökologische Lebensmittelqualität und Ernährungskultur“ in Deutschland inne. Ein wissenschaftlicher Schwerpunkt, mit dem Sie
sich seit Jahren befasst, ist die Sensorik. Im Interview mit Heike Recktenwald
beleuchtet Sie das Thema Geschmackserlebnisse und kulturelle Prägung.
Auf den Geschmack gekommen?
EU: Wie bilden wir unsere sensorischen
Präferenzen?
Prof. Dr. Angelika
Ploeger
Universität Kassel,
Witzenhausen,
E-Mail: a.ploeger
@uni-kassel.de
Glossar:
Neophobie = die
Angst vor Neuem,
Unbekanntem
PLOEGER: Bereits bei Säuglingen kann
man Präferenzen für bestimmte Geschmacksarten feststellen. Dies liegt zum
einen daran, dass der Fetus bereits im
Mutterleib über das Fruchtwasser Präferenzen gegenüber süß und salzig entwickelt, eine Prägung, die auch im 1. Lebensjahr noch wirksam ist. Gleichzeitig
hat er Aversionen gegen die Geschmacksrichtungen bitter und sauer.
Man geht heute davon aus, dass die Ernährung der Mutter in der Schwangerschaft, z. B. über Aromakomponenten
im Fruchtwasser, die Präferenzen des
Säuglings bestimmt und auch so
auch kulturelle Unterschiede der Geschmackspräferenzen zu erklären sind
[1]. In der frühen Kindheit, d. h. in der
Altersstufe 1–4 Jahre, prägen sich – umweltabhängig – durch Beobachtungslernen Präferenzen aus, etwa im Elternhaus, später auch in Kindertagesstätten
und Kindergärten. Hierbei spielt das
Thema Vertrautheit von Lebensmitteln
und deren sensorischer Ausprägung wie
Geschmack, Geruch und Textur eine
sehr wichtige Rolle. Ein Essenszwang generell oder für bestimmte Lebensmittel
führt eher zur Ablehnung (Neophobie).
In der Altersstufe von 5–12 Jahren, also
im Schulalter, werden Präferenzen für
bestimmte Lebensmittel durch die sog.
Peer-Groups ausgeprägt: es wird gegessen, was in der jeweiligen Altersstufe gerade „in“ ist, und diese „Initiationsriten“
führen zu einer starken Präferenz für
diese Lebensmittel. Dies wird unterstützt
und ggf. gelenkt durch die Werbung für
diese Lebensmittel in den Medien.
Es gibt ebenfalls Untersuchungen, die
darauf hinweisen, dass Mengenbeschränkungen, z. B. von Süßigkeiten
oder Chips, eher zu einer Bevorzugung
dieser Produkte und Gesundheitsargumente eher zu einer Ablehnung der angepriesenen Lebensmittel führen. Eine
Zusammenfassung wichtiger Studien
wurde 2006 in der Zeitschrift Food Quality and Preference veröffentlicht [2].
In der Pubertät sind Präferenzen bei Jugendlichen dann wenig stabil. Auch hier
prägen selbstverständlich andere Jugendliche und Trends das Verhalten
ebenso wie eine Anti-Eltern-Haltung.
EU: Müssen wir den natürlichen Geschmack unserer Lebensmittel erst wieder
kennenlernen?
PLOEGER: Für viele Kinder, aber auch für
viele Erwachsene trifft dies in der Tat zu.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang,
dass man sich für Lebensmittel – vom
Einkauf bis zur Zubereitung – Zeit
nimmt. Für Viele ist es nur ein Urlaubserlebnis, wenn sie ein Land durch den
Gang über den Markt mit großer Freude
und Staunen sinnlich erfahren. Knackiges Gemüse, der Duft von frischen Kräutern und Gewürzen, die Farbenpracht
der verschiedenen Obstsorten, die Begeisterung für Spezialitäten aus der Region; all das hat wenig Platz in unserem
alltäglichen Leben und der täglichen
Versorgung der Familie mit Essen und
Trinken. Durch den hohen Grad an vorverarbeiteten Produkten ist der sinnli-
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쑺
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che Bezug zu Frischprodukten verloren gegangen und muss erst wiederentdeckt werden.
„Genuss braucht Zeit und
Erfahrung!
“
EU: Wie nehmen Kinder Geschmackserlebnisse wahr?
PLOEGER: Kinder lieben Entdeckungsreisen. Kleine Kinder begreifen, indem
sie Dinge mit ihren Händen oder auch
dem Mund ertasten und prüfen. Gerüche können auf sie emotional beruhigend wirken wie der Geruch der
Mutter oder des Vaters oder bestimmte Gerichte und Getränke, die
sie seit frühester Kindheit kennen. Sie
können aber auch Angst einflößen,
wenn sie neu und sehr prägnant sind.
Wenn Eltern mit ihren Kindern zusammen Mahlzeiten einnehmen und
über das Gericht bzw. die hierfür verarbeiteten Lebensmittel sprechen
sowie offen sind, Neues auszuprobieren, so prägt das auch die Einstellung
von Kindern zu Lebensmitteln – generell, besonders aber für neue Lebensmittel!
Eine kürzlich abgeschlossene Dissertation [3] hat gezeigt, dass es bereits
nach dem Abstillen des Säuglings und
zu Beginn der Breimahlzeiten wichtig
ist, nicht nur auf die altbewährten
Breie von Möhren und Kartoffeln zurückzugreifen, sondern auch hier eine
Vielzahl unterschiedlicher Lebensmittel einzusetzen, auch wenn diese z. B.
bittere Geschmackskomponenten enthalten wie die Artischocke. Länder wie
Italien und Frankreich haben das bereits in ihrer kommerziellen BabybreiProduktpalette umgesetzt.
EU: Wie kann der unverfälschte
Geschmack wieder gelernt werden?
PLOEGER: Durch Übung und Wissensdurst. Bei der Produktentwicklung von
verarbeiteten Lebensmitteln werden
Farb- und Aromastoffe eingesetzt, um
den Verlust an Farbe und Aromen
durch die Verarbeitung auszugleichen
und das Lebensmittel sensorisch an-
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sprechend zu gestalten. Da natürliche
Aromen und färbende Substanzen
häufig teuer sind, werden naturidentische oder künstliche Aroma- und Farbstoffe eingesetzt, die jedoch z. B. nicht
die Komplexizität eines natürlichen
Aromas besitzen. Oft wird auch grob
überdosiert. Häufig erscheinen uns
die Gerüche oder auch der Geschmack als zu „spitz“ oder „nicht
rund genug“.
Es gilt, sich hier wieder dem „Original“
mit den Sinnen des Menschen anzunähern und Lebensmittel – in der Saison – unverarbeitet zu entdecken bzw.
die Verarbeitung dann selber vorzunehmen. Wichtig ist dabei, dass man
dies tatsächlich für Lebensmittel der
Saison tut, speziell bei Obst und Gemüse, da nur dann der Reifegrad optimal, die Aromakomponenten, aber
auch die Ausbildung des ZuckerSäure-Verhältnis typisch ausprägt sind.
Bei der Frage nach dem unverfälschten Geschmack, ist es auch wichtig,
sich über die Sorten eines Lebensmittels kundig zu machen. So kann man
z. B. dem „typischen“ Karotten- oder
Apfelgeschmack auf die Spur kommen. Das Thema Authentizität eines
Produktes, also die Erfahrung, was tatsächlich vom Aussehen, Geruch, Textur und Geschmack eine Möhre zur typischen Möhre macht, kann auch bei
Gesprächen am Tisch durchaus ein
Thema sein.
EU: Schmeckt demnach „Bio“
wirklich anders?
PLOEGER: Vielen Dank, dass Sie die
Frage nicht gestellt haben: „Schmeckt
Bio wirklich besser?“. Denn diese
Frage würden viele Menschen subjektiv aufgrund ihrer eigenen Erfahrung
mit Lebensmitteln beantworten, so
dass diese Antwort eher vom eigenen
Konsumverhalten geprägt ist als von
der tatsächlichen Qualität des Lebensmittels selbst. Daher unterscheidet
man in der sensorischen Forschung
sog. analytische Tests und affektive Tests.
Für die qualitative Beurteilung von Lebensmitteln wählt man z. B. beschreibende Prüfungen, die dazu dienen,
die Merkmaleigenschaften eines Lebensmittels im Detail zu erfassen und
zu beschreiben. Die zu beurteilenden
Merkmale können Farbe, Form, Geruch, Geschmack und Textur sein und
diese Merkmalsbereiche untergliedert
man dann noch in weitere Unterpunkte bzw. beschreibende Parameter.
Neben diesen beschreibenden Prüfungen gibt es auch Prüfungen zur
Diskriminierung wie z. B. die Dreiecksprüfung nach DIN/ISO 4 120
oder auch Duo-Trio-Prüfung nach
DIN/ISO 10 399. In den DIN- und
ISO-Normen der Sensorik sind das
Versuchsdesign sowie die Auswertung
des Prüfverfahrens festgelegt und garantieren damit die wissenschaftliche
Grundlage dieser Methoden.
Aber zurück zu Ihrer Frage: Schmeckt
Bio wirklich anders? Aus meiner persönlichen Erfahrung und aus meiner
wissenschaftlichen Arbeit kann ich
diese Frage mit einem „ja“ beantworten, was u. a. darin begründet liegt,
dass gemäß der EU-Bioverordnung
nur bestimmte Zutaten und technische Hilfsstoffe für diese Produkte zugelassen und in einer Positivliste genannt sind. Daher unterscheiden sich
die Rezepturen von ökologischen Lebensmitteln in der Regel von denen
konventioneller Produkte. Dieser Unterschied in der Rezeptur wirkt sich
auch im Geschmack aus.
Wenn man sich frische Lebensmittel,
z. B. Obst und Gemüse anschaut, so
schmeckt Bio auch hier insofern anders, weil z. T. andere, ursprünglichere
und ertragsärmere Sorten eingesetzt
werden (auch der Ertrag beeinflusst
Mit den Sinnen die Qualität
von Lebensmitteln beurteilen, ist das Ziel einer
sensorischen Prüfung
produkte vorgenommen. Wir stellten
Unterschiede zwischen biologisch und
konventionell erzeugten Produkten
insbesondere im Bereich der Textur,
z. B. Festigkeit der Schale und des
Fruchtfleisches sowie im Geschmacksbereich fest.
EU: Gibt es Wettbewerbsnachteile für
Bio, weil sich Lebensmitteltests an konventionellen Produkten orientieren?
das Aroma, da ein Teil des Gewichts
z. B. nur Wassergehalt ist). Außerdem
beeinflusst die andere Art der Düngung, etwa Kompostdüngung, die
Stickstoffverfügbarkeit für die Pflanze
und damit über das Wachstum und die
Reifeperiode auch den Geschmack.
Wichtig für die geschmackliche Beurteilung von Obst und Gemüse ist das
sog. Zucker-Säure-Verhältnis. Hier
kann man in der Tat für Bio-Produkte
oft ein Zucker-Säure-Verhältnis ermitteln, welches von den Konsumenten
als runder bzw. angenehmer wahrgenommen wird. Weitere Komponenten,
die für den Geschmack, aber auch für
die Farbe von Obst und Gemüse sowie
Getreide wichtig sind, sind die sekundären Pflanzeninhaltsstoffe, z. B. phenolische Substanzen. Auch hier kennt
man Gemüse, die im Bio-Anbau einen
höheren Gehalt an diesen Substanzen
zeigen.
Gerade wurde ein EU-Projekt abgeschlossen, mit dem Namen Quality
Low Input Food [4]. Hier ging es um die
Frage der unterschiedlichen Qualitäten ökologischer und konventioneller
Lebensmittel, zumeist Rohwaren.
Mein Fachgebiet hat in diesem Projekt
die sensorische Analyse einiger Roh-
„Aus meiner persönlichen
Erfahrung heraus:
Ja, Bio schmeckt wirklich
anders!
“
PLOEGER: Die Wettbewerbsnachteile
für biologische Lebensmittel konnte
man zumindest in den Anfängen der
Bio-Bewegung sehen. In den ersten
Jahren wurde keine Auszeichnung bei
der DLG-Prüfung für Bio-Brote vergeben, weil die Brote insbesondere im
Bereich der Textur nicht überzeugten.
Ich denke, die Verarbeitung ökologischer Getreide zu Bio-Brot und BioBackwaren hat hier technologisch
Fortschritte gemacht und kann heute
durchaus mit den konventionellen
Produkten konkurrieren.
Während früher mit Bio häufig auch
das Thema Vollwert verknüpft war, ist
heute auf dem Markt zunehmend zu
beobachten, dass sich beide Bewegungen voneinander gelöst und weiter
entwickelt haben, so dass man mittlerweile auch ein Croissant oder ein Baguette in Bio-Qualität kaufen kann.
Diese Entwicklung wird mit einem lachenden und einem weinenden Auge
gesehen, da zum Einen natürlich der
Marktanteil ökologischer Lebensmittel sich ausweiten soll, auf der anderen
Seite jedoch das Ziel, sich sensorisch
an konventionellen Produkten zu orientieren, auch dazu führt, dass die
ehemals sehr restriktive Positivliste für
die ökologische Verarbeitung ausgeweitet wird.
EU: Welche EU-Forschungsprojekte
halten Sie für zukunftsweisend?
PLOEGER: Auf dem 3. International
Congress on Food und Nutrition
(TÜBITAK) in Antalya [5] im April
dieses Jahres wurde von der EU-DGResearch1 die große Bandbreite der
für die nächsten Jahre avisierten Forschungsbereiche vorgestellt. In Bezug
auf Bio-Lebensmittel gibt es keine eigene Forschungsförderung mehr, son-
dern dieser Aspekt ist im Rahmen der
allgemeinen Forschung zu bearbeiten.
Dennoch ist es spannend, auf den sogenannten Technologie-Plattformen
über zukünftige Forschungsfelder mitzudiskutieren [6].
Ich denke, der Aspekt Bio und Gesundheitsprävention bedarf sicher
noch der weiteren Erforschung im
Rahmen von EU-Projekten. Wobei ein
Vortrag zum Thema Health Claims aufzeigte, dass über die Wirkung spezieller Lebensmittel eindeutige Aussagen
aufgrund der genetischen Varianz der
Menschen nur unzureichend machbar
sind. Wenn ich die Frage nach zukunftsweisender Forschung aus Sicht
der Sensorik sehe, so ist hier sicher das
Thema Nanotechnologie und deren
Einsatz im Lebensmittelbereich ein
großes Feld. Da die EU-Bio-Verordnung keine Positivliste für Prozesstechnologien festlegt, ist theoretisch
auch eine Verknüpfung von Nano und
Bio möglich und dies wird z. Z. in der
Ökoszene heiß diskutiert.
EU: Frau Prof. Ploeger,
herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Literatur
왎
1. Manella J. et al (2001): Prenatal and Postnatal Flavor Learning by Human Infants, Pediatrics 107(6): e88
2. Nicklaus S (2006) Workshop summary: Understanding the development of food preferences
early in life: Focus on follow-up studies. Food
quality and Preference 17: 635 – 639
3. Andrea Maier: Influence des pratiques d’allaitement et de sevrage sur l’acceptation de flaveurs
nouvelles chez le jeune enfant : Variabilité intraet inter-régionale. These de doctorat de l´ universite de bourgogne
4. Ecole doctorale des Sciences de la Vie et de la
Santé Mention : Science de l’Alimentation, 15.
Juni 2007; www.qlif.org/ (Zugriff am: 22.06.
2009)
5. www.tubitak-food2009.org/ (Zugriff am: 22.
06.2009)
6. www.tporganics.eu/ (Zugriff am: 22.06.2009)
1
Das Directorate General (DG) der Europäischen Kommission soll Forschungsvorhaben EU-weit bündeln und
koordinieren. Weitere Informationen: http://ec.europa.
eu/dgs/research/pdf/corporate-brochure_en.pdf
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