Klaus Feldmann Tod und Gesellschaft Klaus Feldmann Tod und Gesellschaft Sozialwissenschaftliche Thanatologie im Überblick 2., überarbeitete Auflage Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar. 2., überarbeitete Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. 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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17350-4 Inhalt Einleitung 7 Überlegungen zu einer Soziologie des Sterbens und des Todes Strukturierung des Arbeitsfeldes Der Körper und der physische Tod 10 17 24 Mortalität und Gesellschaft Geschlechtsspezifische Unterschiede der Mortalität Mortalität und soziale Schicht 29 33 36 Sozialgeschichte des Todes Vorindustrielle Kulturen Geschichte des Todes im Abendland 39 39 44 Todesbewusstsein und Todesideologie Verdrängung des Todes Der ‚natürliche’ Tod: das moderne Todesideal? Wert des Lebens, Lebens- und Sterbequalität Konzepte der Entwicklung des Todesbewusstseins Zeichen und Bilder des Todes und die Medialisierung Seele und Unsterblichkeit 58 59 79 84 89 97 112 Das soziale Sterben Soziales Sterben und Töten in traditionellen Kulturen Soziales Sterben in der modernen Gesellschaft 126 128 132 Bürokratisierung und Professionalisierung Professionalisierung und staatliches Todesmonopol Hospizbewegung 140 145 150 Der gute Tod, Euthanasie und Sterbehilfe Der gute Tod Euthanasie und Sterbehilfe 154 154 159 5 Suizid Theorien des Suizids Suizidologie und die Gestaltung einer humanen Gesellschaft 176 177 204 Das Töten von (anderen) Menschen Lebensminderung Der gewaltsame Tod und die Sanktionierung des Tötens Gesellschaftliche Ursachen und Folgen des Tötens Soziales Töten Exkurs: Sexualität und (gewaltsamer) Tod 209 209 210 213 220 221 Das kollektive Sterben und Töten, der Krieg Der Krieg Moderne Tötungssysteme Genozid und Angst vor dem Untergang des eigenen Kollektivs 226 227 233 238 Trauer, Erinnerung und soziale Restrukturierung Der Tod in der modernen Familie 241 246 Die Zukunft von Sterben und Tod 252 Literatur 263 6 Einleitung Thanatos ist der griechische Gott des Todes, der ältere Bruder von Hypnos, dem Gott des Schlafes. Er geleitet die Menschen in die Unterwelt, zum Hades. Thanatologie1 ist die interdisziplinäre Wissenschaft des Todes, für die jedoch nicht nur im deutschen Sprachraum bisher keine eigenständige Lehr- und Forschungsstelle geschaffen wurde.2 Diese nomadisierende Wissenschaft wird von Theologen, Philosophen, Medizinern, Psychologen, Historikern, Soziologen, Ethnologen und anderen Spezialisten heimgesucht – und meist wieder nach einiger Zeit verlassen. Es gibt vielfältige Gründe für die mangelhafte wissenschaftliche Institutionalisierung der Thanatologie: Diffusion des Todes innerhalb der modernen Gesellschaft (verschiedene Institutionen, Professionen, Wissenschaften etc.). Sterben und Tod werden je nach Subsystem (Wirtschaft, Politik, Erziehung, Gesundheit, Religion, Medien, Kunst, Naturwissenschaft etc.) unterschiedlich verarbeitet und verwaltet. Mächtige Professionen und wissenschaftliche Disziplinen besetzen die nach ihren Interessen und Codes geformten Felder. Verhinderung der Institutionalisierung neuer Wissenschaftsbereiche durch die alten herrschenden Disziplinen. Sterbende und Tote haben keine Lobby. Eine eigenständige thanatologische Professionalisierung hat aus den genannten Gründen nicht stattgefunden. Bei Diskussionen und Entscheidungen im Todesbereich werden Sozialwissenschaftler kaum einbezogen, sondern hauptsächlich Angehörige der medizinischen, der rechtlich-politischen, militärischen und kirchlichen Subsysteme. Von 1 Thanatologie wird nicht einheitlich bestimmt. Es gibt z.B. sehr eingeschränkte Definitionen: „Unter ‚Thanatologie’ (griech. thanatos = Tod) versteht man die Wissenschaft von den Ursachen und Umständen des Todes“ (Madea/ Dettmeyer 2007, 68). 2 Das international anerkannte thanatosoziologische Forschungs- und Lehrzentrum der EU befindet sich an der University of Bath in Großbritannien. Einen Überblick über thanatologische Organisationen in verschiedenen Ländern gibt Lubberich (2010). 7 der Empfängnis bis zum Grabe werden die Menschen inzwischen medizinisch betreut und staatlich überwacht. Die dünnen Stimmchen kritischer Sozialwissenschaftler gehen in den kräftigen Männerchören der Mediziner, Politiker und Bischöfe unter. Menschliches Leben wird vom Anfang bis zum Ende medizinisch und rechtlich kontrolliert. Die öffentlichen Stellungnahmen zu Sterben und Tod haben einen normativen Überhang. In der Medienöffentlichkeit auftretende Funktionäre äußern massive Wertungen im Interesse ihrer Organisationen – ohne eine fundierte wissenschaftliche Basis zur Verfügung zu haben. Sowohl die theoretischen Grundlagen als auch die empirischen Forschungen über Sterben und Tod entsprechen häufig nicht den Standards, die z.B. in der Werbeforschung gelten, obwohl Arbeitsteilung und Professionalisierung in Teilbereichen entwickelt wurden: Sterbehilfe, Palliativpflege, Bestattungsriten, Trauer, Suizid, Mord, Krieg etc. werden jeweils von spezialisierten Medizinern, Historikern, Psychologen, Ethnologen, Suizidologen, Kriminologen oder Militärwissenschaftlern bearbeitet, wobei der Gesamtzusammenhang kaum bzw. nur klischeehaft thematisiert wird. Betrachtet man die moderne Gesellschaft systemtheoretisch, dann besteht sie vor allem aus teilautonomen Subsystemen (Luhmann 1984). Nach Luhmann verarbeiten die gesellschaftlichen Subsysteme ‚Umwelt’, zu denen die konkreten Menschen gehören, gemäß ihren Codes, also kann z.B. das Subsystem Wissenschaft mit Gefühlen nicht ‚direkt’ umgehen, sondern sie nur in psychologische oder andere wissenschaftliche Begriffe und Theorien ‚transformieren’. Es gibt also nicht ‚das Sterben’ oder ‚den Tod’ in der Gesellschaft, sondern nur viele verschiedene ‚Übersetzungen’ (Preise, Einfluß, Macht, Wahrheit und andere Codes) einer anthropologischen Grundproblematik. Dies soll beispielhaft in Abbildung 1 dargestellt werden. Dieser Einblick in die gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Subsysteme, Institutionen und Felder gibt Hinweise auf die Vielfalt der Herangehensweisen, Professionalisierungen, Perspektiven, gruppenspezifischen Interessen und Interaktionspotenziale. Eine – fragmentierte – Gesamtschau wird in Lexika oder Enzyklopädien angeboten (Wittwer/ Schäfer/ Frewer 2010; Bryant 2003; Bryant/ Peck 2009; Kastenbaum 2003; Howarth/Leaman 2001). Obwohl eine Person von einem solchen Unternehmen überfordert wird, soll diese Schrift einen Überblick über die Soziologie von Sterben und Tod bieten, der weder zu undifferenziert ist, noch im Sumpf der Fakten ertrinkt. Eine solche Bereichsschau dient nicht nur akademischen Zwecken, also der Lehre und Forschung, und der Weiterbildung der Professionellen in den genannten Bereichen, 8 sondern auch der allgemeinen Aufklärung in einer gesellschaftlichen Situation der sich erweiternden persönlichen Sinngebung und der öffentlichen Konflikte. Abbildung 1: Politik Recht Wirtschaft Medizin Religion Medien Kunst Bildung Biologie Ethnologie Geschichte Psychologie Soziologie Sterbethemen in Subsystemen Beispiele für Themen Gewaltmonopol, Militär, Krieg, Terror Strafrecht, z.B. Todesstrafe, Mord, Tötung auf Verlangen Lebensversicherung, Rüstungsindustrie Lebensverlängerung, Dauerkoma, Reproduktionsmedizin Totenkult, Jenseitsvorstellungen, ars moriendi reale und fiktive Bilder des gewaltsamen Todes Ausdruck für intensive Emotionen, z.B. Trauer death education, „totes” Wissen, Bewahrung vergangener Kultur Genetik, Alterungsprozess Vergleich von Kulturen und Todeskulten historische Entwicklung der Todesvorstellungen Einstellung zum Sterben, Todesangst Mortalität und soziale Ungleichheit Kurz weise ich noch auf vergleichbare Produkte hin: zwei neuere Werke aus Großbritannien und Frankreich. Howarth (2007) geht ausführlich auf Risikobewertung, Medikalisierung, die Hospizbewegung, die Untersuchung von Todesursachen, moderne Totenrituale, Trauer und Spiritualität ein. Clavandier (2009) bezieht sich in ihrem Buch „Sociologie de la mort“ vor allem auf die französischsprachige Literatur, d.h. philosophische und ethische Fragen spielen eine zentrale Rolle, die intellektuelle Distinktion wird hoch bewertet und die angelsächsische Theorie und Empirie wird kaum einbezogen. 9 Überlegungen zu einer Soziologie des Sterbens und des Todes Thanatosoziologie, die Soziologie des Sterbens und des Todes, ist innerhalb der deutschsprachigen Soziologie ein schwach entwickeltes Gebiet (Feldmann 2003, 2010a). Im britischen bzw. anglophonen Bereich ist die Lage günstiger (Walter 2008). Außerdem wird die Orientierung durch Theorievielfalt erschwert, wobei es Modeströmungen gibt, z.B. die Vorliebe für postmoderne Konzeptionen (Baudrillard, Bauman) und Foucault in den 80er und 90er Jahren. Außerdem wird häufig an die nationalen Gestalten angeschlossen, britische Soziologen wählen Giddens, französische Thomas und deutsche Luhmann oder Habermas. Nur das schmale Büchlein „Über die Einsamkeit der Sterbenden“ von Elias (1982) wurde von Thanatologen aller drei Nationen rezipiert. Auch wie man sich dem Thema nähert, ist von sozialen und historischen Bedingungen abhängig. Durkheim hat als Franzose, der im 19. Jahrhundert die grande nation gefährdet sah3, das Thema Suizid behandelt, da er die Suizidrate als Indikator für Integration und Stabilität eines Kollektivs ansah. Jahrzehnte lang haben viele durch die Brille der Verdrängung des Todes das Feld betrachtet. In der neueren britischen Soziologie wird u.a. der Zugang zu dem Thema über die Soziologie des Körpers gewählt (Seale 1998, 11 ff; Howarth 2007, 177 ff). Es gibt verschiedene Möglichkeiten, in das Reich der Thanatosoziologie einzutreten. Auf vier Wegen wird es hier versucht: 1. 2. 3. Im sozialwissenschaftlichen Raum nach Sterben und Tod suchen. Die Leitgestalten der Soziologie befragen (vgl. Feldmann/Fuchs-Heinritz 1995a). Grundlagentheorien für eine Erörterung des Themas heranziehen. 3 Ende des 19. Jahrhunderts wurde das französische Volk als „sterbend“ und das deutsche Volk als „fruchtbar“ und „wachsend“ bezeichnet. 10 4. Die historische Entwicklung thanatosoziologischen Denkens nachzuvollziehen. In den meisten sozialwissenschaftlichen Theorien und Untersuchungen wird der Tod nicht thematisiert – sowohl der Tod von Individuen als auch von Kollektiven oder anderen sozialen Gebilden. Das Individuum, die Familie, die Gruppe und die Gesellschaft wachsen, wandeln sich, erfüllen Funktionen, integrieren und desintegrieren sich, doch über ihr (unvermeidliches!) Ende wird kaum gesprochen oder geschrieben. Implizit tradieren die meisten Sozialwissenschaftler in säkularisierter Form den Unsterblichkeitsglauben. Der progressive kritische Habitus der meisten Leitsoziologen huldigt dem Glauben an eine kontinuierliche Gesellschaftsverbesserung – an Todesbewältigung. Allerdings weisen Termini wie Lebensqualität, Entfremdung, Verdinglichung, Repression, Verdrängung, Versklavung, Herrschaft, Ausbeutung, soziale Ungleichheit, Exklusion oder Scheitern (Feldmann 2004) auf das Problem der Lebensminderung und -verkürzung und der gesellschaftlichen Unterdrückung potentieller Lebensäußerungen. Die Proto-Soziologen des 19. Jahrhunderts, die sich in der Regel ihren Nationalstaaten verpflichtet fühlten, haben sich primär um das Kollektiv und sein Überleben gekümmert, der Tod der Individuen wurde ihnen kaum zum (soziologischen) Problem. Sie wandten ihre Aufmerksamkeit auf Großkollektive, vor allem Staaten, Klassen, Rassen, Völker, Nationen und Kulturen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein zeigte sich eine Parallelität in den biologischen und soziologischen Evolutionstheorien: die einzelnen Organismen und Menschen werden zu Vehikeln, deren Tod zwar ein notwendiges aber letztlich peripheres Ereignis darstellt. Das wissenschaftliche Interesse richtet sich auf das Bedeutsame, in der Biologie auf die Gene und in der Soziologie auf soziale Entitäten (Institutionen, Kommunikation etc.). In Europa war bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ein materieller und geistiger Imperialismus, Ethnozentrismus und Rassismus vorherrschend, was sich in der gleichgültigen oder akzeptierenden Haltung der europäischen Eliten gegenüber Genoziden und der brutalen Unterdrückung ‚minderwertiger’ Gruppen und Ethnien äußerte. Der Tod des Einzelnen war ein pompöses Ereignis, wenn er ein leuchtender Repräsentant eines gefeierten Kollektivs war, der Tod der meisten ohne jede allgemeine Bedeutung – eine traditionelle Einstellung der europäischen Herrschaftseliten, die die zynische Vernichtung hunderttausender Menschen in Kriegen begünstigte. Der heroische Tod auch des einfachen Mannes im Dienst des Kollektivs (vor allem des Vaterlandes bzw. der Nation) freilich wurde 11 vor allem im 19. Jahrhundert ideologisch hochgepäppelt und übte auch auf viele Intellektuelle seine Faszination aus. Frühzeitiges Sterben und regelmäßige Tötung von Personen und Kollektiven wurden von den abendländischen Eliten als normal und ‚gottgegeben’ angesehen. Für Marx stand das Leben und Sterben von Klassen, Gesellschaftsformationen und Produktionsverhältnissen im Zentrum seiner Überlegungen. Auch für Durkheim waren die Individuen im Dienst des Kollektivs tätig und die Erhöhung der Selbstmordraten interpretierte er als Zeichen der Krise der modernen Gesellschaft, als Hinweis auf Anomie (Normschwäche) bzw. Desintegration. Auch Max Weber beschäftigte sich intensiv mit der ‚Sinnkrise’ des modernen Menschen. Für ihn war diese ‚Sinnkrise’ prinzipieller Natur, d.h. in der Struktur (Rationalisierung, Bürokratisierung) der modernen Gesellschaft liegend, und folglich durch Interventionen nicht zu beheben. Weber (1968) stellt in einer kurzen Passage in seiner Schrift „Wissenschaft als Beruf“ (1910) die Frage: Wie werden Todeserfahrungen und Sinngebung durch die Rationalisierung der Handlungen, die „Entzauberung der Welt“ und die ökonomisch-wissenschaftlich-technische Beherrschung der ‚Natur’ und der Gesellschaft verändert? Weber bezieht sich auf die radikale Antwort Tolstois: Durch Fortschritt und Modernisierung wird der Tod ‚sinnlos’. Die Gesellschaft ist nicht mehr stabil, sondern in einem prinzipiell unabschließbaren Fortschrittsprozess, wodurch auch das Individuum keine abgeschlossene soziale Entwicklung mehr haben kann, also durch den Tod willkürlich aus diesem Prozess herausgerissen wird. Die religiösen, politischen und anderen kulturellen Weltanschauungen und Ideologien werden in zunehmendem Maße als inkonsistent, relativ beliebig und austauschbar angesehen. Weber verwendet jedoch noch positive Metaphern, wie „der Forderung des Tages gerecht werden“ oder „den Dämon finden und ihm gehorchen, der des Lebens Fäden hält“, um dem Relativismus und Defaitismus entgegenzutreten – ein gefährlicher Heroismus in einem hypernationalistischen Staat. Der von Intellektuellen geäußerte Zweifel am ‚Sinn’ des ‚normalen Sterbens’ konnte als Verstärker für den Wahn des Supersinns des heroischen Schlachtentodes oder des totalen Krieges verwendet werden! Ein moderner sozialwissenschaftlicher Todesdiskurs hat erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts begonnen, in den USA u.a. durch R. Fulton, B.G. Glaser, A. L. Strauss, D. Sudnow, T. Parsons und in Deutschland durch Ch. v. Ferber, A. Hahn und W. Fuchs geleitet. 12 Doch Sterben und Tod ist noch immer ein Randthema in der Soziologie. Von Ferber (1963, 1978) weist die professionelle Verlegenheit als Teil einer allgemeinen gesellschaftlichen aus, indem er die Kommunikation über den Tod als „behindert“ bezeichnet. In einer Radikalisierung von Gedanken Georg Simmels und Max Webers postuliert von Ferber (1978, 51) einen Antagonismus zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen individuellem Freiheitspotential und gesellschaftlichem Zwang. „Ein verbindliches, kommunizierbares Verhältnis zum Tode wiederzugewinnen heißt also, den schweigenden Totalitarismus der Gesellschaft brechen.“ Fuchs (1969) knüpft an Modelle der kulturellen Evolution an: Auf die Phase der magisch-archaischen Todesbilder folgt die der modern-rationalen Todesbilder.4 Ziegler (1977), der Konflikte zwischen der Industriekultur und anderen Kulturen in seine Überlegungen einbezieht, sieht in der Archaik ein Mittel des Widerstands und der Kritik gegenüber dem Imperialismus der Industriekultur. Auch innerhalb der Industriekultur werde mit Hilfe ‚atavistischer’ Vorstellungen und Ideologien Widerstand gegen die Verwaltung des Sterbens durch Thanatokraten geübt. Eine nüchterne weniger spekulative Sterbe- und Todesforschung ist vor allem im angelsächsischen Raum entstanden (z.B. Riley 1983; Kearl 1989; Clark 1993; Seale 1998). Viele englischsprachige Autoren setzen harte Fakten an den Anfang ihrer Berichte: z.B. die dramatische Veränderung der Mortalität in den modernen Industriestaaten gegenüber allen früheren Kulturen und Gesellschaften. Blauner (1966) unterscheidet zwischen Kollektiven mit hoher und solcher mit niedriger Mortalität. Die Fundierung zentraler Werte und Normen in komplexen Verwandtschaftssystemen eignet sich für Gesellschaften mit hoher Mortalität, da sie trotz der Beziehungsbrüche durch ständig auftretenden vorzeitigen Tod Stabilität gewährleisten. Die Einbindung der Ahnen und die Antizipation der Lebenden, dass sie auch als Tote dem sozialen System angeschlossen bleiben, integrieren die Einzelnen in die Gemeinschaft und schützen diese vor Anomie und Zerfall.5 4 In seinem Nachwort bezeichnet Fuchs selbst die „Polarität von Archaik und Rationalität“ als unzureichend. Die Dichotomie Rationalität contra Archaik, die Fuchs seinem Evolutionskonzept zugrundelegt, relativiert er selbst durch den Hinweis, dass sich die beiden Dimensionen auch in der modernen Kultur verschränkt zeigen. 5 Diese Annahme wurde von Comte in seine soziologischen Konstruktionen eingebaut (vgl. FuchsHeinritz 1998, 251 ff). 13 Die Institutionen in der modernen Gesellschaft haben sich von den Individuen emanzipiert, ihre bürokratischen Strukturen sind unpersönlich und kennen keine Ahnen. Verwandtschaftssysteme sind peripher geworden und in die Privatsphäre abgesunken. Somit haben sie auch ihre ideologische und religiöse Aufladung großenteils verloren. Der physische Tod ist damit ein persönliches Problem der Betroffenen geworden, denn gesellschaftlich ist er entschärft. Nach Parsons und Lidz (1967) ist die naturwissenschaftliche Betrachtung nicht nur für die Wissenschaft sondern für die gesamte Gesellschaft zur verbindlichen Anschauung geworden: Der Tod der Individuen ist nicht nur unvermeidlich sondern eine unverzichtbare Voraussetzung für die Entwicklung der Art und für die Evolution. Ganz analog zu dieser biologischen Betrachtung sehen Parsons und Lidz den Tod der Individuen funktional für die gesellschaftliche Entwicklung. Die Positionen und Rollen müssen immer wieder von neuen der jeweiligen nächsten Generation angehörenden Individuen besetzt werden, um soziale und kulturelle Innovationen und Anpassungsleistungen zu ermöglichen. Der zentrale objektive Unterschied zwischen modernen und traditionellen Gesellschaften besteht in der Art und Wirksamkeit der Kontrolle des Todes. In der modernen Gesellschaft besteht für die Mehrzahl der Menschen die Gewissheit bzw. eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie erst nach einem relativ langen Leben eines ‚natürlichen’ Todes sterben. Der gewaltsame frühzeitige Tod wurde zurückgedrängt. Die Sterbesituationen unterliegen einer starken medizinischen, rechtlichen und bürokratischen Kontrolle. Durch Modernisierung und Säkularisierung ist die Grundlage einer allgemein anerkannten und integrierten Ritualisierung des Todesbereichs aufgehoben und der Tod wird innerhalb der gesellschaftlichen Subsysteme arbeitsteilig behandelt. Nach dieser kurzen Einführung in thanatosoziologische Überlegungen wird im Folgenden eine vorläufige theoretische Strukturierung angeboten. Man kann jede ‚soziale Tatsache’, also auch Sterben und Tod, mit Hilfe von Grundlagentheorien analysieren und gesellschaftlich verorten. Als Grundlagentheorien wähle ich hier eine Kombination klassischer Ansätze: Funktionalismus/Systemtheorie, Konfliktansätze und Symbolischen Interaktionismus (vgl. Feldmann 2006, 27 ff). 14 Der klassische Funktionalismus6 als dominante soziologische Theorie der 1940er und 1950er Jahre in den westlichen Industriestaaten hatte ein soziales System im Blick und dessen Erhaltung und griff folglich die ‚sinnkritischen’ Gedanken Webers nicht auf, sondern entwickelte sich zu einer makrosoziologischen Systemtheorie, die weder den Tod von Systemen noch den von Individuen ausführlich in ihre Reflexionen einbezog. Das Hauptinteresse funktionalistischer Theoretiker richtete sich auf die soziale Integration, das Gleichgewicht von sozialen Systemen und auf die Koordination der Teilsysteme.7 Eine funktionalistische Sicht wendet sich nicht einzelnen sondern Gruppen und Kollektiven zu. Für die Kategorisierung von Kollektiven gibt es Indikatoren, der wichtigste im thanatologischen Bereich ist die durchschnittliche Lebensdauer. Eine zentrale funktionalistische Frage lautet: Welche Funktionen hat die Lebensdauer (Durchschnitt, Streuung etc.) für die Gesellschaft bzw. für Großkollektive? Sowohl eine zu starke Steigerung der durchschnittlichen Lebensdauer als auch ein größere Gruppen betreffendes frühzeitiges Sterben, z.B. durch Aids in manchen afrikanischen Ländern, kann zu sozialen und politischen Störungen führen, also dysfunktional sein.8 Doch auch die Verschränkung von Individuum und Gesellschaft kann funktionalistisch betrachtet werden. Das Individuum wird durch das Bewußtsein seiner Endlichkeit, der ablaufenden Lebenszeit, zur ‚Leistung’ motiviert. Da das Kollektiv bzw. die Gesellschaft das Individuum überdauert, wird eine Motivation gefördert, Leistungen im Dienste des Kollektivs durchzuführen, weil dadurch eine Teilnahme an der kulturell konzeptionierten Unsterblichkeit ermöglicht wird. Doch immer bleibt ein Spannungsverhältnis: Die Individuen werden gesellschaftlich instrumentalisiert, im krassen Fall, wenn sie im Krieg ‚verheizt’ werden. Seltener instrumentalisieren Individuen Gemeinschaft oder Gesellschaft, verhalten sich ‚verantwortungslos’ gegenüber dem Kollektiv – Hitler, Amokläufer, Finanzspekulanten etc. Konfliktansätze beziehen sich auf die Konkurrenz zwischen Gruppen und Kollektiven. Zuerst ist die unbestreitbare Tatsache zu nennen, dass die Lebensund Überlebenschancen weltweit primär ökonomisch bestimmt werden und dass 6 Der Funktionalismus wird von vielen Soziologen als veraltet angesehen. doch er ist eine herrschende Perspektive in den Institutionen Politik, Recht und Medizin und ein bewährtes Theorieinstrument des Alltagsbewusstseins. 7 Diese Aussagen treffen auf den funktionalistischen mainstream zu, nicht auf eine Nebenlinie des Hauptvertreters des Funktionalismus Parsons (vgl. Feldmann 1995). 8 Der „rechtzeitige Tod“ im funktionalistischen Sinne betrifft Durchschnittswerte und in der Regel nicht den Einzelfall. Folglich könnten Minderheitsgruppen frühzeitig ihr Leben beenden oder zu „Langlebern“ werden, ohne dass dies dysfunktional wäre. 15 nach wie vor schwere Kämpfe um Lebensressourcen stattfinden. Nur die Minderheit der reichen Staaten bzw. der wohlhabenden Bevölkerungsgruppen in den reichen Staaten können sich Gesellschafts- und Gesundheitssysteme leisten, in denen die grundlegenden Lebenserhaltungsmittel fast allen zur Verfügung stehen – wohlgemerkt nur die grundlegenden, nicht darüber hinausgehende; und die Polarisierung zwischen grundlegend und darüber hinausgehend nimmt auch in den reichen Staaten zu, vor allem in den USA. Die soziale Ungleichheit im Sterbebereich ist in den reichen Staaten keineswegs aufgehoben (vgl. Helmert et al. 2000). Dies betrifft sowohl die quantitativen Aspekte (7 bis 10 Jahre Lebensverlust für unterprivilegierte Gruppen) als auch die qualitativen (Lebens- und Sterbequalität), wobei über die qualitativen Aspekte nur unzureichend repräsentative Daten existieren (Freund et al. 2003, 39 ff). Staaten und Staatengruppen stehen im Wettbewerb, z.B. welche durchschnittliche Lebensdauer sie ihren Bürgern garantieren können. Lebenslänge wird nicht primär über das Sekundärsystem Medizin gesteuert, sondern ergibt sich als Emergenzeffekt des Zusammenwirkens aller Teilsysteme, vor allem von Wirtschaft, Politik und Bildung. Konfliktansätze werden zwar primär auf der Makroebene lokalisiert, doch auch auf der Mesoebene begegnen sie in Organisationen und Professionen. Verschiedene Professionen konkurrieren um Ressourcen und Klienten: Ärzte, Krankenpflegepersonal, Altenpfleger, Priester, Juristen, Bestatter, Psychologen. Historisch am bedeutsamsten war der ‚Kampf’ zwischen Ärzten und Funktionären der Kirchen, der mit Hilfe des Staates, aber auch der Mehrheit der Bevölkerung, zu Gunsten der Ärzte entschieden wurde. Ein anderer von der Makro- bis zur Mikroebene reichender Konfliktansatz ergibt sich aus feministischen bzw. Geschlechtertheorien. Sterbende haben zumeist einen niedrigen Status. Dienstleistungen für Klienten mit niedrigem Status werden Frauen zugeordnet, die eine traditionelle Rollenbindung als Pflegekräfte für Schwerkranke und Sterbende und als Trauernde tragen. Die Trauerrolle ist inzwischen in den hochindustrialisierten Staaten weitgehend privatisiert und zeigt teilweise anomische Züge, doch faktisch fällt der größte Teil der Trauer nach wie vor den Frauen zu. Die öffentlichen und privaten Pflegerollen werden noch immer überwiegend von Frauen wahrgenommen (vgl. Seale/Cartwright 1994, 75 f), doch zeigt sich eine Aufwertung, z.B. durch Professionalisierung und Entwicklung der Pflegewissenschaft. Die symbolisch-interaktionistischen Basistheorien9 nahmen in ihren Grundstrukturen ebenso wenig wie die klassischen Makrotheorien die Todesproblematik auf. Doch die grundlegenden empirischen soziologischen Untersuchungen 9 Hier wird eine weiter Begriff von Symbolischen Interaktionismus verwendet, der phänomenologische, ethnomethodologische, ethnographische und partiell sozialpsychologische Ansätze einschließt. 16 des Sterbens von Glaser, Strauss, Sudnow u.a. sind diesen Ansätzen verpflichtet. Viele neuere soziologische Untersuchungen über das Sterben in Krankenhäusern oder Hospizen sind teilweise dieser Theoriegruppe zuzuordnen (z.B. Seymour 2001, Göckenjan/Dreßke 2002, Streckeisen 2001, Zwettler 2001, Dreßke 2005). Begriffe werden in interaktiven und kommunikativen Auseinandersetzungen mit Bedeutungen und Assoziationen versehen und ihr normaler Gebrauch wird festgelegt: natürlicher Tod, Euthanasie, Sterbehilfe, Verdrängung des Todes, Hirntod. Diese Definitionsprozesse können durch eine Kombination von symbolisch-interaktionistischen, konfliktorientierten, funktionalistischen und wissenssoziologischen Perspektiven analysiert werden. Die medizinisch-technischen Praktiken in Krankenhäusern erscheinen naturwissenschaftlich legitimiert und deshalb der symbolisch-interaktionistischen Analyse entzogen. Doch mikrosoziologische Untersuchungen zeigen, dass sie nicht nur im Bewusstsein der Betroffenen anders gedeutet werden, sondern auch in ihrer konkreten Gestaltung bereits sozial geformt werden. Sie dienen u.a. der Herstellung des ‚natürlichen Sterbens’, wobei zunehmend ‚Kompetenz’ und ein ‚heimliches Curriculum’ erforderlich sind, um das Sterben als ‚natürlich’ und ‚würdevoll’ erscheinen zu lassen (vgl. Harvey 1997). Dreßke (2008, 233) beschreibt die ‚sanfte Sterbetechnologie’ im Hospiz: „Die Steuerung des Sterbens als organisatorischer Auftrag orientiert sich immer am körperlichen Verfall, und zwar entsprechend der Idealisierung eines natürlichen und friedlichen Sterbens.“ Betrachtet man die derzeitige Diskurslage, dann werden zwar implizit nach wie vor funktionalistische Ansätze verwendet, doch seit den 1990er Jahren gewannen „poststrukturalistische und postmoderne Konzeptionen an Bedeutung, v.a. Bezüge zu Foucaults Werk (Seale 1998). Konflikttheorien wurden vernachlässigt. Die öffentlichen Debatten über Abtreibung, Todesstrafe, Hirntod, künstliche Befruchtung, Pränataldiagnostik, Hospiz, Palliativmedizin etc. wurden mit Hilfe von hermeneutischen Verfahren, Diskursanalysen und wissenssoziologischen Methoden untersucht (z.B. Schneider 1999; Zimmermann 2007)“ (Feldmann 2010b).10 Strukturierung des Arbeitsfeldes Die Differenzierungen der Begriffe von Sterben und Tod, die in der wissenschaftlichen Literatur zu finden sind, ergeben sich aus kulturellen Traditionen, 10 Da eine kritische reflexive multiparadigmatische Thanatologie (Feldmann 2010c) die bisherigen Sterbe- und Todesdiskurse kaum prägte, wird sie auch in diesem Text nur sporadisch auftreten. 17 Gruppenkämpfen und aufgrund der Spezialisierung und Professionalisierung.11 Ursprünglich haben Philosophie, Theologie und Rechtswissenschaft das semantische Feld stark besetzt. Inzwischen ist eine Biologisierung und Medizinisierung der Begrifflichkeit dominant, wobei die beteiligten Wissenschaften und Professionen zusätzlich politisch und wirtschaftlich gesteuert werden. Somit sollten Sozialwissenschaftler und gebildete Menschen das semantische Feld von Sterben und Tod erkunden und die vorhandenen Begriffe, Bilder und Modelle auf ihre Brauchbarkeit hin prüfen und mit kritischer Distanz nutzen, de- und rekonstruieren (vgl. Pfeffer 2005, 259 ff; Feldmann 2010c). Eine Hilfe für Theorie- und Empirieentscheidungen können Vorschläge zur Strukturierung und zur Typenbildung bieten: das eigene und das fremde Sterben physisches, soziales und psychisches Sterben (Sudnow, Feldmann) Tatsachen, Einstellungen und Praktiken (Schneider) Fremd- und/oder Selbstbestimmung des Sterbens (‚natürliches’ und ‚gewaltsames’ Sterben) Sterben als Prozess oder Übergang (rites de passages) (van Gennep, Kellehear) das Sterben von Individuen, Gruppen, Kollektiven, Institutionen, Sprachen und Kulturen. Eine zentrale Differenzierung des Todesfeldes ergibt sich durch die Analyse des ‚Wesens des Menschen’, der sowohl Teil einer Gesellschaft und Kultur als auch freies Individuum, Teil der Natur, aber auch ‚Freigelassener’ der Natur ist. Dass ein menschliches Individuum aus ‚Wesensteilen’ besteht, war eine Basisannahme vieler Kulturen (Zander 1999). Das gängige abendländische Modell ist dualistisch strukturiert: Seele und Körper. Wenn man in einer säkularen sozialwissenschaftlichen Konzeption die Seele12 mit Identität ‚übersetzt’, so bietet sich folgende Dreiteilung an: Körper, personale und soziale Identität13. 11 Eine offensichtliche Strukturierung ergibt sich durch die faktische Arbeitsteilung und Institutionalisierung (Krankenhaus, Hospiz, Suizidologie, Bestattung, Religion etc.) – mit der Konsequenz der theoretischen Heterogenität und der Segmentierung der Arbeitsgruppen. 12 Der Ausdruck „Seele“ wird wahrscheinlich von den meisten Sozialwissenschaftlern in einem anderen semantischen Feld eingeordnet als Ich, Identität, Bewusstsein etc. In dem Kontext dieses Buches wird er in dieses semantische Feld gestellt, in dem er auch „früher“ lokalisiert war und nach Meinung vieler vielleicht der meisten Menschen auch in den Industriestaaten noch enthalten ist. Damit wird von mir freilich keine eindeutige philosophische oder wissenschaftstheoretische Position bezogen, sondern nur die wissenschaftliche Diskussion aufgelockert. 13 Kriz (1999, 129) nennt die drei personellen Ebenen: bio-somatisch, kognitiv-emotional und interaktionell. 18 Abbildung 2: Homo triplex Subjekt, Person, Habitus etc. partizipieren an drei Lebenssystemen: dem organischen, dem psychischen und dem sozialen System.14 Leben und Sterben in diesen drei Bereichen erfolgen mit einer relativen Unabhängigkeit, d.h. Sterben und Tod können auf verschiedenen Ebenen beobachtet und beschrieben werden: als Körpertod oder physischer Tod (physisches Sterben) als Tod der Seele oder des Bewusstseins (psychisches Sterben) als sozialer Tod (soziales Sterben). Die drei Sterbeformen sind soziale Konstruktionen, wobei im herrschenden westlichen Weltbild das jeweils anerkannte naturwissenschaftliche Paradigma als Masterkonstruktion gilt – im Alltagsbewusstsein der (säkular) Gebildeten spiegelt sich das als Konstruktion der so genannten Primärrealität. Durch eine gängige Interpretation dieser Masterkonstruktion ergibt sich die metatheoretische Position, das physische Sterben sei ‚tatsächliches Sterben’ und soziales und psychisches Sterben seien nur Metaphern oder sozialwissenschaftliche Konstrukte.15 Dass die Bestimmung und Gestaltung des physischen Sterbens ebenfalls durch soziale Konstruktionen erfolgt, soll noch kurz verdeutlicht werden (vgl. Seymour 2000). 14 Freud, Popper, Elias, Luhmann und andere haben ähnliche Realitätsebenen, Systeme oder Perspektiven konstruiert (vgl. z.B. Haller 1999, 514 ff). 15 Vgl. zur sozialkonstruktivistischen Position in der Thanatologie Rosenblatt 2001. 19 Abbildung 3: Formen des Lebens und Sterbens Physisches Gesundheit Jugend Lebenslänge Krankheit Alter Schmerz Physisches Formen des Lebens und Sterbens Psychisches Leben Selbstverwirklichung Bewusstseinsverlust Todeswunsch Psychisches Sterben Soziales Status Leistung Eigentum Sozialer Abstieg Rollenverlust Marginalisierung Soziales Den physischen Tod als Hirntod zu bestimmen, ist bekanntlich eine soziale, medizinische und rechtliche Definition16 (vgl. Lindemann 2001). Man könnte ‚den Tod’ auch anders bestimmen, z.B. als Zelltodkontinuum, als Verlust der Reproduktionsfähigkeit eines Individuums oder als Ende einer Reihe von Wiedergeburten. Wann das physische Sterben beginnt und wann es endet, wird vor dem Hintergrund naturwissenschaftlicher Theorien soziokulturell festgesetzt, in der modernen Gesellschaft in der Regel durch Ärzte und Juristen. Was als Beginn oder Ende des Lebens eines Menschen festgelegt wird, ist folglich keine natürliche Tatsache, sondern eine soziale Tatsache. Auch die Naturalisierung bzw. Vernaturwissenschaftlichung des Todes ist eine soziale Tatsache (vgl. Feldmann 1998a). Kellehear äußert sich kritisch bezüglich der Biologisierung von Sterben und Tod: „Debates about the determination of death have encouraged an academic climate conducive to uncritical acceptance of biological criteria for death with an under-recognition of the crucial role of the social criteria for death” (Kellehear 2008, 1541). Auch die Annahme, dass mit dem physischen Tod die soziale Identität irreversibel zerstört ist, ist abhängig von soziokulturellen Wertungen und Gruppenideologien.17 Gemeinsames Merkmal des physischen, psychischen und sozialen Sterbens ist die Reversibilität, denn immer mehr Menschen werden aus einem Zustand zurückgeholt, der ‚unter natürlichen Bedingungen’ fast zwangsläufig dem physischen Tod kurz vorausgeht. Wie sind die drei Formen des Sterbens und des Todes normativ geregelt? Das physische Sterben ist ein Alltagsbegriff, der allerdings unter medizinischer 16 Schneider (1999, 10 ff) spricht z.B. von „Deutungsmanagement“ und von einem gesellschaftlichen Definitionsprozess: „Diskurse, verstanden als „Flüsse von sozialen Wissensvorräten durch die Zeit“ (Jäger 1999, S. 158), produzieren, dabei verschiedenen Interessen folgend, auf je eigene Art soziale Wirklichkeit.“ (ebd., 12) 17 Nach Lindemann (2001, 319) bedeutet die durch einen Arzt erfolgende Feststellung des (physischen) Todes: „Die Mitgliedschaft in der Staatsorganisation und der damit eng zusammenhängende Status als soziale Person erlischt. In diesem Sinn ist der physische Tod der soziale Tod.“ 20 und rechtlicher Überwachung steht18, das soziale Sterben wird u.a. durch Altersgrenzen für die Berufstätigkeit oder durch das Strafrecht19 geregelt, das psychische Sterben wird rechtlich normiert durch Gesetze und professionelle Normen zur Entmündigung und zur Behandlung von psychisch Kranken. Individuum und Kollektiv bzw. Gesellschaft sind durch den Tod miteinander verschränkt. So wurde in allen Kulturen zwischen individuellem und kollektivem Tod unterschieden. Doch eine weitere Differenzierung sollte noch einbezogen werden, die sich aus der Primärgruppensozialisation, der Beziehung zwischen Kind und Mutter bzw. Bezugspersonen erschließen lässt. Somit ist mindestens folgende Unterscheidung gerechtfertigt: der eigene Tod der Tod des anderen, d.h. von Bezugspersonen der allgemeine oder kollektive Tod. Diese Kategorisierung ergibt mit den Sterbeformen verbunden einen differenzierten Einblick in das Feld. Abbildung 4: Typologie des Sterbens und des Todes Physisches Der eigene Tod Der Tod des anderen Lebensverlängerung Sterbeort Todesursache Umgang mit der Leiche Der allgemeine Massensterben Tod (Krieg, Katastrophen) Psychisches Sterben Identitätserosion Lebensqualität Todesangst Sterbebegleitung Trauer Erinnerung Ängste vor kollektiver Vernichtung Soziales Rollen- oder Statusverlust Mikrosystemerschütterung Genozid Vertreibung Gemäß einer funktionalistischen oder systemtheoretischen Sichtweise verfügen Subsysteme oder Institutionen über vorherrschende Orientierungsmuster (vgl. Rosengren 1984). 18 Ein Beispiel für daraus entstehende Konflikte bietet die unterschiedliche Beurteilung von Dauerkoma-Patienten als sterbend oder nicht-sterbend. 19 Durch das Strafrecht kann soziales Sterben produziert werden (z.B. lebenslängliche Freiheitsstrafe) oder es kann Personen, die andere zu sozialen Sterbeprozessen zwingen, Strafe angedroht werden (z.B. jemanden gegen seinen Willen privat gefangen zu halten). 21