Deutsches Ärzteblatt 1983: A-27

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DEUTSCHES
ÄRZTEBLATT
Heft 5 vom 4. Februar 1983
Zur Fortbildung
Aktuelle Medizin
Die Bedeutung von Lektinen
für den Adhäsionsmechanismus
von Bakterien
Gerhard Uhlenbruck, Rudolf Gross, Olaf M. Koch und
Chun-Kyung Lee
Aus der Abteilung für Experimentelle Innere Medizin
(Leiter: Professor Dr. med. Gerhard Uhlenbruck)
der Universität zu Köln
und der Medizinischen Universitätsklinik Köln
(Direktor: Professor Dr. med. Rudolf Gross)
Ein bislang noch nicht hinreichend gewürdigter Pathogenitätsfaktor von Bakterien
ist die Gegenwart von Lektinen an deren Zelloberflächen. Diese Eiweißkörper,
die man auf einer ganzen
Anzahl von Bakterien gefunden hat, sind in der Lage,
sich mit hoher Affinität an
Kohlenhydratrezeptoren des
Wirtsgewebes, zum Beispiel
an die kohlenhydratreichen
Oberflächen der Urothelien
oder des Bronchialtraktes,
zu binden. Lektine ermöglichen die intrazelluläre Aufnahme von metabolisierbaren Mono- und Oligosacchariden als Energieträger, und
sie bedingen in einem entscheidenden Maße die Organotropie der Infektion, wie
sie bei vielen Infektionserkrankungen zu finden ist.
Trotz Entdeckung der „Bakteriohämagglutinine" vor
genau 80 Jahren sind erst
jüngst hochgereinigte Lektine beschrieben worden. Daß
Bakterien rote Blutkörperchen agglutinieren können,
ist seit 30 Jahren bekannt.
Ausgabe A
(Formel 2)
Definition der Lektine
L + 2 (Z)-, (Z)-L-(Z)
Lektine (L) sind Zucker-(Z-)bindende Makromoleküle von Protein- oder Glykoproteincharakter,
welche mit bestimmten Kohlenhydratstrukturen in spezifischer Weise nach Art einer Antigen-Antikörper-Reaktion reagieren, obwohl
keinerlei Verwandtschaft zu den
Immunglobulinen besteht:
L+2
Wenn Lektine aber selbst integrierte Membranbestandteile sind
((L)), so kann durch Zugabe von
(Z) eine Art Mischzellagglutination
entstehen oder eine Rosettenbildung entsprechend Formel 4:
L + Z LZ
2 (L) + 2 (Z) ----> (L)-(Z)-(L)-(Z)
(Formel 3)
(Formel 4)
bzw. L + 4 Z ± LZ 4
(Formel 1)
Sie kommen bei Viren, Bakteriophagen und anderen Mikroorganismen vor, aber auch bei Pflanzen (inklusive Schwämmen und
Algen), Avertebraten und bei Vertebraten, und zwar sowohl in löslicher Form als auch in Form fest
integrierter Membranbestandteile
(Formel 1).
Lektine binden (sich an) alle Glykokonjugate, welche den für sie
spezifischen Zuckeranteil tragen,
ob das nun Kohlenhydratstrukturen zellulärer Partikel ((Z)) sind
(Agglutination, Formel 2) oder lösliche Glykoproteine, Glykolipide
oder Polysaccharide (=Z=), was
zur Präzipitation führt (Formel 3):
Benutzt man aber in diesem System =Z=, dann entsteht eine Rezeptor-Agglutination gemäß Formel 5:
2 (L) +
(L)=Z=(L)
(Formel 5)
Alle diese Vorgänge sind durch
die spezifischen Zucker hemmbar.
Ist dies nicht der Fall, dann handelt es sich meist um mehrere Lektine (L 1 , L2, L3) und mehrere Rezeptoren (Z 1 , Z2, Z3, usw.).
Gerade im Rahmen der Lektinforschung, die sich mit der Struktur
Die in Klammern stehenden Ziffern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis des
Sonderdrucks.
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 5 vom 4. Februar 1983
27
ur Fortbildung ,
Aktuelle Medizin
Bakterielle Lektine
und Wirkungsweise sowie mit der
Funktion und Bedeutung der Lektine beschäftigt, ist zunächst eine
Auseinandersetzung mit dem Begriff des „Rezeptors" und dessen
Klärung notwendig.
Bakterienname
Lektin-„Rezeptoren"
Die Kohlenhydratgruppen, oft
nicht-reduzierend terminal gebundene Mono- bzw. Disaccharide,
aber auch Kohlenhydrate inner-
Inhibitor
Enterobakterien
Escherichia coli
Salmonella typhi
Salmonella typhi murium
Citrobacter freundii
Citrobacter diversus
Klebsiella pneumoniae
Serratia marcescens
Proteus morganii
Laktose, Mannose, Galaktose, Glukose (a-Glykosid.), Maltose, Melibiose, N-Acetyl-Galaktosaminyl-E3-(1-4)Galaktose
Mannose
Mannose, Galaktose
Mannose
Mannose
Mannose
Mannose
Mannose
Pseudomonas
Pseudomonas aeruginosa
Aeromonas hydrophilia
Mannose, Galaktose,
Fukose, Mannose, Galaktose
Streptococcus
Streptococcus pyogenes
Streptococcus mutans
Streptococcus sanguis
Galaktose
Galaktose
Laktose
Actinomyces
Actinomyces viscosus
Actinomyces naeslundii
Laktose, Galaktose
Laktose
Verschiedene
Staphylococcus aureus
(Toxin)
Corynebacterium
diphtheriae
(Toxin)
Vibrio cholerae
(Toxin)
Neisseria gonorrhoeae
Chlamydia psittaci
Streptomyces Sp
Fusobacterium nucleatum
Myxococcus xanthus
Mycobacterium smegmatis
N-Acetyl-Glukosamin,
N-Acetyl-Galaktosamin
Mannose,
N-Acetyl-D-G I u kosam i n
Galaktose, Laktose,
N-Acetyl-Galaktosamin, Ganglioside
(GIV1 1)
D-Galaktose
N-Acetyl-D-G I u kosam i n
L-Fukose, L-Rhamnose, D-Galaktose
N-Acetyl-Neuraminyl-(2--,3)-ß-D-Galaktopyranosyl-(1—.3)-N-Acetyl-Galaktosaminyl-Protein
Glukose (a-Glykosid.)
Tabelle 1: Lektine bei verschiedenen Bakterien
28
halb einer Zuckerkette, mit denen
die Lektine reagieren, werden als
Lektin-Rezeptoren bezeichnet.
Dieser Rezeptorbegriff geht auf
Burnet zurück, der ihn zuerst beim
Influenzaviruslektin anwandte, einem Hämagglutinin, welches mit
terminaler N-Acyl-Neuraminsäure
reagierte, die wiederum durch ein
„Receptor-destroying-enzyme"
abgespalten werden konnte (Neuramin idase).
Ähnlich haben auch die bakteriellen Lektine meist ihren Rezeptor
an der Oberfläche der Wirtszellmembran. Sie können jedoch
durch lösliche Glykokonjugate,
z. B. Glykoproteine mit denselben
Rezeptoren, neutralisiert bzw. die
Bakterien können abgefangen
werden, ganz analog der Hämagglutinations-Hemmwirkung von
sezernierten Glykoproteinen gegenüber Influenzaviren (2, 3)*).
Daneben gibt es den Rezeptorbegriff, wie er im Zusammenhang mit
seiner Seitenkettentheorie von
Paul Ehrlich geprägt wurde.
Diese Vorstellung läßt sich auf die
membranintegrierten Lektine anwenden, das heißt auf Lektine, wie
sie beim Menschen in der Leber,
Niere, Lunge und im gesamten retikuloendothelialen System vorkommen.
Sie dienen hauptsächlich der Elimination „fremder" Zellen oder
Glykokonjugate, auch bakteriellen
Ursprungs.
Leberlektine auf Hepatozyten (4)
und auf Kupfferschen Sternzellen
binden gealterte Erythrozyten und
Plasmaproteine und entfernen sie
aus der Zirkulation.
Lektine im retikulohistiozytären
System, auf der Plasmamembran
von Makrophagen und als lösliche
Proteine im Informationsaustausch zwischen Leukozytenpopulationen (z. B. der „migration
inhibition factor") sind wichtige
Faktoren für die Phagozytose (5)
und unspezifische Immunabwehr.
Heft 5 vom 4. Februar 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ARZTEBLATT Ausgabe A
Zur Fortbildüng
Aktuelle Medizin
Bakterielle Lektine
Bakterielle Lektine
und ihre praktische Bedeutung
Trotz Entdeckung der „Bakteriohämagglutinine" vor genau 80
Jahren sind erst in jüngster Zeit
hochgereinigte Lektine bei einer
ganzen Anzahl von Bakterien beschrieben worden: Eine Auswahl
ist in Tabelle 1 wiedergegeben.
Der Tabelle sind die Spezifitäten
zu entnehmen, die in den meisten
Fällen in einem Hämagglutinationstest bestimmbar sind.
Es war nämlich schon seit den
fünfziger Jahren bekannt, daß
Bakterien rote Blutkörperchen agglutinieren können, und zwar mit
Hilfe sogenannter Fimbriae oder
Pili, wie sie heute auch genannt
werden. Diese Pili bzw. Fimbrien
sind dicht besetzt mit bakteriellen
Lektinen, welche die Agglutination oder Adhäsion vermitteln und
die deshalb auch als Adhäsine bezeichnet werden (Darstellung 1).
Es ist daher nicht verwunderlich,
daß man heute sogar blutgruppenspezifische Adhäsine kennt, die
für die Epidemiologie Bedeutung
haben können. In noch unveröffentlichten Versuchen haben wir
festgestellt, daß sich die Diagnostik von Bakterien mit Adhäsinen
und die Feststellung ihrer Spezifität durch zusätzliche Hämagglutinationsteste beträchtlich erweitern lassen:
1. durch Benutzung Neuraminidase-behandelter Erythrozyten,
2. durch eine Proteasebehandlung von Erythrozyten, wodurch
zusätzliche Rezeptoren freigelegt
werden und auch die Ladung vermindert wird, und
Chemotaxis für
Kohlenhydrate
(Salmonellen, E.coli)
BakteriophagenRezeptoren
(E.coli)
KohlenhydratAufnahme
(Carrier 1
Systeme)
(E.coli)
Symbiose und
Plaquebildung
• (orale Actinomyceten
und Streptokokken)
Adhäsion an Glykokonjugate (Wirtszelle)
Toxinwirkung
(Vibrio cholerae)
Darstellung 1: Verschiedene Wirkungsweisen bakterieller Lektine
ceptor-enhancing enzyme" für ihr
Lektin bzw. Adhäsin einsetzen
können, indem weitere Rezeptoren freigesetzt werden, so daß der
Infektionsradius erheblich vergrößert wird. Das gleiche gilt für bakterielle Proteasen, welche Adhäsinrezeptoren (z. B. Glykolipide)
auf der Zellmembran freilegen
können.
Außerdem bedingt die Spezifität
bakterieller Lektine eine gewisse
Organophilie der infektiösen Mikroorganismen. Umgekehrt kann
aber auch eine Schädigung oder
Veränderung der Zellmembran im
Verlauf anderer (viraler) Infektionen Rezeptoren für Adhäsine zerstören oder neu entstehen lassen,
ein Vorgang, der ebenfalls auf Tumorzellmembranen durch eine Alteration des Rezeptorenmosaiks
stattfinden kann.
3. durch die Erweiterung des Agglutinationsspektrums durch Verwendung von normalen und Enzym-behandelten tierischen Eryth rozyten.
Diese Zusammenhänge haben
demnach nicht nur für „Super-Infektionen" eine Bedeutung, sondern könnten sogar dazu führen,
daß man Tumorzellen durch Bakterien, die mit spezifischen Antitumorlektinen ausgestattet sind,
durch eine Infektion erfolgreich
angreifen kann.
In diesem Zusammenhang ist es
interessant, daß viele Bakterien,
welche eine Neuraminidase haben, diese sozusagen als ein „re-
Für die bakteriellen Lektine lassen
sich eine Reihe von verschiedenen
biologischen Funktionen postulieren (Darstellung 1). Lektine sind
bei Escherichia coli und auch bei
Salmonella typhi murium (6) die
chemotaktischen Rezeptoren für
Kohlenhydrate, die für das Bakterium wichtige Energieträger sind;
sie haben aber auch eine CarrierFunktion, denn sie ermöglichen
die intrazelluläre Aufnahme von
Zuckern. Es werden nicht nur Monosaccharide wie Glukose oder
Galaktose internalisiert, sondern
auch längerkettige Kohlenhydrate,
Disaccharide wie Melibiose, Maltose oder Oligosaccharide aus aglykosidisch gebundener Glukose. Diese Mechanismen sind am
besten für Escherichia coli untersucht, wobei hier das Lektin, das
die Metabolisierung von Maltodextranen erlaubt, dem Bakterium
auch zum Verhängnis Werden
kann, da es ebenfalls den lytisch
wirkenden Lambda-Phagen in die
Zelle einschleust (7).
Lektine
als pathogenetische Faktoren
Die Bedeutung der Lektine als
pathogenetisch wichtige Faktoren
wurde bisher unterschätzt. Es ist
wahrscheinlich, daß bei Fehlen
von Lektinen eine Anheftung von
Bakterien an das Wirtsgewebe
sehr erschwert ist, wobei die Adhäsion zumeist die Voraussetzung
für eine Infektion ist. Ferner konnte gezeigt werden, daß Chlamydia
Ausgabe A DEUTSCHES ARZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 5 vom 4. Februar 1983
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Zur Fortbildung
Aktuelle Medizin
Bakterielle Lektine
psittaci, der Erreger von atypischen Pneumonien beim Menschen, mit seinem Lektin mit einem N-acetyl-D-Glukosamin-haltigen Rezeptor auf dem Fibroblasten reagiert. Blockiert man den
Fibroblastenrezeptor mit einem
pflanzlichen Lektin, so kann die
Chlamydie sich nicht mehr anheften oder aber es können bereits
adhärierte Bakterien wieder durch
Zugabe von N-acetyl-D-Glukosamin aus der Bindung mit der Zelle verdrängt werden.
Aus den Urothelien des Nierenbeckens und der Harnleiter wurde
ein Galaktose-haltiges Glykoprotein isoliert, das den eigentlichen
Rezeptor für die Reaktion von
Escherichia coli mit dem Gewebe
darstellt (8). Die Oligosaccharidketten erwiesen sich als immunogene Bestandteile des Blutgruppensystems P. P1-Individuen, die
in ihren Urothelien den Disaccharidrezeptor 07D-Galaktopyranosyl(1-4)(3-D-Galaktopyranose haben,
scheinen dabei wesentlich emp-
Abbildung la: Reaktion des fluoreszenzmarkierten Lektins aus Pseudomonas aeruginosa mit einem Gewebeschnitt der Rattenlunge
fänglicher für eine Infektion mit
Escherichia coli zu sein als Individuen des Systems p, das diesen
Rezeptor nicht aufweist. Auch bei
P1 -Urothelien gelang es in vitro,
die Anheftung des Bakteriums
durch Zugabe des synthetisierten
Disaccharids der genannten
Struktur zu unterdrücken.
Ebenso wie Escherichia coli, das
für die meisten Pyelonephritiden
der Erreger ist, verfügt Pseudomonas aeruginosa über ein Mannose(9) und Galaktose-spezifisches
Lektin. Aus unseren eigenen Untersuchungen sieht man in den
Abbildungen la und 1 b die Reaktion des galaktophilen Lektins aus
Pseudomonas aeruginosa mit einem Gewebeschnitt aus Rattenlunge bzw. Rattenniere. Die Bindung des gereinigten bakteriellen
Lektins an das Gewebe läßt sich
durch Zugabe von Galaktoselösungen vollständig inhibieren.
Schematisch sind diese Verhältnisse in Darstellung 2 verdeutlicht:
In A dienen Lektine der Wirtszellen
zur Anheftung, in C solche der
Bakterien, während in B ein
Mischtyp der Bindung vorliegen
kann. Der Vorgang kann durch
„inkomplette" Lektine oder Zukker () gehemmt werden, während die Bakterien selbst durch
analoge Lektine (E) bzw. lösliche
Glykokonjugate (F) agglutiniert
werden können, wie das schon in
den Formeln (2) und (5) zum Ausdruck gebracht worden ist. Bei
Fehlen oder (enzymatischer) Zerstörung des Rezeptors (D) kann
keine Infektion eintreten.
Neue Impulse
in der Kariesforschung
Abbildung 1 b: Reaktion des fluoreszenzmarkierten Lektins aus Pseudomonas aeruginosa mit dem Tubulusapparat der Rattenniere
30
Obwohl viele Einzelfaktoren in der
Pathogenese der Kariesentstehung noch unklar sind oder nicht
in eine einzelne Kausalkette eingeordnet werden können, ist die
kohlenhydratreiche Nahrung als
Hauptursache der Zahnkaries
weitgehend akzeptiert. Bekanntermaßen spielen dabei nicht nur Monosaccharide wie Glukose (Tra
Heft 5 vom 4. Februar 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A
Zur Fortbildung
Aktuelle Medizin
Bakterielle Lektine
benzucker) oder Disaccharide wie
Saccharose (Raffineriezucker,
z. B. in Bonbons), sondern auch
höherkettige Kohlenhydrate eine
Rolle. Ebenso als allgemein akzeptiert gilt, daß die Zahnplaquebildung eine wichtige Vorstufe der
Erkrankung ist. Man hat herausgefunden, daß die Lektine der bakteriellen Plaqueflora Belagbildung
wahrscheinlich einleiten. Kurzoder längerkettige Kohlenhydrate
sind dabei Kofaktoren, über die
brückenartig eine Aggregation
mehrerer Lektin-tragender Bakterien stattfindet (10).
Es ist interessant, daß Streptococcus sanguis, der in Dentalplaques
zu finden ist, ohne Gegenwart von
Saccharose nur sehr beschränkt
die Fähigkeit besitzt, sich an glatte
Oberflächen (Glas, Zähne) anzuheften. Daß bei diesem Phänomen
Lektine involviert sind, darf mit
großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden (11). Kohlenhydratreicher Nahrung dürfte somit
eine dreifache Bedeutung bei der
Entstehung der Zahnfäule zukommen: als metabolische Vorstufen
der Säurebildung durch die Mundflora, als Faktoren für die Koaggregation von Bakterien in der
Mischbesiedlung der Zahnplaques
und bei der Adhäsion pathogener
Bakterien an physiologisch glatte
Oberflächen (Zahnschmelz). Auch
die „Muzine" des Speichels bzw.
seine Glykoproteine spielen eine
entscheidende Rolle bei der Bindung von Bakterien über deren
Bakterienlektine.
Toxische Lektine
In manchen Fällen sind bakterielle
Lektine mit deren Toxinen identisch. Bekannte Beispiele sind das
durch Bakteriophagen vermittelte
Diphtherietoxin und das Enterotoxin aus Vibrio cholerae (12).
Die intrazelluläre Aufnahme des
Diphtherietoxins wird über einen
N-acetyl-D-Glukosamin-haltigen
Rezeptor vermittelt. Die für die
Bindung an das Kohlenhydrat der
Wirtszelle zuständige Lektinkomponente liegt dabei auf dem FragAusgabe A
Y
B
F
< = reaktiver Bereich des Lektins
= Kohlenhydrat-Rezeptor
Darstellung 2: Verschiedene Adhäsionsmechanismen von Bakterien durch Lektine
und Möglichkeiten ihrer Hemmbarkeit
ment B des Toxins, wogegen Fragment A nach Einschleusung in die
Zelle durch Aufnahme von ADPRibose in die Peptidyltransferase II
die lebensnotwendige Proteinsynthese blockiert. Das ungiftige Lektin Con A, das mit demselben Zukker wie das Diphtherietoxin reagiert, ist in der Lage, die Eukaryontenzelle durch Absättigung
des Rezeptors vor der Aufnahme
des Toxins zu bewahren (13).
Das Toxin der Choleravibrionen ist
ein komplettes, agglutinierendes
Lektin, das spezifisch mit dem
Kohlenhydratanteil des Gangliosids GM1 in der Darmschleimhaut
reagiert (12). Auch beim Choleratoxin ist das Prinzip verwirklicht,
daß die für die Bindung notwendige Lektinkomponente nicht mit
dem für die Toxizität zuständigen
Proteinabschnitt identisch ist. Die
beiden funktionellen Zentren liegen auf unterschiedlichen Polypeptidketten. Nach der Reaktion
mit den Gangliosiden der Mukosa
wird die Adenylatcyclase aktiviert,
so daß eine aktive Sekretion von
Wasser und Elektrolyten ins Darmlumen bewirkt wird. Die Bindung
des Choleratoxins an die Schleim-
haut ist durch das GM1 vollständig
und durch Galaktose zumindest
größtenteils inhibierbar.
Ob sich hieraus therapeutische
Konsequenzen in der Form ergeben werden, daß die kombinierte
Verabreichung von Antibiotika zusammen mit orthograden Darmspülungen mit Galaktose-haltigen
Elektrolytlösungen zu einer Dissoziation des Toxins vom Rezeptor
und zu einer Abtötung der Vibrionen führt, bleibt zumindest einen
klinischen Versuch wert, ebenso
wie die Gabe von Erdnüssen, welche auch ein Lektin enthalten, das
mit GM1 reagiert und den Rezeptor blockieren kann.
Prospektive
klinische Konsequenzen
Die Bedeutung von Lektinen bei
der Pathogenese bakterieller Infektionen stellt einen heute noch
nicht in vollem Umfang zu überschauenden Faktor dar. Es ist bemerkenswert, daß den Lektinen
bei der Infektion eine Anzahl sehr
verschiedenartiger Funktionen zukommt (14). Diese reichen von
Chemotaxis-Proteinen, zu finden
DEUTSCHES ARZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 5 vom 4. Februar 1983 31
Zur Foitbildung
Aktuelle Medizin
Bakterielle Lektine
FÜR SIE GELESEN
bei Salmonella und Escherichia
coli, von Carrier-Proteinen für
metabolisierbare Kohlenhydrate
(wie bei E. coli) über Anheftungsvermittler (orale Aktinomyceten
und Streptokokken bei der Kariesentstehung) bis hin zu den hochpotenten bakteriellen Toxinen
vom Typ des Cholera- und des
Diphtherietoxins.
Erhöhtes Leukämierisiko
nach Behandlung
des Ovarialkarzinoms mit
alkylierenden Substanzen
Intrauterinpessar
führt unter Umständen
zu einer Steigerung der
Spontanaborthäufigkeit
Bei der Beurteilung der leukämogenen Potenz alkylierender Zytostatika ist die Langzeitbeobachtung von Patienten mit Ovarialkarzinomen von besonderer Bedeutung, da hier keine intrinsische
Prädisposition zur akuten Leukämie vorliegt. Greene und Mitarbeiter haben Daten von fünf nordamerikanischen Studien zur Behandlung des Ovarialkarzinoms
zusammengetragen. Von 1399
Frauen waren 998 in ,verschiedenen Stadien des Ovarialkarzinoms
mit alkylierenden Substanzen
behandelt worden. Von diesen erkrankten 12 an einer akuten nichtlymphatischen Leukämie (ANLL)
bei einer statistisch erwarteten Anzahl von 0,11. Die an ANLL erkrankten Patienten waren über einen längeren Zeitraum mit größeren Dosen Melphalan (10) bzw.
Chlorambucil (2) behandelt worden. Die Dauer vom Behandlungsbeginn bis zum Auftreten der
ANLL betrug 27 bis 83 Monate. In
10 Fällen ging eine präleukämische Phase voraus. Alleinige oder
in Kombination mit der Chemotherapie durchgeführte Radiotherapie beeinflußte das Leukämierisiko nicht erkennbar. Nach Ansicht
der Autoren sollte dieses Ergebnis
den Einsatz der genannten Substanzen bei der Behandlung des
Ovarialkarzinoms nicht verhindern, da ein eventueller, keineswegs sicherer, später Tod an
Leukämie einem sicheren frühen
Tod am Ovarialkarzinom vorzuziehen sei. Es sollten jedoch Konsequenzen gezogen werden bei der
Konzeption von adjuvanten Therapiestudien, bei denen ein größerer
Anteil Langzeitüberleber zu erwarten ist. Hrm
Sind bei der Diagnose „Schwangerschaft" die Fäden eines Intrauterinpessars (IUP) im Zervikalkanal sichtbar, so ist der IUP zu
entfernen. Dafür gibt es zwei
Gründe:
1. Die Spontanaborthäufigkeit
steigt von 20 Prozent auf 55 Prozent, wenn das IUP belassen wird,
und
2. besteht ein erhöhtes Infektionsund Sepsisrisiko.
Sind die Fäden nicht mehr sichtbar, so kann der IUP belassen werden; wegen des hohen Risikos für
Mutter und Kind ist die Patientin
jedoch genau aufzuklären. Besser
ist auch hier die Entfernung unter
hysteroskopischer Kontrolle. Dabei kann beurteilt werden, ob die
Gravidität erhalten werden kann
oder nicht. Fieberhafte Verläufe
oder Komplikationen wurden
nicht beobachtet. In vielen Fällen
ist die Schwangerschaft zu erhalten. Eine sorgfältige Überwachung im Sinne einer Risikogravidität ist jedoch erforderlich. See
Obwohl ohne diese Lektine in vielen Fällen eine Infektion gar nicht
möglich sein dürfte, da das Bakterium sich weder anheften noch einen Metabolismus aufbauen kann,
und obwohl ferner, wie bei Vibrio
cholerae und Corynebacterium
diphtheriae, ohne die Lektin-Toxin-Wirkung der Pathogenitätsfaktor entfällt, ist es bislang noch
nicht gelungen, durch eine gezielte pharmakologische Störung dieser Mechanismen eine antiinfektiöse Therapie zu betreiben. Es
bleibt aber zu hoffen, daß - künftig
eine neue Gruppe antibiotisch wirkender Pharmaka gefunden wird,
welche entweder die Bildung oder
das Funktionieren der für die Infektion notwendigen Lektine unterbindet.
Außerdem spielen bakterielle Lektine bei dem Pilus-induzierten
Genaustausch zwischen Bakterien
eine entscheidende Rolle.
In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, daß man auch in
umgekehrter Weise mit pflanzlichen, tierischen, aber auch mit
bakteriellen Lektinen die verschiedenen Zuckerstrukturen von Bakterienoberflächen „abtasten"
kann, was nicht nur zu einer zusätzlichen Klassifizierung dieser
Mikroorganismen führt, sondern
die Möglichkeit eröffnet, mit Hilfe
der Lektin-Affinitätschromatographie einzelne Bestandteile der Bakterienzellmembran zu isolieren.
Literatur beim Sonderdruck
Anschrift für die Verfasser:
Professor Dr. med.
Gerhard Uhlenbruck
Medizinische Universitätsklinik
Kerpener Straße 15
5000 Köln 41
32
Greene, M. H., et al.: Acute Nonlymphocytic
Leukemia after Therapy with Alkylating Agents
for Ovarian Cancer: A Study of Five Randomized Clinical Trials, N. Engl. J. Med. 307
(1982) 1416-1421, Environmental Epidemiology Branch, National Cancer Institute, Landow
4C-18, Bethesda, MD 20205
Schweppe, K. W.; Wagner, H.; Beller, F. K.: Zur
Diagnostik und Therapie okkulter Intrauterinpessare bei eingetretener Schwangerschaft,
Gebh. u. Frauenheilk. 42 (1982) 829-832,
Univ.-Frauenklinik Münster, Domagkstr. 11,
4000 Münster
Ergänzende Mitteilung
Aktuelle Fragen
der Hygiene
Bei der Veröffentlichung des Editorials „Aktuelle Fragen der Hygiene", Heft 48/1982, Ausgaben A, B
und C, Seite 38 ff., ist der Name
des Zweitautors nicht genannt
worden. Autoren der Arbeit sind
Professor Dr. med. Hans-Werner
Schlipköter und Professor Dr.
med. Ludwig Grün, beide Institut
für Hygiene der Universität Düsseldorf, Gurlittstraße 53. DÄ
Heft 5 vom 4. Februar 1983 80. Jahraanq DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A
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