KJug 58. Jahrgang | 3. Quartal 20183 Kinder- und Jugendschutz in Wissenschaft und Praxis Psychisch kranke Kinder und Jugendliche 3|2013 Michael Kölch, Jörg M. Fegert Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen Paul L. Plener, Rebecca C. Groschwitz, Martina Bonenberger, Jörg M. Fegert Traumatische Lebenserfahrungen bei Jugendlichen mit nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten (NSSV) Beate Lisofsky »Wahnsinnskinder?« Sabine Andresen Auffällig in der Schule Außerdem Sigmar Roll Recht und Rechtsprechung: Jugendschutzprogramme – ein Konzept mit Januskopf KJug www.kjug-zeitschrift.de Neu! Onlineservice Impressum Herausgeber Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e.V. Prof. Dr. Bruno W. Nikles (Vorsitzender) Redaktion Ingrid Hillebrandt (verantwortlich) Sigmar Roll (Recht und Rechtsprechung) Prof. Dr. Andreas Lange (Rezensionen) Satz und Layout Annette Blaszczyk Wissenschaftlicher Beirat Prof. Dr. Jörg M. Fegert, Universitätsklinik Kinder- u. Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie Ulm Prof. Dr. Nadia Kutscher, Katholische Hochschule NRW Köln Prof. Dr. Gabriele Kokott-Weidenfeld, Fachhochschule Koblenz Prof. Dr. Andreas Lange, Hochschule Ravensburg-Weingarten Dr. Christian Lüders, Deutsches Jugendinstitut München Prof. Dr. Johanna Mierendorff, Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg Sigmar Roll, Bayerisches Landessozialgericht Schweinfurt Prof. Dr. Ahmet Toprak, Fachhochschule Dortmund Redaktionsanschrift Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e.V. Mühlendamm 3, 10178 Berlin Tel. (0 30) 400 40 301, Fax (0 30) 400 40 333 E-Mail: [email protected] Verlag Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e.V. (BAJ) Kinder- und Jugendschutz in Wissenschaft und Praxis erscheint vierteljährlich. Jahresumfang ca. 128 Seiten. Bezugspreis jährlich Euro 46,– zuzüglich Versandkosten/Porto, Einzelheft Euro 16,– . Abbestellungen sind nur zum Ende eines Kalenderjahres möglich (schriftlich bis 15. November bei der Redaktion eintreffend). Studenten erhalten 20 % Nachlass auf den Abonnementpreis (Vorlage der Studienbescheinigung erforderlich). Preisirrtum und -änderungen vorbehalten. Druck /Auslieferung/Abo-Verwaltung Westkreuz Druckerei Ahrens KG Töpchiner Weg 198/200 12309 Berlin Tel. (030) 745 20 47 Fax (030) 745 30 66 Mail: [email protected] Internet: www.westkreuz.de Die Zeitschrift und alle in ihr enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Herausgebers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen in den verschiedenen Druck- und Kopierverfahren, für Übersetzungen in andere Sprachen, für Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Auch die Rechte der Wiedergabe durch Vortrag, Funk- und Fernsehsendung, im Magnettonverfahren oder ähnliche Wege bleiben vorbehalten. Fotokopien für den persönlichen und sonstigen eigenen Gebrauch dürfen nur von einzelnen Beiträgen oder Teilen daraus als Einzelkopie hergestellt werden. Jede im Bereich eines Unternehmens hergestellte oder genutzte Kopie dient gewerblichen Zwecken gem. § 54 (2) UrhG und verpflichtet zur Gebührenzahlung an die VG WORT, Abteilung Wissenschaft, Untere Weidenstraße 5, 81543 München, von der die einzelnen Zahlungsmodalitäten zu erfragen sind. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Rezensionsexemplare kann keine Gewähr übernommen werden. ISSN 1865-9330 Inhalt KJug 3/2013 Kurz berichtet Liebe Leserin, lieber Leser, bereits im 13. Kinder- und Jugendbericht stand das Thema »Gesundheitsbezogene Prävention und Gesundheitsförderung in der Kinder- und Jugendhilfe« im Mittelpunkt und auch in KJug haben wir uns regelmäßig mit der Gesundheit bzw. Krankheit von Kindern und Jugendlichen beschäftigt. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die wegen psychischer, psychosomatischer oder anderer Krankheiten in ärztlicher oder psychotherapeutischer Behandlung sind, ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen. Das Spektrum dessen, was als verhaltensauffällig bezeichnet wird, ist dabei sehr breit und reicht von Störungen des Sozialverhaltens, Selbstverletzendem Verhalten, Essstörungen, ADHS, Drogenmissbrauch und Psychosen bis zu Depressionen, Erschöpfung, Ängsten und Zwängen. Psychische Störungen bedeuten für die betroffenen Kinder und Jugendlichen stets eine Beeinträchtigung der Lebensqualität. Dabei ist das Risiko für eine psychische Störung im Kindes- und Jugendalter nicht gleich verteilt, sondern es gibt Gruppen mit einem deutlich erhöhten Risiko. Psychische Auffälligkeiten stellen aber auch für Eltern und Lehrerinnen und Lehrer eine Herausforderung für pädagogisches Handeln dar. Neben individuellen, familiären und sozialen Risikofaktoren rücken auch immer stärker Schutzfaktoren in den Blick von Wissenschaft und Praxis. Diese sog. protektiven Faktoren werden in der Resilienzforschung untersucht – ein Thema, das für den Kinderund Jugendschutz von hohem Interesse ist. Im Rahmen von Prävention ist die Aufgabe aller beteiligten Institutionen die Schaffung von günstigen Rahmenbedingungen für das gesunde Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen. Ziel ist die Sicherstellung der psychischen Gesundheit und parallel dazu die Sicherstellung der Behandlung von betroffenen Kindern und Jugendlichen sowie generell die Schaffung des Bewusstseins für psychische Störungen (nicht nur) bei Kindern und Jugendlichen. Mit den Beiträgen in diesem Heft wollen wir zur Sensibilisierung und Professionalisierung all jener beitragen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Ingrid Hillebrandt 74 Titelthema: Tlt Psychisch kranke Kinder und Jugendliche Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen Prof. Dr. Michael Kölch, Prof. Dr. Jörg M. Fegert 75 Traumatische Lebenserfahrungen bei Jugendlichen mit nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten (NSSV) Dr. Paul L. Plener, Rebecca C. Groschwitz, Martina Bonenberger, Prof. Dr. Jörg M. Fegert 81 »Wahnsinnskinder?« Ein Projekt zur Unterstützung von Familien mit psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen Beate Lisofsky 86 Auffällig in der Schule Eine schwierige Gemengelage der Pädagogik Prof. Dr. Sabine Andresen 90 Fachbeitrag Das Modell der Vier: Eine Klassifikation exzessiver jugendlicher Internetnutzer in Europa Michael Dreier, Kai W. Müller, Eva Duven, Prof. Dr. Manfred E. Beutel, Dr. Klaus Wölfling 96 Positionen/Standpunkte Zur Lage der Kinder in Industrieländern Stellungnahme der DGKJP, des BKJPP, der BAG KJPP und der gemeinsamen Stiftung »Achtung! Kinderseele« 100 Recht und Rechtsprechung Jugendschutzprogramme – ein Konzept mit Januskopf Sigmar Roll 102 Gesetz und Gesetzgebung/Rechtsprechung/Schrifttum Sigmar Roll 106 Kinderschutz aktuell/ Jugendschutz aktuell »Mein Körper gehört mir!« – Kinderparcours Stop & Go – ein Jugendschutzparcours 108 109 Service Literatur/ Mediendienst/ Mitteilungen/ Termine 110 Redaktion 3/2013 KJug 73 Kurz berichtet Sexueller Kindesmissbrauch: »Eltern können etwas tun« Immer mehr Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs in öffentlichen Einrichtungen sind in den vergangenen Jahren bekannt geworden. Das verunsichert insbesondere Eltern. Nach einer aktuellen Umfrage des forsa-Instituts im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) fühlen sich 55 Prozent allein gelassen, wenn es darum geht, ihre Kinder vor Übergriffen zu schützen, von den jüngeren Eltern (25 bis 34 Jahre) sogar 58 Prozent. In der forsa-Umfrage sehen viele Eltern, dass die Schule sie gut unterstützen könnte: So sagen 72 Prozent der Befragten, dass es hilfreich sei, wenn sexueller Kindesmissbrauch im Unterricht behandelt werde. 56 Prozent wünschen sich Informationsveranstaltungen für Eltern zu dem Thema. Die bundesweite Initiative »Trau dich!« des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bietet Kindern zwischen acht und zwölf Jahren, Eltern und pädagogischen Fachkräften Hilfestellungen, um das Thema Kindesmissbrauch zuhause und in der Schule zu thematisieren. Weitere Informationen für Kinder unter www.trau-dich.de und unter www.bzga.de. DJI-Kinder-Migrationsreport Rund ein Drittel der Kinder unter 15 Jahren in Deutschland hat einen Migrationshintergrund. Gleichwohl sind neun von zehn von ihnen in Deutschland geboren, sieben haben die deutsche Staatsbürgerschaft. Die meisten leben in Familien mit hohem sowie mittlerem Berufsund Bildungsniveau. Und obwohl die Mehrheit der Kinder mit Zuwanderungshintergrund nicht in Armut lebt, verfügen sie deutlich häufiger als Kinder ohne Migrationshintergrund über nur geringe kulturelle, soziale und ökonomische Ressourcen im Elternhaus. Mit dem Kinder-Migrationsreport stellt das Deutsche Jugendinstitut eine Veröffentlichung vor, in der Ergebnisse repräsentativer Erhebungen zu den Lebenslagen und Lebenswelten von Kindern mit Zuwanderungsgeschichte zusammengetragen wurden, ergänzt durch eigene kindbezogene bzw. altersspezifische Auswertungen von Daten des Mikrozensus sowie des DJI-Surveys »Aufwachsen in Deutschland« (AID:A). Download unter: http://www.dji.de/bibs/ Kinder-Migrationsreport.pdf www.hilfeportal-missbrauch.de Das neue Online-Angebot bietet Informationen zu Beratung, Hilfen und Fragen der Prävention für von sexueller Gewalt Betroffene, deren Angehörige und Fachkräfte. Eine Datenbank unterstützt bundesweit die Suche nach spezialisierten Beratungs- und Hilfsangeboten vor Ort. Das Angebot wendet sich nicht explizit an Kinder, verweist aber auf entsprechende Angebote für Mädchen und Jungen. In der Datenbank finden sich folgende Kontakte: Beratungsstellen (Fachberatungsstellen, allgemeine Familien-, Erziehungs- und Lebensberatungsstellen), Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Ärztinnen und Ärzte, Traumaambulanzen und Fachkliniken, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (Opferanwältinnen und Opferanwälte), Telefonische Hilfsangebote, Online-Angebote, Krisendienste (auch Kinder- und Jugendnotdienste) und Jugendämter. 74 K Jug Expertise »Computerspiele in der pädagogischen Praxis« Was spielen Jugendliche am Computer und warum? Wie kann man dieses Thema in der pädagogischen Praxis aufgreifen und behandeln? Welche Materialien und Ansätze gibt es bereits? Das sind die zentralen Fragen, die die Expertise »Computerspiele in der pädagogischen Praxis« stellt, die im Rahmen des Projektes ›Gameslab‹ entstanden ist. Ziel der Expertise ist es, einen Überblick über aktuell zugängliche Materialien, Handlungsempfehlungen und gegenwärtige pädagogische Praxis zu geben, die sich mit den Umgangsweisen von Heranwachsenden in digitalen Spielwelten beschäftigen. Das Hauptaugenmerk der Expertise liegt darauf, Zielrichtung und Themensetzung der Handlungsansätze medienpädagogisch einzuschätzen. Die Praxisprojekte wurden vor allem hinsichtlich ihrer pädagogischen Ausrichtung und Methoden betrachtet. Die Expertise findet sich unter http:// www.jff.de/games/gameslab-expertise Kinder- und Jugendschutz in Bundestagsdrucksachen Tabakprävention und Schadensminderung stärken – EU-Tabakprodukterichtlinie weiter verbessern Bundestagsdrucksache 17/13244, Antrag vom 24.04.2013 Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert ein Verbot des Verkaufs von Zigaretten an öffentlich zugänglichen Automaten. Außerdem sollen Produktpräsentation und Werbung für Tabakprodukte im öffentlichen Raum sowie in Verkaufsstellen insbesondere an Kassen eingeschränkt werden, verlangt die Fraktion in einem Antrag (17/13244). In dem Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert, sich bei den Beratungen über die EU-Tabakprodukterichtlinie für eine Beibehaltung der in dem Richtlinienvorschlag enthaltenen bildgestützten Warnhinweise für Produkte wie Zigaretten und Tabak zum Selbstdrehen einzusetzen. Suchtprävention im Rahmen der Novelle der Spielverordnung Bundestagsdrucksache 17/12916, Kleine Anfrage vom 20.03.2013 Bundestagsdrucksache 17/13014, Antwort der Bundesregierung vom 10.04.2013 Um die Suchtprävention im Rahmen der Novelle der Spielverordnung geht es in einer Kleinen Anfrage der SPD-Fraktion. Die Bundesregierung soll unter anderem darlegen, wie sie sicherstellen will, dass personenungebundene Spielerkarten nicht von Erwachsenen an Minderjährige weitergegeben werden. Außerdem wird nach Kontrollen in Spielhallen und dem Ausmaß der Spielsucht gefragt. 3/2013 Titelthema Michael Kölch, Jörg M. Fegert Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen Psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen sind häufige Phänomene: nach dem Kinderund Jugendgesundheitssurvey des Robert Koch-Instituts (KiGSS), der die neueste Datengrundlage für Deutschland darstellt, zeigen ca. 20% der Kinder und Jugendlichen Auffälligkeiten im Verhalten (Meltzer et al. 2003, Kessler et al. 2005, Hölling et al. 2007). Die Kriterien für eine behandlungsbedürftige psychische Störung, die z.B. nach der ICD-10 Klassifikation der WHO definiert wird, erreichen aber deutlich weniger Kinder und Jugendliche, jedoch immerhin noch ca. 6%. Dabei ist das Risiko für eine psychische Störung im Kindes- und Jugendalter nicht gleich verteilt, sondern es gibt Gruppen mit einem im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung deutlich erhöhten Risiko. Welche Störungen sind typisch im Kindes- und Jugendalter, was sind die Ursachen und wie wird behandelt? Der Beitrag wird auf einzelne typische Störungsbilder im Kindes- und Jugendalter und auf spezielle Risikogruppen eingehen. Formen und Verläufe psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen Kinder- und jugendpsychiatrisch hat sich eine Einteilung der psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen in externalisierende und internalisierende Störungen bewährt (Laucht et al. 2000). Externalisierende Störungen zeichnen sich durch expansives Verhalten aus, die Symptomatik wird durch nach außen gerichtetes (und von außen beobachtbares) Verhalten wie motorische Unruhe, Unkonzentriertheit oder erhöhte Impulsivität (typische Symptome bei hyperkinetischen Stöexternalisierende rungen oder Aufmerksamkeits-DefizitStörungen Hyperaktivitätsstörung, ADHS), dissoziale Phänomene wie Stehlen, Zündeln, Zerstören von Dingen, Gewalt gegen andere, Substanzabusus (Symptome bei Störungen des Sozialverhaltens) gekennzeichnet. Aber auch die Ticstörung, mit ihrer motorischen (einschießende Bewegungen) oder phonetischen (nicht steuerbare Laut-/Geräuschbildung) Symptomatik zählen zu den externalisierenden Störungen. Dagegen richten sich bei internalisierenden Störungen die Symptome mehr nach »innen«, sie sind zum Teil schlechter beobachtbar und die internalisierende Problematik ist mehr im Gefühlsbereich Störungen lokalisiert. Beispiele sind depressive Störungen, Angststörungen (z.B. soziale Ängste) oder Essstörungen (Anorexia nervosa, Bulimia nervosa) etc. Eine andere übliche Differenzierung der psychischen Störungen stellt die Einteilung in Störungen mit dimensional vom Gesunden verschiedenem und mit kategorial unterschiedlichem Symptommuster 3/2013 KJug, 58. Jg., 75 – 80 (2013) © Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e. V. dar. Ein Beispiel für dimensionale Störungen sind Angststörungen, deren Symptome auf einem Kontinuum physiologischer Gefühle und Reaktionen, wie sie Angst darstellt, dimensional nur überstark ausgeprägt sind. Ein Beispiel für eine Störung mit kategorial unterschiedlicher Phänomenologie sind schizophrene Störungen, deren qualitative Veränderungen des Erlebens mit Wahn, Halluzinationen etc. kategorial verschieden sind vom gesunden Erleben. Während bei Kindern und Jugendlichen fast alle psychischen Störungen, wie sie auch Erwachsene betreffen können, auftreten (wie z.B. Zwangsstörungen, Angststörungen, Psychosen etc.), gibt es einige kinder- oder jugendspezifische Störungen, die sich (beinahe) ausschließlich in dieser Altersgruppe manifestieren: Beispiele hierfür sind Bindungsstörungen (gestörte Bindung an die primäre Bezugsperson mit deutlicher kinder- oder Störung in der Mutter-Kind-Interaktion jugendspezifische im frühesten Alter oder Fehlen einer pri- Störungen mären Bezugsperson in diesem Altersabschnitt und daraus folgend massiv auffälligem Verhalten z.B. mit Überaktivität, Weglaufen, Distanzlosigkeit etc.), Ausscheidungsstörungen (Einnässen, Einkoten), bestimmte Angststörungen wie die emotionale Störung mit Trennungsangst (also einer Angst sich von den Bezugspersonen zu trennen und deswegen z.B. den Schulbesuch zu verweigern), (s)elektiver Mutismus (trotz prinzipieller Fähigkeit zu Sprechen keine sprachliche Kommunikation mit anderen Menschen oder nur mit ausgewählten Personen), hyperkinetische Störungen oder Störungen des Sozialverhaltens. Psychische Störungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Auswirkungen auf das Denken, Fühlen KJug 75 Kölch, Fegert • Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen und Handeln der Patienten haben, dies meist nicht nur kurzdauernd, sondern eher länger anhaltend: Sie beeinträchtigen die Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Familien. Sowohl die Schwere der Ausprägung, als auch die Auswirkung auf das Funktionsniveau wie die Dauer einer Symptomatik sind also konstitutiv für eine Diagnose. Einzelne Symptome, wie sie passager bei Kindern oder Jugendlichen auftreten können, wie z.B. Traurigkeit, Ängstlichkeit oder selbstverletzendes Verhalten (Plener et al. 2009), können zwar stark beeinträchtigend sein, müssen aber nicht die Kriterien für eine Diagnose erfüllen, wenn sie nur zeitlich sehr kurz, oder ohne weitere zusätzliche Symptome oder Phänomene auftreten. Damit sind den diagnostizierten Störungen ein klinischer Schweregrad und eine daraus folgende Beeinträchtigung immanent, und es liegen bei einer diagnostizierten Störung nicht nur »Befindlichkeitsvarianten« vor. Einige der in der Kinder- und Jugendpsychiatrie bekannten Störungen remittieren auch wieder im Kindes- oder Jugendalter, so verliert sich Dauer einer z.B. bei einem Großteil der Patienten mit Symptomatik Störung des Sozialverhaltens die Symptomatik am Ende der Pubertät (Moffit et al. 2002), Ausscheidungsstörungen persistieren kaum ins Erwachsenenalter. Störungen wie Autismus (deutliche qualitative Beeinträchtigung in der sozialen Interaktion und Kommunikation mit Entwicklungsstörungen und Stereotypien, bzw. eingeengten Sonderinteressen) oder ein Teil der Ticstörungen sind jedoch als chronische Beeinträchtigungen anzusehen, deren Symptomatik auch noch im Erwachsenenalter fortbesteht. Dies gilt meist auch für diejenigen schizophrenen Psychosen, die sich im Jugendalter erstmanifestieren (»early onset schizophrenia«, EOS): oftmals sind Beeinträchtigungen auch noch im jungen Erwachsenenalter gegeben, einige Erkrankte sind ihr ganzes Leben durch die Symptomatik beeinträchtigt. Titelthema verfahren etc. und auch, welche diagnostischen Kriterien angelegt wurden, d.h. ob z.B. das DSM oder die ICD als Grundlage genommen wurden. Im Falle der ADHS können sich DSM=Diagnostic so deutlich unterschiedliche Zahlen er- Statistic Manual of geben. Verwendet man die DSM-Krite- Mental Disoders der rien, wie sie in den USA üblich sind, wird American Psychiatric eine weitaus niedrigere Schwelle zur Er- Association füllung des Störungskriteriums ange- ICD=International setzt und die Prävalenz wird höher aus- Classification of fallen. Diseases Nach den epidemiologischen Untersuchungen (Meltzer et al. 2002, Kessler et al. 2005, Hölling et al. 2007) zählen zu den sehr häufigen psychischen Störungen bei Minderjährigen die hyperkinetischen Störungen, also die ADHS, die bis zu 4 bis 6% der Kinder betreffen sollen und Störungen des Sozialverhaltens, die 4 bis 16% aller Kinder betreffen. Beide Störungen werden bis zu 6-mal häufiger bei Jungen diagnostiziert. Angststörungen, wie internalisierende Störungen generell, treten dagegen bei Mädchen häufiger auf, die Prävalenzangaben schwanken zwischen 6% und 20%, wobei die Zahl der Kinder, die tatsächlich die Diagnosekriterien erfüllen niedriger liegt. Für andere Störungen, wie Zwangsstörungen, Ticstörungen, Essstörungen wie Anorexia und Bulimia nervosa liegen die Angaben für die Prävalenz um 0,5 bis 3%. Schmerzstörungen, insbesondere im Kindes- und Jugendalter als Kopf- und Bauchschmerzen auftretend, sind häufigere Phänomene und zählen zu den somatoformen Störungen. Die Zahl der diagnostizierten Fälle von Autismus hat in den letzten Jahren zugenommen (von 3/10.000 in den 1970iger Jahren auf mehr als 30/10.000 in den 1990iger Jahren) und führte zur Diskussion, ob tatsächlich die Störung zunimmt, oder diese nur vermehrt diagnostiziert wird (Kölch, Fegert 2013). Entwicklungsaspekte Epidemiologie: Häufigkeit einzelner Störungsbilder Genaue Angaben zur Häufigkeit psychischer Störungen sind deshalb oft schwer zu treffen, da epidemiologische Studien sehr variable Ergebnisse berichten. Dies hat methodische Ursachen. Unter anderem hängt das Ergebnis davon ab, welche Population in die Untersuchung eingeschlossen wurde, z.B. ob eine Untersuchung in klinischen Populationen (mit erwartbar höheren Raten an Symptomen) oder in der Allgemeinbevölkerung durchgeführt wurde; welche diagnostischen Instrumente verwendet wurden, z.B. klinische Interviews, Fragebogen- 76 K Jug Die kindliche Entwicklung läuft nicht vollkommen linear ab und die Entwicklungsmeilensteine werden nicht vollkommen normiert zu festen Zeitpunkten absolviert. Eine verfrühte oder verzögerte Meisterung eines Entwicklungsschritts hat an sich nichts unmittelbar Pathologisches an sich. Erst wenn ein Kind deutlich abweicht von nach dem biologischen Alter erwartbaren Kompetenzen oder sich eine deutliche Einschränkung des Funktionsniveaus aufgrund einer psychischen Störung ergibt, wird die Schwelle zur Pathologie und damit zur definierten Störung überschritten. Hinsichtlich der starken Abhängigkeit von der Entwicklung unterscheiden sich kinder- und jugendpsychiatrische Störungsbilder 3/2013 Titelthema Kölch, Fegert • Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen auch von erwachsenpsychiatrischen Störungen. Manche Phänomene, die in einem anderen Lebensabschnitt als pathologisch zu werten wären, können als typische Phänomene oder Entwicklungsschritte von Kindern gelten: die Dunkelangst ist Entwicklungsschritte bei kleineren Kindern physiologisch und von Kindern und keine Erkrankung, tritt sie dagegen bei Jugendlichen Jugendlichen auf, wäre sie pathologisch. Eine im Vergleich zu Erwachsenen erhöhte motorische Unruhe und geringere Konzentrationsfähigkeit ist im Kleinkindalter normal, bei einem 10-Jährigen ist eine Kontrolle der motorischen Funktionen über die Dauer einer Schulstunde dagegen zu erwarten. Stimmungsschwankungen in der Pubertät sind physiologisch, behindern diese jedoch die soziale Integration, da ein sozialer Rückzug von der Umwelt erfolgt, oder sind so stark, dass den Alltagsanforderungen nicht mehr genügt wird, werden sie zur Krankheit oder Störung. Psychische Störungen bei Minderjährigen sind neben dem akuten subjektiven Leid, das sie für die Betroffenen, oder aber auch für die Familie bedeuten, große Entwicklungsrisiken für die Weiterentwicklung des Kindes. In keiner Altersspanne liegen so viele Entwicklungsaufgaben vor einem Menschen, wie in der Zeit vom Kleinstkind bis zum jungen Erwachsenen. Damit kann auch jede Entwicklungsaufgabe aufgrund einer psychischen Störung scheitern und langfristig fatale Auswirkungen haben, wenn eine psychische Störung in dieser Phase auftritt und Auswirkungen auf das Funktionsniveau des Kindes oder Jugendlichen hat. Gleichzeitig stellen eben jene Entwicklungsaufgaben auch Risiken für die Ausbildung einer psychischen Störung dar: das Nichtgelingen eines Entwicklungsschritts, wie z.B. das Knüpfen erster Freundschaften, kann wiederum zur Ausbildung einer psychischen Störung, wie z.B. einer Depression führen. Problematisch an dieser Zeitphase ist, dass sie in sehr kurzen Zeitabschnitten Zeitfaktor bei weitreichende Auswirkungen haben Erkennung und kann: ein Misslingen der SchulintegratiBehandlung von on bei einem 7-jährigen Kind, kann zur psychischen Folge haben, dass damit die gesamte Störungen Schullaufbahn fehlgebahnt wird, und ihm Möglichkeiten für das gesamte Leben vorenthalten sind. Insofern spielt bei psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter der Zeitfaktor eine entscheidende Rolle, sowohl bei Erkennung, als auch bei der Behandlung. Ziel ist immer, das Kind oder den Jugendlichen möglichst rasch zu befähigen einen altersgerechten Alltag zu meistern und ein angemessenes psychosoziales Funktionsniveau zu erreichen. 3/2013 Typische Erkrankungsalter – zum Teil abhängig von Umweltanforderungen Bestimmte psychische Störungen manifestieren sich erstmalig in typischen Altersphasen. Im Kleinkindalter fallen Fütterstörungen, exzessives Schreien und Bindungsstörungen auf. Im Übergang vom Kleinkindalter zum Schulkindalter treten typischerweise emotionale Störungen mit Trennungsangst auf, die Unfähigkeit sich von der primären Bezugsperson zu trennen. Auch autistische Störungen fallen oft erstmals im Kindergar- typische tenalter auf, da die Kinder nicht mit ande- Altersphasen ren Kindern in Kontakt treten und sich für die Umwelt sonderbar verhalten. Ein ADHS wird zwar oft bereits im Kindergartenalter beobachtet, extrem auffällig werden die Kinder aber mit Schuleintritt, wenn die Anforderungen an Konzentration, Kontrolle der motorischen Funktionen und der Impulsivität schlagartig ansteigen. Es ist also bei manchen Störungen ein Zusammenhang mit den Entwicklungsaufgaben evident: die Anforderungen in der Schulsituation sind neue Herausforderungen, in denen bisher nicht oder nur geringer als problematisches Verhalten manifeste Probleme bereitet. TicStörungen zeigen im Alter von 6 bis 7 Jahren einen Häufigkeitsgipfel in der Erstmanifestation. Allerdings ist bei dieser Störung ein Zusammenhang mit externen Anforderungen kaum zu konstruieren. Ebenfalls im Schulalter werden Störungen des Sozialverhaltens meist apparent, je früher sie beginnen, desto größer ist die Gefahr, dass aus diesem Verhalten ein chronisches Verhaltensmuster wird. Typische Erkrankungen der Pubertät sind Essstörungen. Auch selbstverletzendes Verhalten, bei dem in nicht suizidaler Absicht – oft zur Emotionsregulation – dem eigenen Körper Verletzungen zugefügt werden, ist ein Phänomen der Pubertät. Depressive Störungen, ebenso wie die seltenen bipolaren Erkrankungen zeigen in dieser Altersperiode ein gehäuftes Auftreten. Im Übergang zur Adoleszenz treten Substanzabusus und auch Phänomene von Persönlichkeitsstörungen, insbesondere vom Typus der emotional instabilen, der sogenannten »Borderline«-Störung auf. Eine seltene Erkrankung in diesem Alter ist die Schizophrenie, die gleichwohl, wenn sie sich in diesem Lebensabschnitt erstmanifestiert, eine besonders schwere Ausprägung und schwere langfristige Auswirkungen zeigt. Relativ unabhängig vom Alter können sich Störungen wie posttraumatische Be- posttraumatische lastungsstörungen manifestieren, hier Belastungsstörungen ist das auslösende Ereignis der Trigger für das Auftreten. Besonders dramatisch ist, dass sich die Folgen oft noch viele Jahre später nachwei- KJug 77 Kölch, Fegert • Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen sen lassen (Mills et al. 2011). Sequentielle Traumatisierungen, wie frühe Vernachlässigung und multiple Misshandlung, zeigen oft nicht unmittelbar ein typisches Traumasymptommuster, sondern maskieren sich z.B. als Störungen des Sozialverhaltens und werden erst später als Traumaentwicklungsstörung mit multiplen Symptomen auffällig (Schmid et al. 2010). Ursachen Insgesamt sind psychische Störungen in ihrer Entstehung hochkomplex, so dass nicht von einer monokausalen Entstehungsbedingung ausgegangen werden kann. Etabliert ist als Erklärungsmodell das sogenannte »bio-psycho-soziale Modell«, wonach beim Individuum eine genetische Vulnerabilität vorhanden sein kann; wichtig sind aber auch psychische Faktoren (etwa einem erlernten negativen Denkstil, wie z.B. »ich kann nichts verändern«) und soziale Faktoren (Arbeitslosigkeit, soziale Isolierung) hinsichtlich des Risikos, ob eine Störung auftritt, bzw. wie stark ihre Auswirkungen auf das Funktionsniveau eines Menschen sind. Einen wichtigen Hinweis auf individuelle Faktoren, die das Risiko für psychische Störungen erhöhen, liefert die, insgesamt noch wenig ausgeprägte, Resilienzforschung. Inhalt dieser Forschung ist, welche Faktoren dazu führen, dass manche Menschen trotz gleicher Umweltbedingungen und Einwirkungen krank werden und manche nicht (Rutter 2006, Kölch, Fegert 2013). Wenn auch ein Teil der psychischen Störungen im Kindesalter reaktiv bedingt ist, also aufgrund äußerer Einflüsse, wie z.B. Scheidung, Streit zwischen den Bezugspersonen, Vernachlässigung, Mobbing in der Schule, ist dennoch bekannt, dass selbst bei diesen reaktiven Störungen eine geneprotektive tische Vulnerabilität bestehen kann und Resilienzfaktoren das Auftreten der Störung stark vom Vorhandensein protektiver Resilienzfaktoren abhängt. Eine gute Einbindung in eine stabilisierende Peergroup kann beispielsweise ungünstige familiäre Einflussfaktoren oder Belastungen neutralisieren. Die Bedeutung der Bindung in der frühen Kindheit für die Vermeidung bzw. Entstehung von psychischen Störungen wurde in vielen Studien bestätigt (Ziegenhain, Fegert 2004). Beispielsweise spielen genetische Varianten in Zusammenhang mit Umweltfaktoren, wie etwa dem Erleiden eines Traumas eine Rolle bei der Entstehung von posttraumatischen Belastungsstörungen (PTSD) und anderen Störungen in der Kindheit und Jugend (KimCohen et al. 2006). Frodl et al. (2010) konnten zeigen, dass Stress in der Kindheit spätere Veränderungen in der weißen Substanz des Hippokampus 78 K Jug Titelthema vorhersagen kann, unabhängig davon, welcher Genotyp vorliegt. Generell findet in der Zeit der Kindheit und Jugend ein immenser Umbauprozess im Gehirn statt, der es auch äußerst vulnerabel macht für Fehlentwicklungen (Markham et al. 2007, Shaw et al. 2008, Tau, Peterson 2010). Gerade im frühen Kindesalter kann es eine Wechselwirkung zwischen Auffälligkeiten des Kindes und der Reaktion der Umwelt geben, die wiederum Krankheitssymptome verstärkt. Ein Kind mit einem schwierigen Temperament, wie z.B. ein Schreikind, kann entsprechend bei den Eltern Verunsicherung hervorrufen und eine pathologische Interaktion einleiten, die das schwierige Temperament verstärkt (Ziegenhain, Fegert 2004). Andererseits sind gerade im Kleinkindalter die Eltern-KindInteraktion, die Bindung der primären Bezugsperson und die Berücksichtigung der kindlichen Bedürfnisse im Sinne der Feinfühligkeit der Eltern entscheidend, damit sich das Kind gesund entwickeln kann. So sehr auch im Kindesalter Umweltfaktoren bei der Ausbildung von Störungen eine Rolle spielen, so haben doch einige Störungen eine eindeutig neurobiologische oder genetische Komponente und sind von äußeren Faktoren relativ unabhängig, wie z.B. autistische Störungen (Freitag 2007) oder schizophrene Störungen. Als soziale Risikofaktoren für die Ausbildung einer psychischen Störung konnten mehrere epidemiologische Studien intrafamiliäre Belastungen identifizieren. Bereits die epi- soziale demiologischen Studien von Meltzer et Risikofaktoren al. (2002) in Großbritannien konnten zeigen, dass das Risiko für eine psychische Störung bei Kindern und Jugendlichen von sozialen Faktoren abhängt, wie dem sozialen Status der Familie, dem Bildungsgrad der Eltern etc. Die Bella-Studie (Ravens-Sieberer et al. 2007) und der KiGGS (Hölling et al. 2007) bestätigten die Befunde von Meltzer auch für Deutschland. Ein doppeltes Risiko für das Auftreten einer psychischen Störung besteht bei Kindern von Alleinerziehenden, aktuelle Familienkonflikte oder Unzufriedenheit der Eltern in der Partnerschaft potenzieren das Risiko noch mehr. Auch ein höheres Risiko für externalisierende Störungen, wie ADHS, bei schwächerem sozioökonomischem Status der Eltern konnte aufgezeigt werden. 3/2013 Titelthema Kölch, Fegert • Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen Hochrisikogruppen: Heimkinder – Pflegekinder – Kinder psychisch kranker Eltern In den letzten Jahren konnten bestimmte Hochrisikogruppen für psychische Störungen identifiziert werden. Besonders bedrückend ist, dass diese Gruppen keineswegs am besten psychiatrisch versorgt sind, sondern eher Stiefkinder in Heimkinder der Versorgung sind. Insbesondere Kinder in institutioneller Erziehung (»Heimkinder«), Kinder in Pflegeverhältnissen und Kinder psychisch kranker Eltern stellen diese Hochrisikogruppe dar. Schmid et al. (2008) konnten nachweisen, dass z.B. bei Heimkindern bei bis zu 60% der Kinder eine psychische Störung diagnostizierbar ist, und zwar nicht nur externalisierende Störungen, sondern auch internalisierende Störungen. Heimkinder zeigen eine hohe Komorbidität (es liegt also nicht nur eine Störung vor) und eine sehr komplexe Psychopathologie (Tarren-Sweeney 2008). Unbehandelt führen diese Störungen aufgrund der Verhaltensauffälligkeiten oft zum Scheitern von Jugendhilfemaßnahmen, mit der Folge, dass mit jedem weiteren Beziehungsabbruch und jeder weiteren gescheiterten Hilfe die Wirksamkeit einer neuen Jugendhilfemaßnahme sinkt Kinder in (Macscenaere, Knab 2004). Analoges gilt Pflegeverhältnissen für Kinder in Pflegeverhältnissen, die oftmals ein erhöhtes genetisches Risiko mitbringen und z.B. ein deutlich erhöhtes Risiko für Bindungsstörungen aufweisen. In Populationen von Kindern und Jugendlichen in institutioneller Betreuung (Heimkinder, Kinder in Pflegefamilien) ist die Belastung durch vielfache Kindheitstraumata besonders hoch (Fegert, Besier 2010). Es bestehen hochsignifikante Zusammenhänge unterschiedlicher Misshandlungsformen (Wetzels 1997, Fegert 2001). Vostanis et al. (2006) zeigte auf, dass Kinder von psychisch kranken Eltern ein viermal höheres Risiko aufweisen, selbst an einer psychischen Kinder von psychisch Störung, zu erkranken. Gleichzeitig ist kranken Eltern das Stressempfinden psychisch kranker Eltern erhöht und sie empfinden die Elternschaft signifikant weniger beglückend als nicht erkrankte Eltern (Stadelmann et al. 2010). Die Inanspruchnahme von Hilfen für die Kinder ist in dieser Gruppe besonders niedrig, was durchaus einen Teufelskreis initiieren kann, an dessen Ende aus Kinderschutzaspekten die Herausnahme des Kindes aus der Familie steht, weil zu spät interveniert wurde (Schmid et al. 2008). 3/2013 Behandlung Kinder- und jugendpsychiatrische Behandlung ist multimodal ausgelegt und findet in enger Kooperation mit komplementären Systemen, wie der Jugendhilfe und der Schule statt. Nach heutigem Forschungsstand sind bei vielen Störungen verhaltenstherapeutische Maßnahmen und Ansätze am meisten evidenzbasiert. Zusätzlich bestehen gute Wirkhinweise für einige psy- Verhaltenstherapie chopharmakotherapeutische Interventi- Psychotherapie onen, wie beim ADHS, Ticstörungen, de- Psychopharmaka pressiven Störungen, oder Störungen der Impulskontrolle, Zwangsstörungen und Psychosen. Andere Störungen, wie Essstörungen, Mutismus, PTSD, Ausscheidungsstörungen, aber auch Störungen des Sozialverhaltens werden hauptsächlich psychotherapeutisch, oder letztere pädagogisch, behandelt (für einen Überblick siehe Fegert, Kölch 2012). Die Indikation für eine teil- oder vollstationäre Aufnahme ergibt sich aus der Funktionseinschränkung der Patienten, oder in Einzelfällen, wie bei Essstörungen oder schizophrenen Psychosen, aus der vitalen Gefährdung. Fazit Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen treten oft entwicklungsabhängig auf. Je nach Erkrankungsalter bei Erstmanifestation können die Störungen massive Auswirkungen auf die weitere Entwicklung eines Kindes haben. Psychische Störungen sind, wenn sie die Diagnosekriterien der ICD-10 erreichen, keine Befindlichkeitsstörungen, die sich von selbst bessern und als »Pubertätskrisen« qualifiziert werden können, sondern Krankheiten. Diese bedürfen einer sorgfältigen Diagnostik und daraus abgeleiteten – meist multimodalen – Therapie, die im Einzelfall auch eine Psychopharmakotherapie einschließt. Für viele Störungen liegt inzwischen eine ausreichende Evidenz zu einzelnen Interventionen vor, so dass gut eingeschätzt werden kann, was wirkt und was eher unnötige Therapiebausteine sind. Da sich aufgrund vieler Störungen auch Defizite in der Teilha- Maßnahmen be der Kinder und Jugendlichen ergeben, der Jugendhilfe können ein wichtiges Element der Behandlung auch Maßnahmen der Jugendhilfe sein (nach §35a SGB VIII). Trotz inzwischen besserer kinder- und jugendpsychiatrischer Versorgung sind einzelne Gruppen schlecht versorgt, bzw. benötigen eine besonders intensive und Schnittstellen zwischen den Sozialsystemen überwindende Versorgung. Typische Beispiele sind Kinder/Jugendliche in KJug 79 Kölch, Fegert • Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen Einrichtungen der Jugendhilfe, aber auch in Schulen mit Sonderförderschwerpunkten, wie für Erziehungshilfe oder geistige Behinderung, Kinder in Pflegeverhältnissen, Kinder aus Risikofamilien, wie Kinder psychisch kranker Eltern oder KinRisikokonstellationen der jugendlicher Mütter. Risikokonstellationen wie sie für Misshandlung und Vernachlässigung typisch sind, müssen besondere Präventionsbemühungen gelten. Die Fortentwicklung früher Interventionen, niedrigschwelliger Zugangswege zu den Hilfesystemen und komplexer kooperativer Interventionen seitens Kinder- und Jugendpsychiatrie, Erwachsenenpsychiatrie, anderer medizinischer Disziplinen und der Jugendhilfe, aber auch der Schule, sind insbesondere für die Hochrisikogruppen von Bedeutung, um deren Versorgung indiziert zu verbessern. Nachdem eine indizierte Prävention sich als besonders wirksam erwiesen hat, gab es in den vergangenen Jahren auch Bemühungen, für einige Störungsbilder, die eine langwährende Beeinträchtigung auch im Erwachsenenalter nach sich ziehen, wie schizophrene Störungen, Früherkennungsprogramme zu implementieren. Ziel wäre es die unbehandelte Phase, wenn leichte Symptome bereits vorhanden sind, aber noch nicht zu einer starken klinischen Einschränkung geführt haben, zu verkürzen und damit die Heilungschancen zu erhöhen. Allerdings haben sich diese sogenannten Psychose Risk Syndrome (PRS) nicht als ausreichend stabil und spezifisch erwiesen, so dass hier aktuell noch weitere Forschung notwendig ist, um spezifisch intervenieren zu können (Corell et al. 2010). Ähnliche Bestrebungen bestehen inzwischen auch im Bereich der bipolaren Erkrankungen. Eine andere Tendenz zeichnet sich in den letzten Jahren im Rahmen der Entwicklung des DSM-5 als Fortentwicklung des DSM-IV ab: sollen Schwellen für einzelne Störungen erniedrigt werden, um damit früher, bzw. bereits bei leichteren Störungen behandeln zu können und damit eine schwere Ausprägung einer Erkrankung verhindern zu können? Dies würde durch eine Definitionsänderung auch einen deutlichen Anstieg der Prävalenz einzelner Störungen zur Folge haben. Unter der oben geschilderten starken Entwicklungsvarianz einzelner Symptome im Kindes- und Jugendalter ist eine solche Bestre- 80 K Jug Titelthema bung kritisch zu sehen, da die Gefahr bestünde, einen Großteil passagerer Symptome, die im eigentlichen nie einen funktionseinschränkenden Schweregrad erreichen würden, als Krankheit zu definieren. Da es große Defizite gibt in der Versorgung schwer beeinträchtigter Patienten und bei Risikopopulationen erscheinen Anstrengungen für eine verbesserte Versorgung dieser, bereits eindeutig identifizierter Patientengruppen dringender. Die Literaturliste zum Beitrag kann bei der Redaktion ([email protected]) angefordert werden. Prof. Dr. Michael Kölch Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH Landsberger Allee 49 12149 Berlin Mail: [email protected] Autoren Prof. Dr. Jörg M. Fegert Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm Steinhövelstr. 5 89075 Ulm Mail: [email protected] Prof. Dr. med. Michael Kölch, Ärztlicher Leiter der Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH, Forschungsgruppenleiter Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert, Ärztlicher Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm 3/2013 Titelthema Paul L. Plener, Rebecca C. Groschwitz, Martina Bonenberger, Jörg M. Fegert Traumatische Lebenserfahrungen bei Jugendlichen mit nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten (NSSV) In internationalen Studien wurde mehrfach ein Zusammenhang zwischen traumatischen Lebensereignissen, nicht-suizidalem selbstverletzendem Verhalten (NSSV) und Suizidalität diskutiert. Die vorliegende Studie untersucht diese Zusammenhänge in einer Schulstichprobe bei 665 Schülerinnen und Schülern (mittleres Alter: 14,8, SD: 0,66). Dabei zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen NSSV und dem Erleben interpersoneller, wie auch nicht-interpersoneller traumatischer Ereignisse. Damit konnte erstmals auch in einer deutschen jugendlichen Schulpopulation ein Hinweis für eine Assoziation zwischen traumatischen Ereignissen und NSSV beschrieben werden. Dies unterstreicht die klinische Relevanz einer differenzierten Traumadiagnostik bei Kindern und Jugendlichen mit NSSV. Nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten (NSSV), definiert als repetitive, sozial nicht akzeptierte Schädigung des Körpergewebes ohne suizidale Absicht (Plener et al. 2010) ist ein häufiges Phänomen im Jugendalter. In einem systematischen Review der vorliegenden Arbeiten zur Prävalenz im Jugendalter wurde eine mittlere Lebenszeitprävalenz von 18% beschrieben (Muehlenkamp et al. 2012), wobei aus Deutschland eine höhere Lebenszeitprävalenz von ca. einem Viertel der Jugendlichen in einer Studie berichtet wurde (Plener et al. 2009) und Deutschland im Vergleich mit den deutschsprachigen Nachbarländern die höchste Prävalenzrate an NSSV bei Jugendlichen aufweist (Plener et al. 2013). In dem im Mai erschienenen amerikanischen Klassifikationssystem DSM-5 wird in der Sektion drei, auch ein »NSSV Syndrom« aufgeführt (vgl. Plener et al. 2012), wobei dies damit noch nicht als im amerikanischen Gesundheitswesen Faktoren zur abrechenbare Diagnose anerkannt wird, Entstehung und aber für weitere Forschungszwecke einAufrechterhaltung heitlich definiert zur Verfügung steht. In von selbstverlet- der Entstehung und Aufrechterhaltung zendem Verhalten von NSSV wurden multiple Faktoren diskutiert, wie etwa die Beeinflussung affektiver negativer Zustände oder auch NSSV als Mittel der sozialen Kommunikation (Nock 2010). Immer wieder wurden auch Misshandlungs- und Missbrauchserlebnisse im Zusammenhang mit der Ätiologie von NSSV erwähnt. Von Madge et al. (2011) wurde in einer großen europäischen Studie (sieben Länder, n=30.477, 14-17jährige Jugendliche) zum »Deliberate Self Harm« (das neben NSSV auch suizidale Verhaltensweisen miteinschließt) beschrieben, dass körperliche Misshandlungen und sexuel- 3/2013 KJug, 58. Jg., S. 81 – 85 (2013) © Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e. V. ler Missbrauch Risikofaktoren darstellen, die dazu führen, dass Jugendliche vom Gedanken an Selbstschädigung zu den entsprechenden Handlungen übergehen. Von Yates und Kollegen (2008) wurden körperliche Misshandlungen als Risikofaktor zur Entstehung von gelegentlichem NSSV beschrieben, während sexueller Missbrauch als Risikofaktor für repetitives NSSV berichtet wurde. Aus Deutschland sind Daten zu dem Zusammenhang zwischen NSSV und traumatischen Erlebnissen bislang nur aus einer klinischen Stichprobe von Risikofaktor 125 kinder- und jugendpsychiatrischen sexueller Missbrauch Patienten (13-25 Jahre) berichtet worden (Kaess et al. 2013), wobei 64% der Patienten mit NSSV von traumatischen Ereignissen in ihrer Lebensgeschichte berichteten. Es zeigt sich hier u.a. ein deutlicher Zusammenhang mit körperlichen Misshandlungen und sexuellem Missbrauch (odds ratio:3,9). Demgegenüber berichteten zwei MetaAnalysen zum Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch und NSSV nur von kleinen bis moderaten Effekten von sexuellem Missbrauch auf die Entstehung von NSSV (Klonsky & Moyer 2008, Maniglio 2011) und führten aus, dass es sich um einen eher unspezifischen Risikofaktor handeln dürfte, der auch andere psychische Erkrankungen beeinflusst. In einer Online Studie an 1.417 12-18jährigen Jugendlichen wurde von Baetens et al. (2011) der Unterschied zwischen suizidal und nicht-suizidal intendierter Selbstverletzung untersucht, wobei sich zeigte, dass die Jugendlichen mit suizidal intendierter Selbstverletzung mehr körperliche Misshandlungen und häufiger sexuellen Missbrauch berichteten (wobei letzterer Unterschied nicht signifikant war), sodass hier überlegt werden kann, ob KJug 81 Plener u.a. • Traumatische Lebenserfahrungen bei Jugendlichen nicht ein Schwelleneffekt vorliegt, in dem Sinn, dass eine höhere Belastung an traumatischen Lebenserfahrungen auch zu einem Wechsel von nichtsuizidalem zu suizidalem Verhalten führen kann. So wurde etwa auch beschrieben, dass Jugendliche mit Suizidversuchen in der Vorgeschichte von signifikant mehr traumatischen Lebensereignissen berichten (und auch hier von mehr sexuellen Übergriffen), als Jugendliche, die Suizidgedanken, jedoch keine Suizidversuche schildern (Plener et al. 2011). Da mehrfach NSSV als Risikofaktor für späteres suizidales Verhalten beschrieben wurde (vgl. etwa Wilkinson et al. 2011), fokussiert die hier präsentierte Arbeit auf beide Bereiche. Methoden Teilnehmer Die Daten wurden im Rahmen einer anonymen Fragebogenerhebung in einer Stichprobe von 670 Schülerinnen und Schülern der 9. Klasse in Hauptund Realschulen, sowie in Gymnasien in Ulm und dem Alb-Donau Kreis erhoben (vgl. Plener et al. 2009, Plener et al. 2011). Eine Teilnahme an der Studie war nur mit vorliegender unterschriebener Einverständniserklärung der Sorgeberechtigten, sowie der Jugendlichen selbst möglich. Von 1.100 Schülern, die an den Erfassungstagen in der Erhebung von NSSV, Schule zugegen waren, nahmen 65% an Suizidgedanken und der Erhebung teil. Aufgrund von offenSuizidversuchen sichtlichen falschen Antworten mussten nach Plausibilitätsprüfung fünf Fragebogensets verworfen werden, sodass sich die hier beschriebene Auswertung auf die Daten von 665 Schülern bezieht (w: 380, mittleres Alter: 14,8, SD: 0,66). Die Teilnehmer wurden in einem ersten Termin über die Zielsetzung der Studie (Erfassung zu NSSV und Suizidalität) aufgeklärt, wobei Ihnen Anonymität zugesichert wurde. Für den Fall, dass sich ein Schüler/eine Schülerin mit einem Hilfewunsch an die Studienleiter wenden wollte, wurden einerseits Karten mit Kontaktadressen, sowie andererseits Karten, auf denen Kontaktwünsche eingetragen werden konnten, ausgegeben. Für die Durchführung der Studie bestand ein positives Votum der Ethikkommission der Universität Ulm, sowie die Zustimmung des zuständigen Regierungspräsidiums, sowie der zuständigen Schulleitung. Instrumente Die Erhebung von NSSV, Suizidgedanken und Suizidversuchen erfolgte mittels der deutschen Version des »Self Harm Behavior Questionnaire« (SHBQ; Gutierrez et al. 2001). Der SHBQ erfasst die Lebenszeitprävalenz von NSSV, Suizidgedanken, Suizid- 82 K Jug Titelthema drohungen und Suizidversuchen in vier separaten Bereichen, die nach Bejahung der jeweiligen Eingangsfrage näher exploriert werden. Der SHBQ wurde in den USA bereits bei mehreren Schulstudien bei Jugendlichen angewandt (z.B. Muehlenkamp & Gutierrez 2007, Muehlenkamp et al. 2010a). Bei der Validierung der Originalversion zeigte sich eine gute interne Konsistenz (Cronbachs α zwischen 0,89 und 0,96 für die vier Bereiche). Die deutsche Übersetzung des SHBQ (Fliege et al. 2006) zeigte ebenfalls eine gute interne Konsistenz (Cronbachs α zwischen 0,87 und 0,96 für die vier Bereiche). In der deutschen Version wird bei Vorhandensein von Suizidgedanken, Suiziddrohungen oder Suizidversuchen eine Liste von traumatischen Ereignissen abgefragt, die im Zeitraum von sechs Monaten vor dem Auftreten suizidaler Handlungen vorgelegen hat. Die Liste der traumatischen Ereignisse basiert auf Ereignissen aus der Posttrau- traumatische matic Diagnostic Scale (Foa et al. 1996) Ereignisse und beinhaltet: 1. Schwerer Unfall, Feuer oder Explosion, 2. Naturkatastrophe, 3. Gewalttätiger Angriff durch jemanden aus dem Familien- oder Bekanntenkreis, 4. Gewalttätiger Angriff durch fremde Person, 5. Sexueller Angriff durch jemanden aus dem Familien- oder Bekanntenkreis, 6. Sexueller Angriff durch fremde Person, 7. Kampfeinsatz im Krieg oder Aufenthalt in einem Kriegsgebiet, 8. Sexueller Kontakt im Alter von unter 18 Jahren mit einer Person, die mindestens fünf Jahre älter war, 9. Gefangenschaft, 10. Folter, 11. Lebensbedrohliche Krankheit, 12. Anderes traumatisches Ereignis. Datenanalyse Da in der deutschen Version nach Fliege et al. (2006) nach NSSV spezifisch auf dieses Verhalten bezogen diese Items nicht abgefragt werden, muss sich die Analyse auf die Zahl der Personen beschränken, die neben NSSV (n=170, 25,6%) auch Suizidgedanken (insgesamt n=239, davon mit NSSV: n=118), Suiziddrohungen (insgesamt: n= 104, davon mit NSSV: n=64) und/oder Suizidversuche (insgesamt: n=43, davon mit NSSV: n=33) angegeben haben, da die Fragen zum Vorliegen traumatischer Ereignisse nur im Zusammenhang mit suizidalen Verhaltensweisen und nach Bejahung der entsprechenden Eingangsfrage erhoben worden waren. Da sich diese Fälle häufig überschneiden, wurde eine Variable gebildet, die die einzelnen Ereignisse aus der Posttraumatic Diagnostic Scale bei Mehrfachnennungen einer Person in verschiedenen Bereichen innerhalb des Fragebogens zu einer Nennung zusammenfasste. Insgesamt waren unter diesem Vorgehen von 124 der 170 Personen mit NSSV (73%) Daten zu traumatischen Ereignisse vorhanden. Neben einer 3/2013 Titelthema Plener u.a. • Traumatische Lebenserfahrungen bei Jugendlichen deskriptiven Darstellung erfolgte eine Berechnung der Korrelationen zwischen NSSV, Suizidgedanken und Suizidversuchen mit den traumatischen Ereignissen. Die Berechnung erfolgte mit SPSS 20 (IBM, SPSS Statistics). Resultate Von den 124 Schülerinnen und Schülern mit NSSV (w=91, 73,4%; p<.001), von denen Daten zu traumatischen Ereignissen vorhanden waren, wurden mul- tiple traumatische Ereignisse berichtet, wobei die häufigste Nennung »andere traumatische Ereignisse« betraf (s. Tabelle 1). Signifikante Korrelationen zwischen einem traumatischen Ereignis und dem Bericht von NSSV, Suizidgedanken oder Suizidversuchen zeigten sich für fast alle traumatischen Ereignisse (s. Tabelle 1). Nach Kontrolle für Suizidversuche und Suizidgedanken zeigte sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen NSSV und den Items »Schwerer Unfall, Feuer oder Explosion« (r=0,11, p=0,004), »Gewalttätiger Angriff durch jemanden aus dem Familien- Tabelle 1: Traumatische Ereignisse bei Teilnehmer/inne/n mit NSSV (n=124), Korrelation mit NSSV, Suizidgedanken und Suizidversuchen Ereignis Schwerer Unfall, Feuer oder Explosion n (%) Korrelation Korrelation mit Korrelation mit mit NSSV (r) Suizidgedanken (r) Suizidversuchen (r) 16 (12.9) ,13** ,21** Naturkatastrophe 10 (8,1) ,09* ,23** ,05 Gewalttätiger Angriff aus Familienoder Bekanntenkreis 20 (16,1) ,2** ,25** ,28** Gewalttätiger Angriff durch fremde Person 12 (9,7) ,15** ,2* ,19** Sexueller Angriff aus Familien- oder Bekanntenkreis 7 (5,6) ,17** ,13* ,32** Sexueller Angriff durch fremde Person 7 (5,6) ,13** ,18* ,12** Kampfeinsatz im Krieg oder Aufenthalt in einem Kriegsgebiet 1 (0,8) ,03 ,07 -,14 18 (14,5) ,26** ,2* ,34** Gefangenschaft 2 (1,6) ,09* ,07 ,1* Folter 3 (2,4) ,11** ,08* ,18** Lebensbedrohliche Krankheit 11 (8,9) ,14** ,2** ,14** Anderes traumatisches Ereignis 76 (61,3) ,36** ,57** ,34** Sexueller Kontakt im Alter von unter 18 Jahren mit einer Person, die mindestens 5 Jahre älter war ,11** NSSV: Nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten, *: p0,05, **: p0,001 oder Bekanntenkreis« (r=0,13, p=0,01), »Gewalttätiger Angriff durch fremde Person« (r=0,9. P=0,02), »Sexueller Angriff durch jemanden aus dem Familien- oder Bekanntenkreis« (r=0,82, p=0,35), »Sexueller Kontakt mit Alter von unter 18 Jahren mit einer Person, die mindestens fünf Jahre älter war« (r=0,18, p<0,001), »Lebensbedrohliche Krankheit (r=0,12, p=0,02) « und »Anderes traumatisches Ereignis« (r=0,3, p<0,001). Eine positive Korrelation zwischen der Häufigkeit von NSSV und traumatischen Ereignissen zeigte sich nur beim Item »Gewalttätiger Angriff durch jemanden aus dem Familien- oder Bekanntenkreis« (r=0,35, p=0,05) 3/2013 Diskussion Die präsentierte Studie beschäftigt sich mit dem Vorliegen traumatischer Ereignisse bei Jugendlichen aus einer deutschen Schulpopulation, die sich zumindest einmalig absichtlich selbst verletzt haben. Als häufigste spezifisch genannte traumatische Ereignisse wurden von diesen Jugendlichen (in absteigender Reihenfolge) »Gewalttätiger Angriff aus Familien- oder Bekanntenkreis«, »Sexueller Kontakt im Alter von unter 18 Jahren mit einer Person, die mindestens fünf Jahre älter war« und »Schwerer Unfall, Feuer oder Explosion« genannt. KJug 83 Plener u.a. • Traumatische Lebenserfahrungen bei Jugendlichen Nach Kontrolle für Suizidgedanken und Suizidversuche zeigten sich weiterhin signifikante positive Korrelationen zwischen NSSV, gewalttätigen und sexuellen Übergriffen sowie Unfällen und Krankheiten, wobei sich ein Zusammenhang mit der Häufigkeit von NSSV nur im Bereich der gewalttätigen Übergriffe aus dem Familien- oder Bekanntenkreis zeigen ließ. Unsere Ergebnisse decken sich hier mit denen aus einer deutschen Stichprobe kinder- und jugendpsychiatrischer Patienten, die ebenfalls gehäuft körperliche Misshandlungen und sexuellen Missbrauch bei Patienten mit NSSV berichteten (Kaess et al. 2013). Im Gegensatz zu Yates et al. (2008), die repetitives NSSV bei Patienten mit einer Vorgeschichte eines sexuellen Missbrauchs berichteten, während gelegentliches NSSV bei Jugendlichen mit der Vorgeschichte körperlicher Misshandlungen deutlicher ausgeprägt war, zeigte sich eine Assoziation mit der Frequenz von NSSV in unserer Studie nur im Zusammenhang mit körperlichen Misshandlungen. Interessanterweise wurden diese Phänomene auch aus einer großen Stichprobe von Collegestudenten in den USA (n=2.238) berichtet (Muehlenkamp et al. 2010b). In dieser Studie wurden die Implikationen verschiedener Subtypen Emotionsregulations- von traumatischen Ereignissen unterschwierigkeiten sucht. Während sowohl bei jungen Erwachsenen, die körperliche Misshandlungen erlebt hatten, als auch bei solchen die sexuellen Missbrauch erlebt hatten, generell Emotionsregulationsschwierigkeiten berichtet wurden, zeigten in der differenzierten Analyse junge Erwachsene mit einer Vorgeschichte körperlicher Misshandlungen Schwierigkeiten mit der Identifikation und Wahrnehmung emotionaler Zustände, vergleichbar einem Alexithymie-Konzept, während junge Erwachsene mit der Vorgeschichte eines sexuellen Missbrauchs und einer körperlichen Misshandlung Schwierigkeiten in der Emotionsregulation berichteten (Muehlenkamp et al. 2010b). Der Zusammenhang zwischen traumatischen Ereignissen und NSSV bzw. suizidalem Verhalten wurde in einer aktuellen schwedischen Studie bei 2.964 Jugendlichen zwischen 15 und 17 Jahren untersucht (Zetterqvist et al. 2012). Hierbei zeigte sich, dass Jugendliche mit einer Kombination von NSSV und suizidalem Verhalten signifikant mehr traumatische Ereignisse berichteten, als Jugendliche, die »nur« NSSV zeigten. Teilnehmer ohne NSSV oder suizidalem Verhalten berichteten am wenigsten traumatische Ereignisse. Bezüglich der Spezifität einzelner traumatischer Ereignisse für Suizidversuche und NSSV kann aufgrund des Designs unsere Studie, in der eine Population untersucht wurde, die sowohl NSSV als auch Suizidalität angab, keine Aussage getroffen werden und es wird weiterer Studien be- 84 K Jug Titelthema dürfen, die diesen Zusammenhang auch in einer deutschen Stichprobe systematisch erheben. Für die Praxis bedeutet dies, dass man auf selbstverletzendes Verhalten z.B. bei Schülerinnen oder Schülern weder überreagieren sollte, noch es einfach als jugendtypisches Verhalten ignorieren sollte. Mittlerweile ist selbstverletzendes Verhalten in Deutschland sehr verbreitet und Für die Praxis bedeukommt in jeder Schulklasse bei Jugend- tet dies, dass man lichen in erheblichem Umfang vor. Bei auf selbstverletzeneinem Teil dieser Jugendlichen gehört es des Verhalten weder also fast zur Jugendsubkultur, während überreagieren sollte, bei einem anderen Teil, bei denen offen- noch es als jugendsichtlich das Risiko tatsächlich dann typisches Verhalten auch zu suizidalem Verhalten überzuge- ignorieren sollte. hen höher ist, für frühere Belastungen aus Traumatisierungen steht und der Emotionsregulation dient. Nicht Beachten des »Ritzens« kann deshalb mit Blick auf Kinderschutz und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen keine pädagogische Lösung sein, sondern es geht darum im Einzelfall Gespräche anzubieten, um differenzierte Lösungen zu finden. Limitationen Die Ergebnisse dieser Untersuchung unterliegen mehreren Einschränkungen. Zunächst müssen die, einer Fragebogenuntersuchung dieser Art immanenten, Limitationen beachtet werden. Dies ist zum einen die querschnittliche Erhebung retrospektiver Daten, die einem Erinnerungsbias unterliegen kann. Auch kann aufgrund der anonymen Datenerhebung keine Gewähr für die Richtigkeit der gemachten Angaben gegeben werden. Diese Methodik wurde jedoch gewählt, um die Verzerrung durch sozial erwünschte Angaben gering zu halten. Es wurde versucht durch eine Plausibilitätsprüfung eine Verbesserung der Datenqualität zu erreichen (etwa wurden fünf Teilnehmer, welche alle traumatischen Ereignisse bejahten oder widersprüchliche Angaben innerhalb des Fragebogens machten, ausgeschlossen). Des Weiteren muss als wichtige Einschränkung beachtet werden, dass durch die Struktur des Fragebogens traumatische Ereignisse nicht direkt in Bezug auf NSSV abgefragt wurden, sondern ein Rückschluss nur bei jenen Teilnehmern möglich war, die ebenfalls von begleitender Suizidalität berichteten. Auf diese Weise konnten nur die Angaben von 124 der 170 Teilnehmer mit NSSV analysiert werden. Da es sich jedoch momentan um die einzige Beschreibung von traumatischen Ereignissen im Zusammenhang mit NSSV aus einer Schülerstichprobe handelt, wurde dieser Kompromiss eingegangen, um eine erste Datenbasis zu liefern. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich in der vorgelegten Studie erstmals in einer 3/2013 Titelthema Plener u.a. • Traumatische Lebenserfahrungen bei Jugendlichen Stichprobe an deutschen Schülerinnen und Schülern ein Zusammenhang zwischen NSSV, Suizidalität und traumatischen Lebensereignissen beschreiben lässt, wobei hier vor allem interpersonelle Ereignisse im Vordergrund stehen. Dies Notwendigkeit einer unterstreicht die Notwendigkeit einer differenzierten differenzierten Traumadiagnostik bei Traumadiagnostik Kindern und Jugendlichen die sich mit NSSV und/oder suizidalem Verhalten im Kontext von Schule, Jugendhilfe oder auch im klinischen Kontext der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie präsentieren. Plener, P.L.; Singer, H.; Goldbeck, L. (2011): Traumatic events and suicidality in a German adolescent community sample. Journal of Traumatic Stress, Jg. 24, S. 121-124. Yates, T.M.; Carlson, E.A.; Egeland, B. (2008): A prospective study of child maltreatment and selfinjurious behavior in a community sample. Development and Psychopathology, Jg. 20, S. 651-671. Zetterqvist, M.; Lundh, L.G.; Svedin, C.G. (Epub 2012): A comparison of adolescents engaging in self-injurious behaviors with an without suicidal intent: self-reported experiences of adverse life events and trauma symptoms. Journal of Youth and Adolescence, doi: 10.1007/s10964-012-9872-6 Literatur (Auszug) Kaess, M.; Parzer, P.; Mattern, M.; Plener, P.L.; Bifulco, A.; Resch, F.; Brunner, R. (2013): Adverse childhood experiences and their impact on frequency, severity, and the individual function of nonsuicidal selfinjury in youth. Psychiatry Research, Jg. 206, S. 265-272. Die gesamte Literaturliste zum Beitrag kann bei der Redaktion ([email protected]) angefordert werden. Klonsky, E.D.; Moyer, A. (2008): Childhood sexual abuse and non-suicidal self-injury: meta-analysis. The British Journal of Psychiatry, Jg. 192, S. 166-170. Muehlenkamp, J.J.; Claes, L.; Havertape, L.; Plener, P.L. (2012): International Prevalence of Adolescent NonSuicidal Self-Injury and Deliberate Self Harm. Child and Adolescent Psychiatry and Mental Health, Jg. 6, S.10. Muehlenkamp, J.J.; Kerr, P.L.; Bradley, A.R.; Larsen, M.A. (2010b): Abuse subtypes and Nonsuicidal Self-injury: preliminary evidence of complex emotion regulation patterns. The Journal of Nervous and Mental Disease, Jg. 198, S. 258-263. Nock, M.K. (2010): Self-Injury. Annual Review of Clinical Psychology, Jg. 6, 15.1-15.25. Plener, P.L.; Brunner, R.; Resch, F.; Fegert, J.M.; Libal, G. (2010): Selbstverletzendes Verhalten im Jugendalter. Zeitschrift für Kinder-und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Jg. 38, S. 77-89. Plener, P.L.; Kapusta, N.D.; Kölch, M.G.; Kaess, M.; Brunner, R. (2012): Nicht-suizidale Selbstverletzung als eigenständige Diagnose. Implikationen des DSM-5 Vorschlages für Forschung und Klinik selbstverletzenden Verhaltens bei Jugendlichen. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Jg. 40, S. 113-120. 3/2013 Autoren Dr. Paul L. Plener Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm Steinhövelstr. 5 80975 Ulm Mail: [email protected] 1, 2 1 Dr. Paul L. Plener , Rebecca C. Groschwitz , 1 1, 2 Martina Bonenberger , Prof. Dr. Jörg M. Fegert 1 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm 2 Kompetenzzentrum Kinderschutz in der Medizin, Baden-Württemberg KJug 85 Beate Lisofsky »Wahnsinnskinder?« Ein Projekt zur Unterstützung von Familien mit psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen Familien mit psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen benötigen Unterstützung in vielfältiger Art und Weise und haben einen hohen Informationsbedarf. Der Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker (BApK) hat eine Elternbefragung durchgeführt und auf der Grundlage der Ergebnisse ein Angebot für betroffene Eltern entwickelt. »… Ich bin im Moment völlig verzweifelt und nervlich am Ende. Sitze hier verheult und suche im Internet nach Hilfe... Ich bin 37 Jahre alt, verheiratet, habe zwei Töchter 10 und 6 Jahre alt. Mein Problem: Meine Tochter Leonie bringt mich zur Weißglut!!! Sie steht schlecht auf, obwohl sie früh schlafen geht. Sitzt eine Viertelstunde auf dem Klo, trödelt beim Zähneputzen, Haare kämmen und Anziehen nur herum... Nach der Schule sitzt sie völlig lustlos an den Hausaufgaben, total unkonzentriert halb unter dem Tisch und weiß nicht was sie machen soll... Was soll ich bloß tun??? Habt ihr Ratschläge für mich??? Wo ist ihr Problem??? Wie kann ich ihr helfen, mir aber auch, denn ich bin im Dauerstress …!« (aus der Internetanfrage einer Mutter) In Deutschland liegen nach aktuellen Untersuchungen bei jedem fünften Kind oder Jugendlichen im Alter von sieben bis 17 Jahren Hinweise für psychische Auffälligkeiten vor. Bei Vorliegen mehrerer Risikofaktoren kann sich die WahrscheinVerhaltensprobleme, lichkeit einer psychischen Auffälligkeit Funktionsniveau der um ein Vielfaches erhöhen. Zu den RisiFamilie, Stress- kofaktoren mit den stärksten Auswirerleben, psychische kungen gehören Familienkonflikte, PartGesundheit der Eltern nerprobleme der Eltern, psychische Erkrankungen der Eltern oder das Aufwachsen in einem Ein-Eltern-Haushalt. Untersuchungen belegen einen Zusammenhang zwischen Verhaltensproblemen der Kinder und dem Funktionsniveau der Familie sowie dem Stresserleben und der psychischen Gesundheit der Eltern. Eine gute Versorgung von psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen wird also nur gelingen, wenn die Familien von Anfang an einbezogen und mit ihrem spezifischen Unterstützungs- und Informationsbedarf wahrgenommen werden. Und obwohl »Elternarbeit« vielfach integraler Bestandteil 86 K Jug therapeutischer Angebote ist, gibt es hier aus Sicht der Angehörigen Defizite, vor allem auch in der Phase vor dem Stellen einer Diagnose. Deshalb befasst sich der Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker in einem Projekt mit den Problemen und Bedürfnissen von Familien mit psychisch auffälligen Kindern und Jugendlichen und entwickelt ein Angebot für diese Familien. Um einen ersten Überblick über die Bedürfnislage der betroffenen Familien zu erhalten, wurde in Zusammenarbeit mit der Universität Marburg eine Online-Elternbefragung von Oktober 2010 bis Februar 2011 durchgeführt. Ziel der Untersuchung war es, herauszufinden, welche Unterstützung Eltern mit psychisch auffälligen Kindern benötigen, mit welchen Merkmalen der Unterstützungsbedarf zusammenhängt und welche Probleme den Eltern den Zugang zu Angeboten erschweren. Insgesamt nahmen 136 Familien an der Befragung teil. Meist wurde der Online-Bogen von den Müttern ausgefüllt. Drei Viertel der befragten Elternteile waren verheiratet. In den Familien lebten durchschnittlich 2,29 Kinder. Die Hälfte der Befragten hatte einen höheren Bildungsabschluss und ca. 60% hatten mindestens eine Halbtagsstelle, nur 18,4% übten keinerlei berufliche Tätigkeit aus. Im Durchschnitt verfügten die Familien über ein Nettoeinkommen von 2001€ bis 3000€ im Monat. Ergebnisse der Elternbefragung Psychische Auffälligkeiten In 26,5% der befragten Familien lebte mehr als ein psychisch auffälliges Kind. Die Kinder, auf die sich die Angaben bezogen, waren im Schnitt 12,55 Jahre alt. Die häufigsten genannten psychischen Auffälligkeiten waren Angst/Depression (38,2%), Aggres- KJug, 58. Jg., S. 86 – 89 (2013) © Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e. V. 3/2013 Titelthema Lisofsky • »Wahnsinnskinder?« sives Verhalten (36,0%) und Aufmerksamkeitsprobleme (24,3%). In ca. der Hälfte der Fälle wurde in der Vergangenheit bereits eine kinderpsychiatrische Diagnose gestellt. Unterstützungsbedarf Nur 11,0% der befragten Elternteile gab an, mit der Unterstützung, die sie allgemein erhalten, zufrieden zu sein. Auch beim Grad der InformiertInformiertheit heit und der sozialen Unterstützung beund soziale richteten die Eltern Defizite: Nur 16,6% Unterstützung der Elternteile gab an, über den Umgang mit einem psychisch auffälligen Kind gut oder sehr gut informiert zu sein und nur 14,7% der Eltern erlebten die Menschen in ihrem Umfeld als unterstützend. Informiertheit und soziale Unterstützung hingen mit dem Einkommen zusammen, Informiertheit auch mit dem Schulabschluss der Eltern. Wobei eine hohe Informiertheit bzw. eine hohe soziale Unterstützung mit einem höheren Schulabschluss bzw. einem höheren Einkommen einhergingen. Ein großer Teil der Eltern wünschte sich mehr Information über den Umgang mit einem psychisch auffälligen Kind. Dabei schienen Eltern besonderen Informationsbedarf zu haben, wenn ihr Kind zwanghaftes/schizoides Verhalten zeigte. Dazu gehören Verhaltensweisen wie Zwangsgedanken und -handlungen, ins Leere Starren, Abwesenheit, Scheinwelten erfinden etc. Eventuell wirken diese Verhaltensweisen auf Eltern befremdlich und sie können sich nicht erklären weshalb sich ihr Kind so verhält. Informationen, die solche Verhaltensweisen einordnen (Was ist normal/entwicklungsbedingt? Was ist pathologisch?) könnten hilfreich sein. Eltern von Kindern mit Aufmerksamkeitsproblemen fühlten sich hingegen besser informiert. Es zeigte sich auch, dass Eltern, die weniger Beeinträchtigungen im Alltag berichteten, sich besser über den Umgang mit einem psychisch auffälligen Kind informiert fühlten. Der Unterstützungsbedarf der Eltern wurde nach den Bereichen Erziehung allgemein, Schule und Lernen, Freizeitaktivitäten, eigene Kraft stärken sowie Umgang mit Familie und Verwandten abgefragt. Drei Viertel der befragten Eltern wünschte sich Unterstützung, um die eigene Kraft zu stärken. Neben der Belastung durch die Auffälligkeiten ihres Kindes und der zeitlichen Belastung durch die Therapien schien hier eine Rolle zu spielen, ob die Eltern Unterstützung in der Erziehung hatten: Alleinerziehende geben hier einen höheren Unterstützungsbedarf an als Elternteile mit Partner. Eltern von Kindern mit Aufmerksamkeitsproblemen berichteten von bedeutsam geringerem Unterstützungsbedarf in der Erziehung allgemein und 3/2013 höherem Unterstützungsbedarf im Bereich Schule und Lernen im Vergleich zu den übrigen Eltern. Schließlich ging es um die Einschätzung der Eltern wie hilfreich sie eine Reihe vorgegebener Unterstützungsangebote erachten. Hier hatten die Eltern die Möglichkeit ihre Beurteilung zusätzlich in einem freien Antwortformat zu begründen. Hilfen für Geschwister wurden dann als hilfreich eingestuft, wenn sie zur Aufklärung Hilfen für beitragen und den Kindern helfen, das Geschwister Verhalten ihrer auffälligen Geschwister einzuordnen (Warum verhalten sie sich so? Wie kommt es zu diesem Konflikt? Was ist eine psychische Erkrankung?). Zudem kommen die Geschwister oft zu kurz, da die Eltern viel mit dem auffälligen Kind beschäftigt sind. Die Eltern nennen in den freien Antworten als Bedenken gegenüber einem solchen Angebot, dass die Geschwister zu jung sind oder an einem solchen Angebot nicht teilnehmen würden. Ein Austausch zwischen den betroffenen Kindern und Jugendlichen wird vor allem als hilfreich angesehen, wenn die Betroffenen älter sind und/ oder internalisierende Probleme haben. Viele Eltern begründen den Nutzen eines solchen Angebotes wie folgt: Die Kinder und Jugendlichen erfahren, dass es anderen ähnlich geht Austausch zwischen wie ihnen selbst und lernen wie andere betroffenen Kindern Kinder und Jugendliche mit ihren Proble- und Jugendlichen men umgehen. Sie können aus ihrer Außenseiterrolle herauskommen und Freunde finden. Geringes Alter, mangelnde Reife und fehlende Problemeinsicht wurden vor allem als Kritikpunkte der Eltern aufgeführt. Zudem bestanden bei einigen Eltern Bedenken, ob die Kinder an einem solchen Angebot teilnehmen und offen über ihre Probleme sprechen würden. Als sehr hilfreich wird der Austausch mit anderen betroffenen Eltern eingeschätzt. An einem solchen Austausch wäre vor allem hilfreich, zu erfahren, dass andere Eltern ähnliche Probleme haben, dass andere Eltern bereits Austausch mit wissen, wie man mit einem auffälligen betroffenen Eltern Kind umgeht und man Tipps im Umgang mit auffälligen Kindern erhält. Als Bedenken bezüglich eines solchen Angebotes äußerten die Eltern, dass sie keine Zeit für ein solches Angebot hätten, dass sie sich von anderen Eltern nicht verstanden fühlen würden, dass sie sich selbst helfen wollen und Angst hätten zu sehen, dass es in anderen Familien besser klappt als in der eigenen. Praktische Hilfen im Alltag wünschten sich die Eltern, da sie aufgrund der Belastungen in der Familie erschöpft seien und ihnen aufgrund vieler Termine (Klinik, Schule) die Zeit fehle, da viele Krisensituationen (Konflikte, Streit, Hausaufgaben) auf- KJug 87 Lisofsky • »Wahnsinnskinder?« Titelthema treten und da wenig Zeit für die Kinder und Geschwister übrig bleibt. Häufig wurden hier auch psychologische Hilfen, wie die eigene Praktische Hilfen Kraft stärken, und Hilfen im Umgang mit im Alltag den Auffälligkeiten genannt, im Gegensatz zu praktischen Hilfen im Haushalt. Neben einigen Unterstützungsangeboten, die den meisten Eltern bekannt sind, bestand bezüglich anderer Angebote ein Informationsdefizit (siehe Tabelle 1). Die bekanntesten Angebote sind Bücher/ Broschüren (bekannt bei 83,1% der Befragten), Erziehungsberatungsstellen (79,4%) und Internetsei- ten/Onlineforen (73,5%). Am unbekanntesten sind Selbsthilfegruppen (40,4%), Elternkurse (41,2%) und tagesklinische Angebote (47,1%). Aus der relativen Unwissenheit über Angebote von Selbsthilfegruppen ergibt sich ein Informationsbedarf, da der Austausch mit anderen betroffenen Eltern als sehr hilfreich eingeschätzt wurde. Das Wissen von Hilfsund Behandlungsangeboten hing zum Teil mit dem Bildungsniveau der Eltern zusammen. So wussten deutlich mehr Eltern mit (Fach-)Abitur von Tageskliniken und Selbsthilfegruppen als Eltern mit Haupt-/ Volksschulabschluss und Realschulabschluss. Tabelle 1: Inanspruchnahme von Hilfs-, Informations- und Behandlungsmöglichkeiten 1 bekannt (%) bereits in Anspruch 2 genommen (%) Zugangsschwierigkeit (M) Erziehungsberatungsstellen 79,4 37,5 2,85 Hilfen zur Erziehung vom Jugendamt 61,8 33,8 3,59 Elternkurse 41,2 18,4 2,71 Bücher/Broschüren 83,1 70,0 1,46 Internet/Onlineforen 73,5 52,2 1,69 Selbsthilfegruppen 40,4 17,6 2,88 ambulante Psychotherapie 61,0 27,2 3,02 Tagesklinik 47,1 11,0 3,72 stationäre Behandlung 55,1 23,5 4,03 medikamentöse Behandlung 58,8 20,6 3,64 3 1 Welche der folgenden Hilfs-, Informations- und Behandlungsmöglichkeiten kennen Sie? Welche der folgenden Hilfs-, Informations- und Behandlungsmöglichkeiten haben Sie bereits in Anspruch genommen? 3 Wie schwierig finden Sie es, folgende Hilfs-, Informations- und Behandlungsmöglichkeiten in Anspruch zu nehmen? 1=überhaupt nicht schwierig bis 5=sehr schwierig; M=Mittelwert 2 Inanspruchnahmeverhalten Über die Hälfte der befragten Eltern gab an, dass ihre Kinder bereits in ärztlicher oder therapeutischer Behandlung waren. Unter den nichttherapeutischen Hilfs- und Informationsangeboten wurden vor allem Bücher und Broschüren sowie Informationen aus Internetseiten und Onlineforen von den Eltern genutzt. Bei Büchern/Broschüren, Internetseiten/Onlineforen und Selbsthilfegruppen zeigten sich wieder Unterschiede zwischen den Bildungsgruppen: Je höher die Bildung der Eltern, desto häufiger hatten sie entsprechende Angebote genutzt. Gleichzeitig berichteten Eltern, denen das Internet als Informationsquelle weniger gebräuchlich war bzw. denen der Zugang zu Internetseiten und Onlineforen schwer fiel, dass mangelnde Information ein Grund für Zugangsschwierigkeiten zu Unterstützungsangeboten war. 88 K Jug Viele Eltern nutzten die Gelegenheit zu beschreiben, wie man ihnen den Zugang zu Unterstützungsangeboten erleichtern könnte. Sehr häufig genannt wurde von den Befragten der Wunsch nach einer leicht zugänglichen Übersicht Übersicht über über regionale Unterstützungsangebote, regionale Unterstütdie Informationen über Spezialisierung zungsangebote und Qualität der Anbieter enthält. Eine Befragte sprach von einem »Lotsen im Dschungel der Angebote«. Zudem sollte der Zugang leicht und zeitlich flexibel sein, um nicht mit Arbeitszeiten oder Betreuungszeiten der Geschwister zu kollidieren. 3/2013 Titelthema Lisofsky • »Wahnsinnskinder?« Tabelle 2: Gründe für Zugangsschwierigkeiten % Wartezeiten 23,5 Misstrauen gegenüber Verantwortlichen 21,6 Schamgefühle und Angst 19,6 Informationsmangel 17,6 keine Stellen in der Nähe 16,7 keine Zeit/ keine Kraft 9,8 Kind verweigert 5,9 sonstige Gründe 31,4 Mehrfachnennungen möglich Aus den berichteten Ergebnissen der Online-Befragung lassen sich einige wichtige Hinweise auf den Unterstützungsbedarf von Eltern psychisch auffälliger Kinder ableiten. Neben den psychischen Belastungen der Eltern durch vermehrten Stress und Erziehungsschwierigkeiten berichteten die Eltern vor allem von zeitlichen Schwierigkeiten durch berufliche Tätigkeit und therapeutische Termine. Dies trifft vor allem zu, wenn weitere Geschwister betreut werden müssen. Viele Eltern wünschen sich ein besonders niederschwelliges Unterstütniederschwellige zungsangebot, das vor allem in akuten Notfallhilfe Krisen- oder Konfliktsituationen die Möglichkeit bietet, Notfallhilfe zu leisten und so den Alltag zu entlasten. Diese Hilfe sollte möglichst gut mit ihren alltäglichen und beruflichen Anforderungen und Terminen vereinbar sein. Zudem befürchten viele Eltern, dass die Schuld für die Auffälligkeiten der Kinder in der Familie gesucht wird und sie als Schuldige stigmatisiert werden. Als entlastende Angebote, die die genannten Bedenken auffangen, werden vor allem Selbsthilfegruppen und eine Art Krisentelefon genannt. Im Wust der Informationen und Angebote erscheint es zudem sinnvoll, eine Art Leitfaden oder niederschwelliges Beratungsangebot für belastete Eltern bereitzustellen, welches ihnen die Möglichkeit bietet die vorhandenen Angebote für die Probleme ihrer Kinder zu überblicken und deren Qualität zu beurteilen. Information kann helfen, Unsicherheiten zu beseitigen Um Informationsdefizite zu verringern, entwickelte der Angehörigenverband in Zusammenarbeit mit dem Kinder- und Jugendtherapeut und Fachbuchautor Martin Baierl die Broschüre »Wahnsinnskinder?«. Diese Broschüre bietet betroffenen Eltern 3/2013 eine erste Orientierung über psychische Störungen im Kinder- und Jugendalter, Behandlungsmöglichkeiten und mögliche Anlaufstellen für Hilfe und Unterstützung. Hier finden betroffene Eltern u.a. Antwort auf die Fragen: • Worauf muss ich achten, wenn mein Kind auffällig ist? • Ist das Verhalten überhaupt auffällig oder ist es »ganz normal«? • Wann und wo ist die Grenze erreicht? • Wie kann ich zwischen ernsthaften psychischen Erkrankungen und pubertären Entwicklungserscheinungen unterscheiden? • An wen wende ich mich? • Wo finde ich Unterstützung? • Was passiert, wenn ich erfahre, dass mein Kind psychisch krank sein könnte? • Wie gehe ich mit den Fachleuten um, wenn die immer alles besser wissen wollen? • Was kann ich tun, wenn mein Kind sich nicht behandeln lassen möchte – wann ist eine Zwangsbehandlung zulässig? • Wie gehe ich mit den Geschwistern um? Die Informationsbroschüre steht auf der Homepage www.bapk.de zum Herunterladen auch in türkischer und russischer Sprache zur Verfügung. In 2013 wird eine Broschüre zur Information für Geschwisterkinder und Freunde entwickelt, die auch für diese Zielgruppen eine angepasste, niederschwellige Information verfügbar machen soll. Autorin Beate Lisofsky Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker (BApK) Oppelner Str. 130 53119 Bonn E-Mail: [email protected] Diplom-Journalistin, Pressereferentin BApK e.V. KJug 89 Titelthema Sabine Andresen Auffällig in der Schule 1 Eine schwierige Gemengelage der Pädagogik Schule ist für Kinder und Jugendliche ein wesentlicher Lebens- und Sozialraum. (Verhaltens-)Auffällige Kinder und Jugendliche stellen für Lehrerinnen und Lehrer eine Herausforderung dar, denn aggressives Verhalten, Aufmerksamkeitsprobleme, Ängste und Stress machen sich im Unterricht und Umgang miteinander bemerkbar. Wenngleich Lern- und Entwicklungsstörungen ein Grenzbereich pädagogischen Handelns sind, bedarf es der Sensibilisierung und Qualifizierung von Lehrkräften. Jede Schule produziert ihre auffällige Schülerschaft. Es gehört zu einer Institution, dass ihre Regeln nicht von allen befolgt werden, Abweichungen den Raum mit prägen und Reaktionen auf Auffälligkeiten innerhalb der Institution zum Repertoire der darin Tätigen gehören. Der Blick in die Geschichte der Schule und der Pädagogik generell zeigt, auffällige Schülerinnen und Schüler bildeten oft den Stein des Anstoßes, etwa über Methoden zu reflektieren, Lernarrangements zu verändern, Lehrerinnen und Lehrer besser zu qualifizieren oder aber Eltern zu disziplinieren. Man könnte diesen Sachverhalt auch folgendermaßen formulieren: Was als auffälliges Verhalten aufgefasst, wer dafür maßgeblich verantwortlich gemacht und mit welchen Strategien darauf reagiert wurde, gehört zur Gestaltung von Kindheit und Jugend als Teil der gesellschaftlichen Reaktion auf die Entwicklungstatsache. Eine weitere Frage sei hier gestellt: Wie korrespondiert auffälliges Verhalten mit Fragen der Bewertung? Darauf soll hier bewusst eingegangen werden, weil die Bewertung gewissermaßen als leistungsbezogenes Pendent zum Bestrafen verstanden werden kann. Diesen historischen Blick einnehmend, bieten folglich auffällige Kinder und Jugendliche stets auch ein Potenzial zur Verbesserung der Qualität in Schulen und zur Professionalisierung von Pädagoginnen und Pädagogen. Eine erste Problematik auffälliges ist die, auffälliges Verhalten verstehen Verhalten verstehen zu müssen und auch zu wollen sowie den möglicherweise eigenen Anteil zu bedenken. Hierzu wird im zweiten Abschnitt auf eine Geschichte des polnisch jüdischen Kinderarztes und Pädagogen Janusz Korczak zurückgegriffen. Im dritten Abschnitt geht es um die Frage, was in der Pädagogik als auffälliges Verhalten und damit als schwieriges Kind gilt. Daran anschließend soll der Frage nachgegangen werden, warum es in einer In- 90 K Jug stitution wie der Schule auch darum gehen muss, einen zentralen Maßstab der Interaktion und des Machtverhältnisses, nämlich das Bewerten kritisch zu reflektieren und als einen Ausgangspunkt zur Neubewertung von »schwierigen Kindern« und auffälligem Verhalten zu sehen. Auffälliges Verhalten verstehen wollen Janusz Korczak erzählt eindrucksvoll, wie ein Kind zu einem auffälligen und schließlich als schwierig eingestuften Kind gemacht wird. In der Geschichte, »Ein gehorsamer Sohn«, wird der Teufelskreis von Erklären, Missverstehen und Verurteilen eindrucksvoll beschrieben: »Ein netter und lieber Bub ist dieser Icek. Solche wie er sollten auf den Bäumen wachsen. Es ist nur schade, dass er schüchtern ist und kein Glück im Leben hat. Er ist ein guter, stiller, gehorsamer Bub. Aber die Leute wollen ihn nicht verstehen und gebührend schätzen. In der Schule stand Icek in der Ecke. Der Lehrer stellte ihn in die Ecke. Der Lehrer regte sich über ihn auf. Warum? Was ließ Icek sich zu Schulden kommen? Die Mutter stellte den Teller vor ihn hin und sagte: ›Iß Icek. Na, wie war das? Warum hat der Lehrer dich in die Ecke gestellt?‹ Icek isst und sagt: ›Der Lehrer hat laut genießt, und ich habe gelacht.‹ ›Warum hast du gelacht?‹ ›Alle Buben haben gelacht.‹ ›Was ist so lächerlich daran, daß der Lehrer genießt hat?‹ 1 Teile des Beitrags basieren auf dem Artikel »Der ZappelPhilipp – Schwierige Kinder und die Pädagogik«, erschienen in Frühe Kindheit 6/2012 KJug, 58. Jg., 90 – 95 (2013) © Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e. V. 3/2013 Titelthema Andresen • Auffällig in der Schule ›Ich weiß es nicht.‹ Die Mutter schiebt ihm den Teller hin und sagt: ›Iß, Icek. Gleich erkläre ich es dir, damit du das nächste Mal weißt wie du dich verhalten musst. Wenn also der Lehrer niest, gehört es sich nicht, dass man lacht, sondern man sagt: Gesundheit.‹ Aber warum hat der Lehrer nur Icek in die Ecke gestellt, wenn doch alle gelacht haben? Keine Ahnung. Icek ist ein gehorsamer Sohn, und er weiß jetzt, wie er sich in Zukunft verhalten muss. Er fegte den Teller leer, machte seine Schulaufgaben, spielte ein bisschen und ging schlafen; dann wachte er auf und ging zur Schule. Aber der Lehrer warf ihn aus der Klasse hinaus auf den Korridor. Weswegen? Was ist passiert? Na eben das, daß er ›Gesundheit‹ gesagt hat. Der Lehrer kam in die Klasse herein, aber auf dem Boden lag ein Kürbiskern (Korczak 1938, S. 208). Der Lehrer rutsche darauf aus und während er sich wieder hochrappelte, glaubte Icek, nun müsse er Gesundheit sagen. Janusz Korczak, der Mediziner und Pädagoge erzählt in seiner Publizistik für Kinder und Jugendliche diese Geschichte von Icek, dem gehorsamen Sohn. Sie ist eine traurige Geschichte, denn Icek ist willig, sich von der Mutter erziehen zu lassen, aber die Situationen passen nie recht zu dem, was er gelernt hat. Am Küchentisch, angesichts eines vollen Tellers, scheint es leicht, doch am nächsten Morgen in der Schule, sieht die Welt für Icek jeweils ganz anders aus. Zwar erklärt die Mutter Icek, was er dem Lehrer nach dessen Sturz hätte sagen müssen: ›Es ist Ihnen doch um Gottes Willen nichts passiert.‹ Doch diese Lektion passt wieder nicht in die nächste Herausforderung, vor der der willige Icek steht: Gleich am nächsten Tag, gibt ihm der Lehrer eins hinter die Ohren und schimpft ihn aus. Warum? Die lärmenden Kinder hatten den Lehrer aus der Fassung gebracht und Jakub war der Schlimmste. Ihn legt der Lehrer übers Knie und versohlt ihn tüchtig. Jakub versucht sich loszureißen und der Lehrer bekommt vor Anstrengung einen roten Kopf. In die Stille hinein stellt Icek seine Frage: ›Es ist Ihnen doch um Gottes Willen nichts passiert‹ Beim Mittagessen wird wieder alles der Mutter berichtet und sie rät ihm ›Sag nichts. Das wird am besten sein‹. Doch man ahnt den schlechten Verlauf der Geschichte, am nächsten Morgen wird Icek an die Tafel gerufen, er könnte die Aufgabe bewältigen, aber er schweigt. »Der Lehrer schrie: Esel, Tölpel‚ Dummkopf« (ebd.). So geht es weiter in Korczaks Geschichte, die Ratschläge der Mutter kommen stets zu spät und die Umsetzung des Kindes misslingt. Icek wird in den 3/2013 Augen des Lehrers und in denen seiner Mitschüler zu einem schwierigen Kind, zu einem Kind, das auffällt und nicht zu den Erwartungen passt. Mit Iceks Schicksal führt Korczak vor Augen, wie in der und durch die Pädagogik ein Kind schwierig wird, weil es in Situationen kommt, für die es noch kein angemessenes Verhaltensrepertoire hat. Er zeigt ferner, dass die Erziehungsanstrengungen der Mutter nicht automatisch zu den Erwartungen des Lehrers passen. Und es gibt die anderen Kinder, zwischen denen sich jedes Kind möglichst passend bewegen muss. Korczak sensibilisiert zudem dafür, dass Situationen in pädagogischen Handlungsfeldern nicht nur für die Fachkräfte häufig unübersichtlich sind, sondern mehr noch für die Kinder. Icek jedenfalls interpretiert das, was er sieht und erlebt augenscheinlich falsch und versteht nicht, was vor sich geht. Auch wenn der Text 1938 verfasst wurde, macht er den bis heute zentralen Sachverhalt deutlich, die Pädagogik selbst bringt schwierige Kinder mit hervor. Zu »schwierigen Kindern« gehören in der Regel auch »schwierige Erwachsene«, andere »schwierige Kinder« und vor allem »schwierige Situationen« im Alltag und »schwierige Rahmenbedingungen« des Aufwachsens. Versuch einer Typologie auffälligen Verhaltens Die Thematisierung schwieriger Kinder in der Pädagogik konzentriert sich historisch gesehen auf das Verhalten von Kindern einerseits und auf Störungen andererseits. Störungen vor allem Lernund Entwicklungsstörungen sind eigent- Lern- und Entwicklich ein Grenzbereich pädagogischen lungsstörungen Handels, weil sowohl die Diagnose als auch die Therapie andere medizinische oder therapeutische Kompetenzen benötigt. Aber das Verhalten von Kindern trifft den Kern des Pädagogischen, nämlich die Erziehung. Erziehung wird – grob formuliert – übersetzt als intentionales Handeln mit dem Ziel, Einfluss auf den Zögling zu nehmen und ihm dabei zu helfen, seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Mit Erziehung sind Normen verbunden ebenso wie Vorstellungen von »guter Kindheit« und Rollenzuschreibungen. Erziehung setzt die »perfectibilité« ebenso voraus, wie die wachsende Einsichtsfähigkeit des Kindes und seine wachsende Kompetenz im Umgang mit komplexen Situationen. Erziehung zielt also auf den Körper und auf den Geist. Festzuhalten ist in direkter Anlehnung an J.-J. Rousseau, dass der Mensch drei Erzieher hat: die KJug 91 Andresen • Auffällig in der Schule Natur, die Dinge und den Menschen. Der Mensch als Erzieher ist zum intentionalen Handeln fähig und er kann sowohl die Natur als auch die Dinge in begrenztem Maße einsetzen oder arrangieren, um Kinder zu erziehen. Dass ist zumindest das, was Rousseau in seinem berühmten Werk »Emile« (1762) und der »negativen Erziehung« beschreibt. Rousseau ging aber relativ radikal davon aus, dass alles gut sei, wie es aus den Händen des Schöpfers komme, alles aber unter den Händen des Menschen entarte. Er macht also die falsche Erziehung, in einer falschen Umgebung und mit gefährlichen Typologie für Medien und Leidenschaften zur Unzeit auffälliges Verhalten für auffälliges Verhalten bei Menschen generell, aber besonders bei Kindern und Jugendlichen verantwortlich. Mit Rousseau ließe sich auch eine Art Typologie der Pädagogik für auffälliges Verhalten rekonstruieren. Die Pädagogik und vor allem die Schule verstehen darunter typologisch, und hier grob skizziert, ein Verhalten, das als nicht altersgemäß erscheint, das dazu führt, sich und andere zu gefährden, die Regeln nicht achtet und dem Auftrag, etwa zu lernen und dem Unterricht zu folgen, nicht Folge leistet. In meinem Beitrag »Der Zappel-Philipp – Schwierige Kinder und die Pädagogik« habe ich die Typologie anhand der Geschichten aus dem »Struwwelpeter« des Arztes, Psychiatriereformers und Familienvaters Heinrich Hoffmann entwickelt. Darauf will ich auch hier zurückgreifen: Schwieriges Verhalten, das als nicht altersgemäß gilt Für diese Auffälligkeit steht Konrad, der an einer lieb gewordenen Gewohnheit aus der Säuglings- und Kleinkindzeit festhält und am Daumen lutscht, obwohl er eigentlich zu groß dafür ist. Wenn Kinder ein »kindisches« Verhalten zeigen und dieses, sei es absichtlich, sei es im Spiel versunken, beibehalten, ruft dies die Notwendigkeit der Erziehung hervor. Ebenso ist die Geschichte der Jugend geprägt durch Gefährdungsdiskurse über abweichendes, auffälliges Verhalten von Mädchen und Jungen. Diese Diskurse thematisierten vor allem Aktivitäten, die den Jugendlichen untersagt waren, weil sie den Erwachsenen vorbehalten waren: Sexualität, Mobilität oder politische Aktivitäten. Schwieriges Verhalten, das Leib und Leben gefährdet Hier ist Hoffmanns Geschichte von Paulinchen zu nennen, die mit dem Feuer spielt und verbrennt, auch der Suppen-Kaspar gehört dazu, der die Suppe nicht isst und schließlich zu Tode kommt und der fliegende Robert, der leichtsinnig ist und bei Sturm hinausgeht. Das so genannte Risikoverhalten ge- 92 K Jug Titelthema hört zu den zentralen Dimensionen der Beschreibung von Jugend und nicht zuletzt können Lehrerinnen und Lehrer beispielsweise mit Suchtverhalten ihrer Schülerinnen und Schüler konfrontiert sein oder mit der leichtsinnigen Preisgabe persönlicher Daten im sozialen Netzwerk. Beide Beispiele verweisen darauf, wie wichtig die kontinuierliche Weiterbildung in der Pädagogik ist. Gerade das Risikoverhalten folgt neuen Trends und Erwachsene müssen sich hierzu auf dem Laufenden halten. Schwieriges Verhalten, das andere gefährdet Der böse Friederich bei Hoffmann ärgert und quält andere und lässt sich erst durch einen großen Hund davon abbringen (Die Natur als Erzieher). Andere zu gefährden ist ein Themenfeld der Schule, das heute mit dem Begriff des Mobbing in den Blick genommen wird. Wie in der Schule Kinder und Jugendliche vor Übergriffen und Gewalt geschützt werden, wie man professionell mit Kindern und Jugendlichen umgeht, die andere mobben und wie man ein Klima schafft, in dem sich eine gewaltförmige Kultur unter Peers nicht ausbreiten kann, wird zukünftig zu den großen Herausforderungen zählen. Hier sind nicht zuletzt wissenschaftliche Evaluationen über die Wirkung von Präventions- und Interventionsprogrammen dringend nötig. Schwieriges Verhalten, das den häuslichen Regeln zuwiderläuft Der Zappel-Philipp ist ein Kind, das aus pädagogischer Sicht auffällig ist, weil er gegen die Tischsitten seiner Zeit verstößt. Der Zappel-Philipp steht auch heute für Kinder und Jugendliche mit einer ADHS-Diagnose. Ohne hier auf die kontroversen Diskussionen eingehen zu können, soll an dieser Stelle nur darauf verwiesen werden, wie sehr die Schule den Bewegungsdrang von Kindern einengt. Zeit und Raum als Grundkategorien auch pädagogischen Handelns werden primär aus der Sicht der Institution und ihrer Bedürfnisse und nur nachrangig aus der Situation von Kindern und Jugendlichen betrachtet. Hier schafft sich die Institution ihre auffälligen Kinder. Schwieriges Verhalten, das ablenkt Die hierfür passende Figur ist Hanns Guck-in-dieLuft, ein Kind, das sich nur für seine Perspektive interessiert, nicht auf den Weg achtet, in der Schule vermutlich aus dem Fenster schaut und träumt und somit vom Unterricht nichts mitbekommt. Was also machen mit dem Kind oder Jugendlichen, das nicht so lernt, wie es soll und seine Potenziale nicht ausschöpfen kann im schulischen Kontext? 3/2013 Titelthema Andresen • Auffällig in der Schule Die hier nur knapp skizzierten Typen sind nach wie vor für die Pädagogik relevant. Insbesondere treibt die Erziehenden um, was Kinder machen, wenn sie ohne Aufsicht sind. Schon zu Hoffmanns Zeiten konnte selbst in der bürgerlichen Familie die Mutter nicht unentwegt die Kinder überwachen, maßregeln, erziehen, Konrads Mutter geht fort und auch Paulinchen war allein zu Haus, »die Eltern waren beide aus«, als sie mit dem Feuer zu spielen begann. Und Rousseau hat gute Gründe, seinen Emile unentwegt von seinem Lehrer begleiten und bewachen zu lassen. Einzelne Typen schwierigen Verhaltens sind demnach pädagogisch brisant, wenn Erwachsene abwesend sind und nicht eingreifen können, andere Typen schwierigen Verhaltens sind dann herausfordernd, wenn Erwachsene anwesend sind, aber nichts bewirken können. Auch deshalb kommen für die Pädagogik der Gegenwart weitere Typen hinzu. Schwieriges Verhalten, das durch Respektlosigkeit gekennzeichnet ist Die Begeisterung für das Buch »Lob der Disziplin« von Bernhard Bueb (2006) vor einigen Jahren hat vor Augen geführt, dass gerade Lehrkräfte viele Probleme darauf zurückführen, dass es Kindern zunehmend an Respekt und der Anerkennung von Autorität mangeln würde. Schwieriges Verhalten als Suchtverhalten Auch das ein Phänomen, das Hoffmann noch nicht im Blick hatte, das sich aber im Zuge der Ausweitung städtischen Lebens – historisch betrachtet – seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ausbreitet und sich insbesondere auf die Unkontrollierbarkeit der Jugend bezieht. Damit ist ein bis heute wachsendes Problemfeld ebenfalls verbunden. Schwieriges Verhalten durch Medienkonsum Die Problematisierung von Medienkonsum gehört ebenfalls zur Geschichte vor allem der Jugend und zum Themenfeld der Schule. Die Bewahrung der Jugend vor Schmutz und Schund war zu Beginn des 20. Jahrhunderts wichtig, heute geht es um exzessiven Medienkonsum, um die Wirkung von Gewaltvideos, um die Preisgabe persönlicher Daten im sozialen Netzwerk und die Veränderungen des sozialen Miteinanders durch das Internet. Die Kultur des Bewertens Zum Aufwachsen gehören zwei Erfahrungen: mit anderen verglichen und von anderen bewertet zu 3/2013 werden. Wenn der Dreijährige seine große Schwester mit dem Fahrrad beobachtet, vergleicht er ihre Fahrkünste mit seinen eigenen. Es liegt nahe, dass sein Ehrgeiz geweckt wird und die Motivation, es auch zu können, aus der Beobachtung der Älteren resultiert. Das Vorbild anderer Kinder geht nicht selten mit dem Gefühl der Konkurrenz einher. Mit dem Moment des Wunsches, es genauso gut oder vielleicht noch besser zu können, ist für das Kind auch sein Laufrad oder Dreirad nicht mehr attraktiv. Wenn es dann nach einer Zeit des Maßstab der Übens, der ersten Fort- und der schmerz- Bewertung haften Rückschritte sein Gleichgewicht beim Fahren halten und den Gehweg entlang sausen kann, vergleicht es sein Können nicht nur mit dem der Schwester, sondern gerne mit dem seines gleichaltrigen Freundes aus der Nachbarschaft und seiner Spielkameradin in der KiTa. Ausgehend von solchen Erfahrungen wird ein Kind zu einer Bewertung seines Könnens kommen, Handlungssicherheit und Selbstvertrauen gewinnen, aber sich auch über- oder unterschätzen, es wird sich vielleicht oft toll finden und immer wieder etwas Neues entdecken, was es lernen will. Kinder und Jugendliche bewerten sich folglich selbst, doch dies geschieht keineswegs in einem kontextfreien Raum, denn Maßstäbe der selbstkritischen oder -verliebten »Notengebung« werden ihnen von vielen Seiten vermittelt. Dem Kind, das das Fahrradfahren gelernt hat, kommen sicherlich in seinem unmittelbaren Umfeld verschiedene Bewertungen zu Ohren: Die ältere Schwester findet es vielleicht bemerkenswert, dass ihr Bruder so schnell einhändig fahren kann, die Mutter bewertet sein verkehrsgerechtes Verhalten an der Ampel, der Vater, dass er freiwillig den Schutzhelm aufsetzt und die Dame in der Bäckerei gibt ihrer Bewunderung für seine Slalomkünste laut Ausdruck. Kinder bekommen demnach ›en passent‹ unterschiedliche individuelle Maßstäbe mit und sie machen die Erfahrung, dass sowohl der Prozess des Erlernens und Übens selbst Gegenstand der Bewertung sein kann als auch ein einzelner Aspekt seines Könnens. Davon unabhän- Bewertung im Alltag gig gehören zahlreiche andere Kontexte, von Kindern und in denen Bewertungen an der Tagesord- Jugendlichen nung sind, zum Alltag von Kindern und Jugendlichen. Im medial sehr präsenten Profisport etwa geht es um die schnellsten, die besten und die teuersten Akteure, bewundert werden die Schönsten, die Größten, manchmal die Klügsten, die Witzigsten oder die Reichsten. Bewertung findet also ständig statt und es kommt darauf an, welche Kultur Kinder und Jugendliche vorfinden und wie die darin etablierten Verfahren sind. Beobachtet man Kinder und ihre Aktivitäten, so KJug 93 Andresen • Auffällig in der Schule stellt sich weniger die Frage, ob ein Kind, sein Handeln, seine Leistungen oder sein Wissen überhaupt bewertet werden sollen. Vielmehr besteht die Herausforderung für all diejenigen, die sich kritisch mit Bewertung und Benotung, mit Leistungsmessung und Konkurrenz befassen, erstens darin, sich als Erwachsener der machtvollen Position des Bewertenden bewusst zu sein und stets gewahr zu werden, ob und wenn ja wann man diese Position missbraucht. Insofern hängt das Phänomen der spontanen, aber insbesondere der professionellen und gezielten Bewertung, die zum Auftrag Erziehungs- der Schule gehört, mit der Erziehungskompetenz kompetenz zusammen und sie ist eine hohe Anforderung an Professionalität, denn Bewerten ist ein entscheidendes Gestaltungsmerkmal von Beziehungen insbesondere in der Schule. Zweitens geht es um eine kritische Auseinandersetzung mit dem System der Bewertung, also mit dem Gesamtrahmen, in dem Kinder und Jugendliche bewertet werden, mit Maßstäben bzw. Kriterien und deren Transparenz sowie mit den Formen der Kommunikation und Repräsentation von Bewertung. Für den Alltag von Kindern und Jugendlichen ebenso wie für ihr Selbstwertgefühl ist es wichtig, ob sie sich angemessen bewertet und damit (halbwegs) gerecht behandelt fühlen. Hierfür müssen sie befähigt werden, sich selbst und ihre Leistungen einzuschätzen, dazu gehören auch das Wissen und die Erfahrung, dass bestimmte Fähigkeiten in der Regel nicht ohne Übung, also Anstrengung erworben werden können. Wichtig ist jedoch auch, dass sie sich im Lernprozess selbst und in der Situation der Bewertung nicht ausgeliefert, machtlos, ohnmächtig fühlen. Darum ist grundsätzlich zu prüfen, wie transparent die Kriterien für Kinder und Jugendliche sind und welche Verfahren es gibt, sich zu beschweren, wenn man sich mit guten Gründen nicht angemessen bewertet sieht. Ein kleines Beispiel lässt sich aus dem Kindergartenalltag anführen: Erzieherinnen erstellen mittlerweile für jedes Kind eine sogenannte Bildungsdokumentation, um die verschiedenen Lernfortschritte zu dokumentieren und dem Kind selbst, den Eltern und vielleicht auch der künftigen Lehrkraft zu vermitteln. In manche Verfahren der Erstellung dieser Dokumentation werden Kinder aktiv einbezogen, sie dürfen mit entscheiden, was dokumentiert wird und können so mit Einfluss nehmen, sie erfahren im Idealfall aber auch, worauf die Erzieherin besonderen Wert legt und warum. Daran anschließend sei deshalb drittens der Aspekt der Einseitigkeit problematisiert. Sieht eine Institution wie die Familie, die KiTa oder die Schule nur die Bewertung der einen durch die anderen vor oder sind Formen der wechselseitigen Kritik eta- 94 K Jug Titelthema bliert? Zu den Aufgaben von Müttern und Vätern gehört auch, Kindern Regeln und Werte nahezubringen und zu erklären, damit einher geht im Alltag die Bewertung von Handlungen. Aber wünschenswert ist ein Familienklima, in dem auch Kinder selbst die Möglichkeit haben, elterliches Handeln zu kritisieren. Für die Entwicklung von Selbstwirksamkeit ist die Erfahrung wichtig, dass auf die Meinung des Kindes wert gelegt wird, dass es etwas verändern, in Bewegung bringen kann und dass auch Vater oder Mutter zuweilen mit ihrem Urteil falsch liegen, aber bereit sind, etwas zu korrigieren oder sich gegebenenfalls zu entschuldigen. Vergleichbares, wenn auch institutionell ganz anders ausgerichtet, gilt für die Schule. Kinder und Jugendliche müssen nicht den Wissensstand ihrer Mathelehrerin prüfen und benoten, aber haben sie strukturelle und damit verfahrenstechnische Möglichkeiten, sich zu beschweren und gibt es angemessene Verfahren für Kinder und Jugendliche, den Unterricht zu bewerten? Das ist bislang kaum vorgesehen und darin liegt eine der zentralen Herausforderungen. All das ist nicht neu und dennoch sei am Ende dazu angeregt, sich insbesondere in den außerfamiliären Institutionen, in denen Kinder und Jugendliche viel Zeit verbringen und wo sie ständig Erfahrungen mit Bewertungen machen, die Gefahr der Entwertung als Stachel professionellen Handelns zu verstehen. Nach wie vor stellen sich nämlich gerade aus der Sicht von Kindern und Jugendlichen folgende Fragen: Wird meine Zielsetzung, meine Motivation, meine Anstrengung oder meine vollbrachte Leistung bewertet? In welchem Verhältnis stehen die erbrachte Leistung und der Kultur der Bewertung Weg, den ich bis dahin zurückgelegt habe? Warum habe ich bei Lehrer x und Lehrerin y das Gefühl, ihre Kritik zielt weniger auf eine konkrete Leistung? Warum fühle ich mich dadurch entwertet und was kann ich dagegen unternehmen? Für die Verantwortlichen stellen sich daran anknüpfend folgende Fragen: Wie werden insbesondere Lehrerinnen und Lehrer dazu befähigt, zu bewerten? Woher bekommen sie in schwierigen Fällen Rat und wie lernen sie, mit eigenen Fehlern umzugehen? Wie transparent sind die Kriterien der Bewertung? Dahinter verbirgt sich auch die Anfrage an den Umgang mit Fehlern und deren Potenzial für Entdeckungen, für produktive Korrekturen, für Reflexion, für AhaErlebnisse, also für Lernen. Kinder und Jugendliche lernen bislang eine Lektion sehr schnell, dass Fehler ihnen hinsichtlich der Bewertung zum Verhängnis werden können. Grundsätzlich hängt die Anerkennung der einzelnen konkreten Bewertung auf Seiten der Kinder und Jugendlichen und damit ihr produktiver Umgang mit »Rückmeldungen« davon ab, ob sie sich 3/2013 Titelthema Andresen • Auffällig in der Schule angemessen beurteilt fühlen und ob sie insbesondere die Schule als Kultur der grundsätzlichen Wertschätzung mit transparenten Verfahren, die auch eine klare Regelung der Beschwerde ermöglichen, erleben. In der Frage der Kultur der Bewertung liegt möglicherweise ein Schlüssel zu Hervorbringung von Auffälligkeiten. Literatur Andresen, Sabine (2012): Was unsere Kinder glücklich macht. Lebenswelten von Kindern verstehen. Freiburg/Br. Korczak, Janusz (1938/2003): Ein gehorsamer Sohn. In: SW Band 13, bearbeitet und kommentiert von Friedhelm Beiner und Silvia Ungermann. Gütersloh, S. 208-210. World Vision Deutschland e.V. (2007): Kinder in Deutschland 2007. 1. World Vision Kinderstudie. Frankfurt am Main: Fischer. World Vision Deutschland e.V. (2010): Kinder in Deutschland 2010. 2. World Vision Kinderstudie. Frankfurt am Main: Fischer. Autorin Prof. Dr. Sabine Andresen Goethe-Universität Fachbereich Erziehungswissenschaften Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung Grüneburgplatz 1 60323 Frankfurt am Main Mail: [email protected] Professur für Sozialpädagogik und Familienforschung, Forschungsschwerpunkte: u.a. Kindheits- und Jugendforschung, Familienforschung, Geschichte der Sozialpädagogik, Historische Bildungsforschung Studien zur Kinder- und Jugendlichengesundheit KiGGS – Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland Die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland steht im Vordergrund der KiGGS-Studie des Robert Koch-Instituts. Die Langzeitstudie beobachtet die gesundheitliche Situation der in Deutschland lebenden Kinder und Jugendlichen und begleitet sie bis ins Erwachsenenalter. Die Datenerhebungen zu KiGGS erfolgen in Wellen. KiGGS liefert wiederholt bundesweit repräsentative Daten zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im Alter von 0 bis 17 Jahren und ermöglicht Aussagen zu Trends in der gesundheitlichen Lage. • Weitere Informationen unter www.kiggs-studie.de BELLA – »BEfragung zum seeLischen WohLbefinden und VerhAlten« Die BELLA-Studie ist eine Studie zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Mit der Studie sollen Auftretenshäufigkeit und Entwicklungsverläufe sowie relevante Determinanten (individuelle, familiäre und soziale Risiko- und Schutzfaktoren) psychischer Auffälligkeiten von der Kindheit und Jugend bis ins Erwachsenenalter untersucht sowie die Inanspruchnahme von Leistungen des Versorgungssystems analysiert werden. Sie wird von der Forschungssektion Kinder- und Jugendgesundheit (www.childpublic-health.org) am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf unter der Leitung von Prof. Dr. Ulrike Ravens-Sieberer durchgeführt. • Weitere Informationen unter www.bella-study.org HBSC – »Health Behaviour in School-aged Children« Die Kinder- und Jugendgesundheitsstudie »Health Behaviour in School-aged Children« (HBSC) dient der Datengewinnung und -analyse der Gesundheit und gesundheitsbezogenen Wahrnehmungen, Einstellungen und Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schülern der 5., 7. und 9. Klasse. Die HBSC-Studie gibt Auskunft über die Gesundheit und das gesundheitsrelevante Verhalten der 11-, 13- und 15-Jährigen, personale und soziale Rahmenbedingungen, die die Gesundheit und eine gesunde Entwicklung positiv oder negativ beeinflussen. Die deutsche Teilstudie wird an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld unter Leitung von Prof. Dr. Petra Kolip koordiniert. • Weitere Informationen unter http://hbscgermany.de 3/2013 KJug 95 Fachbeitrag Michael Dreier, Kai W. Müller, Eva Duven, Manfred E. Beutel, Klaus Wölfling Das Modell der Vier: Eine Klassifikation exzessiver jugendlicher Internetnutzer in Europa In sieben Ländern wurde die Internetnutzung von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren quantitativ und qualitativ untersucht. Es existieren derzeit zwar Studien zur Beschreibung von Internetnutzung und internetabhängigem Verhalten, jedoch steckt die Forschung zur Entstehung dessen noch in den Kinderschuhen. Aus den erhobenen Daten wurde das »Modell der Vier« abgeleitet, welches internetabhängiges Verhalten beschreibt und seine Entwicklung besser verständlich macht. Die Entstehung internetabhängigen Verhaltens bei Jugendlichen stand im Fokus der EU NET ADB Studie (SI-2011-KEP-4101007), welche im Rahmen des Safer Internet Programmes von der EU-Kommission gefördert wurde. Sie war in einen quantitativen (N=13.284; Alter: M=15,8; SD=0,7) und einen qualitativen Erhebungsteil (N=124; Alter: M=16,0; SD=0,7) untergliedert. Die quantitative Erhebung sollte Prävalenzen und Risikofaktoren für internetabhängiges Verhalten bei Jugendlichen identifizieren. Der qualitative Studienteil wurde konzeptionell dazu ausgerichtet, die Entwicklung eines internetabhängigen Verhaltens bei europäischen Jugendlichen ursächlich zu erklären. Als Haupterhebungsinstrument wurde der Internet Addiction Test 96 K Jug (Young,1998) eingesetzt. Dieser Fragebogen besteht aus 20 Items, welche in 6-stufige Likertskalen [0-5; Range 0-100] unterteilt sind. Das Instrument trennt (Cronbach’s alpha = 0.92) zwischen Personen die keine Zeichen internetabhängigen Verhaltens zeigen (0-19), solchen mit leichten, jedoch unproblematischen Zeichen internetabhängigen Verhaltens (20-39), Personen mit einem erhöhten Risiko für internetabhängiges Verhalten (40-69) und Personen mit Internetabhängigkeit (70-100). Die Gesamtprävalenz für internetabhängiges Verhalten konnte auf insgesamt 1,2% beziffert werden (12,7% gefährdet) – Island 0,8% (7,2% gefährdet), Deutschland 0,9% (9,7% gefährdet), Griechenland 1,7% (11% gefährdet), Niederlande 0,8% (11,4% Funktionale Internetnutzung Dysfunktionale Internetnutzung Psychosoziale Probleme M SD M SD P Cohens d Aktivitäten 8.22 0.07 7.29 0.13 *** 0,25 Soziale Kompetenz 7.78 0.04 7.41 0.08 *** 0,14 Akademische Kompetenz 2.19 0.01 2.03 0.02 *** 0,27 Gesamtkompetenz 18.21 0.10 16.75 0.19 *** 0,24 Angst/Depressivität 4.61 0.05 7.47 0.15 *** 0,66 Sozialer Rückzug 2.89 0.04 4.50 0.09 *** 0,58 Körperliche Beschwerden 2.68 0.04 4.37 0.12 *** 0,55 Soziale Probleme 2.77 0.03 4.92 0.11 *** 0,79 Schizoid/ Zwanghaftigkeit 2.93 0.04 5.49 0.13 *** 0,79 Aufmerksamkeitsprobleme 4.94 0.05 7.68 0.10 *** 0,86 Dissoziales Verhalten 4.10 0.05 7.69 0.15 *** 0,92 Aggressives Verhalten 6.41 0.07 11.08 0.17 *** 0,90 Internalisierende Auffälligkeiten 10.09 0.10 16.21 0.31 *** 0,70 Externalisierende Auffälligkeiten 10.49 0.11 18.84 0.29 *** 1,02 Gesamtbelastung 0.32 57.03 0.88 *** 1,07 33.12 KJug, 58. Jg., S. 96 – 99 (2013) © Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e. V. 3/2013 Fachbeitrag Dreier u.a. • Das Modell der Vier gefährdet), Polen 1,3% (12% gefährdet), Rumänien 1,7% (16,0% gefährdet) und Spanien 1,5% (21,3% gefährdet). Die weitere Datenauswertung ergab, dass sich funktionale (39 IAT) und dysfunktionale (40 IAT) Nutzer signifikant bei der Symptombelastung inklusive sämtlicher Subskalen, sowie den Subkompetenzskalen und dem Gesamtkompetenzscore unterscheiden (Tsitsika et al. 2013). Basierend auf dem Youth-Self-Report (YSR; Achenbach & Rescorla 2001) zeigen Jugendliche mit einer funktionalen Internetnutzung signifikant bessere Ausprägungen in den Subskalen »Aktivitäten«, »soziale Kompetenz« sowie »akademische Kompetenz«. Hingegen zeigen dysfunktionale Nutzer signifikant erhöhte Werte in den Subskalen »Angst/Depressivität«, »Sozialer Rückzug«, »Körperliche Beschwerden«, »Soziale Probleme«, »Schizoid/ Zwanghaftigkeit«, »Aufmerksamkeitsprobleme, »Dissoziales Verhalten«, »Aggressives Verhalten«, »Internalisierende Auffälligkeiten« sowie »Externalisierende Auffälligkeiten« (vgl. Tsitsika et al. 2013). Um exzessive Nutzer näher zu charakteriKlassifikation einer sieren, wurde das »Modell der Vier« entexzessiven Internet- wickelt, welches im Folgenden als Instrunutzung im Kindes- ment zur Klassifikation einer exzessiven und Jugendalter Internetnutzung im Kindes- und Jugendalter vorgestellt wird. Für die Interviews wurden Jugendliche (N=124) ausgewählt, die im IAT mehr als 30 Punkte erzielten. Die vier identifizierten Idealtypen wurden durch relevante Zitate charakterisiert; anschließend wurden Implikationen für die jeweiligen Nutzungstypen abgeleitet. Typ A »im Netz gefangen« ist durch eine exzessive Internetnutzung, Vernachlässigung von Hauptbereichen der täglichen Routine (Schule, Freunde, Pflichten), Nutzung spezifischer Onlineaktivität, einer negativen Überbeanspruchung (Schlafstörung und Stress, wenn man nicht online sein kann) und Schwierigkeiten, die Internetnutzung zu reduzieren wenn negative Konsequenzen zu befürchten sind, zu beschreiben. »Nun, ich sollte mehr rausgehen. Draußen sein, schwimmen gehen oder ähnliches. Ich war seit zwei Jahren nicht mehr schwimmen. Ich war seit über vier Monaten nicht mehr abends mit meinem Freund weg, solche Dinge vernachlässigt man.« (Junge, 16 Jahre) Dieser Typ empfindet häufige Enttäuschungen im sozialen Miteinander, fühlt sich ausgeschlossen 3/2013 oder wird sogar gemobbt und ist nicht in der Lage negativen Konsequenzen, welche durch sein Handeln entstehen, adäquate adaptive Handlungsstrategien entgegenzusetzen. Währenddessen ist Typ B »alles auf die Reihe bekommen« durch eine Pluralität an täglichen Aktivitäten zu beschreiben. Dieser Typ weist eine starke Online- und Offlinepräsenz auf und ist darüber hinaus durch gute soziale Kompetenzen charakterisiert. »Weil ich so beschäftigt bin und viel Zeit im Internet verbringe. Dadurch ist es schwierig alles auf die Reihe zu bekommen, aber ich bekomme es schon hin.« (Mädchen, 15 Jahre) Dieser Typ profitiert maßgeblich von Synergien, welche durch die Verbindung von Online- und Offlineaktivitäten entstehen. Hier bieten soziale Netzwerke und eine kompetente Nutzung dieses Kommunikationsmittels Vorteile, die vom beschriebenen Idealtyp zur Organisation des eigenen Lebens genutzt werden. Typ C »erfolgreich selbstregulieren« ist primär durch eine vorangegangene exzessive Onlineaktivität und eine veränderbare Selbstregulationsstrategie zu klassifizieren. Diese veränderbaren Selbstregulationsstrategien sind im Wesentlichen auf 1) Sättigung (»Es leid werden«), 2) Rückmeldung negativer Konsequenzen (körperliche Probleme, Schmerzen, schulischer Leistungsabfall, elterliche Konflikte etc.) sowie 3) externe Anreize (romantische Beziehung etc.) zurückzuführen. Der wesentliche Unterschied zu Typ A ist hier die Entwicklung adaptiver Handlungsstrategien im Falle des Auftretens oder Drohens negativer Konsequenzen. Die dazu notwendige Selbstregulation trennt beide Idealtypen auf Verhaltensebene deutlich voneinander. »Als ich begann soziale Netzwerke wie Facebook zu besuchen, habe ich gesagt: ›Ah, hier gibt es viele Leute, ich treffe neue Leute, das ist schön‹, ich blieb immer länger und länger (online), […] Ich machte Kommentare, lud KJug 97 Dreier u.a. • Das Modell der Vier Fachbeitrag Zeug hoch und schuf mir dort ein neues Leben, wie eine virtuelle Realität. Ähm…Ich glaube, das ist, was passiert ist. Nach einer Weile aber […] dann, SCHLIESST SICH DER KREIS, man fängt an zu sagen ›Was mache ich jetzt?‹, man hat es satt, man beendet es, man geht raus und man beginnt die Zeit zu reduzieren, die man online verbringt. Genauso schließt sich der Kreis.« (Mädchen, 17 Jahre) Die exzessive Onlineerfahrung kann als Kreis beschrieben werden, welcher zu einem bestimmten Zeitpunkt durch die drei beschriebenen Faktoren (Rückmeldung negativer Konsequenzen, Sättigung, externe Anreize) einen Änderungswunsch initiiert, welcher durch eine erfolgreiche Selbstregulation entsprechend umgesetzt werden kann. Typ D »Zeit totschlagen« nimmt sein Offlineleben als langweilig wahr. Dies liegt in erster Linie daran, dass alternative Interessen vollständig fehlen. Eine starke Onlinenutzung liefert hier einen komfortablen und omnipräsenten Zeitfüller. »Nun, es kümmert mich wirklich nicht. Ich schlage nur die Zeit tot. Mir ist so langweilig…« (Junge, 17 Jahre) Als problematisch für die Entwicklung des Jugendlichen ist eine automatisierte Reaktion auf Langeweile zu benennen, welche eine Phase exzessiver Internetnutzung zur Folge hat. Hierdurch manifestieren sich Verhaltensmuster, welche als Vermeidungsreaktion, in Erwartung von nicht ertragbarer Langeweile, kritisch zu betrachten sind. Soziale Fähigkeiten sind bei diesem Nutzungstyp bedingt ausgeprägt. Der alternative Interessensbereich, welcher kreative Ideen als fruchtbaren Boden begünstigt, ist hier ggf. aufgrund mangelnder elterlicher Förderung nicht vorhanden. Die folgende Darstellung ist horizontal dichotom in Offline Einbindung (hoch/ niedrig) und vertikal in Online Craving (hoch/ niedrig) eingeteilt. Craving bezeichnet Dieser Vierfeldertafel lassen sich die voreine starke gedank- gestellten vier Nutzungstypen gemäß liche Eingenommen- ihrer Ausprägungen in den beiden Leheit bzw. den unkon- bensbereichen zuordnen. Kinder und Jutrollierbaren Wunsch gendliche sind »immer on(line)« und das Internet oder die haben somit eine permanente niederjeweilige Applikation schwellige Zugriffsmöglichkeit auf das zu verwenden. Internet und die damit verbundenen Möglichkeiten. Diese Dynamik kann für den Jugendlichen eine starke Quelle der Selbstbestätigung darstellen. 98 K Jug Die Eigenschaften Selbstregulation und Änderungsmotivation beeinflussen die Entwicklung adaptiver und maladaptiver Handlungsstrategien. Diese Handlungsstrategien gelten zum einen als Indikator zur Identifikation der vorgestellten Nutzungstypen und verstärken sich zum anderen selbst. Adaptive Handlungsstrategien sind 1) Selbstkontrolle, 2) Priorisierung und 3) Ausprobieren von offline Alternativen. Diese Nutzungstypen sind funktionelle Nutzer und ein Kontrollverlust hängt hauptsächlich mit entwicklungstypischen Verhaltensmustern zusammen. Es ist anzunehmen, dass der Nutzer die grundlegende Fähigkeit zur Selbstregulation besitzt und aller Voraussicht nach keine Intervention im engeren Sinne adaptive notwendig wird. Im klinischen Alltag Handlungsstrategien zeigt sich, dass gerade für den Nutzungstyp B im Falle des plötzlichen Wegbrechens einer bedeutenden Offlineselbstbestätigungsquelle, beispielsweise infolge einer Sportverletzung, die Wahrscheinlichkeit einer Ausbildung suchtartiger Internetnutzungsmuster deutlich erhöht ist. Typ C wird voraussichtlich während seiner Entwicklungsphase innerhalb des Nutzungskreises erhebliche Zeit verlieren, daher ist hier eine Sensibilisierung für das Thema der Internet- und Mediennutzung angebracht. Als maladaptive Handlungsstrategien sind 1) das Umgehen elterlicher Kontrolle, 2) Bagatellisieren und 3) eine Legitimierung der exzessiven Nutzung zu benennen. Idealtypen, welche derartige Verhaltensmuster aufweisen und darüber hinaus entsprechend im Vierfelderschema verortet sind, weisen vermehrt Komorbidi- maladaptive täten (Ängste, Depressionen, Aufmerk- Handlungsstrategien samkeitsstörungen, etc.) auf. Gerade im Altersspektrum Kinder und Jugendlicher handelt es sich häufig um weitere psychische Störungsbilder und psychosoziale Problematiken, welche z.T. auch durch prekäre Familiensituationen mitbedingt sein können. Nutzer mit maladaptiven Handlungsstrate- 3/2013 Fachbeitrag Dreier u.a. • Das Modell der Vier gien werden sich in Bezug auf ihre Internetnutzung nicht selbst regulieren können und sind daher auf professionelle Hilfe angewiesen. Eine Sekundäranalyse der retrospektiven Interviews zeigte eine Veränderung der YSR-Subskalen Externalisierung und Internalisierung, welche den Idealtypen in unterschiedlicher Ausprägung zugewiesen werden konnten. Bei Typ A ist im Lebensverlauf bis zum aktuellen Zeitpunkt eine Steigerung im Bereich externalisierender Problemlagen zu verzeichnen. Typ B weist keine Veränderung auf. Hingegen berichtet Typ C eine Minderung internalisierender Problematiken. Im Gegensatz dazu steht Typ D, welcher eine Zunahme von internalisierenden Symptomatiken beschreibt. Fazit Es konnte gezeigt werden, dass ein hohes Online Engagement nicht per se als problematisch zu bezeichnen ist. Dies liegt u.a. daran, dass Phasen exzessiver Internetnutzung auch einen jugendlichen entwicklungsspezifischen Hintergrund haben können. Zentralen Einfluss auf die Klassifikation der Internetnutzung haben die Eigenschaften 1) Selbstregulation und 2) Änderungsmotivation, da diese maßgeblich zur Ausbildung von adaptiven oder maladaptiven Handlungsstrategien beitragen. Der kulturelle Rahmen, welcher die Grundvoraussetzungen für die Nutzung von technischen Innovationen bietet, trägt seinen Teil zur Ausbildung des Internetnutzungsverhaltens bei. Nicht zuletzt dadurch, dass gesamtgesellschaftliche Krisensituationen Familiensysteme ins Wanken bringen und somit den notwendigen stabilen Boden kindlicher und jugendlicher Entwicklung entziehen können. Die unterschiedlichen Eigenschaften der distinkten Nutzungstypen sprechen gegen die These einer Spontanremission eines internetabhängigen Verhaltens. Gerade im Bereich zentraler Eigenschaften wie Selbstregulation und Änderungsmotivation sind beispielsweise beim Auftreten oder Drohen negativer Konsequenzen deutliche Unterschiede zwischen den Nutzungstypen beobachtbar. Die beschriebenen Nutzungstypen sind nicht ausschließlich in zeitlich chronologischer Abfolge zu beschreiben. Das »Modell der Vier« bietet die Möglichkeit exzessive Internetnutzungstypen zu charakterisieren, hieraus eine einfache Klassifikation von Intensivnutzern vornehmen zu können und gegebenenfalls entwicklungsspezifische Interventions- und Beratungsstrategien einzuleiten. 3/2013 Literatur Achenbach, T. M.; Rescorla, L. A. (2001): Manual for the ASEBA School-Age Forms & Profiles. Burlington, VT: University of Vermont, Research Center for Children, Youth, & Families. Dreier, M.; Tzavela, E.; Wölfling, K.; Mavromati, F.; Duven, E.; Karakitsou, Ch.; Macarie, G.; Veldhuis, L.; Wójcik , S.; Halapi, E.; Sigursteinsdottir, H.; Oliaga, A.; Tsitsika, A. (2012): The development of adaptive and maladaptive patterns of Internet use among European adolescents at risk for internet addictive behaviours: A Grounded theory inquiry. National and Kapodistrian University of Athens (N.K.U.A.), Athens: EU NET ADB. www.eunetadb.eu. Strauss, A.; Corbin, J. (1990): Basics of qualitative research: Grounded theory procedures and techniques. London: Sage. Tsitsika, A.; Janikian, M.; Tzavela, E.; Schoenmakers, T. M.; Ólafsson, K.; Halapi, E.; Tzavara, C.; Wójcik, S.; Makaruk, K.; Critselis, E.; Müller, K.W.; Dreier, M.; Holtz, S.; Wölfling, K.; Iordache, A.; Oliaga, A.; Chele, G.; Macarie, G.; Richardson, C. (2012): Internet use and internet addictive behaviour among European adolescents: A cross-sectional study. National and Kapodistrian University of Athens (N.K.U.A.), Athens: EU NET ADB. www.eunetadb.eu. Wölfling, K.; Müller, K.W.; Beutel, M.E. (2011): Scale for the Assessment of Internet and Computer game Addiction (AICA-S): Psychometric qualities of a diagnostic questionnaire for the clinical assessment of Computergame Addiction. Psychother Psychosom Med Psychol, 61: S. 216-224. doi: 10.1055/ s-0030-1263145. Young, K. S. (1998): Internet addiction: The emergence of a new clinical disorder. CyberPsychology and Behavior, 1: S. 237-244. Autoren Michael Dreier Ambulanz für Spielsucht Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Universitätsmedizin der Johannes GutenbergUniversität Mainz Untere Zahlbacher Straße 8 55131 Mainz Mail: [email protected] Alle weiteren Autor/inne/n ebenfalls Ambulanz für Spielsucht Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. KJug 99 Positionen/Standpunkte Zur Lage der Kinder in Industrieländern UNICEF veröffentlichte im April 2013 erneut einen komparativen Bericht zur Lage der Kinder in Industrieländern [UNICEF Office of Research, Child wellbeing in rich countries, A comparative overview (Innocenti Report Card 11), April 2013]. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP), der Bundesverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland e. V.(BKJPP) und die Bundesarbeitsgemeinschaft der Leitenden Klinikärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e. V. (BAG KJPP) sowie deren gemeinsame Stiftung »Achtung! Kinderseele« begrüßen dieses generelle Benchmarking. Positiv ist, dass sich das allgemeine Lebensumfeld der Kinder (wie z.B. der materielle Wohlstand) in vielen Ländern allgemein verbessert hat. Sehr erfreulich sind die Erfolge im Bereich der Bildung und bei der Reduktion von Risikoverhalten, wie z.B. Rauchen, in Deutschland. Im Durchschnitt der fünf untersuchten Dimensionen (materieller Wohlstand, Gesundheit und Sicherheit, Bildung, Verhalten und Risiken, Wohnen und Umwelt) ist Deutschland mit dem sechsten Platz in der Rangreihenfolge noch das am besten platzierte, bevölkerungsreiche Industrieland. (...) Als positives Ergebnis von – auch kinderund jugendpsychiatrisch beratenen – Präventionsbemühungen zu bewerten ist die auf nur 23% betroffener Schüler abgefallene Rate an Prügeleien in der Schule, bezogen auf 12 Monate. Damit hat Deutschland das beste Schulklima aller Länder. (...) Kritischer ist die Lage für die Kinder, die unter absoluten Entbehrungen leben, erfasst mit einem Deprivationsindex (Mangel an 14 verschiedenen Gütern und Angeboten). Erwartungsgemäß finden sich die höchsten Deprivationsraten in ärmeren Staaten Europas, wie z.B. Rumänien. Deutschland liegt hier aber nur auf Platz 14 und schneidet so deutlich schlechter ab als Dänemark oder Schweden (...). Dieser Aspekt tatsächlicher Deprivationsbedingungen für Kinder und Jugendliche sollte aus Sicht der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie stärker bei der Debatte um Armutsfolgen und Kinderarmut in Deutschland berücksichtigt werden, da solche so genannten Deprivationsbedingungen stark mit schulischen Chancen und dem Gesundheitsverhalten korrelieren und da unter Deprivationsbedingungen das Risiko für seelische Störungen steigt (vgl. auch die Ergebnisse des KiGGS Surveys des Robert Koch-Instituts). 100 K Jug Bestürzend und Anlass dieser Stellungnahme ist der Befund, dass trotz der insgesamt eher guten Rahmenbedingungen für das Wohlbefinden von Kindern, die subjektive Lebenszufriedenheit von Kindern in Deutschland, mit Platz 22 von 29 besonders schlecht ist. Deutschland ist hier im Vergleich zu den Voruntersuchungen vom vorderen Feld 6 in den Tabellenkeller abgestiegen. Es gelingt hierzulande nicht, wie z.B. in den Niederlanden, hervorragende Rahmenbedingungen mit gefühlter Lebenszufriedenheit, dem subjektiven Gefühl einer behüteten und glücklichen Kindheit zu verbinden und Vertrauen zu den Eltern zu entwickeln. (...) Während in den letzten Jahren in einer breiten gesellschaftlichen Diskussion sehr viel für die Verbesserung, vor allem im Bildungsbereich und für die Reduktion von Risiken getan wurde, werden die häufig als weiche Faktoren betrachteten Dimensionen der emotionalen Entwicklung von Kindern, ihr Bindungsbedürfnis, die Entwicklung eines eigenen Selbstwerts, kaum öffentlich diskutiert und durch geeignete Maßnahmen adressiert. Die Fachverbände der Kinder- und Jugendpsychiatrie (DGKJP, BAG KJPP, BKJPP) haben sich angesichts der Ergebnisse des KiGGS Surveys des Robert Koch-Instituts (www.kiggs-studie.de), mit der dort festgestellten hohen Rate an emotionalen Verhaltensstörungen bei Kindern in Deutschland, zur Gründung der Stiftung »Achtung! Kinderseele« entschlossen, um in dieser Gesellschaft Achtsamkeit für die seelischen, emotionalen Bedürfnisse von Kindern, für die frühe Förderung ihres Selbstwerts, zu steigern. Unsere Auffassung ist, dass (seelische) Gesundheit, Bildung, Bindung und emotionale Sicherheit untrennbar zusammengehören und in Deutschland gefördert werden müssen. 3/2013 Positionen/Standpunkte Die UNICEF Studie, die die Situation der Kinder in Deutschland mit dem Titel »Leistungsstark aber unglücklich?« beschreibt, ist eine Herausforderung an die Fachverbände sowie an die Politik und das gesamte gesellschaftliche Umfeld. (...) Erfreulicherweise hat die Erkenntnis, dass die Vermittlung von Entwicklungschancen Bindungs-, Gesundheits- und Bildungsförderung mit einschließt, sich im Bereich der so genannten »Frühen Hilfen« in der frühen Kindheit in den letzten Jahren in Deutschland schon stärker durchgesetzt. Doch die emotionalen Bedürfnisse, die Notwendigkeit sich aufgehoben, geliebt und gefördert zu fühlen, die ja ebenso zu den in der UN-Kinderrechtskonvention definierten Basisbedürfnissen von Kindern gehören wie die klaren materiellen Rahmenbedingungen des Wohlergehens, müssen in allen Altersstufen gefördert werden. Gerade bei Schulkindern und Jugendlichen werden hier eklatante Defizite deutlich. Die Stiftung »Achtung! Kinderseele« denkt deshalb nach der erfolgreichen Etablierung ihrer Kindertagesstätten-Patenprojekte im frühkindlich präventiven Bereich, nun verstärkt an Projekte zur emotionalen Förderung der Lebenszufriedenheit bei Schulkindern und Jugendlichen im Übergang zu Arbeit und Berufsausbildung/Studium. Unglücklich sein und emotionale Belastungen bei Kindern und Jugendlichen können und müssen frühzeitig wahrgenommen werden. Noch immer ist die Wahrnehmung von emotionalen Problemen bei Kindern für viele Eltern schambesetzt. Aus Angst vor Stigmatisierung unterbleiben deshalb oft eine rechtzeitige Hilfesuche und eine frühzeitige professionelle Unterstützung. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V., die sich mit den anderen beiden Fachverbänden auch im Rahmen der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen-medizinischen Fachgesellschaften für eine, auf evaluiertem Wissen basierende (evidenzbasierte) Behandlung seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen einsetzt, betont, dass Kinder nicht nur Förderung ihrer Leistungsfähigkeit brauchen, um später z.B. im Arbeitsleben ihren Platz zu finden, sondern es hängt entscheidend von ihrer emotionalen Befindlichkeit und von ihrem Selbstwert ab, ob es ihnen gelingt, im Rahmen der Autonomieentwicklung so weit zu kommen, dass sie ihr Leistungspotential auch umsetzen können und selbst zu 3/2013 warmherzigen und beziehungsfähigen Erwachsenen in einer nachwachsenden Generation werden. Die Stiftung »Achtung! Kinderseele« und die kinder- und jugendpsychiatrischen Fachverbände unterstützen deshalb die Forderungen von UNICEF für Deutschland nachdrücklich: • Kampf gegen Kinderarmut, insbesondere Verhinderung von Deprivationsbedingungen • Kindergesundheit fördern • Kinder und ihre Rechte stärken Darüber hinaus fordern DGKJP, BAG KJPP, BKJPP und die Stiftung »Achtung! Kinderseele« eine stärkere Achtsamkeit für die seelische Befindlichkeit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Nach der erfolgreichen Agenda zur Verbesserung, z.B. der schulischen Rahmenbedingungen nach dem PISASchock, ist nun eine vergleichbare Anstrengung zur Förderung des »emotionalen Wohlbefindens« und der wahrgenommenen Lebenszufriedenheit von Kindern in Deutschland zu fordern. Zusammenfassend bleibt folgendes festzuhalten: Bildung und Leistungsbereitschaft sind eine Seite, die erfreulicherweise in Deutschland offenbar hoch ausgeprägt ist. Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen, sowie emotionale Aspekte kindlichen Aufwachsens scheinen in der Zukunft dagegen DIE Aufgabe für die Gesellschaft in Deutschland zu sein. Für die Fachgesellschaften und die Stiftung »Achtung! Kinderseele«: Prof. Dr. J.M. Fegert Der Verfasser der Stellungnahme ist Stellvertretender Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V.; Kuratoriumsvorsitzender der Stiftung »Achtung! Kinderseele« und Mitglied im Deutschen Komitee der UNICEF. Für die Vorstände: Prof. Dr. G. Schulte-Körne (DGKJP), Dr. M. Herberhold (BKJPP), Dr. I. Spitczok von Brisinski (BAG KJPP), Prof. Dr. G. Lehmkuhl (Stiftung »Achtung! Kinderseele«) KJug 101 Recht und Rechtsprechung Sigmar Roll §§ Jugendschutzprogramme – ein Konzept mit Januskopf Die 5. Kammer des Verwaltungsgerichts Neustadt a.d. Weinstraße hat in einer Entscheidung des vorläufigen Rechtsschutzes einem Telemedienanbieter ermöglicht, entwicklungsbeeinträchtigende Inhalte trotz möglicherweise unzureichender Schutzmaßnahmen vorläufig weiter zu verbreiten, weil im Hinblick auf die Beschlusslage der KJM kein Sofortvollzug geboten sei (Beschluss vom 17.04.2013; Az.: 5 L 68/13.NW)*. Leitsätze des Bearbeiters 1. Die Eignung eines Jugendschutzprogramms ist bei seiner Anerkennung nach § 11 JugendmedienschutzStaatsvertrag (JMStV) umfassend zu prüfen. 2. Bei summarischer Betrachtung erscheint der Begriff der »wesentlichen Verbreitung« zu unbestimmt, um daran bestimmte Rechtsfolgen zu knüpfen. Sachverhalt Ein Bordellbetreiber B wirbt auf seiner Homepage für seine Etablissements mit einschlägigen Bildern und Texten. In einem früheren Aufsichtsverfahren war bemängelt worden, dass er ohne adäquate Schutzmaßnahmen Inhalte verbreite, die für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren beeinträchtigend seien. Der anschließende Rechtsstreit hatte mit der Verpflichtung des B geendet, dass er das Angebot für ein von der Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) anerkanntes Jugendschutzprogramm programmiere. Zwischenzeitlich ist das Angebot geändert worden: Die neuen Inhalte sind zwar weiterhin keine Pornografie, aber sie sind als entwicklungsbeeinträchtigend für alle Minderjährigen anzusehen. B hat diese Angebotsinhalte zutreffend mit einer Kennzeichnung der Altersstufe »ab 18« programmiert. Allerdings gab es zu Jahresbeginn 2013 keine Jugendschutzprogramme, deren Anerkennung sich aktuell auf diese Altersstufe erstreckt hätte. Die KJM hatte nach langem Vorlauf im Februar 2012 erstmalig zwei Internetfilter als Jugendschutzprogramme nach § 11 JMStV anerkannt. Wegen der erst noch zu leistenden Verbreitung der Programme hatte sie die Anerkennung für die Zeit bis Ende Mai 2013 auf An- 102 K Jug gebote mit maximal sog. 16er Inhalten begrenzt und sich einen Widerruf der vollen Anerkennung vorbehalten, falls keine hinreichende Verbreitung nachgewiesen sei. Dem Anbieter wurde auf Beschluss der KJM durch die zuständige Landesmedienanstalt L mit sofortiger Wirkung und unter Androhung eines Zwangsgeldes die weitere Verbreitung des Angebots ohne geeignete Schutzmaßnahmen (Einhaltung der Zeitgrenze zwischen 23 Uhr und 6 Uhr oder Einsatz eines dem Angebot vorgeschalteten technischen Schutzes zur Altersprüfung) untersagt. Hiergegen hat B Rechtsmittel ergriffen und Eilrechtsschutz für die Zeit bis zur Entscheidung in der Hauptsache beantragt. Argumentation des Gerichts (…) II. (…) Nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO hat die L ihr besonderes Vollziehungsinteresse hinreichend damit dargelegt, dass im Falle der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage der Jugendschutz durch die Verbreitung der beanstandeten InternetAngebote des B dauerhaft und auch nachhaltig gefährdet würde und die kommerziellen Interessen des B hinter dem Jugendschutz zurückstehen müssten. Den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist damit genügt. (…) Ob sich die zur Begründung des Sofortvollzugs von der L angeführten Gründe als tragfähig erweisen, um – abweichend von der gesetzlichen Grundregel, dass Rechtsbehelfe gegen Verwaltungsakte aufschiebende Wirkung haben (vgl. § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO) – das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung im Einzelfall rechtfertigen zu können, ist vielmehr eine Frage des * voller Wortlaut dieser Entscheidung siehe www.bag-ju gendschutz.de/recht_rechtsprechung_jugendschutz.html KJug, 58. Jg., S. 102 – 107 (2013) © Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e.V. 3/2013 Recht und Rechtsprechung materiellen Rechts, ob insoweit auch die Voraussetzungen des § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO vorgelegen haben. (…) Die vom Gericht vorzunehmende Abwägung zwischen dem Aussetzungsinteresse des B und dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit der in Ziffer 2 des Bescheids enthaltenen Untersagungsverfügung fällt zu Lasten der L aus. Hierzu tragen bereits für das Gericht bestehende materielle Rechtmäßigkeitsbedenken gegen die befristete und zugleich mit einem Widerrufsvorbehalt versehene Untersagungsverfügung bei (1.). Ausschlaggebend ist jedoch, dass die Kammer jedenfalls bei der von ihr im Rahmen der nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmenden Abwägung von Aussetzungsinteresse und besonderem Vollziehungsinteresse die Voraussetzung für die Annahme einer besonderen Eilbedürftigkeit der für sofort vollziehbar erklärten Untersagungsverfügung als nicht gegeben ansieht (2.). 1. Zunächst bedürfen die streitentscheidenden Fragen, ob die Angebote des B (...) geeignet sind, die Entwicklung unter 18-Jähriger zu beeinträchtigen und ob nach derzeitiger Rechtslage der Zugriff auf die Homepage des B in gesetzlich geforderten Maßen (§ 5 Abs. 3 Nr. 1 JMStV, 11 Abs. 1 JMStV) durch das vom B vorgenommene sog. Labeling »ab 18 Jahren« auch für die über 16-Jährigen, aber unter 18-Jährigen im gesetzlich geforderten Maße beBei der Diskussion der vorliegenden Eilentscheidung ist zu schränkt werden kann, eibeachten, dass die hier geforderte ner eingehenden rechtlieingehende rechtliche Prüfung noch chen Prüfung, die im Rahaussteht. Einige wichtige Gedanken men des vorliegenden Eilsollen in der Anmerkung aufgezeigt verfahrens angesichts seiwerden. nes lediglich summarischen Charakters nicht abschließend geleistet werden kann. Bei der Frage, ob der B deshalb keine ausreichenden jugendschutzrechtlichen Schutzvorkehrungen getroffen hat, weil seine Angebote ganztägig frei zugänglich sind und (nur) mit dem Labeling »ab 18 Jahren« versehen sind, stellt die L darauf ab, ob die Jugendschutzprogramme von der KJM anerkannt sind. Eine Anerkennung für die vom B gebotenen Inhalte liege deshalb nicht vor, weil bisher von der KJM Jugendschutzprogramme nur als geeignet für Inhalte der Altersgruppen bis maximal 16 Jahren Dass Rechtsbehelfe gegen Verwaltungsakte regelmäßig aufschiebende Wirkung haben, ist vor dem Hintergrund entstanden, dass belastende Eingriffe der staatlichen Verwaltung erst nach Abschluss der dem Bürger zustehenden Rechtsprüfung zur Auswirkung kommen sollen. Im vorliegenden Fall wäre allerdings mitzubedenken gewesen, dass der B unproblematisch – wie in der Zeit zuvor – mit sog. 16er Inhalten umfassend für sein Bordell werben dürfte, also nur relativ wenig beschränkt wäre, während in 6 Monaten mit möglicherweise unzureichender Absicherung eine Vielzahl von Kindern und Jugendlichen durch die Telemedieninhalte in ihrer Entwicklung beeinträchtigt werden können. 3/2013 Roll • Jugendschutzprogramme – ein Konzept mit Januskopf angesehen würden. Dabei Der Telemedienanbieter verist allerdings zu berücksichwendet – entgegen der Austigen, dass die KJM in der führungen im Beschluss – gerade Sitzung vom 08.02.12 benicht das Jugendschutzprogramm. Er labelt (= alterskennzeichnet) nur sein schlossen hat, dass ab Angebot, damit das vom Internetnut01.06.13 von der Anerkenzer bzw. dessen Eltern verwendete nung auch entwicklungsbeJugendschutzprogramm differeneinträchtigende Inhalte für zierte Zugangsmöglichkeiten eröffdie Altersstufe »ab 18 Jahnen oder versperren kann. ren« erfasst werden und dass das – auch vom B derzeit bereits verwendete – Jugendschutzprogramm J ab diesem Zeitpunkt anerkannt wird. Nach dem Beschluss soll allerdings die Geltung Die vom Gericht hier vorgeder Anerkennung für Inhalte nommene Kommentierung der Altersstufe ab 18 Jahdeutet darauf hin, dass sich dem Geren (gemeint ist: von 16 bis richt die Systematik des Jugendme18 Jahren) widerrufen werdienschutzes nicht erschlossen hat. den können, »wenn der Es geht hier um sog. 18er Inhalte, [Hersteller des Jugendalso um Angebote, die nur für Erwachsene geeignet sind und die Entschutzprogramms] nicht bis wicklung von Kindern und Jugend30.04.13 glaubhaft nachlichen aller Altersstufen beeinträchweist, dass eine wesenttigen können. Wer über eine gewisse liche Verbreitung der Erfahrung etwa zur Altersfreigabe Schutzoption gegeben ist«. von Computerspielen verfügt, weiß (…) Die von der KJM beum die bedeutsame Schwelle, ob eireits im Februar 2012 bene Freigabe ab 16 Jahren oder keine Jugendfreigabe vorliegt. schlossene Änderung der bisherigen Rechtsauffassung hat zur Folge, dass zwar gegenwärtig eine Anerkennung für die vom B gebotenen Inhalte nach Ansicht der L nicht gegeben ist, der B ab dem Stichtag 01.06.13 aber, über das bereits von ihm vorgenommene Labeling »ab 18 Jahren« hinaus, keine weiteren Jugendschutzmaßnahmen mehr ergreifen müsste, ohne gegen § 5 Abs. 1 und 3 JMStV zu verstoßen. Bei der Prüfung durch das Gericht bestehen bereits gegen den Widerrufsvorbehalt in dem Beschluss der KJM vom 12.02.12 Bedenken. (...) Dabei erscheint es dem Gericht zweifelhaft, ob der Vorbehalt von dem nicht fristgerechten Nachweis einer »wesentlichen Verbreitung« der Schutzoption des Jugendschutzprogramms im jeweiligen Einzelfall abhängig gemacht werden kann, ist es doch Aufgabe der KJM, bereits im Anerkennungsverfahren zu prüfen, ob die gesetzlichen Voraussetzungen Das Gericht hat hier völlig auvorliegen, d.h. ein ausreißer Betrachtung gelassen, chendes Mittel i.S.d. § 5 dass außer den gesetzlichen auch Abs. 3 Nr. 1 JMStV, 11 Abs. 1 die untergesetzlichen RechtsregeJMStV vorliegt und dadurch lungen zu beachten sind, hier insbesondere die nach § 15 Abs. 2 Satz 1 der Zugang im gesetzlich JMStV erlassene Jugendschutzgeforderten Maße berichtlinie. schränkt werden kann. KJug 103 Roll • Jugendschutzprogramme – ein Konzept mit Januskopf Weiterhin erscheint es sehr zweifelhaft, ob beim Widerruf der Anerkennung eines Jugendschutzprogramms überhaupt auf das Kriterium einer wesentlichen Verbreitung des Jugendschutzprogramms abgestellt werden kann. Maßgeblich für die Anforderungen an Jugendschutzprogramme und deren Anerkennung sind die Bestimmungen des § 11 JMStV. Nach § 11 Abs. 1 JMStV kann der Anbieter von Telemedien den Anforderungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 JMStV dadurch genügen, dass Angebote, die geeignet sind, die Entwicklung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen zu beeinträchtigen, für ein als geeignet anerkanntes Jugendschutzprogramm programmiert werden. Nach § 11 Abs. 3 JMStV ist die Anerkennung von Jugendschutzprogrammen nach Abs. 2 zu erteilen, wenn sie einen nach Altersstufen differenzierten Zugang ermöglichen oder vergleichbar geeignet sind. Die Anerkennung kann nach § 11 Abs. 4 JMStV widerrufen werden, wenn die Voraussetzungen für die Anerkennung nachträglich entfallen. (...) § 11 JMStV eröffnet damit den Anbietern von Internet-Inhalten zur Erfüllung ihrer Pflicht der Wahrnehmungserschwernis für Kinder und Jugendliche nach § 5 Abs. 1 JMStV die Möglichkeit, entwicklungsbeeinträchtigende Angebote für ein Jugendschutzprogramm zu programmieren. Bei der Anerkennung der Eignung von solchen Jugendschutzprogrammen wird in Bezug auf die Anerkennungsvoraussetzungen im Wesentlichen darauf abgestellt, dass ein nach Altersstufen differenzierter Zugang ermöglicht werden muss (§§ 11 Abs. 3, 5 Abs. 4 JMStV). Darauf, von wie vielen Nutzerhaushalten das entsprechende Jugendschutzprogramm benutzt wird bzw. ob es tatsächlich durch Eltern zum Schutz der Jugendlichen eingesetzt wird und inwieweit deshalb ein bestimmter Verbreitungsgrad eines Jugendschutzprogramms vorliegt, hat der Anbieter des Programms aber grundsätzlich keinen Einfluss. Es erscheint deshalb rechtlich bedenklich, wenn die KJM den Widerruf ihrer Anerkennung eines Jugendschutzprogramms – über die gesetzlichen Voraussetzungen hinausgehend – vom Vorliegen des weiten und sehr unbestimmten Merkmals der »wesentlichen Verbreitung« (...) abhängig macht. (…) 2. (...) Typisch für das Vorliegen des besonderen öffentlichen Interesses für den Sofortvollzug ist im Regelfall das Bestehen einer sofort zu beseitigenden Gefahrenlage. Daran bestehen vorliegend aber schon deshalb Zweifel, weil die Gefahr, dass auch Jugendliche der Altersstufe 16 bis 18 Jahre über das vom Antragsteller bereits vorgenommene Labeling hinaus entwicklungsbeeinträchtigende Inhalte der Altersstufe »ab 18 Jahren« wahrnehmen können, zwar grundsätzlich besteht, die sofortige Beseitigung im Rahmen der konkreten Gefahrenabwehr 104 K Jug Recht und Rechtsprechung aber nicht als dringlich anBei der Abschätzung der Gegesehen werden kann. fahr wird hier ausschließlich Dies ergibt sich aus folauf die Altersgruppe der 16- bis genden Überlegungen: 18-Jährigen abgestellt. Zwar mag dort die Bereitschaft von Eltern, ein Durch die Programmierung Jugendschutzprogramm gegenüber für ein Jugendschutzproihren fast erwachsenen Kindern gramm (sog. Labeling), wie durchzusetzen, gering sein; das sie der B durch die KennSchutzniveau dürfte aber in dieser zeichnung »ab 18 Jahren« Altersgruppe gleich (niedrig) sein, vornimmt – auch wenn dies wie bei einer Verbreitung des Angevon der L nur für den Schutz bots nach 23 Uhr. Das vom Gericht nicht erkannte eigentliche Problem von Jugendlichen bis maxiliegt aber in der Konfrontation von mal 16 Jahre anerkannt wird jüngeren Altersstufen mit diesen In– soll erreicht werden, dass halten, sei es auf Grund einer FehlKinder und Jugendliche der funktion des Jugendschutzprojeweils betroffenen Altersgramms oder der fehlenden Installastufe entwicklungsbeeintion des Filters durch die Eltern. trächtigende Inhalte eines Internet-Angebots »üblicherweise« nicht wahrnehmen (vgl. § 5 Abs. 1 JMStV). Voraussetzung für die Wirksamkeit eines Jugendschutzprogramms ist aber vor allem der Einsatz der Schutzoption durch verantwortungsvolle Eltern. Hierbei spielt wiederum das jeweilige Alter der Jugendlichen eine wichtige Rolle. In diesem Zusammenhang geht auch die KJM davon aus, dass Filterprogramme auch heute schon von verantwortungsvollen Eltern nicht nur der Altersstufe der bis 16-Jährigen, sondern auch der 16- bis 18-Jährigen genutzt würden, wenn auch möglicherweise nicht mit einem, für das Jugendschutzprogramm »J« von ihr als ausreichend erachteten Verbreitungsgrad. Insoweit verlangt die KJM von den Antragstellern bei einer ab 01.06.13 erfolgten Anerkennung dieses Jugendschutzprogramms, soweit es entwicklungsbeeinträchtigende Inhalte der Altersstufe bis 18 Jahre erfasst, auch noch den Nachweis, dass eine »wesentliche Verbreitung« der Schutzoption gegeben ist. Hieraus wird aber deutlich, dass die »Gefahr«, die die L mit dem Erlass der vorliegenden Untersagungsverfügung abwenden will, bereits auf andere Weise (verantwortungsvolle Eltern) abgewendet werden kann und es nur vom Verbreitungsgrad abhängt, ob die L in diesem Fall überhaupt noch Gefahrenabwehr betreiben muss. Von einer dauerhaften und nachhaltigen Gefährdung des Jugendschutzes, von der die L in ihrer Begründung des Sofortvollzugs ausgeht, kann daher nicht die Rede sein. (...) Aber auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit liegt hier ein das private Interesse des B überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung nach Auffassung des Gerichts nicht vor. (...) Dem Antrag des B war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. (…) 3/2013 Recht und Rechtsprechung Anmerkung Insbesondere in zwei Punkten ist der dargestellte Entscheidungsprozess des Gerichtes zu kritisieren. Zum einen wird die Bedeutung einer rechtskräftigen Regelung zu gering geschätzt. Zum hier maßgeblichen Zeitpunkt Ende 2012 gab es kein Jugendschutzprogramm, dessen Anerkennung auch 18er Inhalte umfasst hätte. Ob ein Telemedienanbieter etwaige Fehler im Anerkennungsverfahren des Jugendschutzprogrammherstellers geltend machen kann, erscheint fraglich, da er am Anerkennungsverfahren nicht beteiligt ist und ihm zur Verbreitung seiner Angebote andere gesetzliche Möglichkeiten eröffnet sind, so dass er nicht im Kernbereich seiner Tätigkeit betroffen ist. Auch wäre bei einem Fehler im Anerkennungsverfahren eher davon auszugehen, dass dann überhaupt kein anerkanntes Jugendschutzprogramm bestehen würde – wie die Jahre zuvor –, als dass dann von einer vollen Anerkennung auszugehen wäre. Das zusätzliche Grundproblem besteht im Dreiecksverhältnis zwischen Telemedienanbietern, Jugendschutzprogrammherstellern und Internetnutzern. Der Telemedienanbieter bekommt mit der Möglichkeit des Programmierens für ein Jugendschutzprogramm eine relativ komfortable Vorgehensweise eröffnet, während die Anreize, Jugendschutzprogramme so zu entwickeln, dass sie anerkannt werden können, oder als Nutzer ein solches Programm einzusetzen, zunächst schwerer zu erkennen sind. Hinzu kommt, dass zwar den Eltern die Erziehungsverantwortung zukommt, gesellschaftlich aber in vielen Feldern die Überzeugung gilt, dass auch diejenigen, die Gefahrenquellen für junge Menschen betreiben, eine besondere Verantwortung haben, die sich nicht darin erschöpfen darf, dass auf dem Produkt ein Warnhinweis angebracht wird, ab welchem Alter eine Eignung anzunehmen ist. Zum zweiten wird nur auf den Wortlaut eines Gesetzesabsatzes abgestellt (§ 11 Abs. 3 JMStV) und weder Sinn und Zweck des Gesetzes, noch die Gesetzessystematik und das – untergesetzliche – Regelungsumfeld werden hinreichend in den Blick genommen. Allein ein technisches Auslesenkönnen eines vergebenen Alterslabels reicht nicht aus, um den von § 11 JMStV verfolgten und in den nach § 15 Abs. 2 JMStV erlassenen Jugendschutzrichtlinien (in 5.2. ff) präzisierten Schutzzweck abzudecken. Um dies zu veranschaulichen, soll eine Analogie aus dem Straßenverkehr herangezogen werden: Bei der Zulassung von Fahrzeugen mit automatischen Bremssystemen, die auf dem Zusammenwirken von inneren Komponenten (Bremsen und Rezeptoren) und äußeren Komponenten (Elementen in der Straße 3/2013 Roll • Jugendschutzprogramme – ein Konzept mit Januskopf oder an anderen Verkehrsteilnehmern) beruhen, leuchtet es sofort ein, dass es nicht ausreichen würde, wenn der Wagenhersteller nachweist, dass das eingebaute System auf die Reflektorelemente reagieren kann und eine ausreichende Bremskraft vorhanden ist; vielmehr ist eine ausreichende Verbreitung der äußeren Komponenten erforderlich, um das Fahrzeug mit dem automatischen Bremssystem risikoarm betreiben zu können. Also gilt: Auch wenn die Anerkennung von technischen Voraussetzungen abhängig gemacht wird, ist gleichwohl der Verbreitungsgrad immanentes Kriterium. Dabei kann es für die Risikoabwägung auch bedeutsam sein, ob ein bauartlich langsames und leichtes Fahrzeug oder ein schweres, sehr schnelles Fahrzeug möglicherweise ohne hinreichende Bremsauslösung unterwegs ist. In einer Situation, in der die Einführung eines innovativen Schutzsystems vom Zusammenwirken verschiedener Betroffener abhängig ist, kann es leicht dazu kommen, dass jeder auf den anderen wartet: Warum soll ich mich mit einer Empfangskomponente ausstatten, wenn kein Fahrzeug mit entsprechenden Signalen unterwegs ist, und umgekehrt warum soll ich mein Fahrzeug mit Signalen ausrüsten, wenn mir das System mangels Empfängern nicht anerkannt wird. Das gleiche gilt für das geschilderte Dreiecksverhältnis bei Jugendschutzprogrammen. In einem solchen Fall ist die Einführung über einen Stufenplan absolut sinnvoll; erst werden die geringeren Risiken zugelassen und später die größeren. Zurück zur Einführung von anerkannten Jugendschutzprogrammen* und ihrem Januskopf: Einerseits wird – zwar wohl nicht bei bestimmungsgemäßem Gebrauch, aber in der Summe aller minderjährigen Nutzer und insbesondere in der Einführungsphase – vorhandenes Risiko bei inländischen Angeboten vermutlich etwas weniger abgewehrt werden; andererseits bietet sich erstmalig die Chance, Risiken durch die Internetnutzung Minderjähriger insgesamt zu minimieren, weil durch die Umsetzung des neuen Schutzkonzepts endlich auch ein Einbeziehen der großen Zahl – auch deutschsprachiger – Angebote möglich wird, die nicht aus Deutschland stammen. Einerseits können Eltern zukünftig auf eine umfassendere technische Unterstützung hoffen, andererseits fällt der Schutz ohne verantwortliches Elternhandeln deutlich geringer aus. * Hinweise zur aktuellen Diskussion und Situation: http:// blog.beck.de/2013/04/04/anerkennung-von-jugend schutzprogrammen-ab-1-juni-auch-f-r-18-angebote http://www.kjm-online.de/de/pub/aktuelles/presse mitteilungen/pressemitteilungen_2013/pm_042013.cfm http://www.die-medienanstalten.de/presse/pressemit teilungen/kommission-fuer-jugendmedienschutz/detail ansicht/article/kjm-pressemitteilung-032013-novelledes-jugendmedienschutz-staatsvertrages-bewegungauf-allen-sei.html KJug 105 Roll • Gesetz und Gesetzgebung Wichtig ist deshalb, dass – Jugendschutzprogramme für alle Telemedienplattformen verfügbar sind und dem Stand der Technik entsprechend weiterentwickelt werden, − alle Verantwortlichen sich für ihre Verbreitung einsetzen und – ein einheitlicher Schnittstellen-Standard beibehalten wird, damit die unterschiedlichen Jugendschutzprogramme nicht auseinanderfallen, sondern zusammen den Jugendschutz sicherstellen (der Wortlaut des § 11 Abs. 1 JMStV ist auch in Gesetz und Gesetzgebung Das Gesetz zur Reform der elterlichen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern ist nunmehr zum 19.05.2013 in Kraft getreten. Es fasst § 1626a BGB neu und betont und erleichtert dabei die elterliche Sorge gemeinsame elterliche Sorge. Flankienicht miteinander rend wurden die Regelungen geändert, verheirateter Eltern unter welchen Voraussetzungen und wie bei Getrenntleben der Eltern Alleinsorge festgelegt werden kann. Die Neuregelungen werden von Prof. Dr. Peter Huber und Jennifer Antomo in FamRZ 9/2013, S. 665-670 vorgestellt. Rechtsprechung Junge Erwachsene, die Leistungen nach dem SGB II (sog. Hartz 4) beziehen, werden grundsätzlich auf ein Verbleiben in der elterlichen Wohnung verwiesen. Das LSG Sachsen-Anhalt hat den Auszug bei unzumutbaren Pendelzeiten zum Ausbildungsplatz für erforderlich eingestuft (Beschl. v. 11.09.12 – L 5 AS 461/B), den Wunsch mit dem Freund/ Verbleiben in der der Freundin zusammenzuziehen dageelterlichen Wohnung gen als nicht ausreichend angesehen (Beschl. v. 19.09.12 – L 5 AS 613/12 B ER). Einen umfassenden Problemabriss gibt Dr. Manfred Hammel in ZFSH/SGB 2/2013, S. 73-81, unter dem Titel »§ 22 Abs. 5 SGB II: Eine Sonderregelung, die schwierige Fragen aufwirft«. Ein Internetforum, das Suizid verharmlost, propagiert und einseitig anpreist, ist als offensichtlich schwer jugendgefährdend anzusehen und darf deshalb nur unter den strengen Voraussetzungen einer geschlossenen Benutzergruppe nach § 4 Abs. 2 Satz 2 JMStV (Altersverifikation mit Identifizierung und Authentifizierung) betrieben werden. Ein Ver- 106 K Jug Recht und Rechtsprechung diesem Punkt missverstehbar: Programmieren für ein Jugendschutzprogramm). Sollten die Gerichte zukünftig – etwa in inhaltlichen Entscheidungen zur Hauptsache – eine für den Kinder- und Jugendschutz erforderliche Gesetzesauslegung nicht akzeptieren, bliebe nur den Staatsvertrag an die aktuellen Herausforderungen anzupassen. Am Besten wäre wohl, dies zur Klarstellung bei einer anstehenden Novellierung ohnehin vorzunehmen. stoß hiergegen wurde vom AG Konstanz mit Geldstrafe bestraft (Urt. v. 21.12.12 – 10 Cs 44 Js 2826/11). In seiner Urteilsanmerkung (JMS-Report 2/2013, S. 70) stimmt Prof. Internetforum Dr. Murad Erdemir dem Urteil zu, weist Suizid aber zugleich auf die Notwendigkeit von Präventionsbemühungen hin und betont, dass nicht pauschal alle Diskussionsforen zum Suizid so einzustufen sind. Unzulässig ist auf einem Internetportal für Kinder, Werbung durch eine Spielanimation zu verschleiern; sie muss deutlich als Werbung gekennzeichnet sein und berücksichtigen, Werbung dass Schulanfänger noch eine geringe verschleiern Lesekompetenz haben und für »bewegte Bilder« besonders anfällig sind (KG Berlin, Urt. 15.01.13 – 5 U 84/12). Allein ein Verstoß gegen das hessische Kindergesundheitsschutzgesetz rechtfertigt keine familiengerichtlichen Maßnahmen nach § 1666 BGB. Der Verhältnismäßigkeitsgrund- Kindergesundheitssatz erfordere noch weitere Anhalts- schutzgesetz punkte für eine Kindeswohlgefährdung (AG Büdingen, Beschl. v. 07.12.12 – 53 F 815/12). Der Entzug der elterlichen Sorge wegen Kindeswohlgefährdung ist gerechtfertigt und kann auch ohne Gutachtenseinholung ausgesprochen werden, wenn eine 13-Jährige seit 2 Jahren nicht mehr die Schule besucht hat und die Kindesmutter – auch wegen mangelnder Zu- Entzug der sammenarbeit mit der Jugendhilfe – elterlichen Sorge nicht in der Lage ist, dies zu verhindern, und aktuell auch der Aufenthalt des Kindes unbekannt ist, ohne dass die Mutter ein Auffinden unterstützen würde (OLG Hamm, Beschl. v. 21.12.12 – 2 UF 181/11). 3/2013 Recht und Rechtsprechung Auch ohne die Voraussetzungen einer Ingewahrsamnahme oder Inobhutnahme ist es bei einer konkreten Gefährdung der Gesundheit durch übermäßigen Alkoholkonsum eines Minderjährigen verhältnismäßig, dass dieser im Beförderung im Polizeifahrzeug zur Polizeistation gePolizeifahrzeug fahren wird, um dort seinen Eltern übergeben zu werden. Die Kosten der Beförderung im Polizeifahrzeug können den Eltern – nach niedersächsischem Landesrecht – in Rechnung gestellt werden, wie das VG Braunschweig (Urt. v. 08.08.12 – 5 A 166/10) entschieden hat. Nachträge – Zu KJug 2/2013, S. 66: Unter dem Titel »Verschuldensvermutung bei der Amtshaftung – Aufsichtspflicht von Kindergartenpersonal« ist eine Anmerkung von Dr. Christian Förster zum Urteil des OLG Koblenz v. 21.06.12 erschienen, die die unterschiedliche Rechtssituation für private und öffentliche Träger kritisiert (in: NJW 17/2013, S. 1201-1203). – Zu KJug 4/2008, S. 115: Der Umfang der Aufsichtspflicht gegenüber Kindern bei der Internetnutzung war umstritten; z.T. war eine umfangreiche Haftung für Urheberrechtsverletzungen bejaht worden. Jetzt hat der BGH abschließend entschieden, dass Eltern bei einem sonst unauffälligen 13-Jährigen nach einem entsprechenden Verbot der Teilnahme an Tauschbörsen erst dann regelmäßige Prüfpflichten haben, wenn sie Anhaltspunkte für ein Fehlverhalten des Kindes haben (Urt. v. 15.11.2012 – I ZR 74/12). Schrifttum Minderjährigenschutz versus Schutz der anderen Unfallbeteiligten – zwei sich ausschließende Prinzipien? [Mit dem Fokus auf die Altersgruppe der 10bis 18-Jährigen werden an Rechtsfällen die allgemeinen Haftungsregeln erklärt und Überlegungen angestellt, wie durch private Absicherung, aber auch durch Ausdehnung des gesetzlichen Unfallversicherungsschutzes noch bestehende Gerechtigkeitslücken zumindest teilweise geschlossen werden könnten] von Herbert Lang in: NZV 4/2013, S. 161-167, und 5/2013, S. 214-219. Beschneidung von männlichen Kindern und Opferentschädigung [Ein Anspruch nach dem Opferentschädigungsrecht bestehe nur in Ausnahmefällen] von Dr. Konrad Leube in: ZFSH/SGB 2/2013, S. 81-86. 3/2013 Roll • Gesetz und Gesetzgebung »Killerspiele«, Pornos und Gewaltvideos: Neue Medien in Einrichtungen für Kinder und Jugendliche [Trotz einiger juristischer Unschärfen ein brauchbarer Einstieg in die Thematik, welchen Herausforderungen Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe beim Jugendmedienschutz begegnen] von Dr. Andrea Kliemann und Prof. Dr. Jörg M. Fegert in: ZKJ 3/2013, S. 98-106. Das Strafrecht als Prima Ratio des SGB VIII – Zu den andauernden Irritationen um die Haftungsrisiken im Kinderschutz [Plädoyer für eine Optimierung der Jugendhilfeangebote anstatt Haftungsvermeidungsverhalten und zugleich Entlastung durch Weiterentwicklung der Haftungskriterien] von Thomas Mörsberger in: ZKJ 1/2013, S. 21-24, und 2/2013, S. 61-67. Kindertagesbetreuung zwischen (Rechts-)Anspruch und Wirklichkeit [Darstellung zum Anspruchsumfang, zum Verfahren der Geltendmachung und evtl. Ersatzansprüchen] von Dr. Isabel Schübel-Pfister in: NVwZ 7/2013, S. 385-391. DIJuF-Rechtsgutachten zu § 4 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz [Befürwortung einer am Einzelfall orientierten – nach Aufgaben und Einwilligung der Betroffenen differenzierten – konzeptionellen Einbeziehung der Schulsozialarbeit in den Schutzauftrag von Lehrkräften] in: JAmt 3/2013, S. 138-141. Zur Anwendbarkeit des Glücksspieländerungsstaatsvertrages, insbesondere des Internetverbotes, auf Online-Games [Nach Meinung der Verfasser soll die Regelung europarechtlich nicht haltbar sein, weil für Online-Games kein ausreichender Nachweis des Risikopotentials vorliegen würde] von Prof. Dr. Christian Koenig und Dr. Caroline BoveletSchober in: GewArch 2/2013, S. 59-62 – (vgl. auch Eva Langer in: CR 4/2013, S. 237-242 und Vorlage des BGH an den EuGH, Az. I ZR 171/10). Sigmar Roll (Zuschriften bitte an die Redaktion der KJug) Autor Psychologe/Jurist Richter am Bayerischen Landessozialgericht Zweigstelle Schweinfurt Mitglied der Kommission für Jugendmedienschutz - KJM KJug 107 Kinderschutz-Aktuell Service Kinderschutz-Aktuell Mein Körper gehört mir! – Kinderparcours 1 Die interaktive Ausstellung »Mein Körper gehört mir!« für Primarschulen entstand als Teil einer 2005 von der Stiftung Kinderschutz Schweiz lancierten nationalen Kampagne mit dem Titel »Keine sexuelle Gewalt an Kindern«. Sexuelle Gewalt ist ein Thema, das viele Kinder betrifft, auch in der Schweiz, und das weder für Lehrkräfte noch für Eltern leicht anzusprechen ist. Primarschulen sind jedoch besonders geeignet, den Schutz vor sexueller Ausbeutung zu verbessern, denn sie sind neben der Familie die wichtigste Informations- und Sozialisationsinstanz für Mädchen und Buben. Erfahrungen zeigen, dass auch der Großteil der Eltern froh ist, zu dieser Thematik Unterstützung durch die Schule zu erhalten. Der Parcours »Mein Körper gehört mir!« richtet sich an Kinder der 2. bis 4. Klasse sowie an deren Eltern und Lehrpersonen und verfolgt folgende Ziele: – Kinder sind altersgerecht über das Thema »Sexuelle Gewalt« informiert; ihre Abwehrkompetenzen sind gestärkt und sie kennen wirkungsvolle Handlungsmöglichkeiten. – Eltern und Lehrpersonen sind über Erscheinungsformen und Auswirkungen von sexueller Gewalt informiert; sie kennen Möglichkeiten, im Erziehungsalltag präventiv zu wirken. – Die Lehrkräfte verfügen über Grundlagen und Materialien für die Einbettung des Themas in den Unterricht. Die Module: Ausstellung, Animation, Information für Lehrkräfte, Elternabend Die Ausstellung kann von Primarschulen wochenweise gemietet werden. Der Besuch dauert pro Klasse ca. 90 Minuten. Die Kinder besuchen die einzelnen Stationen in kleinen Gruppen, nach Möglichkeit geschlechtergetrennt. Sie werden dabei von einer dafür speziell geschulten Fachperson begleitet, die den Besuch animiert. Die Ausstellung bietet sechs Spielstationen, die spielerisch und handlungsorientiert zur Auseinandersetzung mit folgenden Präventionsschwerpunkten einladen: 108 K Jug 1. Körper: Die Kinder kennen ihren Körper, können die verschiedenen Körperteile und -stellen benennen und definieren, wo sie gerne und wo sie nicht gerne berührt werden. 2. Gefühle: Sie lernen ihre Gefühle besser kennen und benennen sowie zwischen guten, schlechten und komischen Gefühlen zu unterscheiden. 3. Berührungen: Sie lernen, dass es unterschiedlich angenehme Berührungen gibt und stellen für sich fest, welche Berührungen sie gerne zulassen und welche sie nicht akzeptieren wollen. 4. Nein sagen: Sie lernen, dass sie Rechte haben, dass sie allein über ihren Körper und ihre Gefühle bestimmen dürfen und dass sie nein sagen dürfen und sollen, wenn diese Rechte nicht respektiert werden. 5. Geheimnisse: Sie lernen zwischen guten und schlechten Geheimnissen unterscheiden und dass sie schlechte Geheimnisse immer weitererzählen dürfen und sollen. 6. Hilfe: Sie lernen, in welchen Situationen sie wie und von wem Hilfe anfordern können und dass es nicht ein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke ist, wenn man sich Hilfe holt. Eine Informationsveranstaltung für die Lehrkräfte ist obligatorischer Bestandteil des Projektes. Von den teilnehmenden Schulklassen nimmt je mindestens eine Lehrkraft an dieser zweistündigen Veranstaltung teil. Ebenfalls zum Parcours gehört der Elternabend. Beide Veranstaltungen werden von den Schulen organisiert und koordiniert. Bestritten werden sie von Fachpersonen der Prävention und Intervention aus regionalen Fachstellen. Neben den Informationen zum Thema werden Beratungs- und Hilfsangebote vorgestellt, denn auch Lehrkräfte und Eltern sollen wissen, an wen sie sich in Krisen oder Notfällen wenden können. Jedes Jahr besuchen etwa 20.000 Kinder aus 16 Kantonen sowie dem Fürstentum Liechtenstein den Kinderparcours. Die meisten Kantone haben die Nutzungslizenz erworben und organisieren das Angebot für ihre Schulen selbst. Als nationale Stiftung macht sich Kinderschutz Schweiz in allen Landesteilen dafür stark, dass die Kinder unserer Gesellschaft in Würde aufwachsen, ihre Rechte gewahrt werden und ihre Integrität geschützt wird. 1 »Mein Körper gehört mir!« ist eine Adaption der in Deutschland erfolgreich erprobten Ausstellung »Echt Klasse!« des Präventionsbüros PETZE in Kiel. Stiftung Kinderschutz Schweiz Flavia Frei, Leiterin Fachbereich Kindesschutz Hirschengraben 8 Postfach 6949 CH-3001 Bern www.kinderschutz.ch 3/2013 Service Jugendschutz-Aktuell Jugendschutz-Aktuell Stop & Go – ein Jugendschutzparcours Was wissen Jugendliche über das Jugendschutzgesetz? Worin liegt der Sinn einer staatlichen Schutzfunktion für junge Menschen durch Gesetze, Normen oder Altersfreigaben? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für junge Menschen? Ein Parcours soll Antworten geben. Der Jugendschutzparcours stellt ein niederschwelliges Angebot dar, das Jugendlichen die Möglichkeit bietet, sich selbstständig und spielerisch mit den Normen des Jugendschutzes in der Öffentlichkeit aber auch in Bezug auf jugendgefährdende Medien auseinanderzusetzen. In Form einer symbolhaften grafischen Gestaltung wurden verschiedene Rollups kreiert, die Bezug zu aktuellen Arbeitsfeldern des Jugendschutzes nehmen. Die Rollups veranschaulichen in ihrer minimalistischen Darstellung Bereiche wie das Jugendschutzgesetz, Medien, Sucht und Konsum. Sie sollen Anregungen zum Nachdenken und zur Diskussion geben, indem sie an die Alltagswelt von Jugendlichen anknüpfen und sie mit Gefährdungen sowie gesetzlichen Vorgaben konfrontieren. Ergänzt wird der Parcours durch praxisorientierte Ansichts-/ Arbeitsmaterialien wie Spiele, Quiz, Spielkarten, Filme und diverse Alltagsgegenstände. Themenbereiche/Stationen Einführung: – Wozu Jugendschutz? Erläuterungen zum Parcours und seinen Themen – Das Jugendschutzgesetz im Überblick – Was sollten Eltern, Lehrer, Jugendliche wissen? Medien: – Inhalt und Umfang des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags – Alterskennzeichnungen und ihre Bedeutung im Medienalltag – Chancen und Gefahren neuer Medien Sucht: – Alkohol: Trinken für den Spaß? – Drogen: Betäubung vom Alltag? – Exzessive Mediennutzung: Der Reiz digitaler Spielewelten Konsum: – Kaufrausch: Schattenseiten des täglichen Konsums – Verführungskünste: Werbung und ihre Wirkung auf junge Menschen Die Realisierung des Jugendschutzparcours lebt von seinen Akteuren, wie Fachkräften der Jugendhilfe, Sozialarbeiter/inne/n, die vorab geschult und eingewiesen werden und schließlich eigenständig mit jungen Menschen vor Ort agieren sollen. Selbst interessierte Jugendliche können geschult und sensibilisiert werden, um als Vermittler und fachkundiger Begleiter das Thema Jugendschutz nach außen darzustellen und auf seine Bedeutung aufmerksam zu machen. Die Multiplikatoren-Schulungen werden von der Landesarbeitsgemeinschaft Kinderund Jugendschutz Thüringen e.V. vorgenommen, die logistische Arbeit vor Ort durch die Jugendschutzfachkräfte der Städte und Landkreise in Thüringen. Hierfür sind in einer Begleitmappe wichtige Hinweise und Erläuterungen zusammengestellt. Dabei wurden zu den jeweiligen Themenbereichen weiterführende Informationen (Links, Verweise, Netzwerkpartner) eingestellt. Adressaten sind Schüler/innen, Fachschüler/innen, Auszubildende sowie Jugend- 3/2013 liche in Einrichtungen der Jugendhilfe und Jugendarbeit in Thüringen ab einem Alter von 12 Jahren. Der Jugendschutzparcours entstand mit finanzieller Unterstützung durch das Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit. Die Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Kinderund Jugendschutz Thüringen e.V. ist ein Zusammenschluss von 24 Verbänden, Vereinen und Einzelmitgliedern. Seit 1992 versteht sie sich als Facheinrichtung, die sich für den Schutz von Kindern und Jugendliche stark macht, um sie vor hemmenden, störenden und gefährdenden Einflüssen zu bewahren. Im Rahmen des erzieherischen Kinder- und Jugendschutzes ist die LAG mit ihren vielfältigen zielgruppenspezifischen Präventionsund Beratungsangeboten sowohl auf Multiplikatoren, Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe, Eltern und junge Menschen ausgerichtet. Die LAG veröffentlicht Publikationen, sie ist für die Durchführung von Fortbildungsveranstaltungen und Fachkampagnen zu aktuellen Themen sowie Fachberatung, Öffentlichkeitsarbeit und Politikberatung zuständig. Sie stellt Fachkräften und Multiplikatoren die Fachbibliothek »Sexuelle Gewalt und sexueller Missbrauch« zur Verfügung. Gleichzeitig ist die LAG Projektträger des Kinder- und Jugendsorgentelefon des Freistaates Thüringen. Weitere Informationen und Bilder unter www.jugendschutz-thueringen.de Landesarbeitsgemeinschaft Kinderund Jugendschutz Thüringen e.V. Johannesstraße 19 99084 Erfurt [email protected] www.jugendschutz-thueringen.de KJug 109 Service Literatur/Mediendienst Zeitschriftenartikel Bergjohann, Doris; Gerhardt, Gabriele; Fuckert, Sigrid; Hiby-Schael, Erika: Sozialpädagogische Zeugenbegleitung für sexuell missbrauchte Kinder und Jugendliche im Strafverfahren. In: Informationen für Erziehungsberatungsstellen 1/2013. S. 23-27 Feierabend, Sabine; Klingler, Walter: Was Kinder sehen. Eine Analyse der Fernsehnutzung Drei- bis 13-Jähriger. In: Media Perspektiven 4/2013. S. 190-201 Hackauf, Horst; Ohlbrecht, Heike: Wie gesund bzw. krank sind Kinder und Jugendliche heute? In: ajs-informationen 1/2013. S. 4-14 Hajok, Daniel; Hackenberg, Achim: Jugendmedienschutz im Spannungsfeld unterschiedlicher Akteure und Interessen. In: JugendMedienSchutz-Report 2/2013. S. 2-6 Heinen, Christina: Vom Dogma der Abstinenz zur Drogenmündigkeit. Welche Rolle spielt Suchtprävention heute im Jugendmedienschutz? In: tv diskurs 2/2013. S. 78-81 Helming, Elisabeth: Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen. Einige ausgewählte Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt des Deutschen Jugendinstituts e.V. In: Pro Jugend 1/2013. S. 8-11 Mayer, Claude-Hélène: Rekonstruktionen von Lebenswelten, kulturelle Denkmuster und Identitäten muslimischer Jugendlicher in Deutschland. In: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe 1/2013. S. 30-36 Mosser, Peter: »Ich weiss ja nicht, ob das noch normal ist…« Sexuelle Grenzverletzungen von Kindern. In: Thema Jugend 1/2013. S. 2-4 Aktuelle Titel/Broschüren Bellut, Thomas (Hrsg.): Jugendmedienschutz in der digitalen Generation. Fakten und Positionen aus Wissenschaft und Praxis. München 2012. 328 Seiten. EUR 19,80. ISBN 978-3-86736-284-9 In den Beiträgen wird interdisziplinär und aktuell Auskunft über die Grundlagen, Herausforderungen und Bausteine eines modernen und richtungsweisenden Jugendmedienschutzes gegeben. Welche disziplinären Ressour- 110 K Jug cen stehen dem Jugendmedienschutz zur Verfügung? Aus welchen Modulen sollte ein wissenschaftlich fundierter und vor allem das Internet umfassender Jugendmedienschutz bestehen, um in einer sich stetig wandelnden Medienlandschaft einen effektiven und höchstmöglichen Schutz von Kindern und Jugendlichen zu gewährleisten? Inwiefern kann das Netz hierbei möglicherweise selbst als Mittel eines modernen Jugendmedienschutzes eingesetzt werden? Das sind nur drei exemplarische Fragen, die in diesem Band behandelt werden. Götz, Maya (Hrsg.): Die Fernsehheld(inn) en der Mädchen und Jungen. Geschlechterspezifische Studien zum Kinderfernsehen. München 2013. 880 Seiten. EUR 29,80. ISBN 978-3-86736-285-6 Fernsehen bietet Kindern eine Fülle an Figuren und Geschichten. Sie sind Fenster zur Welt, Material für Fantasien und gehen in die Vorstellung davon ein, was normal, richtig und möglich ist. Völlig selbstverständlich inszeniert es dabei immer auch Mädchen- und Junge-Sein, liefert Bilder von Männern und Frauen. Die Frage dabei ist v.a., wie Kinder und Jugendliche mit diesen Repräsentationen umgehen. Das Buch fasst die 21 Studien des Forschungsschwerpunktes »Fernsehlieblingsfiguren und ihre Bedeutung für Mädchen und Jungen« zusammen. In ihrer Breite und Vielfältigkeit geben die Forschungsergebnisse einen umfassenden Einblick in Details der GenderRepräsentation im Kinder- und kindernahen Fernsehen und zeigen, wie Mädchen und Jungen »ihre« Fernsehheld(inn)en zur Identitätsentwicklung nutzen. Konkrete Ansätze zur Förderung der Qualität im Kinder- und Jugendfernsehen werden formuliert. Kelle, Helga; Mierendorff, Johanna (Hrsg.): Normierung und Normalisierung der Kindheit. Weinheim 2013. 198 Seiten. EUR 24,95. ISBN 978-3-7799-1555-3 Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes behandeln die Frage, wie die Unterscheidung von »normaler« und »nicht-normaler« Entwicklung in der medizinischen, der (vor)schulischen und außerschulischen diagnostischen Praxis sowie der Kinder- und Jugendhilfe diskursiv bestimmt, praktisch prozessiert und wohlfahrtsstaatlich relevant wird. Es wird weiter gefragt, ob und inwiefern gerade die Verfahren der politischen, pädagogischen, psychologischen und (präventiven) medizinischen Beobachtung von Kindern zu einem ›Umschlagplatz‹ für die Normierung von Kindheit (und Elternschaft) werden und einen Wandel der modernen Kindheit markieren. Kokott-Weidenfeld, Gabriele; Riedel, Alexandra-Isabel: Rechtsgrundlagen für soziale Berufe. Schwalbach/Ts. 2013. 144 Seiten. EUR 9,80. ISBN 978-3-89974316-6 Mit diesem Buch wird der Einstieg in relevante Rechtsbereiche für Soziale Berufe erleichtert. Es soll Studierenden insbesondere zu Beginn ihres Studiums als Orientierungshilfe dienen. Sie erhalten einen schnellen Überblick und begreifen rechtliche Zusammenhänge leichter. Es werden ausgesuchte, teilweise sehr komplexe rechtliche Dimensionen Sozialer Arbeit verständlich und möglichst einfach dargestellt. Die zahlreichen Abbildungen innerhalb des Textteils geben einen guten und schnellen Überblick und dienen zudem der Wiederholung der vorangegangenen ausführlicheren Darlegungen. Lehmkuhl, Gerd; Poustka, Fritz; Holtmann, Martin; Steiner, Hans (Hrsg.): Lehrbuch der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Band 1: Grundlagen. Band 2: Störungsbilder. Göttingen 2013. 1520 Seiten. EUR 139,-. ISBN 978-3-8017-1871-8 Wie entstehen psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter? Welche Faktoren erhalten die Störungen aufrecht? Welche Verlaufsformen gibt es? Das Wissen um pathogenetische Hintergründe von psychischen Störungen hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Diagnostische und therapeutische Ansätze wurden immer mehr ausdifferenziert und mündeten in evidenzbasierten Leitlinien. Das Lehrbuch stellt aktuelle und umfassende Informationen zur Kinder- und Jugendpsychiatrie dar und arbeitet wichtige Perspektiven und Entwicklungstendenzen des Fachgebietes heraus. Es wird ein Überblick gegeben über die theoretischen Grundlagen und pathogenetischen Konzepte der Kinderund Jugendpsychiatrie und diagnostische Methoden werden dargestellt. Ausführlich werden relevante psychiatrische Störungsbilder, umschriebene Entwicklungsstörungen sowie spezifische Symptome behandelt. Dazu werden jeweils die Ursachen, Diagnostik und die therapeutischen Strategien bei den einzelnen Erkrankungen dargestellt. 3/2013 Service Mitteilungen Aus Forschung und Wissenschaft: Freundschaft und Gewalt im Jugendalter Im Mittelpunkt des Forschungsvorhabens »Freundschaft und Gewalt im Jugendalter« steht die Erklärung der Entwicklung, Aufrechterhaltung und Beendigung von Gewalthandeln bei Jugendlichen. Warum werden manche Jugendliche Opfer oder Täter von Gewalt? Wie lässt sich erklären, dass manche Jugendliche nur sporadisch zu Gewalt greifen, während andere wieder und wieder auffällig werden und sich zu sogenannten ›Intensivtätern‹ entwickeln? Und welche Jugendlichen verfestigen einen solchen Lebensstil, bei dem Gewalthandeln alltäglich ist? Welche Möglichkeiten bestehen, Gewalt bereits im Vorfeld präventiv zu verhindern, und was könnte helfen, wenn Jugendliche bereits durch Gewalt- handeln auffällig geworden sind? Zur Beantwortung dieser zentralen Fragestellungen soll das Projekt einen Beitrag leisten. Der Hauptfokus liegt dabei auf zwei bekannten Bedingungsfaktoren von Gewalt, der Zustimmung zu gewaltlegitimierenden Normen und der Freundesgruppe. Sowohl für die Freundesgruppe als auch für normative Überzeugungen und Einstellungen ist das Jugendalter eine bedeutsame Formierungsphase, beide sind daher zentrale Ansatzpunkte für Präventions-, und Interventionsmaßnahmen im Jugendalter. In Städten des Ruhrgebiets sollen circa 2.200 Schülerinnen und Schüler der siebten Jahrgangsstufe befragt werden. Um die Entwick- lungsprozesse der Jugendlichen adäquat abbilden zu können, sollen die Teilnehmer zunächst für zwei Jahre im Rahmen wiederholter Befragungen auf ihrem Lebensweg begleitet werden. Der offizielle Start des Projektes war Mai 2012. Die Feldphase der ersten Erhebung ist für Herbst 2013 geplant. Hilfen für Kinder psychisch erkrankter Eltern gleitstudie zu dem gerade abgeschlossenen Früherkennungsprojekt »Networks Against School Shootings« (NETWASS) der Freien Universität Berlin. Das Programm wurde in den vergangenen drei Jahren an mehr als 100 Schulen in Berlin, Brandenburg und BadenWürttemberg umgesetzt und als erstes seiner Art in Deutschland evaluiert. Im Rahmen des Projekts TARGET werden alle deutschen Fälle hochexpressiver, zielgerichteter Gewalt durch jugendliche Einzeltäter (Amok, School Shooting, terroristische Einzeltaten) unter verschiedenen Perspektiven analysiert. Ziel ist es, den Entwicklungsprozess im Vorfeld einer Tat und den Tatablauf zu beschreiben und interdisziplinär konsensfähige, empirisch-begründete Entwicklungsmodelle zu erarbeiten. Weitere Informationen: Prof. Dr. Herbert Scheithauer, Freie Universität Berlin. Mail: [email protected] – und erläutert die wesentlichen Aspekte der Prävention und Intervention bei sexualisierter Gewalt im Sport. Download unter www.lsb-nrw.de Da die Zahl psychischer Erkrankungen stetig ansteigt, besteht dringender Bedarf an leicht zugänglichen und niedrigschwelligen Hilfen – insbesondere für Familien mit Kindern, in denen ein Elternteil erkrankt ist. Der Dachverband Gemeindepsychiatrie hat deshalb unter www.psychiatrie.de/dachverband/kinder einen interaktiven Projekteatlas zu »Hilfen für Kinder psychisch erkrankter Eltern« veröffentlicht. Der Projekteatlas wird ständig weiterentwickelt, sodass Familien in besonderen Belastungssituationen schnell und unbürokratisch Hilfen vor Ort finden können. Bislang wurden über 300 Angebote in Deutschland mit Arbeitsschwerpunkten und Kontaktdaten aufgenommen. TARGET – Amok, School Shoo- Sexualisierte Gewalt im Sport ting, terroristische Einzeltaten Renommierte nationale Arbeitsgruppen zu den Themen Amoklauf und School-Shootings bündeln ihre Expertise in einem neuen Forschungsverbund: Sie kooperieren im Projekt »Tat- und Fallanalysen hochexpressiver zielgerichteter Gewalt (TARGET)«. Durch die Untersuchung und aus dem Vergleich bisheriger Taten jugendlicher Einzeltäter in Deutschland sollen Erkenntnisse zur Gewaltprävention abgeleitet werden. Dass sich etwa schwerer Schulgewalt vorbeugen lässt, belegt eine Be- 3/2013 Der Handlungsleitfaden zur Prävention und Intervention sexualisierter Gewalt im Sport ist ein weiterer Baustein des Projektes »Schweigen schützt die Falschen!«. Der Leitfaden dient dazu, Vereine vor Ort in die Lage zu versetzen, mit der Thematik umzugehen, präventiv tätig zu werden und in Krisen- und Verdachtsfällen Orientierung zu finden und damit handlungsfähig zu bleiben. Er richtet sich in erster Linie an die Verantwortlichen in Sportvereinen – im Vorstand und in der Geschäftsstelle sowie im Trainings- und Übungsbetrieb Finanzierung: Deutsche Forschungsgesellschaft (DFG), Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung der Universität Mannheim (MZES) Projektleiter: Prof. Dr. Clemens Kroneberg Laufzeit: 2010 bis 2015 BLIKK-Medien – Bewältigung, Lernverhalten, Intelligenz und Krankheiten von Kindern und Jugendlichen beim Umgang mit elektronischen Medien Kinder- und Jugendärzte in Deutschland sehen immer häufiger Kinder und auch Jugendliche in den Praxen, die infolge von Bewegungsmangel vermehrt unter Adipositas (Übergewicht), Diabetes, Entwicklungsstörungen und auch Aufmerksamkeitsdefiziten leiden. Jungen sind häufiger betroffen als Mädchen. Die Mediziner vermuten, dass unter anderem auch Medienmissbrauch eine Ursache dieser Entwicklung sein kann. Aber bisher gibt es keine wissenschaftlichen Untersuchungen dazu, wie viel Mediengebrauch weitgehend unbedenklich ist und ab wann eine übermäßige Mediennutzung krank machen kann. Mit dem Studienprojekt »BLIKK« werden der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) und das Institut für Medizinökonomie und Medizinische Versorgungsforschung (iMÖV) der Rheinischen Fachhochschule Köln eine bundesweite Studie durchführen, um das Medienverhalten der nächsten Generation mit all seinen Konsequenzen zu erfassen. KJug 111 Service TERMINE SEPTEMBER 2013 Im Mittelpunkt der Mensch? Professionalität – Strukturen – Werte. 4. ASD-Bundeskongress 4.-6.09. München • Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge e.V. und Katholische Stiftungsfachhochschule München • Informationen: www.deutscher-verein.de Schweigepflicht und Sozialdatenschutz bei Kindeswohlgefährdungen: Welche Informationsbefugnisse und -pflichten bestehen im Zusammenhang mit Daten? 11.09. Köln • LVR-Landesjugendamt Rheinland • Informationen: www.lvr.de Fachforum Onlineberatung 23.-24.09. Nürnberg • Technische Hochschule Nürnberg, Deutsche Gesellschaft für Online-Beratung, Bundeskonferenz für Erziehungsberatung, Online-Beratung des Deutschen Caritasverbandes, kids-hotline, Beratungsstelle im Internet des Kinderschutz e. V. • Informationen: www.th-nuernberg.de/institutionen/institut-fuer-e-counseling/fachforum-onlineberatung/page.html Inobhutnahme als Chance und Herausforderung – IGfH-Bundestagung 25.-26.09. Berlin • Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen • Informationen: www.inobhutnahme.org OKTOBER 2013 www.30tage.schau-hin.info Balance durch Bewegung – Wissenschaftliche Jahrestagung 10.-12.10. Berlin • Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V. (bke), Landesarbeitsgemeinschaft Erziehungsberatung Berlin • Informationen: www.bke.de 112 K Jug 3/2013 AKTUELL Befragung zum Jugendschutzgesetz (JuSchG) Im vergangenen Sommer wurde in den Medien über angebliche Pläne berichtet, das Jugendschutzgesetz (JuSchG) zu überarbeiten. Parallel dazu verhandeln die Bundesländer erneut über den JugendmedienschutzStaatsvertrag – Ergebnisse sollen im Herbst vorliegen. In diesem Zusammenhang könnte es wie schon 2002/2003 doch zu Änderungen des Jugendschutzgesetzes kommen. Um für diese Diskussionen gerüstet zu sein, aber auch um aktuelle Entwicklungen abzubilden, hat der Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (BAJ) eine Umfrage unter Jugendschutzfachkräften zur Frage geplant, »Wo mit Blick auf den gesetzlichen Jugendschutz Handlungsbedarf gesehen wird«. Im November sollen die Ergebnisse auf einem Workshop in Erfurt vorgestellt werden. Dann werden auch die Ergebnisse der Infratest-Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und die Optionen der Weiterentwicklung des gesetzlichen Jugendschutzes in den kommenden Jahren diskutiert. Die Befragung läuft bis 12. August. Der Fragebogen kann als Printversion oder als ausfüllbare PDF-Datei bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz angefordert werden. Weitere Informationen und Bezug: [email protected], Tel. :030-400 40 300 Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz e. V. • Mühlendamm 3 • 10178 Berlin www.kjug-zeitschrift.de