118 6 — Fu nkti onen the o r ie 6. 1 K om pl e x e F u nktio nen Wir kennen die komplexen Zahlen als Erweiterung des Körpers der reellen Zahlen. Man postuliert die Existenz einer imaginären Größe i mit der Eigenschaft i2 = 1. Die Menge der komplexen Zahlen ist dann C Õ z = x + iy : x, y 2 R . Hierbei nennt man x = Re z, y = Im z den Real- respektive Imaginärteil von z = x + iy . Geometrisch können wir C mit R2 identifizieren, indem wir 1 und i als Basisvektoren in der Darstellung z = x ·1 + y · i interpretieren. Der R2 wird damit zur Gaußschen Zahlenebene. Die Addition in C entspricht dann der üblichen Vektoraddition in der Ebene. Für 1 z = x + iy, w = u + iv ist z + w = (x + iy) + (u + iv) = (x + u) + i(v + y). Die Multiplikation ist etwas komplizierter. Rechnet man so, wie man es von R gewohnt ist, so erhält man zw = (x + iy)(u + iv) = (xu + i 2 yv) + i(xv + yu) = (xu yv) + i(xv + yu). Anschaulicher wird diese Operation mithilfe der Polardarstellung komplexer Zahlen, also Polarkoordinaten in der Gaußschen Zahlenebene. Es ist 1 Das ist die Standardnotation in diesem Kapitel. K o mp le x e F u n k t i o n e n — 6.1 119 z = x + iy = r cos ' + i sin ' = r (cos ' + i sin ') = r e i' . Schreiben wir entsprechend w = s e i so wird zw = (r e i' )(s e i ) = (r s)e i('+ ) . i' Multiplikation mit z = r e dreht den ›Vektor‹ w also um den Winkel ' und streckt ihn um den Faktor r . Multiplikation mit einer komplexen Zahl ist also eine Drehstreckung. .Ò Beispiele komplexer Funktionen Multiplikation, a. Konstante Abbildung, Translation und a : z , a, ⌧a : z , z + a, a : z , az, sind für jedes a 2 C eine Abbildung C ! C . b. Jedes normierte Polynom p(z) = zn + an 1z n 1 + . . + a1 z + a0 mit komplexen Koeffizienten a0 , . . , an 1 definiert eine Funktion p : C ! C . c. Dasselbe gilt für die komplexe Konjugation, : z = x + iy , (z) = z̄ = x iy. Wir werden aber sehen, dass diese im Unterschied zu den anderen hier genannten Funktionen nicht komplex differenzierbar ist. Dies gilt auch für das Quadrat der Betragsfunktion, q : z , |z|2 = zz̄ = x 2 + y 2 . d. Eine reelle Potenzreihe, X (x) = an x n , n·0 die für |x| < r konvergiert, kann man als komplexe Funktion auffassen, indem man x durch z ersetzt. Sie konvergiert ebenfalls auf |z| < r , denn die Abschätzungen bleiben genau dieselben. e. Dies gilt insbesondere für die komplexe Exponenzialfunktion, X zn exp : z , ez Õ exp(z) Õ , n! n·0 120 6 — F un ktion ent he o ri e welche für alle z 2 C konvergiert. Mit den Rechenregeln für Potenzreihen verifizert man die Funktionalgleichung ez+w = ez ew . Zusammen mit e0 = 1 folgt hieraus insbesondere, dass ez keine Nullstellen besitzt, und dass (ez ) 1 =e z . Dies ist übrigens ein bemerkenswerter Kontrast zum Fundamentalsatz der Algebra, dass jedes nicht-konstante Polynom Nullstellen besitzt. f. Mithilfe der Exponenzialfunktion werden weitere komplexe Funktionen erklärt: e iz + e 2 e iz e sin z = 2i cos z = iz iz ez + e 2 ez e sinh z = 2 , cosh z= , z z , . Umgekehrt gilt dann natürlich auch im Komplexen, e iz = cos z + i sin z oder beispielsweise cos iz = cosh z, sin iz = i sinh z. So ist also exp auf der imaginären Achse 2⇡ -periodisch, während sin und cos dort exponenziell anwachsen. g. Die Kehrwertfunktion · 1 : z,z 1 = 1 z ist erklärt auf C⇤ = C ÿ {0} . Mit der Standardnotation gilt, für z î 0 , 1 z̄ z̄ x iy 1 = = = 2 = =r z zz̄ |z|2 x + y2 r e i' .Ò Weniger offensichtliche Beispiele (Lf )(z) Õ Z1 0 f (t)e zt 1 e i' . Ò. a. Die Laplacetransformation, dt, definiert eine komplexwertige Funktion Lf auf Re z > beschränkt vom Grad ist. , falls f exponenziell Di ffe re n z i e r b a r k e i t — 6.2 121 b. Die Resolvente einer n ⇥ n-Matrix A ist die Matrixfunktion R(z) = (zI A) 1 . Sie ist erklärt für jedes z , das kein Eigenwert von A ist, also auf C ÿ (A) . Jede Komponente von R(z) ist aufgrund der Cramerschen Regel eine Quotient aus Polynomen in z , deren Koeffizienten durch die Koeffizienten von A bestimmt sind. Also ist R(z) wohldefinierte, matrixwertige Funktion auf C ÿ (A) . Sie spielt eine zentrale Rolle in der Spektraltheorie linearer Operatoren. Ò. 6. 2 Di f f er en zi e rb ark eit Wir betrachten zunächst lokale Eigenschaften komplexer Funktionen. Da es hier auf eine explizite Bezeichnung des Definitionsbereichs nicht ankommt, schreiben wir f : C ,! C für eine Funktion f , die auf irgendeiner offenen, nichtleeren Teilmenge von C definiert ist. Identifizieren wir C mit R2 , so können wir eine solche Funktion auch auffassen als eine Abbildung f : R2 ,! R2 , indem wir z = x + iy und f (z) = u(z) + iv(z) mit reellwertigen Funktionen u und v schreiben und diese als Abbildung ! ! x u(x, y) , y v(x, y) auffassen. Stetigkeit Der Begriff der Stetigkeit ist derselbe wir für Abbildungen des R2 in sich, denn wegen 2 |z|2 = x 2 + y 2 = k(x, y)ke 122 6 — Fu nkti onen the o r ie ist die Abstandsmessung dieselbe. Eine Folge komplexer Zahlen (zn ) konvergiert also genau dann gegen eine komplexe Zahl a , wenn lim |zn n!1 a| = 0, und dies ist äquivalent mit Re zn ! Re z, Definition Im zn ! Im a, n ! 1. Eine Funktion f : C ,! C ist stetig im Punkt a , wenn lim f (z) = f (a), z!a wenn also f (zn ) ! f (a) für jede Folge (zn ) im Definitionsbereich von f mit zn ! a . — Sie ist stetig, wenn sie in jedem Punkt ihres Definitionsbereichs stetig ist. œ 1 Notiz Eine Funktion f : C ! C ist stetig genau dann, wenn ihr Realteil und ihr Imaginärteil stetig sind. œ .Ò Alle im ersten Abschnitt genannten komplexen Funktionen sind stetig. Ò. Differenzierbarkeit In C können wir genauso rechnen wie in R , denn beide Mengen bilden bezüglich Addition und Multiplikation einen Körper. Die Ableitung einer komplexen Funktion können wir daher in klassischer Weise über den Differenzenquotienten definieren. Wir müssen nicht, wie bei allgemeinen Funktionen mehrerer Variablen, auf lineare Approximationen zurückgreifen. Definition Eine Funktion f : C ,! C heißt komplex differenzierbar im Punkt a , wenn der Grenzwert lim h!0 f (a + h) h f (a) = lim z!a f (z) z f (a) a existiert. In diesem Fall heißt der Grenzwert die Ableitung von f im Punkt a und wird mit f 0 (a) bezeichnet. œ Bei beiden Grenzwerten handelt es sich um übliche Funktionsgrenzwerte. Zu jedem " > 0 existiert also ein > 0 , so dass f (a + h) h f (a) f 0 (a) < ", 0 < |h| < . Hierbei ist allerdings nun h 2 C . Dies wird erhebliche Konsequenzen haben. Di ffe re n z i e r b a r k e i t — 6.2 123 Analog zum reellen Fall kann die komplexe Differenzierbarkeit auch auf folgende Weisen charakterisiert werden. Der Beweis verläuft wie im Reellen und wird hier übergangen. 2 Satz Für eine in einer Umgebung des Punktes a definierte Funktion f : C ,! C sind folgende Aussagen äquivalent. (i) f ist in a komplex differenzierbar mit Ableitung f 0 (a) = . (ii) Es gibt ein 2 C und eine im Punkt a stetige Funktion " : C ,! C mit "(a) = 0 , so dass f (z) = f (a) + (z (iii) Es gibt ein a) + "(z)(z a). 2 C , so dass f (z) = f (a) + (z a) + o(z a). œ Ebenso wie im Reellen beweist man hiermit die folgenden Rechenregeln für komplexe Ableitungen. 3 Rechenregeln Sind f , g : C ,! C im Punkt a 2 C komplex differenzierbar, so sind es auch f + g , f g , und falls g(a) î 0 , auch f /g , und es gelten die Summen-, Produkt- und Quotientenregeln (f + g)0 (a) = (f 0 + g 0 )(a) (f g)0 (a) = (f 0g + f g 0 )(a) (f /g)0 (a) = ((f 0g 4 f g 0 )/g 2 )(a). œ Kettenregel Sind f : C ,! C im Punkt a und g : C ,! C im Punkt f (a) komplex differenzierbar, so ist auch g f in a differenzierbar, und es gilt (g f )0 (a) = g 0 (f (a))f 0 (a). œ Soweit die Differenzierbarkeit in einem Punkt. Nun die allgemeine Differenzierbarkeit. Definition Eine Funktion f : C ,! C heißt komplex differenzierbar, wenn sie in jedem Punkt ihres Definitionsbereiches komplex differenzierbar ist. Sie heißt holomorph, wenn ihre Ableitung f 0 in jedem Punkt stetig ist. œ Eine holomorphe Funktion ist also eine im Komplexen stetig differenzierbare Funktion. .Ò a. Jede Potenz z , z n mit n · 1 ist holomorph, mit (zn )0 = nzn 1 . (1) 124 6 — Fu nkti onen the o r ie Dies folgt aus der Ableitung der Identität, (z)0 = 1 , und der Produktregel mit Induktion. b. Die Kehrwertfunktion z , 1/z ist holomorph auf C⇤ , und mit der Quotientenregel respektive Induktion ist ✓ ◆0 ✓ ◆ 1 1 1 0 n = , = . z z2 zn zn+1 Es gilt also für alle n 2 Z (zn )0 = nzn 1 , wobei z î 0 für n < 0 . c. Jedes Polynom ist holomorph auf C , mit (an zn + . . + a1 z + a0 )0 = nan zn 1 + . . + a1 . d. Jede komplexe Potenzreihe X (z) = an z n n·0 auf ihrem Konvergenzkreis eine holomorphe Funktion, deren Ableitung man durch gliedweises Differenzieren der Reihe erhält: X 0 (z) = nan zn 1 . n·1 Diese Reihe konvergiert auf demselben Kreis wie . Man kann also den Differenziationsvorgang beliebig oft wiederholen. Mehr dazu später im Abschnitt über die Cauchysche Integralformel. e. Die Exponenzialfunktion exp ist auf C holomorph, mit ✓ X n ◆0 X zn 1 X zn z (ez )0 = = = = ez . n! (n 1)! n! n·0 n·1 n·0 Somit sind auch cos z und sin z holomorph, und es gilt ✓ e iz + e 2 ✓ iz e e 0 (sin z) = 2i (cos z)0 = iz ◆0 iz ◆0 = = e iz e iz e 2i +e 2 iz = sin z, = cos z. iz f. Dagegen ist die komplexe Konjugation differenzierbar. Denn es ist (z + h) = (z) + (h) = z̄ + h̄ : z , z̄ nirgends komplex