Die intrauterine Welt des Feten Alexander Scharf Intrauterine Welt: Faszination • Leben wird geschaffen und weitergegeben • Überwinden des Todes • Wächst im Verborgenen Intrauterine Welt: Existentielle philosophische Fragen • Wann wird aus Embryo bzw. Fetus ein Mensch? • • • Was macht einen Menschen aus? • Ab wann besitzen wir eine Persönlichkeit? • Wann beginnt unsere Eigen- und Fremdwahrnehmung? Was bedeutet Beseelt-Sein? Was macht uns zu einem Individuum? Folge der existenzphilosophischen Sicht auf ungeborenes Leben • Art des Umgangs mit ungeborenem Leben ✦ medizinisch ✦ ethisch ✦ juristisch ✦ sozial Basis der existenzphilosophischen Sicht auf ungeborenes Leben • möglichst präzise Kenntnis der biologischen Grundlagen vorgeburtlichen menschlichen Lebens • Fülle von Information in vergangenen 50 Jahren • Ultraschall (1980er Jahre): Studium des fetalen Verhaltens • Eigentliches Ziel: Kenntnis der fetalen Wahrnehmung Beurteilung der fetalen Wahrnehmung in utero • Basis intellektueller Wahrnehmung: Sensorik • Physikalisch überprüfbar (z.B. fetales EEG, fetales EKG) • schwierig abzuleiten • umgebendes mütterliches Gewebe schirmt effektiv ab und schützt • zusätzliche Dämpfung und Schutz durch Placenta und Fruchtwasser Beurteilung der fetalen Wahrnehmung in utero • Direkte Ableitung: Invasiver Untersuchungsaufbau • ethisch nicht vertretbar (Beeinträchtigung, Abortrisiko) • Nur möglich bei med. indizierter invasiver Diagnostik Frühgeburt: Beurteilung der fetalen Wahrnehmung ex utero • ab 24. SSW durch direkte Messungen am unreifen Neugeborenen möglich • unphysiologische Umgebung • fehlt: Placenta, Fruchtwasser, maternaler Umgebungsfaktor • Erkenntnisse hier erlauben nur sehr bedingt Rückschlüsse auf intrauterines Leben Termingeburt: Beurteilung der NeugeborenenWahrnehmung ex utero • 40. SSW • gesunder Mensch in physiologischer Umgebung • Erkenntnisse hier erlauben sehr präzise Beobachtung und Verständnis des normalen postnatalen Lebens • Erkenntnisse hier erlauben nur sehr bedingt Rückschlüsse auf intrauterines Leben Ebenen des Bewusst-Seins • afferent-sensorisch: Wahrnehmung • assoziativ-wertend: Verstehen anatomische Verortung des (metaphysischen) Menschseins • ZNS -> Großhirn Kernfragen der Hirnentwicklung • Welches sind die Meilensteine pränataler Hirnentwicklung? • Was ist deren Bedeutung für die Hirnfunktion? Neurolog. Status Blastozyste • Fehlen der biolog. Kapazität für sensorische Wahrnehmung (Empfinden) • Fehlen der biolog. Kapazität für ein wertendes Verstehen dieser Wahrnehmung (Bewusstsein) Neurolog. Status neugeborener Mensch • Vorhandensein gewisser biolog. Kapazitäten für sensorische Wahrnehmung (Empfinden) • Vorhandensein gewisser biolog. Kapazitäten für ein wertendes Verstehen dieser Wahrnehmung (Bewusstsein) Frühe Entwicklung des Nervensystems Anatomie • zunächst Entwicklung von rudimentären neurologischen Strukturen • Diese nehmen an Größe und Komplexität zu • Entwicklung von peripheren, viszeralen, spinalen und zentralen (Hirn-) Nervenbahnen • Diese vermehren und verbinden sich miteinander und wachsen weiter an • Hiermit fortschreitende funktionelle Reifung verbunden • spiegelt sich wider in Änderungen des Verhaltens (durch Ultraschall beobachtbar) und der elektrischen Hirnaktivität Frühe Entwicklung des Nervensystems: Fetales Verhalten • zunächst ruckhafte Ganzkörperbewegungen: "Startles" ( Aufrüttel- bzw. Schreckreaktionen) • Schreiten fort zu individuellen Giedmaßen-, Hals- und Kopfbewegungen • Schließlich zweckgerichtete und wohlkoordinierte Gliedmaßenbewegungen oder Positionsänderungen innerhalb der Gebärmutter beobachtbar Frühe Entwicklung des Nervensystems: Neurophysiologie • Elektrische Aktivität der Großhirnrinde (Cortex): Eigentliche Voraussetzung für Entwicklung eines Bewusstseins fetal brain @ 22 wks fetal mixed frequency eeg Frühe Entwicklung des Nervensystems: Neurophysiologie • eigentliche Großhirnrinde (Cortex) im Anfang elektrisch stumm: Im EEG keine el. Aktivität • EEG später: Zunächst sporadische Spikes • entwickeln sich zu kurzen Phasen anhaltender Aktivität vor Hintergrundzustand elektrischer Ruhe (tracé alternant, 20 wks) • Dann anhaltende gemischte schlafähnliche EEG-Aktivität (28 wks) • Diese reift aus ab 34. SSW in differenzierte und alternierende REMund Non-REM-schlafähnliche Muster (38 wks) • Bald nach der Geburt bei neurologisch reifen Neugeborenen EEG-Muster, die auf wiederholte Schlaf-Wach-Zyklen hinweisen Entwicklung des Nervensystems 36.-40.SSW: Fetale Zustandsbilder im EEG • 95% der Zeit: REMNREM-Schlafstatus • 5% „Wakefulness“: Zustand der Hirnstamm- und Thalamus-Aktivität Entwicklung des Nervensystems 36.-40.SSW: Fetale Zustandsbilder im EEG: Wakefulness • Frage: Entspricht EEG-Zustand „Wakefulness“ dem klinischen Bild des Wachseins oder handelt es sich nur um Übergang zwischen zwei Schlafstadien? • Antwort: Die Studien von Rigatto geben starken Hinweis darauf, dass es sich um Übergänge zwischen zwei Schlafstadien handelt H. Rigatto, C.E. Blanco, D.W. Walker, The response to stimulation of hindlimb nerves in fetal sheep, in utero, during the different phases of electrocortical activity, J. Dev. Physiol. 4 (1982) 175–185. H. Rigatto, M. Moore, D. Cates, Fetal breathing and behavior measured through a double-wall Plexiglas window in sheep, J. Appl. Physiol. 61 (1986) 160– 164. Entwicklung des fetalen Nervensystems: Thalamocortikale Vernetzung und der Bewusstseinsstatus des Feten • Zwischen 28. und 32. SSW • Frühgeborene ab der 30. SSW besitzen die Kapazität für bewusste Wahrnehmung Anders bei Feten in utero: • • EEG-Zustände deuten auf unterschiedliche Phasen ständigen Schlafs • Schlaf ist inkompatibel mit Bewusstsein • Placenta und fet. Gehirn produzieren potente Schlafinduktoren (Adenosin, (Allo-)Pregnanolon, Prostaglandin D2, placentare Peptide), verstärkt durch umgebende Homöostase mit FWCushioning und konstanter Umgebungstemperatur • reifer Fet kann in utero nicht durch Noxen elektroenzephalographisch aufgeweckt werden Fazit: Besitz bzw. erlebt der Fet in utero • Wachheit? Nein • Bewusstsein? Nein • bewusstes Empfinden? Nein • Schmerz? Nein Zusammenfassung In der fortlaufenden Diskussion stehen die Fragen, ob ein Fet in utero, sobald seine nozizeptiven Bahnen vollständig entwickelt sind, in utero Empfinden, Wahrnehmung und Bewusstsein wie beim Schmerzemfinden erleben kann. Das gegenwärtig zur Verfügung stehende, nach naturwissenschaftlichen Kriterien gesammelte Wissen deutet stark darauf hin, daß der Fetus in utero zu keiner Zeit (hirnelektrisch) wach ist. Vielmehr wird er durch eine Reihe endogener Hemmstoffe aktiv schlafend (und damit auch unbewusst) gehalten. Daher fehlt trotz des Vorhandenseins intakter nozizeptiver Bahnen ab etwa der Schwangerschaftsmitte (24.-28. SSW) der für ein Schmerzempfinden entscheidende Aspekt des cortikalen Bewusstseins im Prozess der Schmerzwahrnehmung. Darüberhinaus existiert gegenwärtig kein direkter Beweis, der vermuten ließe, daß subcortikale Nozizeptoraktivierung allein die neuronale Entwicklung alterieren kann und dadurch zu nachteiligen Langzeiteffekte führen könnte. Literatur Derbyshire, S.W.G. (2006). Can fetuses feel pain? British Medical Journal 332, 909-912. Lee, S.J., Peter Ralston, H.J., Drey, E.A., Partridge, J.C. and Rosen, M.A. (2005). Fetal pain: a systematic multidisciplinary review of the evidence. Journal of the American Medical Association 294, 947-954. Mellon, R.D., Simone, A.F. and Rappaport, B.A. (2007) Use of anesthetic agents in neonates and young children. Anesthesia and Analgesia 104, 509-520. Mellor, D.J. and Diesch, T.J. (2006). Onset of sentience: the potential for suffering in fetal and newborn farm animals. Applied Animal Behaviour Science 100, 48-57. Mellor, D.J. and Diesch, T.J. (2007). Birth and hatching: key events in the onset of 'awareness' in lambs and chicks. New Zealand Veterinary Journal 55, 51-60. Mellor, D.J. and Gregory, N.G. (2003). Responsiveness, behavioural arousal and awareness in fetal and newborn lambs: experimental, practical and therapeutic implications. New Zealand Veterinary Journal 51, 2-13. Mellor, D.J. and Stafford, K.J. (2004). Animal welfare implications of neonatal mortality and morbidity in farm animals.Veterinary Journal 168, 118-133. Mellor, D.J., Diesch, T.J., Gunn, A.J. and Bennet, L. (2005). The importance of 'awareness' for understanding fetal pain. Brain Research Reviews 49, 455-471.