Powered by Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustriebw.de/de/fachbeitrag/aktuell/das-gehirn-kann-wieder-neuhoeren-lernen/ Das Gehirn kann wieder neu hören lernen Tauben Menschen muss die Welt der Geräusche nicht verschlossen bleiben. So genannte Cochlea-Implantate kompensieren das Fehlen von Sinneszellen im Innenohr und können das Hören für viele Betroffene möglich machen. Aber noch hat das Verfahren seine Schwächen. Prof. Robert Illing vom Neurobiologischen Forschungslabor der Freiburger HNOKlinik untersucht die plastischen Eigenschaften des Nervensystems, die den Einsatz der Geräte ermöglichen, aber auch begrenzen. Seine Erkenntnisse helfen, die Lernfähigkeit des Gehirns besser auszunutzen und den Therapieerfolg zu optimieren. Den meisten tauben Menschen fehlen die Haarsinneszellen in der Cochlea (Schnecke), dem sensorischen Apparat des Innenohrs. Der Schall, der in den gewundenen Gang des Organs gelangt, wird deshalb nicht detektiert und in ein elektrisches Signal übersetzt. Das Defizit kann angeboren sein oder zum Beispiel nach einer Infektion auftreten. Die Folge jedoch ist immer gleich: Dem Gehirn bleibt die Welt der Geräusche verschlossen. Es „hört“ nichts. Dieses Manko können Cochlea-Implantate beheben, wie sie von der Freiburger UniversitätsHNO-Klinik mit großem Erfolg eingesetzt werden. Über ein Mikrophon am Außenohr empfangen diese Hörgeräte Schallwellen und leiten sie an eine Ansammlung von 24 feinen Elektroden in der Schnecke weiter. Die Elektroden reizen die Neuronen des Hörnervs, und je nach eingegangener Tonhöhe fließt der Strom dabei auf andere Populationen, genauso, wie dies im intakten Ohr auch geschieht. Auf diese Weise stellt ein Cochlea-Implantat eine Brücke zwischen der Außenwelt und dem Gehirn dar und liefert ein grobes Abbild der hörbaren Umgebung, mit Unterschieden in Tonhöhe und Lautstärke. „Die Therapie kann vor allem bei jungen Patienten, deren Gehirn noch sehr plastisch ist, enorme Erfolge erzielen“, sagt Prof. Robert Illing vom Neurobiologischen Forschungslabor der Universitäts-HNO-Klinik. „Im optimalen Fall können taub geborene Kinder sogar ein normales Sprachvermögen entwickeln.“ Allerdings werden sie bisher nur begrenzt lernen, Musik zu genießen. Und bei ertaubten Erwachsenen sind die Einschränkungen noch größer. Ältere Patienten klagen darüber, dass sich die Stimmen ihrer Gesprächspartner verzerrt anhören. In vielen Fällen sind Ärzte schon zufrieden, wenn die Betroffenen auf Alarmsignale wie anfahrende Autos oder Hupgeräusche reagieren können. 1 Über die rot markierten Synapsen (Pfeil) werden Sinnesreize vom Innenohr auf die grün markierten Synapsen (Pfeilkopf) im Hirnstamm einer Ratte übertragen. Diese verändern ihre Struktur und Funktion infolge einer Ertaubung oder der Stimulation mittels eines Cochlea-Implantats. Skalenbalken: 50 Mikrometer. (Abbildung: AG Prof. Robert Illing) Der Grund für die Einschränkungen ist, dass das Gehirn von tauben Menschen nicht an die komplexe Reizlandschaft der hörbaren Umgebung gewöhnt ist. Ist der Zeitraum zwischen Ertaubung und Einsatz des Implantats zu groß, baut sich das Nervensystem um, die fürs Hören wichtigen Schaltkreise bekommen neue Funktionen, sie „verlernen“ das Hören. Bei taub geborenen Kindern hatten sich diese Schaltkreise erst gar nicht ausgebildet. CochleaImplantate sollen die Nervenzellen des Hörnervs daher derart reizen, dass sich Synapsen umbilden und neu verknüpfen können. Wissenschaftler wollen das Gehirn dazu bringen, dass es seine plastische Kapazität voll ausschöpft und sich optimal an die Elektroden im Innenohr gewöhnt. Aber dazu müssen sie wissen, welche Reizstruktur die plastischen Prozesse an Synapsen am besten mobilisiert. Umbauprozesse an den Synapsen „Der hörbare Teil der Welt besteht aus komplizierten Mustern mit unterschiedlichen Tonhöhen, Lautstärken und deren zeitlichen Verläufen“, sagt Illing. „Die Elektroden im Inneren der Schnecke müssen das in eine fürs Gehirn verständliche Sprache übersetzen.“ Um zu verstehen, welche Art von Input die Neuronen im Hörnerv besonders „lernfähig“ macht, untersuchen Illing und seine Arbeitsgruppe die Gehirne von tauben Ratten, nachdem diese das CochleaImplantat eingesetzt bekommen haben. Die Wissenschaftler variieren dabei die Intensität, die Frequenz und den zeitlichen Verlauf der Reize, die von den Elektroden auf die Neuronen im Rattenhirn übertragen werden. Das Ziel ist es, das Gehirn zu einem intensiven Umbau anzuregen. 2 An dieser präsynaptischen Endigung in der Hörbahn einer Ratte sind infolge einer Veränderung der Sinnesreizung Moleküle erschienen (Pfeilköpfe), die beim erfahrungsabhängigen Umbau von Synapsen eine wichtige Rolle spielen. v: synaptische Vesikel, m: Mitochondrium. Skalenbalken: 50 Nanometer. (Abbildung: AG Prof. Robert Illing) Dass sich Verknüpfungen im Hörnerv verändern und sogar neu entstehen, erkennen Illing und seine Mitarbeiter an biochemischen Prozessen, die an den Synapsen nach einer Reizung in Gang kommen. Zunächst werden Gene eingeschaltet, die so etwas wie das erste Konzept für die Umbauarbeiten enthalten. Sie kodieren regulatorische Proteine , die wiederum die Produktion von weiteren Regulatoren, aber auch von Strukturproteinen orchestrieren. Diese Produkte verändern schließlich sowohl die Struktur einer Synapse als auch ihr elektrophysiologisches Verhalten. Mit modernen mikroskopischen Methoden können Illing und seine Mitarbeiter die neu gebildeten Proteine sichtbar machen und so den Umfang einer Baustelle abschätzen. „Aus unseren Experimenten wissen wir inzwischen, dass die Plastizität im Hörnerv besonders von der zeitlichen Struktur der Reizung abhängig ist“, sagt Illing. „Es kommt darauf an, auf welche Weise Töne aufeinander folgen, nicht etwa, wie laut sie sind.“ Die Cochlea-Implantate sollten die Schallinformation also vor allem zeitlich passender kodieren, bevor sie sie an die Neuronen im Hörnerv weitergeben. Dann dürfen taube Menschen hoffen, in Zukunft noch besser zu hören. mn – 03.06.08 © BIOPRO Baden-Württemberg GmbH Weitere Informationen zum Beitrag: Prof. Dr. R.-B. Illing Neurobiologisches Forschungslabor Universitäts-HNO-Klinik Killianstr. 5 D - 79106 Freiburg, Germany Tel.: (0761) 270 4273 Fax.: (0761) 270 4075 E-Mail: [email protected] 3 Fachbeitrag 09.06.2008 BioRegion Freiburg mehr Info 4