Norbert Hoerster Wie schutzwürdig ist der Embryo?

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Norbert Hoerster
Wie schutzwürdig ist der Embryo?
Zu Abtreibung, PID und Embryonenforschung
© Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2013
Einleitung
Das menschliche Individuum muss von der Gesellschaft geschützt werden durch
ein rechtliches Verbot des Tötens. Über diese Forderung scheinen sich auf den
ersten Blick alle vernünftigen Menschen einig zu sein.
Natürlich muss es verboten sein, zum Zweck eines Bankraubs einen Mord zu
begehen. Natürlich muss jemand bestraft werden, der einen anderen Menschen
umbringt, weil dieser eine andere Hautfarbe hat. Natürlich darf eine Frau nicht ihr
dreijähriges Kind töten, weil es ihr bei der Aufnahme einer neuen Liebesbeziehung im Weg steht. Natürlich darf der Leiter eines Altenheims
pflegebedürftige Bewohner nicht aus Kostengründen verhungern lassen.
In diesen und vielen anderen, ähnlichen Fällen sind sich in unserer Gesellschaft
tatsächlich alle vernünftigen Menschen einig. Es gibt aber offenbar auch Fälle, die
den Lebensschutz betreffen, in denen keine solche Einigkeit besteht. Hierbei
handelt es sich besonders um solche Fälle, die den Lebensschutz am Lebensbeginn
betreffen.
Darf eine Frau ihre Leibesfrucht abtreiben? Muss der Arzt, der eine Abtreibung
vornimmt, dafür bestraft werden? Kommt es dabei vielleicht entscheidend auf das
Alter der Leibesfrucht an? Macht es einen Unterschied, ob die Leibesfrucht einen
Schaden aufweist und sich deshalb zu einem Kind mit einer Behinderung
entwickeln wird? Muss es verboten sein, die Übertragung eines künstlich
erzeugten Embryos in die Gebärmutter der Frau davon abhängig zu machen, ob er
den Gesundheitstest einer vorausgehenden Präimplantationsdiagnostik (PID)
erfolgreich bestanden hat? Darf die Wissenschaft Embryonen zum Zweck
therapeutischer Forschung erzeugen und anschließend vernichten?
Dies sind einige der den Lebensschutz betreffenden Fragen, die derzeit in
unserer Gesellschaft zwar auf die eine oder andere Weise rechtlich geregelt,
politisch wie auch ethisch aber außerordentlich umstritten sind. Dabei richtet sich
der Streit in erster Linie gerade darauf, welche Strafrechtsnormen der Staat zur
allgemein verbindlichen Regelung derartiger Fragen legitimerweise erlassen darf.
Einigen Bürgern gehen die derzeit geltenden Gesetze mit ihren Verboten zu weit,
anderen gehen sie nicht weit genug.
Genau die Frage, welche Strafrechtsnormen der Staat zum Schutz des
ungeborenen Lebens erlassen soll bzw. darf, ist Thema dieses ethischen Essays.
Meine Vorgehensweise wird dabei von den beiden folgenden Überzeugungen
geleitet sein.
1. Eine Antwort auf die verschiedenen ethischen Probleme des Lebensschutzes
kann nur dann befriedigen, wenn sie in sich stimmig ist. Das bedeutet: Die
Begründungen für die jeweiligen Problemlösungen dürfen einander nicht
widersprechen. Wer zum Beispiel behauptet, die Embryonenforschung sei deshalb
zu verbieten, weil Embryonen als menschliche Individuen Schutz verdienten, darf
nicht gleichzeitig in der Abtreibungsfrage eine Antwort vertreten, die mit dieser
Schutzwürdigkeit von Embryonen unvereinbar ist. Wie wir im Einzelnen sehen
werden, wird gerade gegen diese für jedes rationale Denken unverzichtbare
Forderung nach Stimmigkeit in ethischen Meinungsbildungen zum Lebensschutz
häufig eklatant verstoßen.
2. Wir müssen die rechtsethische Diskussion um den Lebensschutz in seinen
umstrittenen Aspekten so grundlegend wie möglich führen und dürfen uns nicht
einfach auf unsere spontanen Intuitionen verlassen. Daraus folgt, dass wir unsere
Untersuchung mit einer ganz allgemeinen Fragestellung beginnen müssen: Auf
welcher ethischen Grundlage beruht der Lebensschutz? Warum soll menschliches
Leben überhaupt, also auch in seinem in der Praxis unstreitigen Kernbereich,
geschützt werden? Erst die Antwort auf diese Fragen kann uns ein verlässliches
Kriterium für die Lösung der umstrittenen Fragen des Lebensschutzes am Beginn
des Lebens an die Hand geben.
Die fundamentale Frage, aus welchem Grund das menschliche Individuum denn
überhaupt rechtlich zu schützen ist, ist daher alles andere als, wie manchmal
unterstellt wird, Ausdruck moralischer Frivolität, die etwa gar der Aushöhlung des
Lebensschutzes gewisser Individuen oder Minderheiten in der Praxis dient. Die
ausdrückliche Thematisierung und Beantwortung dieser Frage ist vielmehr die
philosophisch-ethisch unverzichtbare Voraussetzung dafür, dass die Antworten
auf die Frage nach dem Lebensschutz auch dort, wo er umstritten ist, nicht
unbegründet in der Luft hängen.
Ein letzter wichtiger Punkt. In einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung wie der
unseren gilt das Prinzip »In dubio pro libertate« (Im Zweifel für die Freiheit). Das
bedeutet, dass sich staatliche Verbote, insbesondere solche des Strafrechts, nicht
von selbst verstehen. Nicht wer gegen, sondern wer für das staatliche Verbot einer
bestimmten Handlung plädiert, muss in der Lage sein, hierfür intersubjektiv
überzeugende Gründe anzuführen. Dies gilt nicht nur für moralisch fragwürdige
Verhaltensweisen etwa auf dem Gebiet der Sexualität – was heute kaum jemand
mehr in unserer Gesellschaft bestreiten würde. Es gilt ebenso für die hier zur
Debatte stehenden Umgangsweisen mit dem Leben. Dadurch dass der Staat auf
ein Verbot verzichtet, wird ja noch niemand zu einer Handlung gezwungen, die er
selbst moralisch ablehnt.
Schlussbemerkung
Es besteht kein Zweifel: Nicht nur die gewöhnliche Abtreibung, sondern ebenso
die Praktiken der PID und der Embryonenforschung verstoßen gegen das
Lebensrecht des Embryos – falls ihm dieses Menschenrecht auf Leben bereits
zusteht. Wenn man hiervon ausgeht, müssen diese Handlungen ohne Unterschied,
wie der Vatikan mehrfach zu Recht betont hat, in ihrer prinzipiellen
Strafwürdigkeit auf eine Stufe mit dem »Kindesmord« gestellt werden.
Jeder, der zu diesen Handlungen ethisch Stellung nehmen will, hat bei
realistischer Betrachtung nur die folgende Alternative. Entweder er vertritt die
Position des Lebensrechtes von der Befruchtung an; dann folgen ohne weiteres die
genannten Konsequenzen. Allerdings muss er sich dann der Aufgabe stellen, seine
Position zum Lebensrecht als solche zu begründen. Oder er vertritt die Position
des Lebensrechtes erst von der Geburt an. Dann ist er mit zwei Aufgaben
gleichermaßen konfrontiert. Erstens muss er ebenfalls seine Position zum
Lebensrecht begründen; und zweitens muss er die Zulässigkeit der genannten
Handlungen im Blick auf die dem Embryo auch ohne Lebensrecht zukommende
Schutzwürdigkeit unter Abwägung der jeweils betroffenen Interessen prüfen. Dass
auch unter dieser Voraussetzung die oben genannten Handlungen sich ohne
Unterschied und ohne Einschränkung als strafwürdig erweisen lassen, ist dabei
äußerst unwahrscheinlich.
So oder so ist daher die Frage nach dem Beginn des Lebensrechtes nicht nur eine
akademische Frage, sondern gerade in praktischer Hinsicht von zentraler
Bedeutung. Es zeugt von Unredlichkeit oder Oberflächlichkeit, dieser Frage
auszuweichen, sie zu verwischen oder sie von Fall zu Fall je nach gewünschtem
Ergebnis unterschiedlich zu beantworten.
Natürlich zählt für die Funktion einer Rechtsnorm, etwa des Strafrechts, in der
Praxis allein ihr Inhalt und nicht ihre Begründung. Und die Inhalte von
Rechtsnormen beruhen häufig auf politischen Kompromissen. Es ist jedoch nicht
Aufgabe des Rechtsphilosophen oder Ethikers, in seinen Argumenten solche
Kompromisse vorwegzunehmen oder anzupeilen; dies tun die Politiker schon von
sich aus. Und es ist auch nicht seine Aufgabe, Überlegungen zu präsentieren, die
möglichst vielen Lesern bei flüchtiger Lektüre einleuchten; dies tun schon die
Journalisten. Sein Ziel ist ganz allein die individuelle Meinungsbildung eines
Lesers, der die Fähigkeit und die Bereitschaft hat, sich mit den grundlegenden
Aspekten moralischer und rechtlicher Probleme intensiv und ernsthaft zu
befassen.
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