Christliche Ethik in technisch-rationaler Gesellschaft

Werbung
Universität Würzburg  Lehrstuhl für Moraltheologie
Vorlesung WS 2015/2016: Ethische Grundfragen der Medizin
mth
3. Schwangerschaftsabbruch
1. Ethische Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs und die Frage der subjektiven Schuld
Unterscheidung zwischen dem wertenden Ausdruck „Abtreibung“ und der neutralen Beschreibung „Schwangerschaftsabbruch“ bzw. „vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft“.
Welche Gründe können eine vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft ethisch rechtfertigen
und lassen sie damit nicht zu einer Abtreibung werden?
-
-
-
-
-
-
Ausgehend von der Auffassung, dass menschliches Leben von der Empfängnis an ein unbedingt
zu schützendes Gut ist, kann der einzige Grund der sein, dass nur so (ultima ratio) der entgegengesetzte Wert „Leben“ im ganzen geschützt und gefördert werden kann.
Behinderung des Fötus ist dagegen kein Grund, der eine vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft ethisch rechtfertigen kann.
Anenzephalie: In diesem Fall ist nicht nur der aktuelle Besitz von Selbstbewusstsein und Interessen nicht gegeben, sondern auch die Potentialität, die Offenheit auf Selbstbewusstsein und personale Akte ist nicht gegeben. Parallele zur Argumentation bei Hirntod.
Auch soziale und psychische Notlagen stellen keinen objektiven Grund für die Rechtfertigung
eines Schwangerschaftsabbruchs dar. Andererseits kann die Belastung so groß sein, dass der Frau
ein Entscheidungsrecht zusteht.
Auch wenn dem Fötus nicht von Anfang an ein Lebensrecht zugesprochen wird, ist ein Schwangerschaftsabbruch von den psychischen und biographischen Folgen her als problematisch zu beurteilen und nicht leichtfertig zu rechtfertigen.
In jedem Fall aber kann ein Schwangerschaftsabbruch in Konfliktfällen – auch wenn er objektiv
nicht gerechtfertigt ist – dennoch menschlich verständlich und subjektiv entschuldbar sein.
2. Ethische Bewertung der rechtlichen Regelung durch den § 218/19 StGB
2.1 Zur Geschichte des § 218/19
Preußisches Gesetzbuch (1851) und Deutsches Reichstrafgesetzbuch (1871): Schwangerschaftsabbruch generell als Tötungsdelikt.
Reichsgerichtsentscheid (1927): Schwangerschaftsabbruch bei medizinischer Indikation nicht
rechtswidrig.
26.4.1974: Fristenregelung.
25.2.1975: Bundesverfassungsgericht betont den Schutz des ungeborenen Lebens ohne Frist.
18.5.1976: Indikationenregelung (medizinische, kriminologische, kindliche und Notlagen-Indikation)
Mit der Wiedervereinigung Deutschlands 1989 zwei unterschiedliche Rechtslagen.
25.6.1992: Schwangeren- und Familienhilfegesetz (SFHG)
1993 Teilweise Nichtigerklärung durch das Bundesverfassungsgericht.
1995: Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz (SFHÄndG)
2.2 Ethische Beurteilung des Gesetzes
Ist im Wesentlichen eine Fristenregelung mit Beratungspflicht; darüber hinaus: medizinische und
kriminologische Indikation.
Grundfrage der ethischen Beurteilung des Gesetzes: Welche rechtliche Regelung dient am besten
dem Schutz des ungeborenen Lebens, verhindert tatsächlich mehr Abtreibungen?
18
Universität Würzburg  Lehrstuhl für Moraltheologie
Vorlesung WS 2015/2016: Ethische Grundfragen der Medizin
-
-
-
mth
Wie sich gezeigt hat, führt eine sehr strikte Regelung nicht zu einer Senkung der Abtreibungsrate.
Vielmehr führt gerade kompetente Beratung in vielen Fällen zur Verhinderung von Abtreibungen.
Beratung führt auch oft dazu, dass die Frau das Kind nicht nur widerwillig hinnimmt, sondern
bejaht.
Beratungsregelung geht also vom Selbstbestimmungsrecht der Frau aus. Selbstbestimmungsrecht
wird aber nicht über das Lebensrecht gestellt. Aber Lebensrecht des Kindes kann nicht gegen den
Willen der Frau, sondern nur mit ihr wirkungsvoll geschützt werden.
Beratung ist verpflichtend: Dient dem Selbstbestimmungsrecht, weil sie zu einem freien Entscheidungsraum beiträgt.
Beratung nicht als Überredung, sondern als Information über Hilfsangebote.
Ausschluss der Darlegungspflicht
Kann man wirklich so von den Folgen her argumentieren? Geht es der Ethik nicht ums Prinzip?
Aber kann man das Prinzip „Leben schützen“ über den Schutz des einzelnen Lebens stellen?
3. Die Frage des Beratungsscheins
3.1 Die Argumentation des Papstes
„Das ,Dilemma‘ besteht darin, dass die Bescheinigung die Beratung zugunsten des Lebensschutzes bestätigt,
aber zugleich die notwendige Bedingung für die straffreie Durchführung der Abtreibung bleibt, auch wenn
sie gewiß nicht deren entscheidende Ursache ist. Der positive Text, den Ihr dem von katholischen Stellen
ausgestellten Beratungsschein gegeben habt, kann diese widersprüchliche Spannung nicht grundsätzlich beheben. Die Frau kann den Schein aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen dazu gebrauchen, um nach einer
dreitägigen Frist ihr Kind straffrei und in öffentlichen Einrichtungen und zum Teil auch mit öffentlichen
Mitteln abtreiben zu lassen. Es ist nicht zu übersehen, daß der gesetzlich geforderte Beratungsschein, der
gewiß zuerst die Pflichtberatung sicherstellen will, faktisch eine Schlüsselfunktion für die Durchführung
straffreier Abtreibungen erhalten hat. Die katholischen Beraterinnen und die Kirche, in deren Auftrag die
Beraterinnen in vielen Fällen handeln, geraten dadurch in eine Situation, die mit ihrer Grundauffassung in
der Frage des Lebensschutzes und dem Ziel ihrer Beratung in Konflikt steht. Gegen ihre Absicht werden sie
in den Vollzug eines Gesetzes verwickelt, der zur Tötung unschuldiger Menschen führt und vielen zum Ärgernis gereicht.“ (Nr. 7)
3.2 Das moraltheologische Problem: Schuldhafte Mitwirkung
- Der Papst befürchtet eine „Mitwirkung“, die schuldig macht.
- Aber: Bereits die traditionelle Moraltheologie unterscheidet zwischen formeller und materieller
Mitwirkung.
- Formelle Mitwirkung: Handlung, die bewusst dem schlechten Ziel einer anderen Handlung dienen
will. Macht immer schuldig.
- Materielle Mitwirkung: Handlung, die möglicherweise von anderen missbraucht werden kann.
Kann aus bestimmten Gründen gerechtfertigt, ja sogar geboten sein.
3.3 Konsequenzen für die Frage des Beratungsscheins
- Ausstellen des Scheins ist keine formelle Mitwirkung an der Abtreibung, sondern höchstens Mitwirkung am Strafverzicht. Der Strafverzicht aber hat das Ziel, die Abtreibungsrate zu senken. Außerdem dient die Konfliktberatung effektiv dem Ziel, die Abtreibungsrate zu senken.
- Statt mit dem Verweis auf die „Mitwirkung“ wird in der Folge mehr und mehr mit der „Glaubwürdigkeit“ argumentiert.
- Aber: genügt dann nicht auch der Vermerk der Missbilligung der Abtreibung auf dem Schein?
19
Herunterladen