Arzneimittel oder Lebensmittel – Klarer Fall oder ewiger Zweifel? Herausforderungen 2009 Symposium anlässlich der Amtseinführung des Präsidenten des BVL Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 1 Abgrenzung Lebensmittel-Arzneimittel - Hintergrund Thema ist heillos umstritten und beschäftigt seit jeher Behörden, Anwälte und Gerichte. Erhebliche Rechtsunsicherheit aufgrund -komplexer und sich stetig ändernder Rechtsgrundlagen -unterschiedlicher, teilweise sogar widersprüchlicher Gerichtsentscheidungen. Erhebliche wirtschaftliche Bedeutung für Unternehmer (hohe Kosten der Zulassung eines Arzneimittels!). Gefahren für den Verbraucher: ohne Zulassung keine Prüfung auf Risiken und Nebenwirkungen Inverkehrbringen eines Arzneimittels ohne Zulassung ist strafbar! Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 2 Die Grenzen zwischen Arzneimitteln und Lebensmitteln sind fließend! Wunschvorstellung des Gesetzgebers: ernährungsphysiologisch 0 mg 10 mg pharmakologisch 20 mg 30 mg Dosisbezogene Wirkung des Stoff X: Pharmakologische Wirkung > 20 mg ernährungsphysiologische Wirkung < 20 mg Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 3 GABA - Ist das noch Lebensmittel? (VG Köln: Ja!) Gamma-Aminobuttersäure (GABA) ist der bedeutsamste zentral inhibitorisch wirkende Neurotransmitter. Sie wirkt an den Rezeptoren des Gehirns und Rückenmarks. Bewerbung von GABA im Internet: „Beeinflusst die Laune positiv.“ „GABA ist eine hochwirksame Substanz, die die körpereigene Ausschüttung von Wachstumshormonen um bis zu 600% steigern kann.“ „Studien zeigen, dass GABA: - eine günstige Wirkung auf Patienten die unter Epilepsie leiden, und die auf die herkömmlichen Behandlungen nicht ansprechen, hat; - die kognitive Leistungsfähigkeit bei älteren Affen verbessert.“ Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 4 Glucosamin und Chondroitin = Arthrosetherapie oder Gelenknahrung? Beispielhafte Bewerbung im Internet: „Es muss nicht immer gleich die Keule sein: Manchmal kann man sinnvoller mit Nahrungsergänzung Krankheiten vermeiden oder lindern. Zwei Stoffe helfen den Gelenken.“ • EMEA: 1250 mg Glucosamin pro Tag wirken pharmakologisch • Wirkt es unterhalb 1250 mg nur „physiologisch“? • Unklar, da es keine verlässlichen Studien zu dieser Dosierung gibt! Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 5 268 mg Vitamin E – noch Nahrungsergänzung oder schon Arzneimittel? BVerwG: Arzneimittel (+) • Behebung eines auf organischen Störungen beruhenden Vitamin-EMangels = Wiederherstellung des normalen physiologischen Zustandes • „pharmakologische Wirkung“, da gezielter Einsatz arzneilich wirksamer Substanzen Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 6 Die maßgeblichen Vorschriften - Lebensmittel Lebensmittelbegriff des Artikel 2 der „Basisverordnung“ (EG) Nr. 178/2002: „alle Stoffe oder Erzeugnisse, die dazu bestimmt sind oder von denen nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, dass sie […] von Menschen aufgenommen werden. […] Nicht zu "Lebensmitteln" gehören: […] d) Arzneimittel […].“ Æ Arzneimitteldefinition der RL 2001/83 ist unmittelbar anwendbar (BVerwG) Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 7 Die maßgeblichen Vorschriften – Arzneimittel Begriff des (Funktions)-Arzneimittels der Richtlinie 2001/83/EG: Ein Arzneimittel ist geeignet zur – Wiederherstellung – Korrektur oder – Beeinflussung physiologischer Funktionen mittels einer – pharmakologischen – immunologischen oder – metabolischen Wirkung. Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 8 Die maßgeblichen Vorschriften – Nahrungsergänzungsmittel Begriff Nahrungsergänzungsmittel (§ 1 Abs. 1 Nr. NemV): „Ein Konzentrat von Nährstoffen oder sonstigen Stoffen mit ernährungsspezifischer oder physiologischer Wirkung“ Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 9 Die drei großen Unbekannten physiologische Funktion Beeinflussung durch… …entweder pharmakologische Wirkung …oder physiologische Wirkung Arzneimittel Nahrungsergänzungsmittel Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 10 Begriff der pharmakologischen Wirkung – Definitionen (Wissenschaft) „Die Fähigkeit von Stoffen, in Wechselwirkung mit dem menschlichen Organismus treten zu können.“ (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 259. Auflage, 2002, Stichwort „Pharmakologische Wirkung“) Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 11 Begriff der pharmakologischen Wirkung – Definitionen (Wissenschaft) „Interaktion zwischen Molekül und einem Zellbestandteil (Rezeptor), die entweder in einer direkten Reaktion oder in der Blockierung einer Reaktion zu einem anderen Wirkstoff besteht.“ Indiz: Dosis-Wirkungsbeziehung (EU-Leitfaden MEDDEV 2.1/3 „Borderline-Leitlinie“) Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 12 Begriff der pharmakologischen Wirkung – Definitionen (Rechtsprechung) „Eine pharmakologische Wirkung liegt vor, wenn die Wirkungen eines Produkts über dasjenige hinausgehen, was physiologisch auch durch Nahrungsaufnahme im menschlichen Körper ausgelöst wird“ (BGH „L-Carnitin“) Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 13 pharmakologisch = therapeutisch? „Die therapeutische Wirksamkeit ist kein notwendiges Element einer pharmakologischer Wirkung. Ist die therapeutische Wirksamkeit aber gegeben, so ist dies der Beleg, dass das Produkt eine pharmakologische Wirkung entfaltet.“ (BVerwG „Tibetische Kräutertabletten“) Æ Pharmakologische Wirkung ist notwendiger Teil einer therapeutischen Wirkung Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 14 pharmakologisch = therapeutisch? OVG Saarland, Urteil vom 03.02.2006: „Das Funktionsarzneimittel umfasst mit seiner pharmakologischen Wirkung nicht nur den Bereich einer positiven, therapeutischen Beeinflussung der Körperfunktionen, sondern auch den Bereich einer negativen, schädlichen Beeinflussung der Körperfunktionen.“ Beispiel Weihrauchextrakt: Wirkung oberhalb von 800mg Wirkung unterhalb von 800mg Æ antientzündlich Æentzündungsfördernd OVG Saarland: 400mg Weihrauchextrakt wirkt pharmakologisch! Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 15 pharmakologische Wirkung (OVG Saarland) Pharmakologische Wirkung Unerwünschte Wirkungen =negative pharmakologische Wirkung entzündungsfördernd o. toxisch Therapeutische Wirkungen =positive pharmakologische Wirkung entzündungshemmend „Aus wissenschaftlicher Sicht ist unter Pharmakologie die Lehre von den Wechselwirkungen zwischen Arzneistoffen und Organismus zu verstehen einschließlich dem Untergebiet Toxikologie.“ (vgl. Hunnius, Pharmazeutisches Wörterbuch) Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 16 Vorlagebeschluss des BVerwG an den EuGH (Weihrauchextrakt) BVerwG: Ansatz des OVG Saarland ist verfehlt: „Dann müssten etwa Zigaretten wegen ihres unbestrittenen Risikopotentials als Arzneimittel eingestuft werden.“ BVerwG: Weihrauch 400 mg Arzneimittel (-) aber gesundheitsgefährdendes Lebensmittel (+) Aber Zweifel bleiben auch dem BVerwG, daher Vorlage des Falles an den EuGH: Ist die Vorgehensweise des OVG Saarland rechtmäßig? Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 17 Begriff der pharmakologischen Wirkung Rechtsprechung des EuGH: „Steine statt Brot“ Frage des OVG NRW an den EuGH: „Wie ist der Begriff „pharmakologische Wirkung“ zu definieren?“ Antwort EuGH (Rs. C-211/03 „HLH und Orthica“): „Die pharmakologischen Eigenschaften eines Erzeugnisses sind der Faktor, auf dessen Grundlage die mitgliedstaatlichen Behörden […] zu beurteilen haben, ob es […] dazu bestimmt ist, als Arzneimittel angewandt zu werden.“ Kommentar BVerwG: „Der EuGH hat die ihm vorgelegte Frage nicht beantwortet.“ Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 18 Aktuelle Rechtsprechung - EuGH „Knoblauchkapseln“ Tendenz zur einschränkenden Auslegung des Arzneimittelbegriffs: „Stoffe die zwar auf den menschlichen Körper einwirken, sich aber nicht nennenswert auf den Stoffwechsel auswirken sind keine Arzneimittel.“ Æ Knoblauchkapseln trotz nachgewiesener blutdrucksenkender Wirkung kein Arzneimittel! Denn Tagesdosis an Allicin kann auch über den Verzehr von 15 g (ca. 5 mittelgroße Zehen) frischem Knoblauch erreicht werden Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 19 Aktuelle Rechtsprechung – BVerwG Urteile vom 25.07.07 „OPC, Lactobact und E-400“ Tendenz zur einschränkende Auslegung des Arzneimittelbegriffs: 1. Einstufung als Arzneimittel nur dann, wenn eine erhebliche Veränderung der Funktionsbedingungen des Organismus vorliegt („Erheblichkeitsschwelle“) 2. Einstufung als Arzneimittel nur dann, wenn Wirkungen durch belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse belegt sind. Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 20 BVerwG: „belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse“ Was ist das? Æ Aufbereitungsmonografien des ehemaligen Bundesgesundheitsamtes (BVerwG) Aber was ist zu tun, wenn für einen Stoff keine Aufbereitungsmonographie vorhanden ist? Brauchen wir neue Aufbereitungsmonographien? Wer soll diese erarbeiten? Ggf. Rückgriff auf: – – Arzneimittelzulassungen in anderen Mitgliedstaaten der EU Aufbereitungsmonographien WHO, ESCOP, HMPC (EMEA) Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 21 BVerwG: „nennenswerte Beeinflussung der Körperfunktionen“ • Wann wirkt ein Stoff „nennenswert“ oder „wirklich“ auf die Körperfunktionen ein? • Wann ist die „Erheblichkeitsschwelle“ überschritten? Problem: Naturwissenschaftliche Basis dieses Ansatzes fehlt bzw. muss erst begründet werden. Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 22 Tendenz infolge aktueller Rechtsprechung des BVerwG und des EuGH • Weg vom Arzneimittel hin zum Lebensmittel • Anforderung an die Einstufung als Arzneimittel liegen deutlich höher als in der Vergangenheit • Rechtsprechung gegenüber Behördenentscheidungen kritisch eingestellt „Es geht nicht an, zum Verzehr bestimmte Produkte „auf Verdacht“ den Arzneimitteln zuzurechnen (BverwG)“ • Aufbereitungsmonografie des ehemaligen Bundesgesundheitsamtes werden zum „Maß aller Dinge“ in Sachen Abgrenzung Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 23 Aktueller Streitpunkt: Die Zweifelsfallsregelung Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie 2001/83/EG: “In Zweifelsfällen, in denen ein Erzeugnis unter Berücksichtigung aller seiner Eigenschaften sowohl unter die Definition von 'Arzneimittel' als auch unter die Definition eines Erzeugnisses fallen kann, das durch andere gemeinschaftliche Rechtsvorschriften geregelt ist, gilt diese Richtlinie.“ Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 24 Aktueller Streitpunkt: Die Zweifelsfallsregelung Das BVerwG hat dem EuGH folgende Vorlagefrage gestellt (in eigenen Worten): „Ist die Einstufung als AM trotz verbleibender Restzweifel an der pharmakologischen Wirkung möglich? Welches Maß an Sachaufklärung muss die Behörde leisten?“ = Beweislasterleichterung für die Behörde? Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 25 Aktueller Streitpunkt: Die Zweifelsfallsregelung - EuGH Schlussanträge der Generalanwältin Trstenjak vom 19. Juni 2008 Rechtssache C-140/07 (red rice): „[…] Die Zweifelsregelung führt keine Vermutungs- bzw. Beweisregel ein. Die Zweifelsregelung ist dahin auszulegen, dass die Arzneimittelrichtlinie nur auf ein Erzeugnis anzuwenden ist, dessen Arzneimitteleigenschaft positiv festgestellt worden ist.“ Aber: Wo liegt dann noch der Zweifel? Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 26 Fazit: Der ewige Zweifel bleibt! Aber Klarheit besteht in folgender Hinsicht: • Der Trend geht weg vom Arzneimittel hin zum Lebensmittel. • Eine Vielzahl neuer, fragwürdiger „Gesundheitsprodukte“ wird verkehrsfähig. • Ohne arzneiliche Zulassungspflicht erfolgt keine Prüfung von Risiken und Nebenwirkungen. • Folge: Sicherheitsaspekte neuer „gesundheitsfördernder Lebensmittel“ müssen daher zukünftig verstärkt durch Behörden in den Blick genommen werden. Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 27 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Friedemann Kraft • 18. Dezember 2008 • Seite 28