- Klinikum Stuttgart

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Aufmerksamkeitsdefizithyperaktivitätsstörung (ADHS)
Prof. Dr. med. Michael Günter
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Wintersemester 2016/2017
"Ob der Philipp heute still
Wohl bei Tische sitzen will ?"
Also sprach in ernstem Ton
Der Papa zu seinem Sohn,
Und die Mutter blickte stumm
Auf dem ganzen Tisch
herum.
Doch der Philipp hörte nicht,
Was zu ihm der Vater spricht.
Er gaukelt
Und schaukelt,
Er trappelt
Und zappelt
Auf dem Stuhle hin und her.
"Philipp, das missfällt mir
sehr !"
© 2016 – Prof. Dr. med. Michael Günter
Seht, ihr lieben Kinder, seht,
Wie's dem Philipp weiter geht !
Oben steht es auf dem Bild.
Seht! Er schaukelt gar zu wild,
Bis der Stuhl nach hinten fällt;
Da ist nichts mehr, was ihn hält;
Nach dem Tischtuch greift er, schreit.
Doch was hilft‘s? Zu gleicher Zeit
Fallen Teller, Flasch' und Brot.
Vater ist in großer Not,
Und die Mutter blicket stumm
Auf dem ganzen Tisch herum.
© 2016 – Prof. Dr. med. Michael Günter
© 2016 – Prof. Dr. med. Michael Günter
MSSB
McArthur Story Stem Battery
Familienvergnügen mit verletztem Kind
Die
Geschichten:
Aufwärmgeschichte
Geburtstagsfeier
1. Ausflug in den Park
2. Barny suchen
3. Der verlorene Schlüssel
4. Was ist mit dem/der
Freund/in los?
5. Die heiße Suppe
6. Familienvergnügen mit
verletztem Kind
7. Das Meerschweinchen
frisst nicht
8. Das Monster in der
Dunkelheit
9. Neue Nachbarn
Tübingen-Basel-Wien Version: Günter et al., 1999
© 2016 – Prof. Dr. med. Michael Günter
Definition I
Leitsymptome
1. Unaufmerksamkeit (Aufmerksamkeitsstörung, Ablenkbarkeit)
2. Überaktivität (Hyperaktivität, motorische Unruhe)
3. Impulsivität
Beginn vor dem 6. Lebensjahr
•
Mindestens in zwei Lebensbereichen
-
Vorherrschend unaufmerksamer Subtyp
Vorherrschend hyperaktiv-impulsiver Subtyp
Gemischter Subtyp
„Zusatzsymptome/Comorbidität“ extrem vielfältig (es gibt Listen mit über 100) u.a.
Störung des Sozialverhaltens/Dissozialität/Substanzmissbrauch
Erregbarkeit
Distanzlosigkeit
Niedriges Selbstwertgefühl
Aggressive/depressive Störung
© 2016 – Prof. Dr. med. Michael Günter
Definition II
Leitsymptome
(jeweils extrem ausgeprägt im Verhältnis zu gleich alten Kindern)
1. Unaufmerksamkeit (Aufmerksamkeitsstörung, Ablenkbarkeit)
Ü
Ü
Ü
Ü
Mangel an Ausdauer und Konzentration, Abbruch bei Beschäftigungen
Häufiger Wechsel von einer Tätigkeit zur anderen
Ablenkbarkeit (durch externe Stimuli)
Unfähigkeit, die Aufmerksamkeit zu teilen
Ü
Ü
Ü
Ü
Mangelnde Aufmerksamkeit für Details
Hört oft nicht zu
Verliert oft Dinge
Ist vergesslich
© 2016 – Prof. Dr. med. Michael Günter
Definition III
2. Überaktivität (Hyperaktivität, motorische Unruhe)
Ü
Ü
Ü
Ü
Ü
Ü
Zappelphilipp
Desorganisierte, überschießende Aktivität
Kann nicht stillsitzen, steht oft auf
Exzessives Rennen oder herumklettern
Ausgeprägte Redseligkeit, Lärmen
Schwierigkeiten still zu sein
3. Impulsivität
Ü
Ü
Ü
Ü
Ü
Ü
Ü
Mangel an normaler Vorsicht und Zurückhaltung
Unfallneigung
Regelverletzungen aus Impulsivität
Distanzlosigkeit gegenüber Erwachsenen
Platzt mit der Antwort heraus, bevor die Frage beendet ist
Geht nicht auf andere ein
Kann nicht warten, bis er/sie an der Reihe ist (im Spiel, in Gruppen)
© 2016 – Prof. Dr. med. Michael Günter
Lineare Modellvorstellungen
Medizinisch-genetisches Modell
Genetik
Neuro
transmitter
Verhalten
Medikation
Verhalten
Pädagogische/
therapeutische
Interventionen
Somatische
Schädigung
Psychosoz.
Schädigung
Traumatisierung
Umwelt
Soziales/Beziehungsmodell
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Ätiologie I
Multifaktorielle Störung (Biederman & Faraone 2005,
Tannock 1998)
Neurobiologische Faktoren
Genetisch
-Transmitterstörung (Dopaminsystem: z.B. Dopamintransporter (Schimmelmann et
al. 2006),Noradrenalinsystem, Zusammenwirken mehrerer Gene, RR ca. 1, 2-2)
- Temperamentsfaktor (Levy et al. 1997)
Schädigungsbedingt
- Rauchen während der Schwangerschaft
- Alkoholkonsum, Benzodiazepinkonsum während der SS, bei Fetalem
Alkoholsyndrom 90% ADHD
- chronisch hypoxische Zustände, Geburtskomplikationen und niedriges GG
- Chronische (subklinische) Bleiintoxikation, Infektionen
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Neurobiologie der Aufmerksamkeitssteuerung im Gehirn
vorderes Aufmerksamkeitssystem
hinteres Aufmerksamkeitssystem
Aus: Schulte-Markwort und Zinke
2005, modifiziert nach Himelstein
2000
Blaue Linien vermitteln die
dopaminerge Steuerung,
orange Linien die
noradrenerge Steuerung
der Aufmerksamkeit
© 2016 – Prof. Dr. med. Michael Günter
Darstellung der Wirkung von MPD im Gehirn
Ausgangspunkt: Erhöhung
des Dopamintransporters
(mittlerweile fraglich als
ätiologischer Mechanismus)
Darstellung der Verminderung
der Rezeptorverfügbarkeit im
Striatum durch Methylphenidat
mittels Applikation von 11Craclopride
Volkow et al. 2005
Mechanismus: MPD bindet an DAT und verdrängt Dopamin ®
höhere Konzentration von DA ® niedrigere Rezeptorverfügbarkeit
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Ätiologie II
Psychosoziale Faktoren
-Fernsehkonsum im Kleinstkindesalter (Christakis et al. 2004)
- niedriger Sozialstatus (Hjern et al. 2010, Medikamenteneinnahme
abhängig von Sozialhilfeempfänger 3fach, Bildungsstatus der Mutter
3fach, alleinerziehend 2fach, Psychische Erkrankung der Eltern 2,5fach)
- dagegen West Virginia: weiße Schuljungen 33% Prävalenz! (Le Fever et
al. 1999)
- schwere familiäre Konflikte, väterliche Kriminalität, psychische Störung
der Mutter, Fremdplatzierung (Biederman et al. 1995)
- frühkindliche Traumatisierung, Deprivation, Misshandlung, Missbrauch
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Komplexeres interaktionelles Modell
Genetik
Neuro
transmitter
Verhalten
Medikation
Verhalten
Pädagogische/
therapeutische
Interventionen
Epigenetische Prozesse
Somatische
Schädigung
Neuronale
Netzwerke
Psychosoz.
Schädigung
Traumatisierung
Umwelt
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„Neurodarwinismus“ –
Entwicklungsselektion, Erfahrungsselektion, Reentrant Mapping
Edelman, 1992
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Vermittelnde Variablen und aktuelle
Genetik
Neuro
transmitter
Verhalten
Medikation
Somatische
Schädigung
Neuronale
Netzwerke
Affektsteuerung
Motivation
Interaktion
Comorbidität >50%
Mentale Repräsentationen
Therapeutische Beziehung
Psychosoz.
Schädigung
Traumatisierung
Umwelt
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Verhalten
Pädagogische/
therapeutische
Interventionen
Konsequenzen I
1. Vorsicht: ADHS ist wegen seiner vielfältigen
Symptomatik
ein
kinderpsychiatrischer
„Circus
Barnum“
2. Syndrom mit vielfältiger, „biopsychosozialer“, bisher
nur teilweise geklärter Ätiologie und Pathogenese
3. Häufig „Komorbidität“ mit emotionalen Störungen,
Störungen
des
Sozialverhaltens,
Teilleistungsstörungen
Umfangreiche mehrstündige Diagnostik auf verschiedenen Ebenen
erforderlich, zusätzliche detaillierte Abklärung:
Emotionale Störungen
Störungen des Sozialverhaltens
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Diagnostik bei ADHS I
Exploration der Familie und Exploration und Untersuchung des Patienten hinsichtlich
Ø Auftreten Variabilität der Leitsymptome
Ø Ungünstiger Temperamentsmerkmale im Säuglingsalter und Beginn der Störung
Ø Verlauf der Symptomatik
Ø psychosozialer und emotionaler Belastungsfaktoren
Ø Vorhandensein emotionaler oder anderer Störungen
Informationen von Kindergarten oder Schule hinsichtlich
Ø Einschätzung, Häufigkeit, Intensität und Variabilität der Symptomatik
Ø gegebenenfalls Lern- und Leistungsstörungen
Ø Hinweisen auf psychosoziale Belastungen
Ergänzend kann ein Fremdbeurteilungsbogen (z.B. FBB-HKS
), der jeweils von Eltern und
Lehrern ausgefüllt werden kann, vor allem im Lehrerurteil wertvolle Zusatzinformationen liefern.
Intelligenz, Entwicklungs- und Leistungsdiagnostik
Ø In der Regel ist eine zumindest orientierende Intelligenzdiagnostik erforderlich, um
Überforderungen oder Unterforderungen auszuschließen.
Ø Bei Hinweisen auf Teilleistungsstörungen oder sonstige Leistungsproblemen ist eine umfassende
Leistungsdiagnostik notwendig.
Ø Bei Vorschulkindern ist eine umfassende Entwicklungsdiagnostik, vor allem auch der
psychosozialen Entwicklung erforderlich.
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Diagnostik bei ADHS II
Weitere testpsychologische Diagnostik
Ø Ergänzend können testpsychologische Untersuchungen zur Aufmerksamkeit (z. B. TAP,
Aufmerksamkeitsbelastungstest) zusätzliche Hinweise geben. Das testpsychologische Ergebnis darf
niemals alleine zur Stellung der Diagnose verwendet werden.
Somatische Diagnostik
Ø Neurologische Untersuchung zur Abklärung von Beeinträchtigungen.
Ø gegebenenfalls EEG- bzw. MRT-Untersuchung, wenn Hinweise auf eine hirnorganische
Komponente oder auf ein Anfallsleiden vorhanden sind, EEG-Untersuchung insbesondere dann,
wenn eine medikamentöse Behandlung mit Amphetaminen geplant ist.
Ø Bei Planung einer medikamentösen Behandlung allgemeine körperliche Untersuchung u.a. im
Hinblick auf mögliche Kontraindikationen und unerwünschte Wirkungen (z.B.
Wachstumsverzögerung)
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Konsequenzen II
4. Methylphenidat hat bei ca. 70% der betroffenen
Kinder eine unspezifische! Wirkung auf Hyperaktivität
und Aufmerksamkeit,
nicht jedoch auf Impulsivität,
Sozialverhalten, emotionale Störung
Alleinige Gabe von Methylphenidat ist daher in der Regel nicht
zulässig
Auslassversuche 1x jährlich mit Fremdbeurteilung sind
notwendig; genaue Verlaufsbeobachtung hinsichtlich der
Entwicklung expansiver od. emotionaler Störungen ist
erforderlich
Elternberatung, Selbstmanagementtraining bei einfachen Fällen;
Ergotherapie, Psychotherapie, evtl. stationäre Behandlung bei
Komorbidität
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Prof. Dr. med. Michael Günter
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Klinikum Stuttgart
Zentrum für Seelische Gesundheit
Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin – Olgahospital (kooptiert)
Prießnitzweg 24
70374 Stuttgart
E-Mail: [email protected]
© 2016 – Prof. Dr. med. Michael Günter
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