Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters Michael Günter Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter Universität Tübingen E-Mail: [email protected] www.medizin.uni-tuebingen.de/ppkj Günter 2008 Definition Psychosomatik – - Bezeichnung für die Wechselwirkung von Körper und Seele (Heinroth 1818) - Spezialgebiet der Medizin mit eigener Facharztbezeichnung und spezialisierten diagnostischen und therapeutischen Methoden - grundsätzliche Haltung in der Medizin, die biologische wie psychosoziale Einflüsse auf die Entstehung, den Verlauf und die Endzustände von Krankheiten als gleichermaßen wichtige Probleme der Heilkunde ansieht und daher einen ganzheitlich integrativen Ansatz verfolgt (von Uexküll) Günter 2008 Bereiche der Psychosomatik 1. Klassische psychosomatische Erkrankungen bei denen ein Einfluss psychischer Faktoren auf Auslösung, Verlauf, Rezidive, Endzustand etc. der Erkrankung gesehen wird (Alexanders „klassische“ sieben). 2. Psychische Erkrankungen mit ausgeprägter somatischer Symptomatik oder Erkrankungen aufgrund von dysfunktionalem Verhalten 3. Chronische somatische, schwere und lebensbedrohliche Erkrankungen, deren individuelle und familiäre Bewältigung mit dem Risiko psychischer Folgeerkrankungen und Belastungsreaktionen Günter 2008 Bereiche der Psychosomatik 1. Klassische psychosomatische Erkrankungen bei denen ein Einfluss psychischer Faktoren auf Auslösung, Verlauf, Rezidive, Endzustand etc. der Erkrankung gesehen wird (Alexanders „klassische“ sieben) - Ulcus duodeni - Colitis ulcerosa - Asthma bronchiale - Essenzielle Hypertonie - Dermatitis atopica - Hyperthyreose - Rheumatoide Arthritis Günter 2008 Bereiche der Psychosomatik 2. Psychische Erkrankungen mit ausgeprägter somatischer Symptomatik oder Erkrankungen aufgrund von dysfunktionalem Verhalten z.B. - Somatoforme Störungen - Gedeihstörungen, Anorexie und Drei-Monats-Koliken beim Säugling Anorexia nervosa und Bulimia nervosa Adipositas Rezidivierende Bauchschmerzen Psychosozialer Minderwuchs und Münchhausen-by-proxy Enuresis, Enkopresis Günter 2008 ESSSTÖRUNGEN BEI JUGENDLICHEN ¾ Anorexia nervosa (ca. 0,2 - 1%; ♀:♂ ¾ Bulimia nervosa (ca. 1 - 2%; ♀:♂ ¾ Adipositas (ca. 15 - 20%; ♀:♂ 10 : 1) 20 : 1) ca. 1 : 1,1-1,4) Günter 2008 Anorexia nervosa Symptome Körperliche Symptome Psychische Symptome ² ² ² ² ² ² ² ² ² ² ² ² ² ² ² ² Untergewicht Amenorrhoe Obstipation Lanugobehaarung, Haarausfall trockene, marmorierte Haut Karies niedriger Blutdruck, langsamer Herzschlag kalte, zyanotische Extremitäten Ödeme Elektrolytstörungen ² fehlende Krankheitseinsicht Körperschemastörung Überwertigkeit des Essens Angst vor dem Dickwerden oft sehr kontrollierte, ängstlichzwanghafte Persönlichkeit hohe Leistungsorientierung Günter 2008 Anorexia nervosa Diagnostische Leitlinien - - Körpergewicht mindestens 15% unter dem erwarteten oder Body Mass Index (BMI; Körpergewicht/Körpergröße2 in Metern) < 17,5 (ab 15 J.) Gewichtsverlust selbst herbeigeführt durch - Vermeidung von Essen und/oder - Erbrechen - Abführmittel - körperliche Aktivität - Appetitzügler oder Diuretika Körperschema-Störung mit überwertiger Idee, zu dick zu werden Amenorrhoe Verzögerung der pubertären Entwicklungsschritte bei frühem Beginn Günter 2008 Anorexia nervosa Probleme im Umgang - keine Krankheitseinsicht, Verleugnung - versprechen, dass alles besser wird, dass sie essen - kaschieren Abmagerung, körperlichen Zustand - leistungsorientiert, brav, gute Schulleistungen - still, zurückgezogen, Kontaktprobleme - Normorientierung - restriktive Familienatmosphäre, Abschottung von Problemen häufig später Behandlungsbeginn Günter 2008 Bulimia nervosa Symptome Körperliche Symptome Psychische Symptome ² ² ² ² ² ² ² ² ² ² Durchfall im Wechsel mit Obstipation Zahnschmelzdestruktionen, Karies Elektrolytentgleisungen Trommelschlegelfinger Speicheldrüsenvergrößerung ² depressive Verstimmung Verheimlichung suchtartiger Charakter dissoziale Störungen emotional instabile Persönlichkeit vom Borderline-Typ Suchterkrankung insbesondere Alkoholabhängigkeit Günter 2008 Adipositas Klinisches Bild und Genese - > 85. Perzentile der Hautfaltendicke - psychopathologisch uneinheitlich - nur geringerer Teil durch Depression bedingt („Kummerspeck“) - Essen als unspezifische „Konfliktlösungsstrategie“ - stark familiär bedingt: Essgewohnheiten - mangelnde körperliche Bewegung - Motivation zum Abnehmen häufig nur theoretisch vorhanden Günter 2008 Adipositas Prinzipien der Therapie - - Diätassistenz, Ernährungsberatung der gesamten Familie Veränderung des Essensverhaltens durch Stärkung der Selbstwahrnehmung und Selbstkontrollfähigkeiten detailliertes Erarbeiten von Essensplänen, Alternativen, Kontrolle der Essgeschwindigkeit, Wegfall von Snacks etc. Unterstützung der Wahrnehmung des eigenen Körpers durch körperorientierte Therapie körperliche Bewegung, Sport, Einschränkung übermäßigen Fernsehkonsums etc. Stärkung des Selbstwertgefühls - intensive Einbindung und Beratung der Familie ist zentral ohne Bereitschaft zur Diät bei adipösen Eltern wenig Erfolg beim Kind - „Ermahnungen“ und „gute“ Ratschläge bringen wenig - Günter 2008 Münchhausen-Syndrom (Asher 1951) Im engeren Sinne definiert durch die Trias: Vortäuschen oder simulieren von Krankheiten Pseudologia phantastica Pathologisches Behandlungswandern Im weiteren Sinne gleichgesetzt mit: Artifizieller Störung (= absichtliches Erzeugen oder Vortäuschen von körperlichen oder psychischen Symptomen oder Behinderungen, ICD 10: F68.1) Münchhausen-by-proxy-Syndrom (Meadow 1977) - Vortäuschen oder Erzeugen einer Krankheit beim Kind durch die Behandlung (meist) der Eltern „Hinterland of child abuse“ (Meadow 1977; in ICD 10 eingeordnet unter F74.8 = Kindesmisshandlung) Günter 2008 Bereiche der Psychosomatik 3. Chronische somatische, schwere und lebensbedrohliche Erkrankungen, deren individuelle und familiäre Bewältigung mit dem Risiko psychischer Folgeerkrankungen und Belastungsreaktionen, z.B. - maligne Erkrankungen, Stammzelltransplantation Mukoviszidose - Typ-I-Diabetes mellitus Morbus Crohn, Colitis ulcerosa - rheumatoide Arthritis Missbildungen, Behinderungen Günter 2008 < Em po Belastung durch chronische Erkrankungen ent m r we Peer Group Integration psychosoziale Entwicklung > e nc chronische Erkrankung Familie Com p lia Reaktion familiärer Funktionsstil · Selbstwertgefühl · Autonomieentwicklung · Körpergefühl · Innere Fantasiesysteme · Schulisch-berufliche Leistungsfähigkeit · Selbstwerterleben der Eltern · "Overprotection" · Schuldgefühle · Soziale Kontakte · Finanziell Günter 2008 Risikofaktoren und protektive Faktoren Risikofaktoren · Krankheitscharakteristika - schlechte Prognose - rezidivierender Verlauf - nicht sichtbare Beeinträchtigung - komplexe Therapien - chronische Schmerzen · Risikofaktoren beim Kind - männliches Geschlecht - Temperamentsfaktoren - kognitive Beeinträchtigung Protektive Faktoren · Familiäre Faktoren - familiäre Flexibilität - adaptive Copingmechanismen - soziale Integration - positive Zuschreibungen - gute Kommunikation · Soziale Unterstützung (modifiziert nach Patterson et al. 1996) Günter 2008 Ursachen für Empowerment-/ Compliancestörungen · Autonomiestreben (v.a. bei Jugendlichen) · Psychische Vorerkrankung · Krankheitsbedingte Depression · Familiäre/soziale Situation · Akute psychosoziale Krisen · Prognose · Ausdruck eines Anliegens/Problems (Hilferuf) · Berechtigte Kritik am Behandlungssetting (informierte Patienten) · Probleme im Management seitens der Zentren - mangelnde Konstanz der ärztlichen Ansprechpartner - Haltung der Ärzte - Kooperation zwischen den Ärzten (modifiziert nach Köllner et al. 1999) Günter 2008 „Take home“-Messages ¾ 1. Trauen Sie den Äußerungen des Kindes, dass alles halb so schlimm sei. Sie sind subjektiv wahr. Das Kind schützt sich mit verleugnenden Strategien vor depressiven Gefühlen und psychischer Angstüberflutung. ¾ 2. Sie sind aber nur die halbe Wahrheit. Übersehen Sie nicht, wie schwer das Kind innerlich arbeiten muss, um seine Zweifel in Schach zu halten, seine Verzweiflung und Angst zu regulieren und seine Kooperationsfähigkeit aufrechtzuerhalten. ¾ 3. Informed consent hilft in der Regel bei der Angstbewältigung, weil damit gewisse Orientierungspunkte gegeben werden. Zugleich wird das Meiste rasch wieder verdrängt. ¾ 4. Eltern sind extrem wichtig und es kommt darauf an, diese in ihrer eigenen psychischen Belastung zu stabilisieren. Aber vergessen Sie nicht, dass die Kinder ihre Eltern schonen und, dass Eltern geholfen werden muss, ihrem Kind auch in lebensbedrohlichen Situationen offen zu begegnen. Günter 2008 „Take home“-Messages ¾ 5. Denken Sie daran, welche enorme Bedeutung die persönliche Beziehung zu einzelnen Mitgliedern des Behandlungsteams für das Kind, sein Verhalten und seine innere Bewältigung der Erkrankung hat. ¾ 6. Auch die äußeren Rahmenbedingungen der Behandlung sind entscheidend für die Kooperation des Kindes, das „Empowerment“ und damit den Verlauf der Erkrankung. ¾ 7. Compliancestörungen haben vielfältige Ursachen und können wichtige Indikatoren für psychische und/oder soziale Probleme sein. ¾ 8. Chronische Erkrankungen stellen auch bei günstigem Verlauf chronische Belastungen dar. Man muss in der Begegnung mit den Patienten sich dessen immer bewusst sein, nicht unbedingt immer darüber reden. ¾ 9. Das Risiko für eine psychische Erkrankung ist bei schwer chronisch und lebensbedrohlich erkrankten Kindern erhöht, insbesondere, wenn psychische oder familiäre Vorbelastungen bestehen. Man sollte dann nicht versäumen, einen Spezialisten hinzuzuziehen. Günter 2008 Günter 2008