2 Soziale Zusammenhänge Du gehörst zu uns! – Soziale Bindungen und Inklusion Gruppen sind nicht nur dazu geschaffen, sich kollektiv gegen ein Außen zu wenden, sondern sie vermögen es auch, weitere Mitglieder in sich aufzunehmen. In ihnen entwickeln sich soziale Bindungen, d. h. emotionale Beziehungen zwischen Menschen. Der Prozess der Inklusion meint die Teilnahme von Menschen an Gruppenprozessen. Die Mechanismen der Inklusion haben u. a. zur Bildung großer Nationen mit vielen Millionen Menschen geführt. M 23 Gedränge im Fahrstuhl Den größten Teil ihres Lebens verbringen Menschen in Gesellschaft mit anderen und im Umgang mit ihnen. 5 Das Zusammensein reicht vom beziehungslosen Miteinander an Haltestellen oder in Fahrstühlen, anonymer Konkurrenz unterein10 ander wie in sportlichen Wettkämpfen, bis zu aggressivem Verhalten gegeneinander. Es kann aber auch helfendes, freundliches 15 oder auch einfach nur ein geselliges Miteinander bestehen. (…) Auch im beobachtbaren Verhalten lassen sich in solchen sozialen Situationen die Unter Unter20 schiede nachweisen: Sie betreffen einfache Distanzveränderungen unter Berücksichtigung des Bewegungstempos, Hinwendungsund Abwendungsgrade unterschiedlicher Stufen und Körperhaltung sowie den Aus25 druck (Gestik, Mimik und Stimmführung). Insbesondere bei der Kontaktaufnahme und Interaktion mit fremden Personen sind feinmaschigere Formen der nonverbalen Kommunikation zu beobachten wie Dauer des 30 Blickkontakts oder Häufigkeit des Kopfnickens. Auch im subjektiven Erleben eröffnet sich ein großes Spektrum an Unterschieden: in Gestalt der auftretenden Emotionen (wie Inter Inter35 esse und Neugier, Sympathie, Ekel, Überheblichkeit, Unsicherheit, Furcht, Wut, Sicherheit usw.) und Gedanken, die in den psychologiM 24 Niklas Luhmann (1927–1998), deutscher Soziologe. Mit seiner „Systemtheorie“ versucht Luhmann die moderne Gesellschaft in ihrem strukturierenden Funktionieren zu verstehen 46 Soziale Bindungen schen Modellbildungen als Anreize und Er Erwartungen dargestellt werden. So gehen Per Per40 sonen eher optimistisch oder pessimistisch zu einem Treffen, fühlen sich dort sicher oder unsicher, interpretieren eine Gesprächsunterbrechung als Desinteresse oder Schüchternheit des Gegenübers und reagieren darauf belei45 digt, hilflos oder unternehmungslustig. (…) Entwicklungsphasen der Vertrautheit: Primäre Vertrautheit: Das Kleinkind fasst Vertrauen zu den Pflegepersonen in seiner Familie, insbesondere zur Mutter. 50 Sekundäre Vertrautheit: Sie richtet sich auf einzelne Personen außerhalb der Familie, mit denen Freundschaften oder eine eheliche oder eheartige Intimpartnerschaft geknüpft wird. Die Sekundäre Vertrautheit setzt in der 55 Adoleszenz die Ablösung von dem bis zum Überdruss Vertrauten, den Eltern und Geschwistern, voraus. Tertiäre Vertrautheit: Das ist die Beziehung der Mutter – und in stabilen Familien auch 60 des Vaters – zu den Kindern. Dabei ist für die Mutter offenbar schon der Geburtsvorgang eine sensible Situation. Die gleiche Abfolge sozialer Bindungen und ihrer Bezugspersonen (Mutter, Vater, Gleichaltrige, gegenge65 schlechtliche Partner) hat die Forschungsgruppe um Harlow aufgrund zahlreicher Beobachtungen bei Primaten gemacht und mit der Bezeichnung „Liebe“ belegt. Kurt Sokolowski/Heinz Heckhausen: Soziale Bindung. Anschlussmotivation und Intimitätsmotivation, in: Jutta Heckhausen/Heinz Heck Heckhausen (Hg.): Motivation und Handeln, Heidelberg (Springer) 2006, S. 25 Inklusion/Exklusion – neue Leitunterscheidung? Der Begriff der Inklusion ist in den Geistesund Sozialwissenschaften zuerst vom USamerikanischen Soziologen Talcott Parsons (s. S. 120) geprägt worden. Mit dem Begriff 5 der Inklusion bezeichnete Parsons die gesell- schaftliche Einbeziehung von Individuen unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen vor allem im Modus von citizenship, d. h. (…) als im 19./20. Jahrhundert entstandenes En10 semble ziviler, politischer und sozialer Rech- Du gehörst zu uns! – Soziale Bindungen und Inklusion te, die gesellschaftliche Ungleichheit zwar nicht aufheben, aber einen gemeinsamen Referenzrahmen multipler gesellschaftlicher Zugehörigkeiten (Klassen, Ethnien, Religions15 gemeinschaften etc.) bilden. In diesem Konzept gab es (noch) keinen Gegen- oder Kontrastbegriff zu Inklusion. Historisch und praktisch-politisch bezog sich Parsons’ Konzept der Inklusion nicht zuletzt auf Probleme 20 des Bildungssystems mit dem Fokus auf gesellschaftliche Minderheiten oder diskriminierte Gruppen in den USA Mitte des 20. Jahrhunderts. Der französische Politiker und Sozialwissen25 schaftler René Lenoir publizierte 1974 unter dem Titel „Les exclus. Un français sur dix“ eine politische und sozialwissenschaftliche Diagnose, in der er Exklusion als weitreichenden Ausschluss von Individuen und großen 30 Teilen der Bevölkerung aus der Gesellschaft beschreibt. Hieran schloss sich seitdem eine vielfältige geistes- und sozialwissenschaftliche Thematisierung von Exklusionsphänomenen in der modernen Gesellschaft an. Da35 mit avancierte Exklusion allmählich zu einer neuen Kategorie der Analyse sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Diskriminierungen. Niklas Luhmann (s. S. 46) definierte im Rah40 men seiner an Parsons anschließenden soziologischen Systemtheorie Inklusion als Ver Verwendung der Eigenkomplexität psychischer Systeme in sozialen Systemen oder auch als Adressierung und Berücksichtigung von Per45 sonen als Individuen in sozialen Systemen, und zwar immer im Modus der Kommunikation. In kritischer Auseinandersetzung mit Parsons konzipierte Luhmann Inklusion aller1 2 3 4 5 6 7 8 dings differenztheoretisch in Form der Unterscheidung Inklusion/Exklusion. Damit verbindet sich eine erhöhte Aufmerksamkeit für die grundlegende Kontingenz (Zufälligkeit) von Inklusion sowie für jeweils spezifische Modi von Inklusion/Exklusion in Interaktio55 nen, Organisationen und in den gesellschaftlichen Funktionssystemen. Während demnach auf der Seite der Inklusion in den jeweils korrespondierenden sozialen Systemen Personen als Individuen adressiert und berück berück60 sichtigt werden, geht Exklusion typischerweise mit der Reduktion von Individuen auf „ihre“ Körper einher. Dabei lassen sich insbesondere für Exklusion kumulative Effekte beobachten, d. h. dass Exklusionen aus 65 unterschiedlichen sozialen Systemen sich wechselseitig verstärken (können). Nach Luhmann und Stichweh ergibt sich gegenwärtig insbesondere im Kontext von Weltgesellschaft, medial globalisierter Kom70 munikation und globalisierten Funktionssystemen eine gesellschaftstheoretisch erhöhte Relevanz der Form Inklusion/Exklusion. Und es wird sogar systemtheoretisch diskutiert, inwiefern Inklusion/Exklusion gegenwärtig 75 zu einer neuen gesellschaftlichen Leitunterscheidung avanciert und damit funktionale Differenzierung effektiv überformt, d. h. Inklusion/Exklusion zur neuen Primärdifferenzierung der Gesellschaft wird. Dies ist für die 80 soziologische Systemtheorie, die sich ja als Theorie der (primär) funktional differenzierten Gesellschaft versteht, durchaus bemerkenswert. Marcus Otto: Inklusion/Exklusion, Edumeres. 85 net, Juni 2012, in: http://www.edumeres.net (Georg-Eckert-Institut) (Zugriff: 19.5.2012) 50 Analysieren Sie die Situation im Fahrstuhl (Foto S. 46) unter Berücksichtigung der „Territorien des Selbst“. Führen Sie ein Gedankenexperiment durch: Was geschieht, wenn der Fahrstuhl stecken bleibt? Führen wir das Gedankenexperiment weiter: Hilfe ist nicht erreichbar, man wird wohl das Wochenende im Fahrstuhl verbringen müssen. Was geschieht? Analysieren Sie den Text zu den sozialen Bindungen (M 23). Erstellen Sie mithilfe der Methode der Soziometrie das Soziogramm einer sozialen Gruppe (z. B. einer Jugendgruppe). Analysieren Sie den Text Inklusion/Exklusion (M 24). Definieren Sie danach die Begriffe Inklusion, Integration, Exklusion und Separation. Der Begriff der Inklusion wird in der aktuellen Diskussion besonders auf die Inklusion im Schulsystem verengt. Recherchieren Sie in Ihrer Umgebung zur Inklusion im Schulsystem. Beschreiben Sie die Entwicklung mit den Begriffen der Soziologie. Recherchieren Sie im Internet zur Systemtheorie Niklas Luhmanns. Fertigen Sie ein kurzes Referat an, das diese Theorie zusammenfasst. Erläutern Sie auch, inwiefern diese Theorie Bedeutung für Inklusion/Exklusion hat. M 25 Inklusion Inklusion Exklusion Separation Integration Eigene Darstellung 47