I Elektrostatik 1 Einführung und Grundbegriffe Bei der Untersuchung der Eigenschaften ruhender geladener Körper erhielt man experimentell folgende Ergebnisse: Geladene Körper (Ladungen) üben eine Kraft aufeinander aus. Es gibt zwei Arten von Ladungen, positive und negative. Verschiedenartige Ladungen ziehen sich an, gleichartige stoßen sich ab. Die Kraft zwischen zwei Ladungen q1 und q2 ist proportional zu ihrem Produkt: F12 ∼ q1 q2 Die Kraft nimmt mit dem Quadrat des gegenseitigen Abstandes ab, d. h., es gilt: 1 F12 ∼ |r1 −r2 |2 Die elektrostatischen Kräfte sind Zentralkräfte. Wir können also für die Kraft, die von der Ladung 2 auf die Ladung 1 ausgeübt wird, schreiben: F12 = kq1 q2 r1 −r2 |r1 −r2 |3 F12 q1 r1 -r 2 r1 q2 F21 r2 Zum Coulombschen Kraftgesetz: Gleiche Ladungen stoßen sich ab. (1.1) k ist eine noch festzulegende Proportionalitätskonstante. Diese Gleichung, die die Kraftwirkung zwischen zwei Ladungen angibt, heißt Coulombsches Gesetz. Außerdem gilt das Superpositionsprinzip: Die elektrischen Kräfte, die auf eine Probeladung q1 von mehreren Ladungen q2 , q3 , . . . ausgeübt werden, überlagern sich ungestört, ohne daß die Anwesenheit der verschiedenen Ladungen die Kraft zwischen q1 und einer gewissen Ladung (z. B. q2 ) verändert. Das bedeutet insbesondere, daß die Kräfte zwischen den Ladungen nur Zweikörperkräfte sein können; Vielkörperkräfte treten nicht auf. Bei Vielkörperkräften hängt die Kraft zwischen zwei Körpern 1 und 2 auch von den Positionen r3 ,r4 , . . . ab. Zum Beispiel wäre eine Dreikörperkraft r1 −r2 3 2 (r1 −r2 ) 1 + q3 |r1 −r2 | q1 q2 |rs −r3 |3 F12 = kq1 q2 (1.2) Charles Coulomb (1736–1806) → S. 2 2 I Elektrostatik q3 q2 q1 r3 rs r1 r2 O Zur Erläuterung der Dreikörperkraft: Die Ladungen qi liegen bei den Ortsvektoren ri . Der Schwerpunktsvektor der Ladungen q1 und q2 ist rs . Hierbei ist rs der Schwerpunkt zwischen q1 und q2 . Diese Dreikörperkraft ginge – wie es sein sollte – für r3 → ∞ in die Zweikörperkraft (1.1) über. Mikroskopisch kann man sich das Zustandekommen einer Kraft (eines Kraftfeldes) durch virtuellen Austausch von Teilchen vorstellen. Sie werden „wie Tennisbälle zwischen den Zentren hin- und hergeworfen“ und binden auf diese Weise die Zentren aneinander. Bei Zweikörperkräften geschieht dieser Austausch nur zwischen zwei Zentren; bei Drei-(Mehr-)körperkräften auch im Umweg über das dritte Zentrum bzw. mehrere Zentren. Bei der Coulomb-Wechselwirkung werden Photonen, bei der schwachen Wechselwirkung Z- und W-Bosonen, bei der Gravitationswechselwirkung Gravitonen und in der starken (nuklearen) Wechselwirkung π -Mesonen (bzw. auf einer tieferen Ebene Gluonen) ausgetauscht. Die Photonen und Gravitonen haben Ruhemasse Null. Deshalb sind diese Kräfte von großer Reichweite. Dagegen beruht die kurze Reichweite der starken Wechselwirkung (∼ 2 fm = 2 · 1013 cm) auf der endlichen Ruhemasse der π -Mesonen. C HARLES C OULOMB Coulomb, Charles Augustin, französischer Physiker und Ingenieuroffizier, geb. Angoulême 14.6.1736, gest. Paris 23.8.1806, gehörte seit 1774 der Académie des Sciences als korrespondierendes Mitglied ihrer Nachfolgeinstitution, dem Institut National, seit 1795 als Vollmitglied an. Coulomb war als LieutenantColonel du génie bis 1776 auf Martinique und zuletzt in Paris als Inspecteur général de l’Université tätig. Außer ingenieurwissenschaftlichen Arbeiten (Erddruck) veröffentlichte Coulomb 1784 Untersuchungen über Torsionselastizität, deren Ergebnisse er bei der Konstruktion einer Drehwaage benutzte. Dieses meist nach H. Cavendish benannte Gerät, dessen Idee bereits 1750 John Mitchell (geb. 1724, gest. 1793) angegeben hatte, war in der von Coulomb entwickelten Form das erste brauchbare Instrument für quantitative elektrostatische und magnetostatische Messungen. Mit seiner Hilfe leitete Coulomb die nach ihm benannten elektrostatischen und magnetostatischen Grundgesteze ab (Coulombsche Gesetze). Sie besagen, daß zwei Elektrizitätsmengen (zwei punktförmig gedachte magnetische Polstärken) sich mit einer Kraft abstoßen oder anziehen, die in ihrem Produkt direkt und dem Quadrat ihres Abstandes umgekehrt proportional ist. Über die in diese Gesetze eingehenden Proportionalitätsfaktoren (die Dielektrizitätskonstante und die Permeabilitätskonstante) des umgebenden Mediums wurde erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts Klarheit geschaffen. Da die Coulombschen Gesetze formal dem Newtonschen Gravitationsgesetz gleichen, trugen sie wesentlich dazu bei, daß bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus auch die elektromagn. und die elektrodyn. Wirkungen als unvermittelt geltende Fernkräfte aufgefaßt und mathematisiert wurden. In der jungen Atomphysik des 20. Jahrhunderts galten Coulombkräfte als die einzigen im Bereich des Atoms wirksamen, bis dann neben sie die ladungsunabhängigen Wechselwirkungskräfte traten. Nach Coulomb ist auch die praktische Einheit der Elektrizitätsmenge benannt. [BR]. 1 Einführung und Grundbegriffe 3 Wir wissen heute, daß Pionen und Nukleonen aus Quarks aufgebaut sind (vgl. Bd. V der Vorlesungen). Die Quarks wechselwirken durch den Austausch von sogenannten Gluonen (engl. glue = Leim) miteinander. Gluonen sind eine Art schwerer Photonen, die untereinander intensiv wechselwirken und sich zu sogenannten Gluebällen verkoppeln können. Für die gewöhnliche Coulombkraft lautet die bei der Anwesenheit weiterer Ladungen qi auf die Ladung q1 ausgeübte Kraft: N F (ri ) = kq1 ∑ qi r1 −ri 3 i=2 |r1 −ri | (1.3) Das Coulombsche Gesetz gilt in dieser Form exakt nur für Punktladungen und für kugelförmige Körper, die homogen geladen sind. Für Ladungen mit beliebiger Gestalt treten Abweichungen auf, die wir später noch diskutieren werden. Man sollte sich dennoch wundern über die 1/r2 Abhängigkeit der Coulombkraft. Dieses spezielle Kraftgesetz hängt damit zusammen, daß die durch die Ladung ausgetauschten Photonen die Ruhemasse Null haben. Sie können dann nach der Heisenbergschen Unschärferelation (vgl. Band IV der Vorlesungen über Quantenmechanik) virtuell mit großer Reichweite R erzeugt werden. ΔEΔt ∼ Δt ∼ 3 a) 1 2 3 ΔE = Energieunschärfe ≈ μ c2 → Δt = Zeitunschärfe ΔE ≈ 2 μc (1.4) Letztere ist in unserem Fall die Lebensdauer des virtuellen Teilchens mit der Ruhemasse ΔE ≈ μ c2 . Daher ergibt sich die Reichweite R zu c R = cΔt ∼ . ΔE b) 1 2 a) Austausch von Teilchen bei Zweikörperwechselwirkung; b) Austausch von Teilchen bei einer Dreikörperkraft. Das macht die Langreichweitigkeit der Coulombkraft verständlich. Hätte das Photon eine Ruhemasse μ , dann müßte das Coulombsche Potential (vgl. die nächsten Seiten) vom Yukawa-Typ sein, nämlich V (r) ∼ e−r/λ . r (1.5) Dabei wäre λ = h/μ c die sogenannte Comptonwellenlänge des Photons mit der Ruhemasse μ . Für μ = 0 ergibt sich das Coulombpotential einer Punktladung. Die besten heutigen Präzisionsmessungen ergeben für die Photonenmasse μ < 10−48 g 4 I Elektrostatik oder μ c2 ≤ 5 · 10−16 eV. 1) Mit der „Ladung“ tritt eine neue physikalische Eigenschaft des Körpers auf. Wir haben nun die Möglichkeit, für die Ladung eine eigene Dimension einzuführen oder sie durch die in der Mechanik benutzten Dimensionen Masse, Länge und Zeit auszudrücken. Betrachten wir die Gleichung (1.1), so ist dort das Produkt kq1 q2 festgelegt. Die Dimension der einzelnen Faktoren Ladung und Proportionalitätskonstante kann unter dieser Bedingung noch frei gewählt werden. Je nach Wahl von k erhalten wir verschiedene Maßsysteme. In den Lehrbüchern werden heute im wesentlichen noch zwei verschiedene Maßsysteme benutzt, das Gaußsche und das „praktische“ (oder rationale) Maßsystem. Im Gaußschen Maßsystem erhält die Proportionalitätskonstante k den Zahlenwert 1 und bleibt dimensionslos. Die Ladung ist dann keine unabhängige Einheit mehr. Für sie folgt √ aus Gleichung (1.1) im CGS-System die Einheit 1 cm3/2 · g1/2 · s−1 = erg · cm, die auch als elektrostatische Einheit (esE) oder stat Coulomb bezeichnet wird. Diese explizite Zurückführung elektromagnetischer Größen auf die mechanischen Einheiten findet sich fast nur noch in älteren Lehrbüchern; in neueren Lehrbüchern der Atom- und Kernphysik und der Quantenmechanik, die das Gaußsche Maßsystem verwenden, geht man mit der Ladung wie mit einer unabhängigen Einheit um, eben der Gaußschen Ladungseinheit. Die physikalischen Zusammenhänge werden dadurch oft klarer. Setzen wir |r1 − r2 | = r, so erhält die Gleichung (1.1) die einfache Form: q1 q2 F= 2 (1.6) r Der entgegengesetzte Weg wird in den sogenannten praktischen Maßeinheiten eingeschlagen. Hier wird die Einheit durch die Ladung festgelegt. Aus meßtechnischen Gründen wird dazu eine Kraft benutzt, die zwei stromdurchflossene Leiter aufeinander ausüben. Laut Definition fließt die Strommenge von einem Ampere durch zwei parallele, geradlinige unendlich lange, in einem Meter Abstand befindliche Leiter, wenn zwischen ihnen die Kraft von 2 · 10−7 Newton pro Meter Länge wirkt. Das Produkt von Strom und Zeit gibt die Ladungsmenge an. 1 Coulomb (C) = 1 Amperesekunde (A · s) Durch diese (willkürliche) Definition erhält die Proportionalitätskonstante k sowohl eine Dimension als auch einen festen Zahlenwert, man setzt: 1 k= (1.7) 4π 0 Die Konstante 0 heißt Dielektrizitätskonstante des Vakuums und hat den Wert A·s 1 A·s 0 ≈ 8,854 · 10−12 ≈ (1.8) V·m 4π · 9 · 109 V · m 1) Wir verweisen auf das von W. Martienssen und seinen Mitarbeitern P. Kurowski und J. Wagner veranstaltete Seminar; Preprint des Physikalischen Instituts der Universität Frankfurt am Main (1974). Ein Labortest des Coulombgesetzes wird beschrieben von E. R. Williams, J. E. Faller und H. A. Hill „New Exp. Test of Coulomb’s Law: A Laboratory Upper Limit on the Photon Rest Mass“, Phys. Rev. Letters 26 (1971) 721. 1 Einführung und Grundbegriffe 5 (An dieser Stelle betrachten wir die Einheit Volt (V) als Abkürzung für 1 V = −3 1 N · m/C = 1 A−1 · m2 · kg · s ). Das Coulomb-Gesetz (1.6) lautet in diesem Maßsystem 1 q∗ q∗ F= · 12 2 (1.9) 4π 0 r Ein Vergleich von (1.9) mit (1.6) liefert dann den Zusammenhang der Ladungen im Gaußschen System (q) und im praktischen System (auch MKSA-System genannt; MKSA steht für Meter Kilogramm Sekunden Ampere). Er lautet: q∗ q= √ . 4π 0 Die Einheitsladung von q∗ ist 1 C = 1 A · s. Dieser entspricht im Gaußschen System 1 1 1C· √ ≈ 1A·s· 4π 0 1 A·s 4π 9 4π · 9 · 10 V · m V·m √ = 9 · 109 V · m · A · s = 1 A · s 9 · 109 A·s m3 · kg cm3 · g 9 = 9 · 10 = 9 · 1018 2 s s2 9√ 9 = 3 · 10 erg · cm = 3 · 10 cgs-Ladungseinheiten = 3 · 109 stat Coulomb Im Bereich der makroskopischen Physik und in der Experimentalphysik wird überwiegend das praktische Maßsystem benutzt; in der Atomphysik, der Kernphsik und in vielen Lehrbüchern der theoretischen Physik wird meist das Gaußsche Maßsystem benutzt. Wir verwenden hier ausschließlich das Gaußsche Maßsystem. Die elektrische Feldstärke: Zur Erläuterung des Begriffs der elektrischen Feldstärke gehen wir von der Kraft F aus, die eine Ladung q1 auf eine möglichst kleine Probeladung q ausübt. Als die von q1 am Ortr der Ladung q hervorgerufene Feldstärke definieren wir den Quotienten: E (r) = F (1.10) q Da im allgemeinen die Probeladung q das elektrische Feld verändert gehen wir zum Grenzfall einer verschwindend kleinen Ladung über: E = lim Δ F = dF Δq→0 Δq dq (1.11) Mit dem Coulombschen Gesetz (1.3) folgt für das elektrische Feld einer Punktladung q1 : E (r) = q1 (r −r1 ) (1.12) |r −r1 |3 6 I Elektrostatik b) a) +q1 -q1 a) E -Feld einer negativen Punktladung; E -Feld einer positiven Punktladung. b) Der elektrische Feldvektor E (r) einer positiven Punktladung ist also radial nach außen gerichtet; der einer negativen Punktladung radial nach innen. Für eine Summe von Punktladungen folgt nach dem Superpositionsprinzip (1.3) E (r) = ∑ qi (r −ri ) = ∑ Ei . 3 i |r −ri | i (1.13) +q3 -q2 r3 r2 +q1 E2 r1 r q E3 E1 E = Σi E i Die elektrische Feldstärke am Ort r für eine Summe von Punktladungen qi . ρ(r') dV' r-r ' r' E r Die Feldstärke E (r ) für eine kontinuierliche Ladungsverteilung (r ) am Ort r . Haben wir eine kontinuierliche Ladungsverteilung vorliegen, so müssen wir von der Summation über die Punktladungen zur Integration über die räumliche Verteilung übergehen. Wir setzen an die Stelle der Punktladung qi das Ladungselement (r ) dV . Hierbei ist die Ladungsdichte und dV das Volumenelement. E (r) = (r ) r −r dV (1.14) |r −r |3 Das Superpositionsprinzip haben wir hier stillschweigend angenommen. Seine Gültigkeit ist aber nicht selbstverständlich. Wie wir noch sehen werden ist es identisch mit der Annahme, daß die elektromagnetischen Grundgleichungen linear sind. 1 Einführung und Grundbegriffe 7 Das Gaußsche Gesetz: Wir bestimmen den Fluß der durch eine Punktladung erzeugten Feldstärke durch eine Oberfläche O, die diese Ladung einschließt. S r q E n E q E dF dΩ S n n θ C. F. Gauß (1777–1855) → unten dΩ S n q dΩ E E n Zum Gaußschen Gesetz: Die Normalkomponente des elektrischen Feldes wird über die Oberfläche O integriert. Falls die Ladung q innerhalb (außerhalb) von O liegt, ist der totale Raumwinkel um die Ladung gleich 4π (0). C ARL F RIEDRICH G AUSS Gauß, Carl Friedrich, geb. 30.4.1777 Braunschweig, gest. 23.2.1855 Göttingen. – Gauß war Sohn eines Tagelöhners und fiel bereits sehr früh durch seine außerord. mathem. Begabung auf. Der Herzog von Braunschweig übernahm seit 1791 die Kosten seiner Ausbildung. Gauß studierte 1795/98 in Göttingen und promovierte 1799 in Helmstedt. Seit 1807 war Gauß Direktor der Sternwarte und Professor an der Universität Göttingen. Alle Angebote, z. B. nach Berlin zu kommen, lehnte er ab. Gauß begann 1791 seine wissenschaftliche Tätigkeit mit Untersuchungen zum geometrisch-arithmetischen Mittel, zur Verteilung der Primzahlen und 1792 zu den Grundlagen der Geometrie. Bereits 1794 fand er die Methode der kleinsten Quadrate, und von 1795 datiert die intensive Beschäftigung mit der Zahlentheorie, z. B. dem quadratischen Reziprozitätsgesetz. Im Jahre 1796 veröffentlichte Gauß seine erste Arbeit. In ihr wurde der Beweis geführt, daß außer in den bekannten Fällen regelmäßige n-Ecke mit Zirkel und Lineal konstruiert werden können, wenn n eine Fermatsche Primzahl ist. Insbesondere trifft dies auf das 17-Eck zu. In seiner Dissertation von 1799 gab Gauß den Beweis des Fundamentalgesetzes der Algebra, dem er weitere folgen ließ. Aus dem Nachlaß ist bekannt, daß Gauß im gleichen Jahr bereits die Grundlagen der Theorie der elliptischen und der Modulfunktionen besaß. Das erste umfangreiche Werk, das Gauß 1801 veröffentlichte, sind seine Disquistiones Arithmeticae, die als Beginn der neuen Zahlentheorie gelten. In ihm findet sich z. B. die Theorie der quadratischen Kongruenzen und der erste Beweis des quadratischen Reziprozitätsgesetzes, des Theorema aureum sowie der Kreisteilungslehre. Seit etwa 1801 begann Gauß sich für die Astronomie zu interesssieren. Die Ergebnisse und Studien waren 1801 die Bahnberechnung des Planetoiden Ceres, die Untersuchungen 1809 und 1818 zu den säkulären Störungen und 1813 zur Anziehung des allgemeinen Ellipsoids. 1812 erschien die Abhandlung über die hypergeometrische Reihe, die die erste korrekte und systematische Konvergenzuntersuchung enthält. 8 I Elektrostatik Dazu wird die Punktladung q in den Koordinatenursprung gelegt. Dann ist der Fluß durch das Oberflächenelement dF gegeben durch E · n dF = q r · n dF, (1.15) r2 r n θ θ dF dΩ r 2 r dΩ Veranschaulichung der Projektion des Flächenelementes dF . dF wobei n der Normalenvektor auf der Fläche ist. Die Feldstärke, die durch die Fläche n dF fließt, ist jedoch gleich der durch die Fläche cos θ dF. Durch den Raumwinkel ausgedrückt, bedeutet dies (siehe Figur) cos θ dF = r2 dΩ . (1.16) Der Raumwinkel dΩ ist dabei die Zentralprojektion der Fläche dF auf die Einheitskugel. Das ist in der Figur veranschaulicht. Somit ist E · n dF = q cos θ dF 2 r q = 2 r2 dΩ = q dΩ (1.17) r Durch die Integration erhalten wir für den Fluß durch die Oberfläche dΩ r=1 Der Raumwinkel dΩ ist die Zentralprojektion der Fläche dF auf die Einheitskugel. O E · n dF = q dΩ = 4π q, (1.18) O denn die Integration über den Raumwinkel ergibt 4π . Wir kommen so zu dem Ergebnis E ·n dF = 4π q für q innerhalb der geschlossenen Oberfläche (1.19) 0 für q außerhalb der geschlossenen Oberfläche O C ARL F RIEDRICH G AUSS (Fortsetzung) Seit 1820 wandte sich Gauß verstärkt der Geodäsie zu. Die bedeutendste theoretische Leistung ist 1827 die Flächentheorie mit dem Theorema egregium. Auch die praktische Geodäsie betrieb Gauß, z. B. führte er sehr umfangreiche Messungen in den Jahren 1821/25 aus. Trotz solcher umfangreicher Arbeiten erschienen 1825 und 1831 seine Schriften über biquadratische Reste. Die zweite dieser Abhandlungen enthielt die Darstellung der komplexen Zahlen in der Ebene und eine neue Primzahlentheorie. In seinen letzten Jahren fand Gauß auch an physikalischen Fragen Gefallen. Wichtige Ergebnisse sind 1833/34 die mit W. Weber gemachte Erfindung des elektrischen Telegraphen und 1839/40 die Potentialtheorie, die ein neuer Zweig der Mathematik wurde. Viele wichtige Resultate von Gauß sind nur aus dem Tagebuch und den Briefen bekannt; z. B. war Gauß schon 1816 im Besitz der nichteuklidischen Geometrie. Der Grund für diese Verhalten, wichtige Ergebnisse nicht zu veröffentlichen, ist dem außerordentlich strengen Maßstab, den Gauß auch an die Form seiner Arbeiten legte, und in dem Versuch zu sehen, unnötige Auseinandersetzungen zu vermeiden. 1 Einführung und Grundbegriffe 9 Die Beziehung, die wir hier für eine Punktladung hergeleitet haben, wird als Gaußsches Gesetz bezeichnet. Schließt die Oberfläche mehrere Ladungen ein, dann ergibt sich nach dem Superpositionsprinzip E · n dF = O ∑ Ei · n dF = ∑ Ei · n dF = 4π ∑ qi i O i O (1.20) i bzw. bei kontinuierlicher Ladungsverteilung E · n dF = 4π (r) dV. (1.21) V O Das Oberflächenintegral auf der linken Seite wird mit dem Gaußschen Satz in ein Volumenintegral übergeführt: E · n dF = div E dV. Damit folgt div E dV = 4π (r) dV (1.23) (div E − 4π (r)) dV = 0. (1.24) V oder (1.22) V O V V Da dies für beliebige Volumen gilt, muß der Integrand Null sein, und wir erhalten die Beziehung div E (r) = 4π (r) (1.25) zwischen der Feldstärke und der sie hervorrufenden Ladungsverteilung. Danach sind die Ladungen im Raum die Quellen (positive Ladungen) und Senken (negative Ladungen) des elektrischen Feldes. Das elektrische Potential: Wir zeigen jetzt, daß sich das elektrische Feld als Gradient eines Potentials schreiben läßt. Es gilt E (r) = (r ) (r −r ) dV . (1.26) |r −r |3 V Differenzieren wir den Ausdruck 1/|r −r | nach der ungestrichenen Koordinater, so sehen wir, daß z. B. ∂ 1 ∂x (x − x )2 + (y − y )2 + (z − z )2 (x − x ) =− , ( (x − x )2 + (y − y )2 + (z − z )2 )3 also ∇ 1 1 (r −r ) ≡ grad =− . |r −r | |r −r | |r −r |3 (1.27) 10 I Elektrostatik Daraus folgt für die Feldstärke (Gl. (1.26)) E (r) = − (r )∇ 1 (r ) ∇ dV = − dV . |r −r | |r −r | (1.28) Die Feldstärke läßt sich also als Gradient eines Potentials herleiten. Das Potential Φ (r) ergibt sich als das Integral über die gesamte Ladungsverteilung: Φ (r) = (r ) dV . |r −r | (1.29) dV' P r-r' ρ(r') r' r V Zur Berechnung des Potentials einer Ladungswolke. O Mit dieser Definition können wir für die Feldstärke folgendermaßen schreiben E (r) = − grad Φ (r) ≡ −∇Φ (r). (1.30) Da die Rotation eines Gradienten stets verschwindet (∇ × ∇ = 0), folgt daraus rot E = 0. (1.31) Wir haben also gezeigt, daß sich das elektrostatische Feld durch die beiden Differentialgleichungen ∇ · E = 4π , ∇ × E = 0 (1.32) (1.33) beschreiben läßt. Die letzte Gleichung ist gleichbedeutend damit, daß elektrostatische Kräfte konservativ sind. Anders ausgedrückt: Das elektrostatische Feld ist wirbelfrei. Aus der Divergenz von Gleichung (1.30) erhalten wir unter Berücksichtigung von Gleichung (1.32) ∇ · E (r) = −∇2 Φ (r) = 4π (r) (1.34) Δ Φ (r) = −4π (r) (1.35) oder S. D. Poisson (1781–1840) → S. 11 P. S. Laplace (1749–1827) → S. 11 Diese Gleichung wird als Poissongleichung bezeichnet; im ladungsfreien Raum = 0 geht die Poissongleichung über in die Laplacegleichung Δ Φ (r) = 0 (1.36) 1 Einführung und Grundbegriffe Wir zeigen jetzt, daß ein Potential der Form 1 Φ (r) = |r −r | 11 (1.37) (Punktladung q = 1 gesetzt) die Poisson-Gleichung für eine Punktladung erfüllt. Dazu legen wir die Ladung in den Ursprung des Koordinatensystems (Φ (r) = 1/r) und wenden den Laplaceoperator darauf an. Für die Punktladung ist das Problem kugelsymmetrisch und wir brauchen nur die r-Koordinate zu betrachten. Für r = 0 erhalten wir durch einfaches Ausrechnen (für den Laplaceoperator in Kugelkoordinaten, siehe Aufgabe 11.6d im Band I der Vorlesungen über Mechanik) 1 1 ∂2 1 1 ∂2 (1) = 0 (1.38) Δ = r = r r ∂r2 r r ∂r2 Für r = 0 ist der Ausdruck jedoch nicht definiert. Wir müssen deswegen einen Grenzprozeß vornehmen; dazu integrieren wir Δ Φ in einer Umgebung von r = 0 und führen dieses Volumenintegral mit Hilfe des Gaußschen Satzes in ein Oberflächenintegral über, das von r unabhängig ist 1 1 Δ dV = div grad dV r r V V 1 = grad · n dF r O ∂ 1 = r2 dΩ = −4π . (1.39) ∂r r O S IMÉON D ENIS P OISSON Poisson, Siméon Denis, geb. 21.6.1781 Pithiviers, gest. 25.4.1840 Paris. – Poisson war Schüler der Ecole Polytechnique und nach Beendigung seines Studiums dort angestellt, seit 1802 als Professor. Poisson war Mitglied des Längenbüros und der Académie des Sciences. Seit 1787 war Poisson Pair von Frankreich. – Poisson arbeitete auf sehr vielen Gebieten, z. B. über allgemeine Mechanik, Wärmeleitung, über Potentialtheorie, Differentialgleichungen und über Wahrscheinlichkeitsrechnung. P IERRE S IMON L APLACE Laplace, Pierre Simon, geb 28(?).3.1749 Beaumont-en-Auge, gest. 5.3.1827 Paris. – Nach seinem Schulbesuch wurde Laplace Lehrer in Beaumont und durch Vermittlung von d’Alembert Professor an der Militärschule von Paris. Da Laplace seine politischen Überzeugungen schnell zu ändern pflegte, wurde er ebenso von Napoléon wie von Ludwig XVIII. mit Ehren überhäuft. – Von seinen Arbeiten sind seine „Analytische Theorie der Wahrscheinlichkeit“ (1799–1825) bedeutungsvoll geworden. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung enthält z. B. die Methode der erzeugenden Funktionen, die Laplace-Transformationen und die endgültige Formulierung des mechan. Materialismus. In der Himmelsmechanik finden sich z. B. die kosmologische Hypothese von Laplace, die Theorien von der Gestalt der Erde und von der Mondbewegung, Störungstheorie der Planeten und die Potentialtheorie der Laplaceschen Gleichung. 12 I Elektrostatik Wir haben also gezeigt, daß 1 Δ = 0, für r = 0 r und daß für das Volumenintegral die Beziehung 1 Δ dV = −4π r (1.40) (1.41) V für eine Umgebung von r = 0 gilt. P. A. M. Dirac (1902–1984) → unten Mathematische Ergänzung: Die δ -Funktion. An dieser Stelle ist es nützlich, die Diracsche Delta-Funktion einzuführen. Dirac führte seine δ -Funktion in Analogie zum Kroneckerschen δ ik -Symbol ein, als Verallgemeinerung für kontinuierliche Indizes und schrieb ∞ f (a) = f (x) δ (x − a) dx. (1.42) −∞ Die δ -Funktion δ (x−a) ordnet also der Funktion f (x) ihren Wert an der Stelle x = a zu; sie ist nur als Funktional durch den obigen Ausdruck definiert. Größen wie δ (x) sind keine Funktionen im üblichen Sinne. Sie sind im Rahmen des Riemannschen Integralbegriffs nicht integrierbar. Die δ -Funktion wird mathematisch exakt im Rahmen der Theorie der Distributionen 1) behandelt. Wir beschränken uns hier darauf, einige Eigenschaften der δ -Funktion mit heuristischem Beweis anzugeben. Man kann die Größe δ (x) als Grenzfall einer Funktion veranschaulichen, mit der Eigenschaft überall zu verschwinden und an der Stelle x = 0 so singulär zu werden, so daß 0+ δ (x) dx = 1, > 0. (1.43) 0− 1) Eine Distribution ist eine Verallgemeinerung des Funktionsbegriffes in der Funktionalanalysis; lineares Funktional über gewissen abstrakten Räumen. Die in der theoret. Physik wichtige Diracsche Deltafunktion ist z. B. eine Distribution aber keine Funktion. Die Theorie der Distribution wurde 1945–1950 von L. Schwartz entwickelt und hat seit dieser Zeiz in vielen Gebieten der Analysis, z. B. in der Theorie der Differentialgleichungen und in der modernen Physik Anwendungen gefunden. Eine besonders anschauliche Begründung der Distributionen wurde von den Darmstädter Mathematikern Laugwitz und Schmieden gegeben. PAUL A DRIEN M AURICE D IRAC Dirac, Paul Adrien Maurice, geb. 8.8.1902 in Bristol, gest. 20.10.1984 in Tallahassee/Florida USA. – Dirac studierte in Bristol, Cambridge und an mehreren ausländ. Universitäten. 1932 wurde er zum Professor der Mathematik berufen. Dirac gilt als einer der Begründer der Quantenmechanik. Das von ihm geschaffene mathematische Äquivalent besteht wesentlich aus einer nichtkommutativen Algebra zur Berechnung der Eigenschaften der Atome. Dirac entwickelte eine relativistische Theorie des Elektrons, sagte 1928 die Entdeckung des Positrons voraus und lieferte wesentliche Beiträge zur Quantenfeldtheorie. 1933 erhielt Dirac den Nobelpreis.