I Elektrostatik - Spektrum der Wissenschaft

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I
Elektrostatik
1
Einführung und Grundbegriffe
Bei der Untersuchung der Eigenschaften ruhender geladener Körper erhielt man
experimentell folgende Ergebnisse: Geladene Körper (Ladungen) üben eine Kraft
aufeinander aus. Es gibt zwei Arten von Ladungen, positive und negative. Verschiedenartige Ladungen ziehen sich an, gleichartige stoßen sich ab. Die Kraft zwischen
zwei Ladungen q1 und q2 ist proportional zu ihrem Produkt:
F12 ∼ q1 q2
Die Kraft nimmt mit dem Quadrat des gegenseitigen
Abstandes ab, d. h., es gilt:
1
F12 ∼
|r1 −r2 |2
Die elektrostatischen Kräfte sind Zentralkräfte. Wir können also für die Kraft, die von der Ladung 2 auf die
Ladung 1 ausgeübt wird, schreiben:
F12 = kq1 q2 r1 −r2
|r1 −r2 |3
F12
q1
r1 -r
2
r1
q2
F21
r2
Zum Coulombschen Kraftgesetz:
Gleiche Ladungen stoßen sich ab.
(1.1)
k ist eine noch festzulegende Proportionalitätskonstante.
Diese Gleichung, die die Kraftwirkung zwischen zwei Ladungen angibt, heißt
Coulombsches Gesetz.
Außerdem gilt das Superpositionsprinzip: Die elektrischen Kräfte, die auf eine
Probeladung q1 von mehreren Ladungen q2 , q3 , . . . ausgeübt werden, überlagern
sich ungestört, ohne daß die Anwesenheit der verschiedenen Ladungen die Kraft
zwischen q1 und einer gewissen Ladung (z. B. q2 ) verändert. Das bedeutet insbesondere, daß die Kräfte zwischen den Ladungen nur Zweikörperkräfte sein können;
Vielkörperkräfte treten nicht auf. Bei Vielkörperkräften hängt die Kraft zwischen
zwei Körpern 1 und 2 auch von den Positionen r3 ,r4 , . . . ab. Zum Beispiel wäre
eine Dreikörperkraft
r1 −r2
3
2
(r1 −r2 ) 1 + q3 |r1 −r2 | q1 q2 |rs −r3 |3 F12 = kq1 q2 (1.2)
Charles Coulomb
(1736–1806)
→ S. 2
2
I Elektrostatik
q3
q2
q1
r3
rs
r1
r2
O
Zur Erläuterung der Dreikörperkraft: Die
Ladungen qi liegen bei den Ortsvektoren
ri . Der Schwerpunktsvektor der Ladungen q1 und q2 ist rs .
Hierbei ist rs der Schwerpunkt zwischen q1 und q2 .
Diese Dreikörperkraft ginge – wie es sein sollte – für
r3 → ∞ in die Zweikörperkraft (1.1) über. Mikroskopisch kann man sich das Zustandekommen einer Kraft
(eines Kraftfeldes) durch virtuellen Austausch von Teilchen vorstellen. Sie werden „wie Tennisbälle zwischen
den Zentren hin- und hergeworfen“ und binden auf
diese Weise die Zentren aneinander. Bei Zweikörperkräften geschieht dieser Austausch nur zwischen zwei
Zentren; bei Drei-(Mehr-)körperkräften auch im Umweg über das dritte Zentrum bzw. mehrere Zentren. Bei
der Coulomb-Wechselwirkung werden Photonen, bei der
schwachen Wechselwirkung Z- und W-Bosonen, bei der
Gravitationswechselwirkung Gravitonen und in der starken (nuklearen) Wechselwirkung π -Mesonen (bzw. auf
einer tieferen Ebene Gluonen) ausgetauscht. Die Photonen und Gravitonen haben Ruhemasse Null. Deshalb
sind diese Kräfte von großer Reichweite. Dagegen beruht die kurze Reichweite der starken Wechselwirkung
(∼ 2 fm = 2 · 1013 cm) auf der endlichen Ruhemasse der
π -Mesonen.
C HARLES C OULOMB
Coulomb, Charles Augustin, französischer Physiker und Ingenieuroffizier, geb. Angoulême 14.6.1736,
gest. Paris 23.8.1806, gehörte seit 1774 der Académie des Sciences als korrespondierendes Mitglied ihrer
Nachfolgeinstitution, dem Institut National, seit 1795 als Vollmitglied an. Coulomb war als LieutenantColonel du génie bis 1776 auf Martinique und zuletzt in Paris als Inspecteur général de l’Université tätig.
Außer ingenieurwissenschaftlichen Arbeiten (Erddruck) veröffentlichte Coulomb 1784 Untersuchungen
über Torsionselastizität, deren Ergebnisse er bei der Konstruktion einer Drehwaage benutzte. Dieses meist
nach H. Cavendish benannte Gerät, dessen Idee bereits 1750 John Mitchell (geb. 1724, gest. 1793) angegeben hatte, war in der von Coulomb entwickelten Form das erste brauchbare Instrument für quantitative
elektrostatische und magnetostatische Messungen. Mit seiner Hilfe leitete Coulomb die nach ihm benannten
elektrostatischen und magnetostatischen Grundgesteze ab (Coulombsche Gesetze). Sie besagen, daß zwei
Elektrizitätsmengen (zwei punktförmig gedachte magnetische Polstärken) sich mit einer Kraft abstoßen
oder anziehen, die in ihrem Produkt direkt und dem Quadrat ihres Abstandes umgekehrt proportional
ist. Über die in diese Gesetze eingehenden Proportionalitätsfaktoren (die Dielektrizitätskonstante und die
Permeabilitätskonstante) des umgebenden Mediums wurde erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts Klarheit
geschaffen. Da die Coulombschen Gesetze formal dem Newtonschen Gravitationsgesetz gleichen, trugen
sie wesentlich dazu bei, daß bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus auch die elektromagn. und
die elektrodyn. Wirkungen als unvermittelt geltende Fernkräfte aufgefaßt und mathematisiert wurden. In
der jungen Atomphysik des 20. Jahrhunderts galten Coulombkräfte als die einzigen im Bereich des Atoms
wirksamen, bis dann neben sie die ladungsunabhängigen Wechselwirkungskräfte traten. Nach Coulomb ist
auch die praktische Einheit der Elektrizitätsmenge benannt. [BR].
1 Einführung und Grundbegriffe
3
Wir wissen heute, daß Pionen und Nukleonen aus Quarks aufgebaut sind (vgl.
Bd. V der Vorlesungen). Die Quarks wechselwirken durch den Austausch von
sogenannten Gluonen (engl. glue = Leim) miteinander. Gluonen sind eine Art
schwerer Photonen, die untereinander intensiv wechselwirken und sich zu sogenannten Gluebällen verkoppeln können. Für die gewöhnliche Coulombkraft lautet
die bei der Anwesenheit weiterer Ladungen qi auf die Ladung q1 ausgeübte Kraft:
N
F (ri ) = kq1 ∑ qi r1 −ri
3
i=2 |r1 −ri |
(1.3)
Das Coulombsche Gesetz gilt in dieser Form exakt nur
für Punktladungen und für kugelförmige Körper, die homogen geladen sind. Für Ladungen mit beliebiger Gestalt
treten Abweichungen auf, die wir später noch diskutieren
werden. Man sollte sich dennoch wundern über die 1/r2 Abhängigkeit der Coulombkraft. Dieses spezielle Kraftgesetz hängt damit zusammen, daß die durch die Ladung
ausgetauschten Photonen die Ruhemasse Null haben. Sie
können dann nach der Heisenbergschen Unschärferelation (vgl. Band IV der Vorlesungen über Quantenmechanik) virtuell mit großer Reichweite R erzeugt werden.
ΔEΔt ∼ Δt ∼
3
a)
1
2
3
ΔE = Energieunschärfe
≈ μ c2
→ Δt = Zeitunschärfe
ΔE
≈ 2
μc
(1.4)
Letztere ist in unserem Fall die Lebensdauer des virtuellen Teilchens mit der Ruhemasse ΔE ≈ μ c2 . Daher ergibt
sich die Reichweite R zu
c
R = cΔt ∼
.
ΔE
b)
1
2
a) Austausch von Teilchen bei
Zweikörperwechselwirkung;
b) Austausch von Teilchen bei
einer Dreikörperkraft.
Das macht die Langreichweitigkeit der Coulombkraft verständlich. Hätte das Photon eine Ruhemasse μ , dann müßte das Coulombsche Potential (vgl. die nächsten
Seiten) vom Yukawa-Typ sein, nämlich
V (r) ∼
e−r/λ
.
r
(1.5)
Dabei wäre λ = h/μ c die sogenannte Comptonwellenlänge des Photons mit der
Ruhemasse μ . Für μ = 0 ergibt sich das Coulombpotential einer Punktladung. Die
besten heutigen Präzisionsmessungen ergeben für die Photonenmasse μ < 10−48 g
4
I Elektrostatik
oder μ c2 ≤ 5 · 10−16 eV. 1) Mit der „Ladung“ tritt eine neue physikalische Eigenschaft des Körpers auf. Wir haben nun die Möglichkeit, für die Ladung eine eigene
Dimension einzuführen oder sie durch die in der Mechanik benutzten Dimensionen
Masse, Länge und Zeit auszudrücken. Betrachten wir die Gleichung (1.1), so ist
dort das Produkt kq1 q2 festgelegt. Die Dimension der einzelnen Faktoren Ladung
und Proportionalitätskonstante kann unter dieser Bedingung noch frei gewählt
werden. Je nach Wahl von k erhalten wir verschiedene Maßsysteme. In den Lehrbüchern werden heute im wesentlichen noch zwei verschiedene Maßsysteme benutzt,
das Gaußsche und das „praktische“ (oder rationale) Maßsystem. Im Gaußschen
Maßsystem erhält die Proportionalitätskonstante k den Zahlenwert 1 und bleibt
dimensionslos. Die Ladung ist dann keine unabhängige Einheit mehr. Für sie folgt
√
aus Gleichung (1.1) im CGS-System die Einheit 1 cm3/2 · g1/2 · s−1 = erg · cm,
die auch als elektrostatische Einheit (esE) oder stat Coulomb bezeichnet wird.
Diese explizite Zurückführung elektromagnetischer Größen auf die mechanischen
Einheiten findet sich fast nur noch in älteren Lehrbüchern; in neueren Lehrbüchern
der Atom- und Kernphysik und der Quantenmechanik, die das Gaußsche Maßsystem verwenden, geht man mit der Ladung wie mit einer unabhängigen Einheit
um, eben der Gaußschen Ladungseinheit. Die physikalischen Zusammenhänge
werden dadurch oft klarer. Setzen wir |r1 − r2 | = r, so erhält die Gleichung (1.1)
die einfache Form:
q1 q2
F= 2
(1.6)
r
Der entgegengesetzte Weg wird in den sogenannten praktischen Maßeinheiten
eingeschlagen. Hier wird die Einheit durch die Ladung festgelegt. Aus meßtechnischen Gründen wird dazu eine Kraft benutzt, die zwei stromdurchflossene
Leiter aufeinander ausüben. Laut Definition fließt die Strommenge von einem
Ampere durch zwei parallele, geradlinige unendlich lange, in einem Meter Abstand
befindliche Leiter, wenn zwischen ihnen die Kraft von 2 · 10−7 Newton pro Meter
Länge wirkt. Das Produkt von Strom und Zeit gibt die Ladungsmenge an.
1 Coulomb (C) = 1 Amperesekunde (A · s)
Durch diese (willkürliche) Definition erhält die Proportionalitätskonstante k sowohl eine Dimension als auch einen festen Zahlenwert, man setzt:
1
k=
(1.7)
4π 0
Die Konstante 0 heißt Dielektrizitätskonstante des Vakuums und hat den Wert
A·s
1
A·s
0 ≈ 8,854 · 10−12
≈
(1.8)
V·m
4π · 9 · 109 V · m
1)
Wir verweisen auf das von W. Martienssen und seinen Mitarbeitern P. Kurowski und J. Wagner
veranstaltete Seminar; Preprint des Physikalischen Instituts der Universität Frankfurt am Main
(1974). Ein Labortest des Coulombgesetzes wird beschrieben von E. R. Williams, J. E. Faller und
H. A. Hill „New Exp. Test of Coulomb’s Law: A Laboratory Upper Limit on the Photon Rest Mass“,
Phys. Rev. Letters 26 (1971) 721.
1 Einführung und Grundbegriffe
5
(An dieser Stelle betrachten wir die Einheit Volt (V) als Abkürzung für 1 V =
−3
1 N · m/C = 1 A−1 · m2 · kg · s ). Das Coulomb-Gesetz (1.6) lautet in diesem
Maßsystem
1
q∗ q∗
F=
· 12 2
(1.9)
4π 0 r
Ein Vergleich von (1.9) mit (1.6) liefert dann den Zusammenhang der Ladungen im
Gaußschen System (q) und im praktischen System (auch MKSA-System genannt;
MKSA steht für Meter Kilogramm Sekunden Ampere). Er lautet:
q∗
q= √
.
4π 0
Die Einheitsladung von q∗ ist 1 C = 1 A · s. Dieser entspricht im Gaußschen
System
1
1
1C· √
≈ 1A·s· 4π 0
1
A·s
4π
9
4π · 9 · 10 V · m
V·m √
= 9 · 109 V · m · A · s
= 1 A · s 9 · 109
A·s
m3 · kg
cm3 · g
9
= 9 · 10
= 9 · 1018
2
s
s2
9√
9
= 3 · 10 erg · cm = 3 · 10 cgs-Ladungseinheiten
= 3 · 109 stat Coulomb
Im Bereich der makroskopischen Physik und in der Experimentalphysik wird
überwiegend das praktische Maßsystem benutzt; in der Atomphysik, der Kernphsik
und in vielen Lehrbüchern der theoretischen Physik wird meist das Gaußsche
Maßsystem benutzt. Wir verwenden hier ausschließlich das Gaußsche Maßsystem.
Die elektrische Feldstärke: Zur Erläuterung des Begriffs der elektrischen Feldstärke gehen wir von der Kraft F aus, die eine Ladung q1 auf eine möglichst
kleine Probeladung q ausübt. Als die von q1 am Ortr der Ladung q hervorgerufene
Feldstärke definieren wir den Quotienten:
E (r) = F
(1.10)
q
Da im allgemeinen die Probeladung q das elektrische Feld verändert gehen wir
zum Grenzfall einer verschwindend kleinen Ladung über:
E = lim Δ F = dF
Δq→0
Δq
dq
(1.11)
Mit dem Coulombschen Gesetz (1.3) folgt für das elektrische Feld einer Punktladung q1 :
E (r) = q1 (r −r1 )
(1.12)
|r −r1 |3
6
I Elektrostatik
b)
a)
+q1
-q1
a) E -Feld einer negativen Punktladung;
E -Feld einer positiven Punktladung.
b) Der elektrische Feldvektor E (r) einer positiven Punktladung ist also radial nach
außen gerichtet; der einer negativen Punktladung radial nach innen. Für eine
Summe von Punktladungen folgt nach dem Superpositionsprinzip (1.3)
E (r) = ∑ qi (r −ri ) = ∑ Ei .
3
i |r −ri |
i
(1.13)
+q3
-q2
r3
r2
+q1
E2
r1
r
q
E3
E1
E = Σi E i
Die elektrische Feldstärke am Ort r für eine Summe von Punktladungen qi .
ρ(r')
dV'
r-r
'
r'
E
r
Die Feldstärke E (r ) für eine kontinuierliche Ladungsverteilung (r ) am Ort r .
Haben wir eine kontinuierliche Ladungsverteilung vorliegen, so müssen wir von der Summation über die Punktladungen zur Integration über die räumliche Verteilung
übergehen. Wir setzen an die Stelle der Punktladung qi
das Ladungselement (r ) dV . Hierbei ist die Ladungsdichte und dV das Volumenelement.
E (r) = (r ) r −r dV (1.14)
|r −r |3
Das Superpositionsprinzip haben wir hier stillschweigend angenommen. Seine Gültigkeit ist aber nicht selbstverständlich. Wie wir noch sehen werden ist es identisch
mit der Annahme, daß die elektromagnetischen Grundgleichungen linear sind.
1 Einführung und Grundbegriffe
7
Das Gaußsche Gesetz:
Wir bestimmen den Fluß der durch eine Punktladung erzeugten Feldstärke durch
eine Oberfläche O, die diese Ladung einschließt.
S
r
q
E
n
E
q
E
dF
dΩ
S
n
n
θ
C. F. Gauß
(1777–1855)
→ unten
dΩ
S
n
q
dΩ
E
E
n
Zum Gaußschen Gesetz: Die Normalkomponente des elektrischen Feldes
wird über die Oberfläche O integriert.
Falls die Ladung q innerhalb (außerhalb)
von O liegt, ist der totale Raumwinkel um
die Ladung gleich 4π (0).
C ARL F RIEDRICH G AUSS
Gauß, Carl Friedrich, geb. 30.4.1777 Braunschweig, gest. 23.2.1855 Göttingen. – Gauß war Sohn eines
Tagelöhners und fiel bereits sehr früh durch seine außerord. mathem. Begabung auf. Der Herzog von
Braunschweig übernahm seit 1791 die Kosten seiner Ausbildung. Gauß studierte 1795/98 in Göttingen
und promovierte 1799 in Helmstedt. Seit 1807 war Gauß Direktor der Sternwarte und Professor an der
Universität Göttingen. Alle Angebote, z. B. nach Berlin zu kommen, lehnte er ab. Gauß begann 1791 seine
wissenschaftliche Tätigkeit mit Untersuchungen zum geometrisch-arithmetischen Mittel, zur Verteilung der
Primzahlen und 1792 zu den Grundlagen der Geometrie. Bereits 1794 fand er die Methode der kleinsten
Quadrate, und von 1795 datiert die intensive Beschäftigung mit der Zahlentheorie, z. B. dem quadratischen
Reziprozitätsgesetz. Im Jahre 1796 veröffentlichte Gauß seine erste Arbeit. In ihr wurde der Beweis geführt,
daß außer in den bekannten Fällen regelmäßige n-Ecke mit Zirkel und Lineal konstruiert werden können,
wenn n eine Fermatsche Primzahl ist. Insbesondere trifft dies auf das 17-Eck zu. In seiner Dissertation
von 1799 gab Gauß den Beweis des Fundamentalgesetzes der Algebra, dem er weitere folgen ließ. Aus
dem Nachlaß ist bekannt, daß Gauß im gleichen Jahr bereits die Grundlagen der Theorie der elliptischen
und der Modulfunktionen besaß. Das erste umfangreiche Werk, das Gauß 1801 veröffentlichte, sind seine
Disquistiones Arithmeticae, die als Beginn der neuen Zahlentheorie gelten. In ihm findet sich z. B. die
Theorie der quadratischen Kongruenzen und der erste Beweis des quadratischen Reziprozitätsgesetzes, des
Theorema aureum sowie der Kreisteilungslehre. Seit etwa 1801 begann Gauß sich für die Astronomie zu
interesssieren. Die Ergebnisse und Studien waren 1801 die Bahnberechnung des Planetoiden Ceres, die
Untersuchungen 1809 und 1818 zu den säkulären Störungen und 1813 zur Anziehung des allgemeinen
Ellipsoids. 1812 erschien die Abhandlung über die hypergeometrische Reihe, die die erste korrekte und
systematische Konvergenzuntersuchung enthält.
8
I Elektrostatik
Dazu wird die Punktladung q in den Koordinatenursprung gelegt. Dann ist der Fluß durch das Oberflächenelement dF gegeben durch
E · n dF = q r · n dF,
(1.15)
r2 r
n
θ
θ
dF
dΩ
r
2
r dΩ
Veranschaulichung der Projektion des
Flächenelementes dF .
dF
wobei n der Normalenvektor auf der Fläche ist. Die Feldstärke, die durch die Fläche n dF fließt, ist jedoch gleich
der durch die Fläche cos θ dF. Durch den Raumwinkel
ausgedrückt, bedeutet dies (siehe Figur)
cos θ dF = r2 dΩ .
(1.16)
Der Raumwinkel dΩ ist dabei die Zentralprojektion der
Fläche dF auf die Einheitskugel. Das ist in der Figur
veranschaulicht.
Somit ist
E · n dF = q cos θ dF
2
r
q
= 2 r2 dΩ = q dΩ
(1.17)
r
Durch die Integration erhalten wir für den Fluß durch die
Oberfläche
dΩ
r=1
Der Raumwinkel dΩ ist die
Zentralprojektion der Fläche
dF auf die Einheitskugel.
O
E · n dF = q
dΩ = 4π q,
(1.18)
O
denn die Integration über den Raumwinkel ergibt 4π . Wir kommen so zu dem
Ergebnis
E ·n dF = 4π q für q innerhalb der geschlossenen Oberfläche (1.19)
0 für q außerhalb der geschlossenen Oberfläche
O
C ARL F RIEDRICH G AUSS (Fortsetzung)
Seit 1820 wandte sich Gauß verstärkt der Geodäsie zu. Die bedeutendste theoretische Leistung ist 1827 die
Flächentheorie mit dem Theorema egregium. Auch die praktische Geodäsie betrieb Gauß, z. B. führte er
sehr umfangreiche Messungen in den Jahren 1821/25 aus. Trotz solcher umfangreicher Arbeiten erschienen
1825 und 1831 seine Schriften über biquadratische Reste. Die zweite dieser Abhandlungen enthielt die
Darstellung der komplexen Zahlen in der Ebene und eine neue Primzahlentheorie. In seinen letzten Jahren
fand Gauß auch an physikalischen Fragen Gefallen. Wichtige Ergebnisse sind 1833/34 die mit W. Weber
gemachte Erfindung des elektrischen Telegraphen und 1839/40 die Potentialtheorie, die ein neuer Zweig
der Mathematik wurde. Viele wichtige Resultate von Gauß sind nur aus dem Tagebuch und den Briefen
bekannt; z. B. war Gauß schon 1816 im Besitz der nichteuklidischen Geometrie. Der Grund für diese
Verhalten, wichtige Ergebnisse nicht zu veröffentlichen, ist dem außerordentlich strengen Maßstab, den
Gauß auch an die Form seiner Arbeiten legte, und in dem Versuch zu sehen, unnötige Auseinandersetzungen
zu vermeiden.
1 Einführung und Grundbegriffe
9
Die Beziehung, die wir hier für eine Punktladung hergeleitet haben, wird als
Gaußsches Gesetz bezeichnet. Schließt die Oberfläche mehrere Ladungen ein, dann
ergibt sich nach dem Superpositionsprinzip
E · n dF =
O
∑ Ei · n dF = ∑ Ei · n dF = 4π ∑ qi
i
O
i O
(1.20)
i
bzw. bei kontinuierlicher Ladungsverteilung
E · n dF = 4π
(r) dV.
(1.21)
V
O
Das Oberflächenintegral auf der linken Seite wird mit dem Gaußschen Satz in ein
Volumenintegral übergeführt:
E · n dF =
div E dV.
Damit folgt
div E dV = 4π
(r) dV
(1.23)
(div E − 4π (r)) dV = 0.
(1.24)
V
oder
(1.22)
V
O
V
V
Da dies für beliebige Volumen gilt, muß der Integrand Null sein, und wir erhalten
die Beziehung
div E (r) = 4π (r)
(1.25)
zwischen der Feldstärke und der sie hervorrufenden Ladungsverteilung. Danach
sind die Ladungen im Raum die Quellen (positive Ladungen) und Senken (negative
Ladungen) des elektrischen Feldes.
Das elektrische Potential: Wir zeigen jetzt, daß sich das elektrische Feld als
Gradient eines Potentials schreiben läßt. Es gilt
E (r) = (r ) (r −r ) dV .
(1.26)
|r −r |3
V
Differenzieren wir den Ausdruck 1/|r −r | nach der ungestrichenen Koordinater,
so sehen wir, daß z. B.
∂
1
∂x (x − x )2 + (y − y )2 + (z − z )2
(x − x )
=− ,
( (x − x )2 + (y − y )2 + (z − z )2 )3
also
∇
1
1
(r −r )
≡ grad
=−
.
|r −r |
|r −r |
|r −r |3
(1.27)
10
I Elektrostatik
Daraus folgt für die Feldstärke (Gl. (1.26))
E (r) = −
(r )∇
1
(r )
∇
dV
=
−
dV .
|r −r |
|r −r |
(1.28)
Die Feldstärke läßt sich also als Gradient eines Potentials herleiten. Das Potential
Φ (r) ergibt sich als das Integral über die gesamte Ladungsverteilung:
Φ (r) =
(r )
dV .
|r −r |
(1.29)
dV'
P
r-r'
ρ(r')
r'
r
V
Zur Berechnung des Potentials
einer Ladungswolke.
O
Mit dieser Definition können wir für die Feldstärke folgendermaßen schreiben
E (r) = − grad Φ (r) ≡ −∇Φ (r).
(1.30)
Da die Rotation eines Gradienten stets verschwindet (∇ × ∇ = 0), folgt daraus
rot E = 0.
(1.31)
Wir haben also gezeigt, daß sich das elektrostatische Feld durch die beiden
Differentialgleichungen
∇ · E = 4π ,
∇ × E = 0
(1.32)
(1.33)
beschreiben läßt. Die letzte Gleichung ist gleichbedeutend damit, daß elektrostatische Kräfte konservativ sind. Anders ausgedrückt: Das elektrostatische Feld ist
wirbelfrei. Aus der Divergenz von Gleichung (1.30) erhalten wir unter Berücksichtigung von Gleichung (1.32)
∇ · E (r) = −∇2 Φ (r) = 4π (r)
(1.34)
Δ Φ (r) = −4π (r)
(1.35)
oder
S. D. Poisson
(1781–1840)
→ S. 11
P. S. Laplace
(1749–1827)
→ S. 11
Diese Gleichung wird als Poissongleichung bezeichnet; im ladungsfreien Raum
= 0 geht die Poissongleichung über in die Laplacegleichung
Δ Φ (r) = 0
(1.36)
1 Einführung und Grundbegriffe
Wir zeigen jetzt, daß ein Potential der Form
1
Φ (r) =
|r −r |
11
(1.37)
(Punktladung q = 1 gesetzt) die Poisson-Gleichung für eine Punktladung erfüllt.
Dazu legen wir die Ladung in den Ursprung des Koordinatensystems (Φ (r) = 1/r)
und wenden den Laplaceoperator darauf an. Für die Punktladung ist das Problem
kugelsymmetrisch und wir brauchen nur die r-Koordinate zu betrachten. Für r = 0
erhalten wir durch einfaches Ausrechnen (für den Laplaceoperator in Kugelkoordinaten, siehe Aufgabe 11.6d im Band I der Vorlesungen über Mechanik)
1
1 ∂2
1
1 ∂2
(1) = 0
(1.38)
Δ =
r
=
r
r ∂r2
r
r ∂r2
Für r = 0 ist der Ausdruck jedoch nicht definiert. Wir müssen deswegen einen
Grenzprozeß vornehmen; dazu integrieren wir Δ Φ in einer Umgebung von r = 0
und führen dieses Volumenintegral mit Hilfe des Gaußschen Satzes in ein Oberflächenintegral über, das von r unabhängig ist
1
1
Δ
dV = div grad
dV
r
r
V
V
1
= grad
· n dF
r
O
∂ 1
=
r2 dΩ = −4π .
(1.39)
∂r r
O
S IMÉON D ENIS P OISSON
Poisson, Siméon Denis, geb. 21.6.1781 Pithiviers, gest. 25.4.1840 Paris. – Poisson war Schüler der Ecole
Polytechnique und nach Beendigung seines Studiums dort angestellt, seit 1802 als Professor. Poisson war
Mitglied des Längenbüros und der Académie des Sciences. Seit 1787 war Poisson Pair von Frankreich. –
Poisson arbeitete auf sehr vielen Gebieten, z. B. über allgemeine Mechanik, Wärmeleitung, über Potentialtheorie, Differentialgleichungen und über Wahrscheinlichkeitsrechnung.
P IERRE S IMON L APLACE
Laplace, Pierre Simon, geb 28(?).3.1749 Beaumont-en-Auge, gest. 5.3.1827 Paris. – Nach seinem Schulbesuch wurde Laplace Lehrer in Beaumont und durch Vermittlung von d’Alembert Professor an der
Militärschule von Paris. Da Laplace seine politischen Überzeugungen schnell zu ändern pflegte, wurde
er ebenso von Napoléon wie von Ludwig XVIII. mit Ehren überhäuft. – Von seinen Arbeiten sind seine
„Analytische Theorie der Wahrscheinlichkeit“ (1799–1825) bedeutungsvoll geworden. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung enthält z. B. die Methode der erzeugenden Funktionen, die Laplace-Transformationen
und die endgültige Formulierung des mechan. Materialismus. In der Himmelsmechanik finden sich z. B. die
kosmologische Hypothese von Laplace, die Theorien von der Gestalt der Erde und von der Mondbewegung,
Störungstheorie der Planeten und die Potentialtheorie der Laplaceschen Gleichung.
12
I Elektrostatik
Wir haben also gezeigt, daß
1
Δ
= 0,
für r = 0
r
und daß für das Volumenintegral die Beziehung
1
Δ dV = −4π
r
(1.40)
(1.41)
V
für eine Umgebung von r = 0 gilt.
P. A. M. Dirac
(1902–1984)
→ unten
Mathematische Ergänzung: Die δ -Funktion. An dieser Stelle ist es nützlich, die
Diracsche Delta-Funktion einzuführen. Dirac führte seine δ -Funktion in Analogie
zum Kroneckerschen δ ik -Symbol ein, als Verallgemeinerung für kontinuierliche
Indizes und schrieb
∞
f (a) =
f (x) δ (x − a) dx.
(1.42)
−∞
Die δ -Funktion δ (x−a) ordnet also der Funktion f (x) ihren Wert an der Stelle x = a
zu; sie ist nur als Funktional durch den obigen Ausdruck definiert. Größen wie δ (x)
sind keine Funktionen im üblichen Sinne. Sie sind im Rahmen des Riemannschen
Integralbegriffs nicht integrierbar. Die δ -Funktion wird mathematisch exakt im
Rahmen der Theorie der Distributionen 1) behandelt. Wir beschränken uns hier
darauf, einige Eigenschaften der δ -Funktion mit heuristischem Beweis anzugeben.
Man kann die Größe δ (x) als Grenzfall einer Funktion veranschaulichen, mit der
Eigenschaft überall zu verschwinden und an der Stelle x = 0 so singulär zu werden,
so daß
0+
δ (x) dx = 1,
> 0.
(1.43)
0−
1)
Eine Distribution ist eine Verallgemeinerung des Funktionsbegriffes in der Funktionalanalysis;
lineares Funktional über gewissen abstrakten Räumen. Die in der theoret. Physik wichtige Diracsche
Deltafunktion ist z. B. eine Distribution aber keine Funktion. Die Theorie der Distribution wurde
1945–1950 von L. Schwartz entwickelt und hat seit dieser Zeiz in vielen Gebieten der Analysis,
z. B. in der Theorie der Differentialgleichungen und in der modernen Physik Anwendungen gefunden. Eine besonders anschauliche Begründung der Distributionen wurde von den Darmstädter
Mathematikern Laugwitz und Schmieden gegeben.
PAUL A DRIEN M AURICE D IRAC
Dirac, Paul Adrien Maurice, geb. 8.8.1902 in Bristol, gest. 20.10.1984 in Tallahassee/Florida USA. – Dirac
studierte in Bristol, Cambridge und an mehreren ausländ. Universitäten. 1932 wurde er zum Professor der
Mathematik berufen. Dirac gilt als einer der Begründer der Quantenmechanik. Das von ihm geschaffene
mathematische Äquivalent besteht wesentlich aus einer nichtkommutativen Algebra zur Berechnung der
Eigenschaften der Atome. Dirac entwickelte eine relativistische Theorie des Elektrons, sagte 1928 die
Entdeckung des Positrons voraus und lieferte wesentliche Beiträge zur Quantenfeldtheorie. 1933 erhielt
Dirac den Nobelpreis.
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