Die Unterscheidung Bildwissenschaft und Bildtheorie

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FLUSSER STUDIES 10
Lambert Wiesing
Fotografieren als phänomenologische Tätigkeit.
Zur Husserl-Rezeption bei Flusser1
Vorbemerkung
Dass Vilém Flusser seine Philosophie selbst in die Tradition der Phänomenologie Edmund Husserls stellt, lässt sich leicht belegen. Schon in mehreren Titeln seiner Aufsätze und Monografien
finden sich diesbezüglich eindeutige Hinweise: Man denke an die 1993 – also posthum – erschienene Monographie Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen und die im selben Jahr herausgegebene Aufsatzsammlung Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien; in diesem
Band findet sich ferner der wieder abgedruckte Aufsatz Für eine Phänomenologie des Fernsehens von
1974. Doch obwohl diese Schriften von Flusser und den Herausgebern als Phänomenologie betitelt werden, kann man nicht gerade sagen, dass Flusser in ihnen auch explizit darauf eingehen
würde, was er denn genau unter Phänomenologie versteht. Es bleibt – und dies gilt nicht nur für
die genannten Schriften – bei der Selbstbezeichnung; es fehlt die gewünschte, eingehende Selbsterklärung seines Philosophie- und Phänomenologie-Begriffs. Möchte man dennoch versuchen,
Flussers Verhältnis zu Husserl zu rekonstruieren, dann wird eine andere Schrift, das ebenfalls
posthum erschienene Buch Gesten. Versuch einer Phänomenologie von 1994 wichtig. Diesem GestenBuch kann für eine Darstellung des Verhältnisses von Flusser zu Husserl eine so zentrale Bedeutung zugesprochen werden, weil Flusser hier seine eigenen Überlegungen nicht bloß im Titel in
die phänomenologische Tradition stellt, sondern weil er darüber hinaus die These entfaltet, dass
der Akt des Fotografierens eine Art Phänomenologie mit bildlichen Mitteln ist. Der Fotograf ist
für Flusser ein Phänomenologe – zumindest dann, wenn er im Sinne Flussers ein guter Fotograf
ist. Es ist gerade der Essay „Die Geste der Fotografie“ aus diesem Buch, welcher nicht nur verwendet werden kann, um einen Aspekt von Flussers Fotografie-Theorie kennen zu lernen, sondern dieser Essay eignet sich mindestens genauso gut, um Flussers Phänomenologie-Verständnis
darzustellen – aus einem ganz einfachen Grund: Wenn jemand die These aufstellt, dass Fotografie eine phänomenologische Tätigkeit ist, sagt er nicht nur etwas über die Fotografie aus, sondern
Dieser Artikel ist ein grundlegend überarbeiteter und ergänzter Teil eines Aufsatzes, der unter dem Titel erschien:
„Edmund Husserl in der Medienphilosophie“, in: Philosophie in der Medientheorie, hrsg. von Alexander Roesler
und Bernd Stiegler, München 2008, S. 145-157.
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indirekt auch über das, was er unter Phänomenologie versteht. Deshalb lohnt es sozusagen in
einem doppelten Sinne sich diesem Essay zuzuwenden und ihn bewusst mit der Frage zu konfrontieren: Was hätte Husserl wohl zu dieser Adaption und Transformation der Phänomenologie
gesagt? Es ist keineswegs selbstverständlich, dass Husserl auch der Meinung von Flusser gewesen
wäre, dass Fotografieren ein genuin phänomenologischer Akt ist. Damit wird nicht in Zweifel
gezogen, dass es letztlich vollkommen unerheblich ist, ob Husserl dieser Meinung gewesen wäre
oder nicht. Auch der Begriff der Phänomenologie kann sich entwickeln und verändern, und Flusser möchte ja vielleicht gerade hierzu einen Beitrag leisten, der eben darin seine Stärke hat, dass er
Husserls Phänomenologie-Verständnis auch verändert, erweitert oder umbaut. Aber allein schon,
um dieser Sichtweise zustimmen oder dem widersprechen zu können, gilt es Flussers Position
durch einen Vergleich mit Husserl genauer zu bestimmen.
Intentionalität und Geste
Die Husserl-Rezeption bei Flusser ist in nicht wenigen Fällen dadurch versteckt, dass Flusser sich
nicht an die Terminologie von Husserl hält. Mit seiner typischen Abneigung gegen Fremdwörter
und Fachbegriffe verwendet Flusser so zum Beispiel den Begriff der Geste ziemlich genau für
das, was Husserl einen intentionalen Akt nennt: Die Geste ist eine gerichtete Tätigkeit eines Subjektes. In einer Geste bin ich – eben wie beim Zeigen – auf etwas gerichtet und sie entspricht damit dem, was für Husserl ein intentionaler Akt ist. Der entscheidende Punkt ist aber: Genauso,
wie verschiedene Typen von intentionalen Akten bei Husserl ein intentionales Objekt jeweils in
einer spezifischen Weise bewusst werden lassen, so sind bei Flusser verschiedene Gesten in einer
für sie spezifischen Weise auf etwas gerichtet. Hier zeigt sich, dass Flusser einen der Grundgedanken der Phänomenologie Husserls aufgreift und transformiert. Es geht um folgenden Schritt:
Für Husserl hat das Objekt des Bewusstseins, zum Beispiel das der Phantasie, weil es ein Objekt
dieses intentionalen Zustandes ist, immer bestimmte Eigenschaften, die sich aus der Gegebenheitsweise dieses Bewusstseinszustandes ergeben. Phänomenologie ist für Husserl nun nichts
anderes als die Beschreibung der spezifischen Gegebenheitsweise von bestimmten intentionalen
Zuständen, das heißt der Weise, wie ein Objekt in einer bestimmten Art des Bewusstseins dem
Subjekt erscheint, gegeben oder zumute ist. Dass zum Beispiel ein phantasiertes Objekt für den
Phantasierenden nicht wirklich gegenwärtig ist, betrifft eine der notwendigen Weisen, wie Phantasieobjekte bewusst werden können – und genau dieser Gedanke, von notwendigen Gegebenheitsweisen, taucht bei Flusser wieder auf, wenn er ganz analog argumentiert, dass verschiedene
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Gesten jeweils durch eine für sie spezifische Weise des Gerichtet-seins ausgezeichnet sind. So wie
man für Husserl im Zustand der Wahrnehmung, der Phantasie oder des Urteilens in einer bestimmten Weise ein Bewusstsein von etwas hat, eben in einer Weise, die die Wahrnehmung, das
Phantasieren oder das Urteilen definiert, so hat man für Flusser zum Beispiel beim Telefonieren,
Rasieren oder Fotografieren in einer bestimmten Weise ein Bewusstsein von etwas. Anders gesagt: Flusser will mit diesen Gesten das gleiche machen wie Husserl mit intentionalen Akten. Man
kann mit aller Deutlichkeit sagen, dass das erstmal die grundsätzliche Affinität von Flusser zu
Husserl ausmacht und Flusser rechtfertigt, sein Gesten-Buch im Untertitel „Versuch einer Phänomenologie“ zu nennen. Beide wollen beschreiben, wie in Zuständen des Gerichtet-seins Objekte gegenwärtig sein können – beide wollen dies allerdings bei ausgesprochen unterschiedlichen
Zuständen. Der Schritt von der Intentionalität zur Geste ist nicht nur ein terminologischer, sondern auch ein programmatisch inhaltlicher Schritt: Mit dem Begriff der Geste sollen alltägliche
Handlungen in ihrer intentionalen Struktur entdeckt und zum Thema einer Phänomenologie
werden – Handlungen, an deren Beschreibung Husserl wohl kaum gedacht hätte: wie das Schreiben, Pflanzen, Zerstören, Pfeifenrauchen, Musikhören oder eben auch Fotografieren.
Bestimmte Fotografie und bestimmte Philosophie
Flusser macht es seinen Lesern nicht immer leicht; nicht nur, dass er kaum Fachbegriffe verwendet, darüber hinaus werden Begriffe oft in einer Weite verwendet, die seine These schwer nachvollziehbar werden lässt. Dies kann man zumindest sagen, wenn man sich den Vergleich von
Fotografie und Philosophie in dem Essay „Die Geste der Fotografie“ anschaut. Das, was Flusser
dort über Fotografie und über Philosophie sagt, ist nur unter der Voraussetzung sinnvoll und
dann vielleicht überzeugend, dass man sowohl bei der Fotografie als auch bei der Philosophie
jeweils an ganz bestimmte Arten denkt. An welche es jeweils zu denken gilt, wird aber nicht einmal kurz am Anfang der Darstellung hilfreicherweise gesagt, sondern wird im besten Fall erst
durch den Vergleich selbst deutlich. Würde jemand während der Lektüre des Essays an den Stellen, wo von Philosophie die Rede ist, an Werke von Kant denken, so könnte er den Thesen von
Flusser wohl kaum zustimmen. Und wer bei dem, was Flusser über Fotografie sagt, an die Art
des Fotografierens denkt, wie Paparazzi und Laien sie praktizieren, wird ebenfalls nicht verstehen
können, was Flusser sagen will. Deshalb gilt es, seine These schrittweise zu konkretisieren – und
zwar mit der leitenden Prämisse, möglichst eine solche Interpretation zu entwickeln, in der das,
was er von der Fotografie und der Philosophie sagt, sinnvoll wird.
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Für Flusser ist Philosophie identisch mit Phänomenologie. Seine These lautet nicht, Fotografieren ist wie jedes Philosophieren, sondern Fotografieren hat speziell mit dem phänomenologischen Philosophieren eine Strukturähnlichkeit. Eine ganz analoge Einschränkung ist für die Vorstellung vom Fotografieren notwendig. Flusser denkt ausschließlich speziell an die Art des Fotografierens, in der ein Fotograf durch das Objektiv schauend das zu fotografierende Objekt – in
Flussers Beispiel ein Mann – umkreist, in der der Fotograf also angesichts des Objekts vor- und
zurückgeht, und durch ein ständiges Sich-Bewegen, durch ein anhaltendes, probierendes Abtasten den geeigneten Punkt und Moment für das Drücken des Auslösers sucht; dabei immer mit
dem Blick durch die Kamera, deren Objektiv zudem während dieses Vorganges ständig eingestellt wird. Man muss ganz klar sagen, dass es Flusser – wie er anderen Orts selbst bestätigt – in
seinen Überlegungen zur Fotografie nicht um die Produkte des Fotografierens, also nicht um die
fertigen Fotografien geht: „Ich habe mir weniger Fotografien angesehen als vielmehr versucht,
mit den Apparaten zu sehen.“ (Flusser 1996: S. 35) Für diese spezielle Art des bewussten Fotografierens, an welche Flusser denkt, hat der Fotograf – so beschreibt er es in der späten Bochumer
Vorlesung von 1991 – „von Standpunkt zu Standpunkt zu springen“ (Flusser 2005: 1b04).
Akzeptiert man diese zwei Einschränkungen, dass Flusser über eine bestimmte Art der Philosophie und über eine bestimmte Art des Fotografierens redet, dann kann man seine Hauptthese
so formulieren: Das Bewusstsein eines Fotografen während der Arbeit gleicht in seiner intentionalen Struktur dem Bewusstsein eines Phänomenologen während der Arbeit. Beiden Tätigkeiten
liegt dieselbe Einstellung eines Subjektes zur Welt zugrunde. Die entscheidende Gemeinsamkeit
besteht darin, dass es in beiden Fällen zu einer Reflexion auf die intentionale Struktur des eigenen
Aktes kommt. Denn der springende Punkt ist: Der Fotograf schaut durch seine Kamera in einer
ganz anderen Weise, wie zum Beispiel jemand, der durch ein gewöhnliches Fernrohr schaut;
selbst wenn der Fotograf ein langes Teleobjektiv verwendet, das als Fernrohr taugen würde. Der
Unterschied ist, dass der Fotograf sich nicht bloß eine Sache anschaut. Er blickt zwar auch durch
die Kamera wie durch ein Fernrohr auf ein Objekt, aber darüber hinaus reflektiert er stets gleichzeitig über die Weise, wie das Objekt in der Kamera ihm als ein Gegenwärtiges erscheint – und
genau hierin soll die Strukturaffinität zum Philosophen bestehen. In diesem Vorgang ist dem
Fotografen – wie dem Phänomenologen im Vorgang des phänomenologischen Beschreibens –
eine Art doppelte Aufmerksamkeit eigen: Einerseits achtet er auf ein Objekt, andererseits auf sich
selbst, und das heißt, auf seine Relation zum Objekt. Obwohl der Außenstehende meint, der Fotograf ist der Mittelpunkt, von dem sich seine Intentionalität nur auf das Objekt richtet, ist dies
nicht treffend: „Der Mann mit seinem Apparat befindet sich nur für uns, die wir ihn beobachten,
im Mittelpunkt der Situation, jedoch nicht für sich selber. Er glaubt sich außerhalb der Situation,
denn er beobachtet sie.“ (Flusser 1994: 104) Dies ist das Besondere an der Geste des Fotografie-
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rens: Während des Aktes ist der Fotograf intentional ausgerichtet, aber ist nicht ganz und gar bei
der Sache; er thematisiert nicht nur das Objekt, sondern – eben wie der Phänomenologe – auch
die Weise, wie das Objekt in diesem Moment gegenwärtig ist. Denn als Fotograf schaut man sich
nicht nur an, was man sieht, sondern auch, wie das gegeben ist, was man sieht. Im Gerichtet-sein
wird darauf geachtet, wie man gerichtet ist – und genau das ist der Inbegriff einer phänomenologischen Reflexion auf den Akt selbst. Eben das, was Husserl in der Ideen-Schrift so prägnant die
„Blickwendung“ (Husserl 1980: 115) nennt. Und für Flusser bedeutet dies: Ein Fotograf (in seinem Sinne) und ein Philosoph (in seinem Sinne) gehen während ihrer Tätigkeit in der gleichen
Weise mit ihrem intentionalen Zustand um; beide reflektieren die Gegebenheitsweise des intentionalen Objektes, woraus Flusser die Konsequenz zieht, die Fotografie als ein Medium der Philosophie zu bezeichnen: „Die Geste des Fotografen ist eine philosophische Geste, oder anders
gesagt: Seitdem die Fotografie erfunden wurde, ist es möglich geworden, nicht bloß im Medium
der Wörter, sondern auch der Fotografien zu philosophieren.“ (Flusser 1994: 106)
Fotografieren: die perfekte Epoché
phänomenologische Maschine“ und die Phänomenologie als „die philosophische Form der Fotografie“ (Flusser 2005: 1b04) zu bezeichnen. Der Grund für diese Parallelisierung ist offenkundig:
Der Fotograf betrachtet den Gegenstand nicht als von mir unabhängiges Objekt, also nicht ‚objektiv‘, sondern als ein Phänomen, welches das ist, was es ist, weil es ein Objekt für mich ist. Im
Blick durch den Fotoapparat während des Fotografierens wird die zu fotografierende Person
nicht mehr als ein realer Mensch behandelt, sondern als ein Objekt für mich, das bedeutet: als ein
Phänomen. Dieser Vorgang beim Fotografieren basiert auf einer Möglichkeit, die für Flusser zutiefst menschlich ist und darin besteht, „uns von unserer Beobachterrolle zu lösen und uns selber
als einen Teil der Situation zu betrachten“ (Flusser 1994: 105). Würde Flusser seinen Vergleich in
der Terminologie Husserls beschreiben, dann könnte er sagen: Der Fotograf gibt durch Urteilsenthaltung (epoché) seine natürliche Einstellung auf und nimmt eine phänomenologische Einstellung ein. Flusser weiß, dass dies die Beschreibung in der Fachterminologie wäre, denn er spielt
darauf an, indem er eine kurze Anmerkung in den Raum stellt, dass sich die Phänomenologen,
wenn sie in ihren Beschreibungen von einer besonderen, phänomenologischen ‚Einstellung‘ reden, eines typischen Begriffs aus der Fotografie bedienen und damit schon ihre eigenen Überlegungen in Analogie zur fotografischen Situation gebildet und beschrieben haben: Das heißt aber,
der Fotograf ist im Akt des Fotografierens nicht an dem Gegenstand an sich interessiert und be-
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schreibt das Objekt selbst, sondern nimmt eine Einstellung ein, in welcher der Gegenstand als ein
Phänomen für ihn betrachtet werden kann: „Es handelt sich also nicht um eine ‚objektive‘ Beschreibung, sofern wir damit eine vom Standpunkt des Forschers unabhängige Beschreibung
meinen. Ganz im Gegenteil, die hier beschriebene Situation wird durch den Forscher ‚eingestellt‘.
Aber das Wort ‚eingestellt‘ ist natürlich ein fotografischer Begriff, der beweist, wie schwierig es
ist, das fotografische Modell während der Beobachtung beiseite zu lassen. Das impliziert, dass
Fotografien keine ‚objektiven‘ Beschreibungen sind.“ (Flusser 1994: 103)
Der Gedanke ist eindeutig: Fotografien sind nicht objektiv, weil sie zeigen, wie etwas für jemanden war oder ist. Auf dieses Wie der Erscheinung kann der Fotograf nur achten, wenn er
seine lebensweltliche Verbindung mit dem zu fotografierenden Objekt – beide sind schließlich
Teil derselben Welt – einklammert und für unwichtig erklärt. Der Fotograf behandelt das zu fotografierende Objekt nicht als ein Teil der Welt, von der auch der Fotograf ein leiblicher Teil ist,
sondern als Objekt für ein Bild. Der Fotograf übt Epoché und nimmt sich aus der Situation heraus. Man könnte Flusser noch ergänzen und mit Husserl sagen: Die brutale Widernatürlichkeit,
welche in der Einstellung der phänomenologischen Epoché angelegt ist, zeigt sich lebensweltlich
geradezu beispielhaft genau dann, wenn der Fotograf ein Unfallopfer durch die Kamera betrachtet, um die blutende Person herumspringt, in die Knie geht, an dem Objektiv dreht und fotografiert und fotografiert – und dabei die Reaktion einklammert, die man von ihm als Mitmenschen
derselben Wirklichkeit erwartet: nämlich die zu helfen. In der Epoché ist eben auch die Moral
eingeklammert: „Im Gegensatz zur Mehrzahl der anderen Gesten ist die Geste des Fotografierens nicht direkt darauf aus, die Welt zu verändern oder mit den anderen zu kommunizieren,
sondern zielt darauf ab, etwas zu betrachten und das Sehen zu fixieren, es ‚formal‘ zu machen.“
(Flusser 1994: 106)
Von der Phänomenologie zur Phänomenographie
Offensichtlich ist Flusser eine großartige Entdeckung einer ungeahnten Strukturaffinität zwischen
dem Akt des Fotografierens und dem Akt des Philosophierens gelungen. Das muss mit aller
Deutlichkeit gewürdigt werden; auch wenn die Überlegung nur für eine ganz bestimmte Art des
Fotografierens im Vergleich mit einer ganz bestimmten Art des Philosophierens überzeugt. Doch
wenn man die Frage stellt Was hätte wohl Husserl dazu gesagt?, dann wird man darauf hinweisen
müssen, welche Aspekte der Husserlschen Phänomenologie in Flussers Phänomenologie nicht
rezipiert werden; ja was von Flusser nicht als Teil dessen verstanden wird, was für Philosophie im
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Allgemeinen und für Phänomenologie im Besonderen notwendig ist. Gerade am Vergleich von
Fotografie und Philosophie lässt sich zeigen, dass in Flussers Phänomenologie Husserls Idee von
Phänomenologie auf einen Teilaspekt reduziert wird. Dies kann ausgesprochen gewinnbringend
sein, doch es ist auch sicher, dass Husserl aus einem ganz einfachen Grund niemals der Meinung
gewesen wäre, die Fotografie könne selbst zu einem Medium der phänomenologischen Philosophie werden, da für Husserl Bilder jeglicher Art nicht zu einem Medium werden können, in dem
sich Behauptungen und Allgemeinheitsansprüche aufstellen lassen. Genau diese sind das Ziel der
Phänomenologie nach Husserl. Denn das Programm der Phänomenologie ist der dezidierte Versuch, wie Husserl schon im Titel eines Aufsatzes von 1911 klarstellt, „Philosophie als strenge
Wissenschaft“ zu verwirklichen. Für Husserls Vorstellungen über die Phänomenologie ist es
notwendig, dass es ihr gelingt oder zumindest, dass versucht wird, Aussagen von überindividueller und zeitloser Allgemeingültigkeit zu formulieren. Man wird in den kaum noch überschaubaren
Schriften von Husserl wohl keine Stelle finden, in der er daran zweifelt, dass der Phänomenologe
seine Arbeit mit einem universellen Geltungsanspruch angehen muss. Phänomenologie ist erst
dann verwirklicht, wenn Ergebnisse erlangt sind, deren Wahrheit mit der gleichen Gewissheit und
Evidenz behauptet werden kann, wie dies bei Sätzen der Mathematik oder Logik der Fall ist.
Deshalb heißt die Phänomenologie eben auch Phänomenologie: Sie will eine Logik der Phänomene sein; sie will die logisch notwendigen Strukturen der phänomenalen Wirklichkeit beschreiben.
Das ist mit einer Fotografie schlicht und ergreifend unmöglich, weil eine Fotografie überhaupt
keine Aussage formulieren kann – weder eine mit Geltungsanspruch noch eine ohne.
Der Unterschied zwischen Flussers und Husserls Phänomenologieverständnis lässt sich auf
den Punkt bringen, wenn man mit dem Begriff „Phänomenographie“ arbeitet; dann ist der Unterschied eindeutig: Flusser versteht Phänomenologie nicht wie Husserl als Logik der Phänomene, sondern als eine Phänomenographie, das heißt als Beschreibung von Phänomenen. Er kann sich
für diesen Teilaspekt durchaus auf Husserl berufen; es gibt unzählige, programmatische Aufforderungen zur Phänomenographie bei Husserl – so zum Beispiel: „keine ‚Theorien‘ machen, alle
theoretischen Vorüberzeugungen fernhalten, das ‚Gegebene‘ beschreiben, genau wie es gegeben
ist“ (Husserl 1973: 196). Doch damit kommt man auch zum Unterschied: Bei Husserl sind derartige Aufforderungen zur theoriefreien Beschreibung allerdings Aussagen in einem mehrstufigen
Programm; wobei diese Stufe eben als Aufforderung zur Phänomenographie bezeichnet werden
kann. Es ist genau dieser erste Teil, den Flusser – und zwar ausschließlich – von Husserl rezipiert,
ja auch erneut selbst programmatisch vorstellt; in diesen Sätzen klingt Flusser als würde Husserl
selbst schreiben: „Dinge so anzusehen, als sähe man sie zum ersten Mal, ist eine Methode, an
ihnen bisher unbeachtete Aspekte zu entdecken. Es ist eine gewaltige und fruchtbare Methode,
aber sie erfordert strenge Disziplin und kann darum leicht mißlingen. Die Disziplin besteht im
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Grunde in einem Vergessen, einem Ausklammern der Gewöhnung an das angesehene Ding, also
aller Erfahrung und Kenntnis von dem Ding. Dies ist schwierig, weil es bekanntlich leichter ist zu
lernen als zu vergessen. Aber selbst wenn diese Methode des absichtlichen Vergessens nicht gelingen sollte, so bringt ihre Anwendung doch Überraschendes zu Tage, und zwar tut sie das eben
dank unserer Unfähigkeit, sie diszipliniert anzuwenden.“ (Flusser 1993: 53) Derartige Aufforderungen zur Phänomenographie sind ganz im Sinne Husserls – und ist der Aspekt in der Phänomenologie, den Flusser von Husserl rezipiert: Es gilt die Sache „so ins Auge zu fassen, als ob uns
nichts an ihr bekannt wäre und wir sie ganz naiv zum ersten Mal sähen.“ (Flusser 1994: 103)
Im Unterschied zu Husserl bleibt Flusser methodisch bei diesem Prinzip der theoriefreien
Beschreibung stehen. Anders gesagt: Wenn man sich anschaut, was Flusser als Phänomenologie
bezeichnet, dann entspricht das genau dem, was nach Husserl für Phänomenologie notwendig,
aber nicht hinreichend ist. Auch Husserl will die besondere Gegebenheitsweise von intentionalen
Objekten beschreiben, natürlich erhebt der Phänomenologe seine eigene Erfahrung zum alleinigen Maßstab, natürlich wird die Phänomenologie in der ersten Person Singular betrieben – aber
das ist für Husserl eine Voraussetzung, sozusagen die erste Stufe, auf die aus seiner Sicht in der
Phänomenologie noch eine weitere Stufe folgt: die Wesensschau. Denn das Ziel des Phänomenologen besteht darin, auf der nächsten Stufe durch Variationen in den beschriebenen Phänomenen
logische Prinzipien zu entdecken, ohne die diese Phänomene nicht die Phänomene sein können,
die sie sind. Derartige logische Notwendigkeiten hat und wollte Flusser weder in der Fotografie
noch bei anderen Phänomenen beschrieben bzw. beschreiben. Im Werk von Flusser gibt es keine
Hinweise, dass er Husserls Idee einer Wesensschau für sinnvoll hält und ihr in seiner Form der
Phänomenologie einen Platz einräumt. Doch ohne Wesenschau, ohne die Bestimmung von
Notwendigkeiten, bleibt für Husserl eine Phänomenologie im bloß Phänomenographischen stecken. Insofern kann man sagen, will Husserl von der Phänomenologie schlicht mehr als Flusser
meint, dass es für Phänomenologie notwendig ist – und es dürfte genau die Frage sein Ist es sinnvoll von einer Phänomenologie noch mehr als Beschreibung zu verlangen?, bei deren Beantwortung ihre Meinungen auseinander gehen.
Husserls Urteil über eine bloße Phänomenographie à la Flusser wäre wahrscheinlich recht
negativ gewesen: In der Philosophie haben diese Beschreibungen, die nicht das Wesentliche und
Prinzipielle herausarbeiten, höchstens propädeutischen Charakter. Hier folgt Husserl ganz dem
klassischen Bild von Philosophie als Prinzipienwissenschaft. Das Werk von Flusser ist hingegen
in dieser Hinsicht von einer anderen Grundauffassung getragen, die heute zweifelsohne mehr
Verbreitung genießt, von einer eher kulturwissenschaftlichen, vielleicht sogar postmodernen
Sicht, welche die Beschreibung der Phänomene nicht als Vorstufe zur Bestimmung von Prinzipien versteht, sondern eben als den einzig möglichen Ersatz für die überholte und verfehlte phi-
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losophische Suche nach zeitlosen und kulturinvarianten Prinzipien. Und genau deshalb kann für
Flusser die Fotografie zur Philosophie werden: Sie teilt mit der Philosophie den reflexivselbstbewussten Charakter – und als ein Kulturphänomen betrachtet ist die Philosophie auch
nicht mehr. Deshalb ist die Fotografie genau und schon dann eine Phänomenologie, wenn sich in
ihr die gleiche Geste beschreiben lässt. Das gelingt Flusser bestens: Flusser bestimmt keine Prinzipien der Fotografie oder Philosophie, sondern beschreibt die in ihnen gleichermaßen zu beobachtenden Haltungen, Einstellungen und Gesten, die nicht mehr, aber auch nicht weniger sind
als eine gemeinsame Weise des In-der-Welt-seins.
Literaturverzeichnis
Vilém Flusser (2005), Bochumer Vorlesungen,. hg. v. Silvia Wagnermaier und Siegfried Zielinski,
http://flusserstream.khm.de/flusserstream/show_files_in_chapter.php?chapter_id=17
Vilém Flusser (1996), Zwiegespräche. Interviews 1967-1991, hg. von Klaus Sander, Göttingen.
Vilém Flusser (1995), Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien, hg. von Stefan
Vilém Flusser (1994), Gesten. Versuch einer Phänomenologie (1991), Frankfurt a.M.
Bollmann und Edith Flusser, Mannheim 1995.
Vilém Flusser (1993), Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, München und Wien.
Edmund Husserl (1980), Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie,
Tübingen.
Edmund Husserl (1973), Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlaß (1905-1920),
Husserliana, Bd. XIII, hg. von Iso Kern, Den Haag, 1973.
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