7 A 2.2 Mikroorganismen als Nützlinge bzw. Schädlinge 2 Allgemeine Infektionslehre 2.1 Mikroorganismen als Krankheitserreger Die allermeisten Mikroorganismen leben in der Umwelt des Menschen unter ganz unterschiedlicher ökologischen Bedingungen und haben ein riesiges Repertoire an Stoffwechselleistungen und Adaptationsfähigkeit. Ihre Bedeutung für den Menschen ist enorm, weil sie in jeweils ganz unterschiedlicher Weise die Lebensverhältnisse entscheidend prägen, wobei sich manche als eher nützlich und andere als eher schädlich erweisen. Nur ganz wenige davon sind pathogen, d. h. schädlich für die Gesundheit des Menschen. Eigentlich stehen nur diese im Mittelpunkt der medizinischen Mikrobiologie. Im Prinzip lösen sie drei verschiedene Reaktionen aus, nämlich Allergie, Intoxikation und Infektion. Die Folgen hängen sowohl von der Suszeptibilität (Empfänglichkeit) des Patienten als auch von der Pathogenität (Schädlichkeit) des Erregers ab. Eine Infektion ist dadurch gekennzeichnet, dass die Mikroorganismen nicht nur den Körper besiedeln, sondern auch in ihn eindringen, sich in ihm vermehren und dadurch krankheitserregende, meist entzündliche Reaktionen auslösen. Die Kontagiosität beschreibt die Fähigkeit eines Keimes, bei Kontakt auch die „Chance“ zu nutzen und eine Infektion hervorzurufen. Im Einzelfall sind dafür viele verschiedene Eigenschaften verantwortlich. Bei hochkontagiösen Keimen reicht oft schon eine kurze Expositionszeit gegenüber einer geringen Keimmenge aus, um eine Krankheit auszulösen. Ein Maß für die Gefährlichkeit von Keimen ist die minimale Infektionsdosis (Tab. A-2.1). Wie schnell und wie stark sich ein Erreger im Wirtsorganismus ausbreitet, hängt neben der Abwehrlage des Wirtes ganz entscheidend von der Aggressivität des Erregers ab. Dazu haben Keime verschiedene Virulenzfaktoren, die je nach genetischer Ausstattung und Situation in unterschiedlicher Menge produziert werden können. Dies können Enzyme, Toxine oder Adhäsionsfaktoren sein, die in einer konzertierten Aktion je nach Bedarf zum Zuge kommen. Die Folgen einer Infektion für Gesundheit und Leben eines Menschen sind in starkem Maße von Wirtsfaktoren abhängig. Die Prognose einer Infektion mit dem Pilz Scedosporium ist sehr schlecht, denn die Mortalität liegt mit i 90 % sehr hoch, obwohl der Pilz nicht sehr pathogen ist. Dieser fast harmlose Umweltkeim kann als typischer Opportunist nur einen abwehrgeschwächten Menschen infizieren. A-2.1 2 Allgemeine Infektionslehre 2.1 Mikroorganismen als Krankheitserreger Nur ganz wenige Mikroorganismen sind pathogen und können direkt der Gesundheit des Menschen schaden. Wichtig für die Infektionsfolgen sind die Suszeptibilität des Patienten und die Pathogenität des Erregers. Die Kontagiosität beschreibt die Fähigkeit eines Keimes, eine Infektion hervorzurufen (Tab. A-2.1). Keime haben verschiedene Virulenzfaktoren wie Enzyme, Toxine oder Adhäsionsfaktoren. Sie sind entscheidend dafür, wie schnell und wie stark sich ein Erreger im Wirtsorganismus ausbreitet. Minimale Infektionsdosen, die für die Auslösung einer manifesten Infektion eines Erwachsenen notwendig sind. Salmonella i 108 Keime Shigella i 102 Keime Lamblien i 102 Keime 2.2 Mikroorganismen als Nützlinge bzw. Schädlinge Der Mediziner sieht die Mikroorganismen fast immer unter dem Aspekt der Pathogenität. Dabei sind unter den Millionen von Keimarten in der Umwelt nur ganz wenige, vielleicht einige Hundert, für den Menschen überhaupt pathogen, und die kommen auch nicht immer und überall vor und sind dann oft nur in geringer Anzahl präsent. Mikroorganismen spielen eine kaum über- A-2.1 2.2 Mikroorganismen als Nützlinge bzw. Schädlinge Der Großteil der Mikroorganismen ist für den Menschen apathogen und essenziell für die Erhaltung des ökologischen Gleichgewichts, z. B. durch Erzeugung von Sulfaten oder Nitrit im Erdreich oder Bindung von N2 aus der Luft. Hof/Dörries, Duale Reihe: Medizinische Mikrobiologie (ISBN 3-13-125313-4), c 2005 Georg Thieme Verlag 8 A 2 Allgemeine Infektionslehre Sie können aber auch indirekt schädlich auf die menschliche Gesundheit wirken. Beispiele hierfür sind eine Minderung der Nahrungsmittelqualität oder auch der -quantität (durch Ernteausfälle). Auch der Mensch selber beherbergt in seiner sog. natürlichen Flora apathogene Keime (Abb. A-2.1). Sie dienen der Gesundheit z. B. durch Absenkung des pH, durch die Produktion antimikrobieller Wirkstoffe oder auch durch den Entzug A-2.1 schätzbare Rolle in der Schaffung von den Grundvoraussetzungen für das Leben von Pflanzen, Tier und Mensch, indem sie den Kreislauf von anorganischer und organischer Materie der Natur mitbestimmen. So schaffen etwa die Sulfit reduzierenden Bakterien im Erdreich Sulfate, welche für die Pflanzen notwendig sind; von anderen Bakteriengesellschaften im Boden wird Ammonium zu Nitrit umgebaut und den Pflanzen angeboten. Andere, die mit den Wurzeln von Leguminosen in Symbiose leben, binden N2 aus der Luft. In der Erhaltung des ökologischen Gleichgewichtes in der Biosphäre sind Mikroorganismen also essenziell. Einige Keime sind wahre Spezialisten. So haben selbst pathogene, gefürchtete Keime wie Pseudomonas aeruginosa, der Erreger des blaugrünen Wundeiters, und anderer nosokomialer Infektionen, außerhalb des Menschen segensreiche Wirkungen, sie können von Erdöl verseuchte Böden wieder sanieren. Andere Bakterien dagegen produzieren z. B. Methan oder Lachgas, welche als sog. Treibhausgase den Abbau der Ozonschicht in der Stratosphäre beschleunigen und so einen Klimawechsel fördern. Indirekt tragen Mikroorganismen ganz wesentlich zur Erhaltung und – auch – zur Gefährdung der Gesundheit bei, z. B. durch ihren Einfluss auf die Nahrungsmittelproduktion. Einerseits sind manche Mikroorganismen pflanzen- bzw. tierpathogen und durch ihr Wirken kommt es zu erheblichen Ernte- und Ertragsausfällen oder zu einer Verminderung der Qualität der Nahrungsmittel; Mikroorganismen sind also in vielen Fällen Ursache von Hungersnöten und Unterernährung, der größten Geißel der Menschheit. Und andererseits sind manche Mikroorganismen entscheidend für die Produktion, Verbesserung und Verfeinerung von Nahrungsmitteln. Harmlose Keime kommen aber nicht nur außerhalb des Menschen vor. Eine natürliche Flora von mehreren hundert verschiedenen Arten, welche die Mediziner nicht alle kennen, besiedelt den Menschen. Auf der Haut und auf manchen Schleimhäuten findet man ca. 1015 Bakterienzellen, während der menschliche Körper selbst nur aus ca. 1012 humanen Zellen besteht (Abb. A-2.1)! Einige dieser Besiedler sind zwar potenziell pathogen und warten auf ihre A-2.1 Keimbesiedlung im Mund bis Darm Mundhöhle (106 Bakterien/ml) ca. 200 Spezies u. a. vergrünende Streptokokken Neisseria Veillonella Porphyromonas ca. 1015 Bakterienzellen auf der Haut ca. 1014 Bakterienzellen im Gastrointestinaltrakt Magen (101 Bakterien/ml) (Helicobacter pylori) Ileum (108 Bakterien/ml) u. a. vergrünende Streptokokken Enterokokken Pneumokokken Escherichia Bacteroides Lactobacillus Bifidobacterium Hof/Dörries, Duale Reihe: Medizinische Mikrobiologie (ISBN 3-13-125313-4), c 2005 Georg Thieme Verlag Kolon (1010 - 1011 g -1) 400 - 500 Spezies u. a. Peptostreptococcus Enterococcus Bacteroides Eubacterium Enterobacter Escherichia Klebsiella Proteus Bacillus Fusobacterium Clostridium Lactobacillus 9 A 2.2 Mikroorganismen als Nützlinge bzw. Schädlinge „Chance“, eine Infektion zu erzeugen. Die überwiegende Mehrzahl ist jedoch völlig apathogen, also harmlos. Aber sie sind nicht unwichtig. Manche haben eine Stellvertreterfunktion, d. h. sie verdrängen pathogene Keime durch Entzug der Nährstoffe, durch Absenken des pH bzw. durch Produktion antimikrobieller Wirkstoffe (wie etwa flüchtige Fettsäuren, wie Butyrat, Amidasen, Bacteriocine oder Peroxide). Sie spielen also eine erhebliche Rolle bei der Homöostase der Flora und bei der Unterdrückung von fremden Eindringlingen. Jedes Individuum beherbergt seine ureigensten Kommensalen. Manche Tiere sind essenziell angewiesen auf die Flora, z. B. die Rinder, die im Pansen Keime enthalten, welche Pflanzenfasern spalten können, wozu der animalische Körper gar nicht in der Lage wäre. Bakterien der Gattung Wolbachia leben seit vielen Millionen von Jahren als Endosymbionten in Mikrofilarien von Onchocerca volvulus, dem Erreger der Flussblindheit. Ohne diese Gäste sind die Wirte steril und können sich nicht mehr vermehren. Auch der Mensch profitiert in vielerlei Hinsicht von seiner Flora (Tab. A-2.2). Diese Aspekte der Bedeutung von Mikroorganismen kommen in der Lehre der medizinischen Mikrobiologie oft zu kurz. A-2.2 Auswirkung der Darmflora von Nährstoffen, welche von pathogenen Keimen benötigt werden. Der Nutzen der natürlichen Keimflora für den Menschen ist in Tab. A-2.2 dargestellt. A-2.2 Anaerobier im Dickdarm produzieren Vitamin K Bakterielle Metabolite ernähren die Enterozyten, die sonst verkümmern würden Bakterien entgiften z. B. kanzerogene Stoffe Bakterien modifizieren aber auch Stoffe, sodass aus Präkanzerogenen toxische Derivate entstehen Glucuronidasen, die massenhaft von den zahlreichen Darmbakterien produziert werden, beeinflussen die Pharmakologie von Medikamenten, wie Östrogene und Herzglykoside, die in der Leber glukuronisiert wurden und in der Galle ausgeschieden werden. Nur wenn die bakteriellen Glucuronidasen die Konjugate abspalten, kann die freie Substanz wieder enteral rückresorbiert werden. Ohne diesen enteralen Kreislauf gäbe es keine wirksamen Serumspiegel. Hof/Dörries, Duale Reihe: Medizinische Mikrobiologie (ISBN 3-13-125313-4), c 2005 Georg Thieme Verlag