Fort- & Weiterbildung | Basiswissen aktualisiert Beleg/Autorenexemplar! Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme. Der Begriff der Lebensmittelallergie ist in aller Munde, doch wird er häufig viel zu leichtfertig gebraucht. Wann spricht man von einer echten Lebensmittelallergie? Wer ist betroffen? Wie werden die allergieauslösenden Substanzen definiert? Folgender Beitrag informiert Sie in einer Übersicht. Lebensmittelallergien Dr. Angelika Paschke Universität Hamburg, Institut für Lebensmittelchemie Grindelallee 117 20146 Hamburg E-Mail: angelika. [email protected] Lebensmittelallergien sind entgegen der häufig in der Bevölkerung anzutreffenden Meinung kein Phänomen unserer modernen Konsumgesellschaft, sondern schon aus der Antike bekannt. Die Ärzte HIPPOKRATES (500 v. Chr.) und GALEN (200 n. Chr.) berichteten beispielsweise über Fälle von Lebensmittelunverträglichkeiten, die nach heutigem Wissensstand zu den allergischen Reaktionen zählen könnten. Eine erste Definition des Begriffes „Allergie“ wurde jedoch erst 1906 von dem Wiener Kinderarzt Clemens VON PIRQUET geprägt. Er verstand darunter eine veränderte immunologische Reaktionsfähigkeit des Organismus. Heutzutage wird die „echte Lebensmittelallergie“ als eine nicht toxische, immunvermittelte Überempfindlichkeitsreaktion (im Sinne einer Typ-I-Reaktion, s. u.) klassifiziert, der Interaktionen zwischen dem Lebensmittelallergen und spezifischen IgE-Antikörpern im humanen Organismus zugrunde liegen. Diese Reaktion ist von den nicht immunvermittelten Lebensmittelintoleranzen abzugrenzen. Allergie und Intoleranz – gleiche Symptome, unterschiedlicher Mechanismus 쏆 Abbildung 1 zeigt eine Einteilung aller Unverträglichkeitsreaktionen gegen Lebensmittel aufgrund ihrer pathogenetischen Wirkungsweise [1]. Wird ein Lebensmittel – egal welcher Herkunft und Beschaffenheit – nach dem Verzehr nicht vertragen, sollte zunächst geklärt werden, ob eine Vergiftung (toxische Re- 36 Ernährungs Umschau | 1/10 aktion) vorliegt. Kann diese ausgeschlossen werden, handelt es sich um eine nicht toxische Ursache, deren physiologischen Mechanismus es zu ergründen gilt. Ist eine abnorme Reaktion des Organismus nicht immunologischer Natur, wird sie als Intoleranzreaktion eingestuft. Hierzu zählen: ■ die pseudoallergischen Reaktionen, bei denen das klinische Bild dem einer Lebensmittelallergie entspricht, ohne dass ihnen immunologische Auslösemechanismen zugrunde liegen (z. B. Reaktionen auf Sulfite), ■ die Enzymopathie, ein vererbter (primärer) oder erworbener (sekundärer) Enzymdefekt, der sich in einer verminderten oder gesteigerten Enzymaktivität äußert (z. B. Laktoseintoleranz, hereditäre Fruktoseintoleranz), ■ pharmakologische Reaktionen, ausgelöst beispielsweise durch biogene Amine, ■ und nicht definierte Intoleranzen, wozu das „Ökosyndrom“ (Reaktionen gegen Umweltschadstoffe) zählt. Die Lebensmittelintoleranzreaktionen sind aufgrund der Identität der klinischen Symptome zunächst nicht oder nur schwer von Lebensmittelallergien zu unterscheiden. Der entscheidende Unterschied ist auf der immunologischen Ebene zu finden. Eine „echte“ Lebensmittelallergie beruht auf einer spezifischen Interaktion zwischen Allergenen und dem Immunsystem (also auf einer Antigen-Antikörper-Reaktion) und lässt sich als fehlgesteuerte Überreaktion der Allergische Reaktionen stellen sich häufig innerhalb kurzer Zeit (30–60 Minuten) nach der Lebensmittelaufnahme ein körpereigenen Abwehr auf natürliche, ungefährliche Lebensmittelbestandteile einstufen. Auslöser (Antigene oder Allergene) sind Proteine oder Glykoproteine mit einer Molekülmasse in der Regel zwischen 10 und 90 kDa. Im Fall der Lebensmittelallergie – bei der Typ-I- oder Soforttyp-Reaktion – treten die Immunglobuline (Ig) der Klasse E als spezifische Antikörper auf. Allergische Reaktionen des Typs II (antikörperabhängige zytotoxische Überempfindlichkeit) und des Typs III (Immunkomplexreaktion) sind dagegen auf die Immunglobulinklassen G oder M zurückzuführen. Der Reaktionstyp IV beruht auf der Ausbildung immunreaktiver Lymphozyten und tritt bspw. bei der Kontaktdermatitis und bei atopischem Ekzem auf [2]. Dem Auftreten einer allergischen Reaktion geht stets eine „Sensibilisierung“ des Immunsystems gegen das betreffende Allergen voraus: ein erster Kontakt zwischen Eiweißmolekül und Immunsystem, der noch keine Symptome induziert. In der darauf folgenden Sensibilisierungsphase, die Tage, Wochen oder Jahre dauern kann, werden Antikörper ausgebildet. Erst beim Zweitkontakt kann es dann zur allergischen Reaktion kommen. Von einer allergischen Erkrankung sind nach eigener Einschätzung potenzieller Patienten etwa 20 Prozent der Bevölkerung betroffen. Dagegen wird die Prävalenz nachgewiesener Lebensmittelallergien bei Erwachsenen mit einem bis zwei Prozent, bei Kindern mit bis zu acht Prozent angegeben [4, 5]. Symptome der Lebensmittelallergie Die Lebensmittelallergie manifestiert sich in einem sehr breit gefächerten Bild verschiedener klinischer Symptome (쏆 Tabelle 1). Die Reaktionen stellen sich häufig innerhalb kurzer Zeit – meistens 30 bis 60 Minuten –, seltener erst einige Stunden nach der Lebensmittelaufnahme ein, was in etwa der Verweildauer der Nahrung im Magen bis zum Erreichen des Dünndarms entspricht. Die Symptome manifestieren sich überwiegend an den Organen Haut, Atemwege und Magen-Darm-Trakt, selten dagegen zeigen sich HerzKreislauf-Störungen. Neben der häufig zu beobachtenden Urtikaria spielt das „orale Allergiesyndrom“ (OAS) eine bedeutende Rolle, welches sich durch Anschwellen der Lippen und der Zunge sowie durch einen Juckreiz an Mund- und Rachenschleimhaut äußert. Anders als erwartet treten am Ort der Nährstoffaufnahme – also im Magen-Darm-Bereich – Symptome (Diarrhoe, Erbrechen und Blähungen) eher selten auf. Im Bereich der Atemwege ist hauptsächlich Asthma bronchiale zu beobachten. In besonders schweren Fällen der allergischen Reaktion kann es – wenn Herz und Gefäße betroffen sind – zum möglicherweise tödlich endenden anaphylaktischen Schock kommen. Da die Lebensmittelallergie eine sehr individuelle Krankheit darstellt, variiert auch die Intensität und Ausprägung der Symptomatik stark [3]. Glossar: kDa = Kilodalton (Dalton = Einheit der Molekülmasse) Urtikaria = Nesselsucht, hellroter juckender Hautausschlag mit Quaddelbildung Exkurs: Vom Protein zum Allergen Warum bergen die für die menschliche Ernährung essenziellen Proteine für den Einzelnen ein allergenes Risiko? Die Antwort zu dieser Frage Unverträglichkeitsreaktionen auf Lebensmittel Nicht-toxische Reaktionen Toxische Reaktionen Immunologische Reaktionen (Lebensmittelallergien) Nicht IgEvermittelt IgEvermittelt Nicht-immunologische Reaktionen (Lebensmittelintoleranzen) Enzymopathien Pharmakologische Reaktionen Pseudoallergische Reaktionen nicht definierte Reaktionen Abb. 1: Einteilung verschiedener Unverträglichkeitsreaktionen gegen Lebensmittel (Quelle: [1]) Ernährungs Umschau | 1/10 37 쑺 Fort- & Weiterbildung | Basiswissen aktualisiert Glossar: Edman-Abbau = Methode zur Bestimmung der AminosäureReihenfolge in liegt in der allgemeinen Proteinstruktur. Das Eiweißmolekül ist dreidimensional gefaltet und durch seine Primär- (Abfolge der Aminosäuren [AS]) und Sekundär- bzw. Tertiärstruktur (Faltung der AS-Kette) weitgehend definiert. einem Protein Massenspektrometrie = allgem. Methode zur Analyse chemischer Verbindungen, anwendbar bei der Proteinanalyse Entscheidend für die Interaktion mit dem IgE-Antikörper ist jedoch nur ein bestimmter Bereich der Proteinoberflächenstrukur, das „Epitop“. In der Regel umfasst diese allergene Determinante bis zu 20 Aminosäuren und lässt sich in zwei Arten differenzieren: Bestimmt nur die Sequenz (Primärstruktur), also die direkte lineare Reihenfolge der Aminosäuren, das allergene Potenzial, spricht man von Sequenzepitopen. Diese zeichnen sich durch eine hohe Stabilität gegen mechanische und thermische Behandlungen des Lebensmittels aus. Ist hingegen die Faltung des Proteins (Konformation) entscheidend, handelt es sich um Konformationsepitope. Um die Interaktion mit dem Immunsystem genauer klären oder aber durch eine gezielte Veränderung der Proteinstruktur das allergene Potenzial eliminieren zu können, müssen diese Epitope zunächst identifiziert und ihre Struktur aufgeklärt werden. Mittels verschiedener analytischer Techniken konnten in den letzten Jahren erste Erfolge auf diesem Gebiet erzielt werden. Die Primärstruktur der Allergene kann mittels EdmanAbbau und Massenspektrometrie charakterisiert, die räumliche Konfiguration beispielsweise über Elektronenmikroskopie, Röntgenstrukturanalyse und NMR (Kernspinresonanzspektometrie) geklärt werden. Häufige Lebensmittelallergene Viele Kleinkinder reagieren bis zum dritten Lebensjahr auf die Lebensmittel Hühnerei, Milch und Nüsse mit überwiegend Magen-Darm-Beschwerden und Ekzemen. Diese Sensibilisierung verliert sich dann häufig im Laufe des Heranwachsens. 쏆 Tabelle 2 zeigt eine Zusammenstellung der Lebensmittel, die häufig als Auslöser einer Allergie auftreten. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Lebensmittel eine Lebensmittelallergie induziert, richtet sich dabei auch nach den Verzehrsgewohnheiten der Gesellschaft und unterliegt somit regionalen Schwankungen. Da beispielsweise in den nordischen und den mediterranen Ländern viel Fisch gegessen wird, treten dort vermehrt Allergien gegen Fisch und Krustentiere auf. In den USA nimmt dagegen die Erdnussallergie eine tragende Rolle ein, wogegen diese in Europa eher selten auftritt [6, 7]. Haut Urticaria, Ekzeme 45 % Atemwege Asthma, Rhinitis 25 % Magen-Darm-Trakt Durchfall, Erbrechen, Kolik 20 % Herz/Kreislauf-System anaphylaktischer Schock 10 % Tab. 1: Symptome einer Lebensmittelallergie (Quelle: [3]) Klinische Studie von 355 Patienten mit gesicherter Lebensmittelallergie (mehrere Allergien möglich) Hühnerei 34 % andere Gemüse 7,6 % Fisch 30 % Schalentiere 6,8 % Milch/ Milchprodukte 24 % Fleisch 3,4 % Früchte 21 % Getreide 1,1 % Leguminosen 19 % Kakao 0,3 % Tab. 2: Häufigkeit verschiedener Lebensmittelallergien bei juvenilen Lebensmittelallergikern (Quelle: [7]) 38 Ernährungs Umschau | 1/10 Neben den regionalen Differenzen ist auch die Individualität dieser Erkrankung ein nicht zu unterschätzendes Problem. Vergleicht man beispielsweise zwei Haselnussallergiker miteinander, so zeigen sich nicht nur in den Symptomen Unterschiede. Während die Aufnahme von lediglich Spuren von Nüssen bei dem einen bereits zu einer lebensbedrohlichen Schockreaktion führen kann, verträgt ein anderer evtl. mehrere Nüsse, die bei ihm nur leichte Symptome auslösen. Weitere Differenzen treten auch im immunologischen Bereich auf. Allergiker A reagiert beispielsweise nur auf das Hauptallergen des Apfels, während Allergiker B gegen alle allergen wirkenden Proteine der Frucht sensibilisiert ist. Somit ist jeder Betroffene als Einzelfall anzusehen und die Therapie auf seine individuellen Reaktionen abzustimmen. Diese Individualität der Erkrankung, die sich in den unterschiedlichen Symptomen widerspiegelt, bedingt, dass es für Lebensmittelallergien keine einfache Standard-Therapie geben kann. Kreuzreaktionen: Was haben die Birke und der Apfel gemeinsam? Unter einer Kreuzreaktivität versteht man das Phänomen, dass ein Organismus, der auf ein bestimmtes Allergen reagiert oder darauf sensibilisiert ist, die gleiche Reaktion auch auf andere Allergene zeigt. Zurückzuführen ist dies auf gleiche oder ähnliche Allergen-Determinanten von Proteinen verschiedener Quellen (sog. Paratope). Der vom Immunsystem sezernierte Antikörper bindet sich an alle zugänglichen Paratope, egal welcher Quelle, z. B. also an die Antigene der Birkenpollen und die des Apfels. Bei einer mindestens 60-prozentigen Homologie der Aminosäuresequenzen gilt eine Kreuzreaktivität als bewiesen. Von besonderer Bedeutung ist die Kreuzreaktivität zwischen Inhalationsallergenen, wie beispielsweise Baum- oder Strauchpollen, und Lebensmitteln (쏆 Tabelle 3). Gerade bei Jugendlichen und Erwachsenen ist eine solche pollenassoziierte Le- bensmittelallergie die häufigste Form der Lebensmittelunverträglichkeit. Die meistens auf den Mund- und Rachenraum beschränkte Lokalreaktion (OAS, selten sind kardiovaskuläre Symptome oder Asthma zu beobachten) tritt nach einer entsprechenden Pollensensibilisierung auf, z. T. auch ohne Ausbildung einer Pollenallergie. Schätzungsweise 80–90 Prozent der Pollenallergiker mit Heuschnupfen oder Asthma reagieren auch auf Lebensmittel. Besonders gut dokumentiert findet sich die häufig auftretende birkenpollen-assoziierte Lebensmittelallergie. Die Kreuzreaktion mit bestimmten Lebensmittelallergenen basiert hier auf den beiden Birkenpollenallergenen Bet v 1 und Bet v 2. Am häufigsten wird eine Kreuzreaktivität zwischen Birkenpollen und Obst aus der Familie der Rosaceae sowie mit Haselnüssen beobachtet, allerdings treten auch Kreuzreaktionen zu anderen pflanzlichen Lebensmitteln auf (beispielsweise zu exotischen Früchten, Kartoffeln, Pistazien und Sellerie). 쏆 Tabelle 3 fasst die bekanntesten Kreuzreaktionen unter Angabe ihrer Namen und der beteiligten Allergene zusammen. Hieran wird wiederum deutlich, wie breit gefächert und individuell differenziert eine Lebensmittelallergie auftreten kann. Diagnose der Lebensmittelallergie Da Lebensmittelallergien individuell sehr verschieden verlaufen, variiert auch die Intensität und Ausprägung der Symptomatik stark. Die eindeutige Diagnostik einer echten Allergie oder die Abgrenzung zu anderen Lebensmittelunverträglichkeiten gestaltet sich aus diesem Grunde oft schwierig und erfordert vom Therapeuten Sachverstand und Gespür. 쏆 Tabelle 4 zeigt (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) eine Übersicht der üblichen In-vitro- und In-vivo-Methoden. Am Anfang der Untersuchung steht immer die Anamnese, die eventuell durch Führen eines Beschwerdetagebuches über einen definierten Zeitraum ergänzt werden kann. Da sich Name Inhalationsallergen Lebensmittelallergen Sellerie-Beifuß-KarottenGewürz-Syndrom Beifußpollen Sellerie, Petersilie, Karotte, Anis, Dill, Sonnenblumenkerne, Kümmel, Fenchel, Paprika Sellerie-BeifußBirkenpollen-Syndrom Birkenpollen, Beifuß Sellerie Birkenpollen-NussKernobst-Syndrom Pollen von Birke, Erle und Hasel Nüsse (Hasel-, Walnuss), Apfel, Pfirsich, Kirsche, Birne, Aprikose Ragweed-BananenMelonen-Syndrom Traubenkrautpollen Melone, Banane Latex-Frucht-Syndrom Latexproteine Avocado, Banane, Feige, Kiwi, Spinat, Kartoffel Milben-SchalentierSyndrom Hausstaubmilben Garnelen, Hummer, Langusten, Krebse Vogelei-Syndrom Vogelkot und -federn Gräserpollen Eidotter-Proteine Tomate, Leguminosen Tab. 3: Kreuzreaktionen von Inhalations- und Lebensmittelallergenen (eigene Zusammenstellung) die weitere diagnostische Vorgehensweise nach den erhaltenen Informationen richtet, sollte die Anamnese sehr gründlich durchgeführt werden. Hauttests geben Hinweise auf bestehende Sensibilisierungen des Organismus. Sie beruhen auf dem Einbringen des Allergenextraktes (PrickTest) oder Proben frischer Lebensmittel (Prick-zu-Prick-Test) unter die Hautoberfläche. Die dadurch induzierte Mediatorenausschüttung ergibt eine sichtbare Quaddel- oder Erythembildung an den betroffenen Stellen. Diese Tests dienen überwiegend als Screening-Methoden, da sie manchmal zu falsch positiven oder In-vivo-Methoden falsch negativen Ergebnissen führen. Weitere Hinweise können durch ein vorübergehendes Vermeiden der in Frage kommenden Lebensmittel erhalten werden. Durch speziell entwickelte Diäten (allgemein: Allergiesuchdiät; spezifisch: beispielsweise Kartoffel- oder Reisdiät) werden dem Patienten definiert Lebensmittel vorenthalten und die symptomatischen Auswirkungen ausgewertet. Zur Ergänzung und Absicherung kommen In-vitro-Untersuchungen zum Einsatz, die den erhöhten Gehalt an spezifischem IgE (EAST bzw. RAST) oder an Mediatorsubstanzen (Histaminfreisetzung, Leukotrien- Anamnese In vitro-Methoden Hauttestungen ■ Prick Test ■ Intrakutan Test ■ Prick to Prick Test ■ Scratch-Test ■ ■ ■ ■ RAST bzw EAST/ELISA Immunologische Tests Histaminfreisetzungstest Leukotrien-Test Provokationstestungen ■ orale Provokation ■ offene Provokation ■ DBPCFC (doppeltblinder, placebokontrollierter Expositionstest) Diagnostische Diäten ■ Eliminationsdiäten ■ Provokationsdiäten ■ Suchdiäten Tab. 4: In vivo und in vitro Methoden der Allergiediagnostik (eigene Zusammenstellung) Ernährungs Umschau | 1/10 쑺 39 Fort- & Weiterbildung | Basiswissen aktualisiert test) im Blut nachweisen. Der positive Antikörpernachweis ist jedoch kein endgültiger Beweis für eine Allergie, sondern kann auch lediglich eine Sensibilisierung anzeigen. Liegt ein begründeter Verdacht einer Allergie gegen bestimmte Lebensmittel durch die voraus gegangenen Schritte vor, wird ein offener oraler Provokationstest (Aufnahme des Allergens unter kontrollierten Bedingungen und Abwarten einer Reaktion) durchgeführt. Erfolgt auf die Provokation eine allergische Reaktion, folgt als „Goldstandard“ der Diagnostik ein doppeltblinder, placebokontrollierter Expositionstest (DBPCFC): Dem Patienten werden sowohl das potenziell allergene Nahrungsmittel als auch eine Placebosubstanz (200–500 mg, häufig in farblose Kapseln gefüllte Extrakte) in unbekannter Reihenfolge und Dosis verabreicht und die Reaktionen aufgezeichnet. Da orale Provokationen heftige Symptome auslösen können, sollten diese stets unter stationären Bedingungen durchgeführt werden. Zusammenfassend kann nur dann von einer gesicherten Diagnostik gesprochen werden, wenn die Resultate der Anamnese mit denen der medizinischen und serologischen Untersuchungen übereinstimmen. Therapie der Lebensmittelallergie Für den Betroffenen stellt sich nun die Frage, wie er seiner Krankheit am besten begegnen kann. Der Entwicklung einer universellen Therapie steht die individuelle Symptomatik entgegen. Aus medizinischer Sicht wird dem Allergiker zum einen eine orale oder subkutane Desensibilisierung angeboten, mit der durch eine regelmäßige Exposition der Allergene eine Adaption (Gewöhnungseffekt) angestrebt wird – ein Erfolg kann aller1 Reaktionen auf Schwefeldioxid bzw. Laktose sind keine Lebensmittelallergien, sondern eine pseudoallergische Reaktionen (Schwefeldioxid) bzw. eine enzymopathische Reaktion (Laktose). Sie wurden jedoch von der europäischen Kommission in dieser Liste berücksichtigt. 40 Ernährungs Umschau | 1/10 dings nicht garantiert werden. Eine schnelle Linderung akut auftretender Symptome bieten Medikamente wie beispielsweise Kortikosteroidtabletten oder Antihistaminika (Notfallset), eine Möglichkeit der Prophylaxe ist die Einnahme von Dinatriumcromoglycat. Die einzig sichere Methode, Reaktionen zu vermeiden, bietet bisher jedoch nur die Allergenkarenz, d. h. ein absoluter Verzicht auf auslösende Nahrungsmittel. Diese Therapieart ist für Allergiker gegen beispielsweise exotische Früchte oder einzelne Lebensmittel eine akzeptable und praktikable Möglichkeit. Bei Patienten mit einer Mehrfachsensibilisierung oder einer Unverträglichkeit gegen Grundnahrungsmittel kann eine Eliminationsdiät dagegen die Lebensqualität sehr einschränken oder in schweren Fällen auch zu Mangelerscheinungen führen. Eine Betreuung und Beratung durch eine allergologisch geschulte Ernährungsfachkraft ist daher unbedingt anzuraten. Ernährungspraxis: Der Umgang mit industriell hergestellten Lebensmitteln Industriell hergestellte Lebensmittel sind eine potenzielle Gefahrenquelle für Menschen, die auf bestimmte Lebensmittelallergene starke Reaktionen zeigen, da heute meistens multiple Zutaten ggf. mit potenziellen Allergenen verwendet werden. Wie können Allergiker sich zurechtfinden, was gilt es zu beachten? Kennzeichnung von Lebensmittelallergenen Die europäische Kommission hat in ihren Richtlinien 2003/89/EC und 2006/142/EC sowie 2005/26/EC die Kennzeichnung von häufig allergen wirkenden Bestandteilen in Lebensmitteln festgelegt. Die neue Regelung soll Allergikern helfen, versteckte Allergene zu meiden. Die Lebensmittel, deren Vorhandensein in einem Produkt gekennzeichnet sein müssen, zeigt 쏆 Tabelle 5. Unterschieden wird, ob ein allergen wirkendes Lebensmittel als Zutat in einem Produkt enthalten ist, oder ob ein Produkt während seiner Herstellung mit dem allergenen Lebensmittel als technologischem Hilfsstoff in Kontakt getreten ist und dieses in seiner technologisch unvermeidbaren Restkonzentration als potenziell allergieauslösenden Inhaltsstoff enthält. Dabei gibt es Ausnahmegenehmigungen zur Kennzeichnung, wenn ■ glutenhaltiges Getreide (Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Dinkel, Kamut oder Hybridstämme davon) sowie daraus hergestellte Erzeugnisse ■ Krebstiere und Krebstiererzeugnisse ■ Eier und Eiererzeugnisse ■ Fisch und Fischerzeugnisse ■ Erdnüsse und Erdnusserzeugnisse ■ Soja und Sojaerzeugnisse ■ Milch und Milcherzeugnisse (einschließlich Laktose) ■ Schalenfrüchte (Mandel, Haselnuss, Walnuss, Kaschunuss, Pecannuss, Paranuss, Pistazie, Macadamianuss, Queenslandnuss) sowie daraus hergestellte Erzeugnisse ■ Sellerie und Sellerieerzeugnisse ■ Senf und Senferzeugnisse ■ Sesamsamen und Sesamsamenerzeugnisse ■ Schwefeldioxid und Sulfite von mehr als 10 mg/kg ■ Lupine und Lupinenerzeugnisse ■ Weichtiere und Weichtiererzeugnisse Tab. 5: In Lebensmittelprodukten zu kennzeichnende potenziell allergene Lebensmittel1 die im produzierten Lebensmittel verbleibenden Konzentrationen nicht allergieauslösend sind oder der (allergene) Hilfsstoff nicht mehr nachgewiesen werden kann. zessen ablaufende Denaturierung des Proteins oder auch Maillard-Reaktionen können sehr effektiv die Antikörper-Bindungsfähigkeit erniedrigen. Nicht abgedeckt durch die Kennzeichnungsvorschriften ist der sog. Cross Contact, eine „Kontamination“ des Produktes durch andere parallel im Unternehmen hergestellte allergene Lebensmittel während des Herstellungsprozesses. Deshalb behelfen sich Hersteller häufig mit vorsorglichen Kennzeichnungen von Allergenen auf Lebensmittelprodukten, etwa mit Hinweisen wie „Kann Spuren von Nüssen enthalten“, wenn z. B. bei Schokolade mit den gleichen Maschinen Produkte mit und ohne Nüsse produziert werden. Diese Kennzeichnungspraxis bedeutet für Allergiker jedoch große Einschränkungen, die nicht immer gerechtfertigt sind. Hier muss ein Weg für die Absicherung der Allergiker, aber auch der Hersteller gefunden werden. Untersuchungen haben allerdings gezeigt, dass neben hitzelabilen auch einige hitzestabile Allergene in Lebensmitteln auftreten. In diesem Fall können biochemische Prozesse wie das Einwirken verschiedener Enzyme (Proteasen) während des Lebensmittelherstellungsprozesses eine Zerstörung von Epitopen bewirken. Andere biotechnologische oder gentechnologische Verfahren sind in der Lage, Epitope zu eliminieren und damit Allergikern zu helfen. Die Aussichten, mit solchen Herstellungsverfahren bestimmte „allergikerfreundliche“ Produkte zu entwickeln, sind vielversprechend, die Akzeptanz durch die Betroffenen hängt aber von der Qualität des Endprodukts ab. Einfluss lebensmitteltechnologischer Verarbeitung auf das allergene Potenzial eines Lebensmittels 1. Bruijnzel-Koomen C, Ortolani C, Aas K et al. (1995) Adverse reactions to food. European Academy of Allergology and Clinical Immunology Subcommittee, Allergy 50: 623–635 2. Coombs RR, Gell PGH. The classification of allergic reactions underlying disease. In: Coombs RR (Hg) Clinical aspects of immunology. Davis Philadelphia (1963) 3. Helm RM, Burks AW (2000) Mechanism of food allergy. Curr Opin Immunol 12: 647– 653 4. Wüthrich B (2000) Lethal or life-threatening allergic reactions to food. Journ Invest Allerg and Clin Immun 10: 59–65 5. Ortolani C, Ispano M, Scibilia J, Pastorello EA (2001) Introducing chemists to food allergy. Allergy 56 (suppl. 67): 5–8 6. Wüthrich B (1993) Zur Nahrungsmittelallergie – Häufigkeit der Symptome und der allergieauslösenden Nahrungsmittel bei 402 Patienten. Allergologie 16: 280–287 7. Crespo JF, Pascual C, Burks AW et al. (1995) Frequences of a food allergy in a pediatric population from Spain. Ped All Immun 6: 39–43 Die Epitope, insbesondere die Konformationsepitope eines Lebensmittelproteins, können während der technologischen Verarbeitung eines Lebensmittels verändert werden, sodass das allergene Potenzial erniedrigt (in selteneren Fällen auch erhöht) werden kann. Die Präparation eines Lebensmittels, z. B. das Schälen eines Pfirsichs, mechanische Prozesse wie das Homogenisieren von Milch sowie Isolierungs- und Reinigungsprozesse wie das Abtrennen der Proteinfraktion z. B. beim Butterungsprozess senken das allergene Potenzial teilweise, beseitigen es aber nicht vollständig. Die verschiedenen Erhitzungsprozesse wie z. B. die Pasteurisation spielen eine wesentlich bedeutendere Rolle im Herabsetzen des allergenen Potenzials. Die bei thermischen Pro- Literatur 왎 Zusammenfassung Lebensmittelallergien Angelika Paschke, Hamburg Lebensmittelallergien und -intoleranzen sind nach wie vor eine Herausforderung für die Wissenschaft. Sowohl im Bereich der Diagnostik und der Therapie als auch in der Charakterisierung der Allergene besteht weiterhin ein großer Forschungsbedarf, um der kontinuierlich steigenden Zahl betroffener Allergiker helfen zu können. Aber auch eine exakte Strukturaufklärung der Allergene, eine verbesserte Therapie, das Wissen über die pathogenetischen Wirkungsweisen und eine lückenlose Kennzeichnung aller Zutaten auf verpackten Lebensmitteln werden niemals zu einer für den Allergiker absolut sicheren Nahrung führen. Da die Pathogenese sowie die Symptome und die Sensibilisierung individuell stark differieren, bleibt für den einzelnen Allergiker stets ein Restrisiko erhalten. Schlüsselwörter: Allergie, Lebensmittelintoleranz, Lebensmittelkennzeichnung, Kreuzreaktion, Epitop Summary Food Allergies Angelika Paschke, Hamburg Problems with food allergies and other adverse reactions to food are still a challenge for science. A great deal of diagnostic and therapeutic research is still needed to help the continuously increasing number of allergic patients and this must be coupled to improved characterisation of the allergens. Nevertheless, even if allergen structures are precisely known, therapy has been improved and the ingredients in prepacked foods are fully declared, there will still be no absolutely safe food for allergic patients. As there are marked individual differences in the pathogenesis, symptoms, and sensibilisation, individual allergic patients will remain at risk. Key words: Allergy, food intolerance, food labelling, crossreaction, epitope Ernährungs Umschau 57 (2010) S. 36–41 Ernährungs Umschau | 1/10 쎱 41