Pontzen Risikoethik - Risiko

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Pontzen
Risikoethik
Henrik Pontzen
Risikoethik
Vom klugen Umgang mit moralisch
relevanten Risiken
University Press
Bonn 2007
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.
ISBN 978-3-86529-010-6
© by University Press, Bonn 2007
www.u-press.de
Am Kreuter 18
D-53177 Bonn
Satz und Druck: University Press
Einbandgestaltung: Benjamin Schulte
Printed in Germany
Das vorliegende Werk ist in all seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte
vorbehalten, insbesondere das Recht der Übersetzung, des Vortrags, der Reproduktion,
der Vervielfältigung auf fotomechanischem oder anderen Wegen und der Speicherung in
elektronischen Medien.
Henrik Pontzen, geboren 1980, studierte von 2000 bis 2004 Philosophie, Volkswirtschaftslehre und Geschichte an der Universität Bonn und der Copenhagen Business School.
Inhalt
Danksagung
9
Einleitung
11
Kapitel I
Was ist Risiko? Herkunft und Begriff
19
Kapitel II
Welche Risiken sind moralisch relevant? Eine Typologie
45
Kapitel III
Welche Argumente sprechen gegen die Möglichkeit
einer Risikoethik?
Kapitel IV
Wie ist Risikoethik möglich?
81
95
Anhang
Anmerkungen
151
Literatur
175
Danksagung
Die vorliegende Arbeit geht auf meine im Jahr 2007 abgeschlossene Dissertation bei Professor Dr. Hubertus Busche zurück, dem ich für seine hervorragende
und jederzeit hilfsbereite Betreuung herzlich danke.
Die Erstauflage des Buches hat eine Vielzahl von Käufern und hoffentlich
ebensoviele Leser gefunden und ist nun leider vergriffen. Das Thema der Risikoethik hat jedoch in den letzten Jahren immer mehr an Relevanz gewonnen.
Deshalb habe ich mich entschlossen, die Arbeit im Internet bereitzustellen, um
so hoffentlich weitere interessierte Leser zu erreichen und die Diskussion des
klugen Umgangs mit moralisch relevanten Risiken weiter zu befördern.
Dem Verband für Investment Professionals in Deutschland (DVFA) und
seinem Geschäftsführer Ralf Frank danke ich für die finanzielle Unterstützung,
die das Projekt einer Veröffentlichung der Risikoethik im Internet erst möglich gemacht hat. Meinem Verleger Dr. Volker Böhnigk sowie Inga Betram und
Christian Vaeßen danke ich für die graphische und technische Umsetzung dieses Projekts.
Weiterhin schulde ich meinen Arbeitgebern Capco (bis 2009) und HSBC
(seit 2009), insbesondere meinen Vorgesetzten Maurizio Bradlaw, Jochen Medler-Ulff, Dr. Christiane Lindenschmidt und Daniel Brückner, Dank dafür, dass
sie es mir ermöglicht haben, mein wissenschaftliches Interesse parallel zu meiner beruflichen Tätigkeit aufrecht erhalten zu können.
Schließlich danke ich meiner Familie. Ohne sie wäre alles nichts. Schön,
dass es Euch gibt – Euch sei diese Ausgabe gewidmet.
Mettmann, im April 2015
Henrik Pontzen
EINLEITUNG
R
isiken beschreiben „das eigentümliche Anwesendsein
von etwas Abwesendem“1 und sind doch allgegenwärtig. Ein eingetretenes Risiko ist schon zum Schaden oder gar zur Katastrophe
mutiert. Nur solange es noch ausbleibt, bleibt ein Risiko gegenwärtig und wird
als drohender Schaden gefürchtet oder als einmalige Chance oder besonderer
Reiz gesucht. In dieser Ambivalenz prägt das Risiko jede Entscheidung. Mit
jeder Handlung riskiert man zu scheitern. Mit jeder Unterlassung riskiert man,
etwas zu verpassen. Risiken sind insofern unvermeidlich.
Ambivalent bewertete Phänomene, denen man sich aufgrund ihrer Unvermeidlichkeit nicht entziehen kann, stehen seit jeher im Focus des wissenschaftlichen und literarischen Interesses. Deshalb provozierten auch die
Ergebnisse der Auseinandersetzung mit der Risikothematik häufig ein breites
Interesse in der Öffentlichkeit. Als Beispiel für die besondere Aufmerksamkeit für die Risikoforschung lässt sich hier die Verleihung des Nobelpreises für
Wirtschaftswissenschaften an Daniel Kahneman im Jahr 2002 anführen, der u. a.
für seine Forschungen zur Risikopsychologie geehrt wurde.2 Stellvertretend
für die außerordentliche Öffentlichkeitswirkung essayistisch-soziologischer
Beiträge zur Risikoliteratur ließe sich auf den enormen Erfolg von Ulrich Becks
„Risikogesellschaft“3 verweisen. Beck fokussiert im Nachgang der Katastrophe
von Tschernobyl vornehmlich die ökologischen Risiken einer hochtechnisierten
Gesellschaft, sowie die Zunahme biographischer Risikopotentiale durch den
Prozess der Individualisierung. Zwei Dekaden später sind es vor allem die Risiken des Terrors, des Klimawandels und der Gentechnik, die den öffentlichen
Diskurs beschäftigen. Deren Analyse unternahm zunächst Wolfgang Sofsky in
HENRIK PONTZEN
seinem philosophischen Essay „Das Prinzip Sicherheit“4, der einer breiten Öffentlichkeitswirkung ebenso sicher sein konnte wie Michael Hampe, der einen
Versuch über „Die Macht des Zufalls. Vom Umgang mit dem Risiko“5 vorlegte.
Angesichts der unüberblickbaren Menge an soziologischer, psychologischer und essayistischer Literatur zur Risikoforschung und dem großen öffentlichen Interesse, das diese Publikationen provozierten, überrascht es, nur
wenige und weitestgehend unberücksichtigte Beiträge der Ethik zur Risikoforschung vorzufinden. Zwölf Jahre nach der Erstauflage der „Risikogesellschaft“
resümieren Rehmann-Sutter/Vatter/Seiler:
„In der deutschsprachigen Philosophie gilt es, das Feld der Risikoethik als
besonderes Thema der praxisbezogenen Ethik allererst zu sichern. Es gibt erst
wenige Vorarbeiten von Gewicht und die Fragestellungen harren einer Entwicklung in kontroverser Diskussion.“6
Gegenstand einer pragmatischen Risikoethik ist die Frage nach den Möglichkeiten eines gelingenden Umgangs mit moralisch relevanten Risiken. Moralisch
relevant sind Risikoentscheidungen, die einen Zumutungscharakter aufweisen.
Eine Zumutung liegt vor, wenn potentiell negative Handlungsfolgen nicht nur
den Entscheider selbst betreffen, sondern auch andere in ihren Rechten gefährden. Aufgabe einer Ethik des Risikos ist die Analyse und Kritik gegebener
Gefährdungs- und Sicherheitsansprüche von Risikoentscheidern und – betroffenen. Ziel der Risikoethik ist die Ausarbeitung von Normen (Ge- und Verbote), Regeln und Verständigungsstrategien, die eine möglichst konfliktarme
Realisierung konfligierender Interessen von Entscheidern und Betroffenen und
damit eine gelingenden Umgang mit Risikolagen befördern.
Risikoethik ist in diesem Verständnis keine Bereichsethik, die sich analog
zu den sogenannten Bindestrichethiken exklusiv nur bestimmten Themenfeldern widmet. Vielmehr reagiert sie auf den paradoxen Umstand, dass aufgrund
der forschungsinduzierten Expansion des Wissens und der technikinduzierten
Potenzierung der individuellen wie kollektiven Handlungsmacht die Qualität
von Handlungsfolgen immer unsicherer wird und deshalb immer mehr Entscheidungen als Risiko perspektivisiert werden. Der Gegenstandsbereich der
Risikoethik überschneidet sich deshalb mit Bereichsethiken wie der Technik-,
Bio- oder Ökoethik, die sich mit den moralisch relevanten Folgen der Wissensexpansion und Praxispotenzierung für den Umgang mit Technik, Leben und
Umwelt auseinandersetzen. Risikoethik geht aber nicht in diesen Bereichsethiken auf, sondern kann vielmehr als integrative Klammer verstanden werden,
deren Stärke und Rechtfertigung in der konzentrierten Untersuchung der
Möglichkeit eines ethischen Umgangs mit Situationen der Unsicherheit und
Ungewissheit liegt.
Bislang gibt es erst eine einzige deutschsprachige Monographie zur Risikoethik: Bernd Wagner stellt jedoch in seinen „Prolegomena zu einer Ethik des
Risikos“ kein neues Konzept einer Ethik des Risikos zur Diskussion, sondern
12
EINLEITUNG
zielt auf eine Analyse der Grundlagen und Probleme, die eine noch auszuarbeitende Risikoethik berücksichtigen müsse. Wagner leistet diese Analyse in
Auseinandersetzung mit den Beiträgen von Shrader-Frechette (1991), Gethmann (1987, 1993), Nida-Rümelin (1996) und Leist/Schaber (1995), die mit
Ausnahme von Shrader-Frechette (1991) in Form knapper Aufsätze vorliegen.
Die fundamentale Kritik an der Möglichkeit einer Risikoethik, die besonders
von Niklas Luhmann vorgebracht wurde, lässt er jedoch ebenso unberücksichtigt wie die einschlägigen Beiträge, die Christoph Hubig (1993, 1997, 2001) aus
der Perspektive der Klugheitsethik zu einer Ethik des Risikos beisteuert. Die
vorliegende Arbeit widmet sich im Unterschied zu Wagner intensiv der Analyse
der Luhmannschen Fundamentalkritik, die dafür sensibilisiert, dass die Risikoethik bei aller zugestandenen Kontrafaktizität der Anschlussfähigkeit an die
gesellschaftliche Praxis verpflichtet ist.7 Aus der Betonung dieser Verpflichtung
zur Anschlussfähigkeit ergibt sich als zweiter Schwerpunkt dieser Arbeit die
erstmalig geleistete kritische Auseinandersetzung mit Christoph Hubigs provisorisch-pragmatischer Risikoethik.
Unter besonderer Berücksichtigung dieser Schwerpunkte widmet sich
diese Arbeit der kritischen Analyse vorliegender Konzepte zu einer Ethik des
Risikos. Die Untersuchung gliedert sich zu diesem Zweck in vier Teile, denen
jeweils eine forschungsleitende Frage vorangestellt ist. Zunächst gilt es, den Begriff „Risiko“ klar zu konturieren, um den Gegenstand der Untersuchung allererst transparent zu machen. Die erste forschungsleitende Frage lautet daher:
Was ist Risiko?
Im ersten Kapitel werden zur Beantwortung dieser Frage zunächst die Merkmale eines objektiven Risikobegriffs herausgearbeitet und diskutiert. Dieser
verdichtet das Phänomen Risiko in einen numerischen Wert als Produkt von
Schadenssumme und Eintrittswahrscheinlichkeit und ist dergestalt strukturell blind für die Relevanz kontextueller Faktoren, die die Wahrnehmung, die
Bewertung und darüber vermittelt das Handeln in Risikosituationen anleiten.
Diese kontextuelle Verfasstheit des Risikos integriert eine Risikodefinition,
die Risiken als unsichere und ungewisse, negativ bewertete Handlungsfolgen
interpretiert. Relativ zu der Qualität von Handlungsfolgen und Entscheidungskontexten werden in einem zweiten Schritt verschiedene Rationalitäten des
Risikoumgangs identifiziert, um aufzuzeigen, dass Risikoentscheidungen nur
teilweise und bedingt objektivierbar sind und somit nur eine kontextuelle Risikodefinition das Phänomen adäquat erschließen kann.
Im zweiten Teil der Untersuchung wird der so erschlossene Risikobegriff
hinsichtlich seiner Relevanz für die Ethik diskutiert. Gegenstand der Ethik ist
die rationale Analyse und Bewertung von Moral. Gegenstand einer Risikoethik
sind dementsprechend nicht alle Risiken, sondern nur solche, die moralisch relevant sind. Die zweite forschungsleitende Frage lautet deshalb:
13
HENRIK PONTZEN
Welche Risiken sind moralisch relevant?
Moralisch relevant werden Risikoentscheidungen, wenn ihnen ein Zumutungscharakter zukommt, d. h. die potentiell negativ bewerteten Handlungsfolgen
nicht nur den oder die Entscheider, sondern auch andere in ihren Rechten
betreffen. Entlang der Unterscheidung: „Wer entscheidet über ein Risiko und
wer ist betroffen von einer Risikoentscheidung?“ wird im zweiten Kapitel eine
Typologie moralisch relevanter Risiken vorgestellt, die insgesamt acht Entscheidungskonstellationen erarbeitet. Um die praktische und lebensweltliche Relevanz solcher Risikoentscheidungen zu betonen, werden diese jeweils in sich
anschließenden Fallbeispielen diskutiert. In der Auswahl dieser Fallbeispiele
dokumentiert sich der interdisziplinäre und empirisch orientierte Ansatz der
vorliegenden Studie: anhand aktueller Fachliteratur sollen u.a. die Risiken des
Passivrauchens, des ungeschützten Geschlechtsverkehrs, der Blutübertragung,
der Fortpflanzung hinsichtlich der Weitergabe von Erbkrankheiten sowie der
Müllentsorgung zunächst näherungsweise bestimmt werden, um im Anschluss
die Möglichkeiten eines ethischen Umgangs mit ihnen zu erörtern. Ziel der
kritischen Diskussion dieser Fallbeispiele ist die Sensibilisierung für die Breite
des Problemhorizonts und die Dramatik konkreter Risikokonflikte. Erst im
Anschluss nähert sich die Arbeit einem systematischen Zugriff, der nicht nur
konkrete Risikokontexte, sondern auch abstrakte Probleme einer Ethik des
Risikos reflektiert. Dieser systematische Zugriff begründet, warum sich die Untersuchung trotz der intensiven Diskussion praktischer Risikokonflikte nicht
exklusiv als Beitrag zur angewandten Ethik versteht. Prominente Zielstellung
der Diskussion ausgewählter Fallbeispiele ist nicht prioritär die Ausarbeitung
einer verbindlichen Lösungen dieser Risikokonflikte, sondern die Vermessung
des durch sie aufgespannten Problemhorizonts, um allererst verständlich zu machen, welchen praktischen Herausforderungen eine Ethik des Risikos gegenüber
steht. Die heterogene Massivität dieser Herausforderungen fördert die Skepsis,
ob Risikoethik überhaupt einen Beitrag zur Regelung praktischer Risikokonflikte leisten kann. Um die Berechtigung dieser Skepsis zu prüfen, widmet sich
der dritte Abschnitt der Untersuchung der forschungsleitenden Frage:
Welche Argumente sprechen gegen die Möglichkeit einer Risikoethik?
Die Untersuchung diskutiert zur Beantwortung dieser Frage die einschlägigen
Thesen Niklas Luhmanns, nach dem der Ethik durch die funktionale Differenzierung der Gesellschaft der Adressat – nämlich das verantwortlich entscheidende Individuum – verloren gegangen sei. Eine Risikoethik könne demnach bestenfalls wirkungslos bleiben, produziere in ihren Appellen nichts als kommunikatives Rauschen und sei deshalb nicht mehr als ein Störfaktor gesellschaftlicher
Funktionalität. Die Untersuchung wählt zur Entkräftung dieser Generalkritik
zunächst den Umweg einer Rekonstruktion der kritisierten Begriffe „Moral“
14
EINLEITUNG
und „Ethik“, um zu ergründen, inwiefern Luhmann diese Begriffe sachgemäß
gebraucht. Es wird erwiesen, dass Luhmanns Kritik diese Begriffe unterkomplex und einseitig auslegt, weshalb seine Kritik teilweise abzulehnen ist. Auf
der anderen Seite wird Luhmanns Kritik als ein wichtiger Impulsgeber für eine
Risikoethik gewürdigt, da sie zurecht betont, dass die Ethik die Realität einer
funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ernstnehmen muss, weshalb ihre
Forderungen anschlussfähig an die Funktionalität gesellschaftlicher Subsysteme
bleiben müssen. Die Moral und die Ethik als ihre Theorie stehen in Konkurrenz
mit anderen Orientierungsinstanzen (Systemrationalitäten) und können deshalb die Wirklichkeit nicht nach ihren Wünschen gestalten, sondern diese nur
in ihrer Funktionalität einer Betonung langfristiger und allgemeiner Interessen
in Frage stellen und punktuell korrigieren. Eine Risikoethik, die sich der Kritik
Luhmanns annimmt, ist daher zugleich bestimmter und bescheidener in ihren
Möglichkeiten zur Gestaltung und Kritik der Verhältnisse. Diese Möglichkeiten
einer Risikoethik lotet das abschließende vierte Kapitel aus. Forschungsleitende
Frage ist hier:
Wie ist Risikoethik möglich?
Die Beantwortung dieser Frage wählt den Weg einer Diskussion verschiedener
Konzepte zu einer Ethik des Risikos. Zunächst werden drei prinzipienethische
Ansätze vorgestellt, nämlich a) deontologische, b) konsequentialistische und c)
diskursethische Konzepte. Die gewählte Unterscheidung ist durch die Zielstellung einer systematischen Einordnung der Konzepte nach den Schwerpunkten
ihrer Argumentation motiviert, allerdings nicht vollständig disjunkt und insofern unscharf.8 Diskursethische Konzepte könnten beispielsweise durchaus
den deontologischen zugeordnet werden, was hier jedoch unterbleibt, um den
prozeduralen Charakter diskursiver Legitimation gesondert herausstellen zu
können.
Deontologische Konzepte, die auf zu wahrende Rechte und zu befolgende
Pflichten abstellen, laborieren maßgeblich an der Schwierigkeit, auf die Unsicherheit und Ungewissheit riskanter Folgen mit einem starren Prinzipien-Set zu
antworten, dass in verschiedenen Risikokontexten keine hinreichende Orientierung und Flexibilität offeriert. Darüber hinaus stehen die Postulate deontologischer Konzepte der gesellschaftlichen Praxis oft derart diametral gegenüber,
dass eine Übersetzung in die Systemrationalitäten funktional ausdifferenzierter
Gesellschaften kaum möglich erscheint, weshalb deontologische Konzepte
Gefahr laufen, sich in ihrem appellativen Charakter zu erschöpfen. Konsequentialistische Konzepte sind hingegen strukturell blind für den einschränkenden normativen Status zu wahrender Rechte und laborieren maßgeblich an
der Schwierigkeit, dass Situationen der Ungewissheit nicht die Informationen
bereitstellen, die zur Anwendung einer Folgenoptimierung notwendig wären.
Diskursive Konzepte, die die Legitimität einer Risikoentscheidung an die Zu-
15
HENRIK PONTZEN
16
stimmung der Betroffenen in einem fairen Diskurs binden, bieten die Möglichkeit, die Vorteile beider Konzepte zu integrieren, sind jedoch oft durch faktische
Restriktionen in ihrer Anwendbarkeit eingeschränkt. Diese artikulieren sich im
Besonderen im Kontext ökologischer Risiken, die häufig gerade zukünftige Generationen betreffen: Ungeborene können unmöglich an aktuellen Diskursen
beteiligt werden. Zusätzlich macht die mit der funktionalen Differenzierung
einhergehende Erosion geteilter Lebenswirklichkeiten, Interessen und Werte
eine notwendige konsensuale Einigung von Risikobetroffenen und –entscheidern immer unwahrscheinlicher, worauf die Untersuchung mit dem Vorschlag
abgestufter Konsensformen reagiert.
Um die Möglichkeit eines gelingenden Umgangs mit verbleibenden Dissensen zu befördern, schließt sich die Untersuchung in ihrem letzten Teil dem
klugheitsethischen Konzept eines „Dissensmanagements auf der Basis einer
provisorischen Moral“ an, wie es Christoph Hubig entwickelt hat. Kern seiner
provisorisch-pragmatischen Risikoethik sind drei sich relativierende Orientierungsregeln für Situationen (moralischer) Unsicherheit. Diese raten an, das
Handeln in Risikosituationen zunächst an bewährten Üblichkeiten zu orientieren (Regel 1). In Risikolagen, die sich in ihrer Spezifität und Neuartigkeit
der Kategorisierung durch bewährte Wahrnehmungs- und Handlungsmuster
entziehen, sollten hingegen diskursiv legitimierte Risikostrategien entschlossen
durchgehalten werden (Regel 2). Dabei sollten sowohl die Handlungskompetenzen der Akteure als auch institutionelle Handlungsroutinen (Üblichkeiten)
beständig darauf geprüft werden, inwiefern sie garantieren können, elementare
Handlungsoptionen nicht irreversibel zu verstellen und Rechte nicht unnötig
zu beschränken: das Handeln sollte sich folglich an der Regel der Selbstbescheidung orientieren (Regel 3).
In der Tradition der Klugheitsethiken stehend kommt diesen ein Dissensmanagement begründenden Regeln weder der Status universalisierbarer
ethischer Imperative zu, noch fundieren sie unbedingt zu wahrende Rechte.
Vielmehr zielen sie als politische Technologie der Dissensminimierung auf einen
klugen, d. h. gelingenden, möglichst konfliktarmen und damit funktionalen
Umgang mit Risikokonflikten. Klugheit wird traditionell definiert als eine „Geschicklichkeit in der Wahl der Mittel zum eigenen größten Wohlsein.“9 Dieser
Definition zufolge stehen Klugheit und Moral in einem Verhältnis der Konkurrenz oder des Gegensatzes und bilden die Polarität von Eigen- und Allgemeinwohl ab. Diese Unterstellung eines Konkurrenzverhältnisses von Klugheit und
Moral fußt jedoch auf einem einseitigen und verkürzten Klugheitsverständnis,
das Klugheit mit Cleverness oder Gerissenheit gleichsetzt. In ihrem Vollsinn
bezeichnet Klugheit mehr als die Fähigkeit zur „effektive[n] Realisierung der
Zwecke durch die Wahl geeigneter Mittel,“10 nämlich die „erworbene Kompetenz einer Person […], durch die sie sich selbst und damit ihr Handeln und Leben vernünftigerweise zu orientieren vermag“11 oder kurz: eine auf langfristiges
Gelingen ausgerichtete „Lebensstrategie“12. Die Zielsetzung langfristigen Selbst-
EINLEITUNG
erhalts ist dabei ohne Rücksicht auf moralisch begründete Rechte und Pflichten
gar nicht denkbar, da erst diese die Möglichkeit eines konfliktarmen und langfristig gelingenden Umgangs miteinander etabliert. Deshalb ist kluges Handeln
geradezu dadurch definiert, dass es sich auf (moralisch) gute Handlungsziele
und -zwecke ausrichtet und diese mit geeigneten Mittel zu realisieren sucht.
Klugheit und Moral stehen insofern weniger in einem Konkurrenz-, sondern
zumindest langfristig in einem Ergänzungsverhältnis. Das Gelingen, auf das ein
kluger Umgang mit Risiken zielt, ist als ein langfristiges und kollektives Gelingen
von Handlungsvollzügen zu verstehen, dem es vor allem um eine Anwendungsfähigkeit ethischer Prinzipien geht, gerade um ihnen in der gesellschaftlichen
Praxis maximale Geltung zu verschaffen. Hintergrund dieser intendierten Anwendungsfähigkeit ist dabei die Überlegung, dass gesellschaftliche Funktionalität durchaus als ethisch bilanzierbares Gut verstanden werden kann, da sie die
Möglichkeit eines allgemein guten und gelingenden Lebens befördert. In diesem Sinne zielt eine provisorisch-pragmatische Risikoethik auf ein beständiges
Abwägen zwischen unter Umständen kontrafaktischen und dysfunktionalen
ethischen Postulaten einerseits und ethisch bedenklichen, jedoch funktionalen
kollektiven Handlungsroutinen andererseits. Maßgabe dieses Abwägungsverhältnisses ist dabei die Zielstellung einer Beförderung der Möglichkeit eines
langfristig und kollektiv gelingenden Lebens.
Dieser klugheitsethische Ansatz setzt somit moralisch motivierte Rechte
nicht ad absolutum und weist ihnen nicht unbedingte Geltung zu. Er ist deshalb
jedoch nicht prinzipienlos, sondern macht vielmehr die Klugheit zum Prinzip.
Kluges Verhalten charakterisiert ein spezifischer „Sinn für Angemessenheit,
[…] der die Besonderheiten der Situation sieht und damit auch beurteilen kann,
wann der richtige Zeitpunkt und der richtige Ort ist, in einer bestimmten Weise
aktiv zu werden.“13 Diese Interpretation von Klugheit als Sinn für Angemessenheit konkurriert nicht mit moralischen Ansprüchen, sondern entschärft diese
um ihre „Tendenz, Streit zu erzeugen oder aus Streit zu entstehen und den
Streit dann zu verschärfen.“14 Luhmann sprach in diesem Zusammenhang vom
„polemogenen Charakter“15 moralischer Kommunikation, die gesellschaftliche
Machtverhältnisse ökonomischer oder politischer Art nicht schon verändern
könne, indem sie deren Wirkmächtigkeit und Sachzwangcharakter ignoriere.
Eine in der Tradition der Klugheitsethiken stehende provisorisch-pragmatische Risikoethik zielt deshalb auf eine maximale nicht aber auf eine unbedingte
Durchsetzung moralischer Normen. Das Beharren auf deontologisch fundierten Geboten wie dem, dass niemand ohne seine Zustimmung gefährdet werden
darf, muss hinsichtlich einer zielführenden Verwirklichung dieser Gebote in
der gesellschaftlichen Praxis adäquat dosiert werden. Dies impliziert einerseits,
Grenzen budgetärer und technischer Art als faktische Restriktionen moralischer Intervention zu akzeptieren; andererseits aber natürlich auch, die Kontrafaktizität moralischer Normen als beständiges Korrektiv gesellschaftlicher
Praxis anzuerkennen.
17
HENRIK PONTZEN
18
Das zentrale Defizit dieser klugheitsethischen Perspektive ist jedoch, nicht
abstrakt und eindeutig trennscharf angeben zu können, welche Risikominimierungsstrategien denn als angemessen und maßvoll ausgezeichnet werden
können. Formal ist die Mitte dadurch ausgezeichnet, von beiden Extremen
den gleichen Abstand zu wahren. Die Identifikation extremer Positionen ist
aber unabhängig von Präferenzen und Überzeugungen der Akteure in Risikokonflikten nicht eindeutig zu leisten. Die Orientierung an sich gegenseitig
korrigierenden Regeln eröffnet folglich erst einen „Raum des Abwägens“16,
in dem Risikokonflikte kontext- und situationssensibel einer möglichst konsensualen Lösung17 zugeführt werden können. Um ein faires und nicht durch
faktische Machtungleichgewichte korrumpiertes Abwägen zu befördern, bleibt
eine provisorisch-pragmatische Risikoethik deshalb angewiesen auf diskursive
Standards.18 Die deontologisch fundierte Forderung einer diskursiven Risikoethik, nach der nur Betroffenenzustimmung Risikoentscheidungen legitimieren
könne, wird durch die Regeln einer provisorisch-pragmatischen Risikoethik
nicht revidiert, sondern nur in ihrer Rigorosität im Interesse gesellschaftlicher
Funktionalität eingeschränkt. Diese liegt im allgemeinen Interesse und kann
in Diskursen gewährleistet werden, in denen sich sowohl Entscheider als auch
Betroffene in der Formulierung ihrer Ziele und Forderungen im Interesse des
langfristigen Selbsterhalts an den sich korrigierenden Regeln der Akzeptabilität
bewährter Üblichkeiten, nachhaltiger Entschlossenheit und sensibler Selbstbescheidung orientieren.
Die provisorische Ausrichtung des von Christoph Hubig erarbeiteten Konzeptes zu einer Ethik des Risikos kann so als flexible und sachgerechte Reaktion
auf die Unsicherheit und Ungewissheit, die Risikosituationen auszeichnet, interpretiert werden. Die Unvermeidlichkeit von Risiken und Risikozumutungen
kann auch durch ethische Konzepte nicht ausgeräumt werden. Hubigs Konzept
könnte aber metaphorisch als interaktive Landkarte interpretiert werden, die
einen Weg durch Risikosituationen hindurch weist und so ein Orientierungswissen an die Hand gibt, das die Frage: „Was soll ich in Risikosituationen tun?“
zu beantworten hilft.
Anmerkungen
1 Rehmann-Sutter et al. (1998, 74).
2 Vgl.: http://nobelprize.org/nobel_prizes/economics/laureates/2002/
3 Bis heute erreichte die „Risikogesellschaft“ 18 Auflagen.
4 Sofsky (2005) untersucht die Folgen einer von ihm ausgemachten Sehnsucht nach totaler Sicherheit. Die gegenwärtige „Versicherungsgesellschaft“ sitze der Illusion totaler
Sicherheit auf und opfere dieser Illusion ihr höchstes Gut: die Freiheit. Die Studie glänzt
und begnügt sich mit einer stilistischen Brillanz, der es nicht um eine konstruktive
Kritik des „Prinzip[s] Sicherheit“ zu tun ist. Vorschläge zu einer freiheitssichernden
Risikopolitik bleiben leider aus. Nicht zuletzt diese streitbare Einseitigkeit seiner Studie
beförderte aber ihre breite, kontroverse und verkaufsfördernde Rezension. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.09.2006, Süddeutsche Zeitung, 03.08.2006, Die Zeit,
21.12.2005.
5 Hampe (2006) analysiert in seinem originellen und luzidem Essay Interpretationen des
Zufalls in Mythologie, Wissenschaft und Philosophie. Das im Untertitel angekündigte
Unternehmen, den „Umgang mit dem Risiko“ zu untersuchen, bleibt allerdings aus.
Selbst der Begriff des Risikos findet sich außer im Titel auf über 200 Seiten nur noch ein
einziges mal. Es ist deshalb zu vermuten, dass „Risiko“ hier erfolgreich als aufmerksamkeitsförderndes Label fungiert. Vgl. Neue Zürcher Zeitung, 02.10.2006.
6 Rehmann-Sutter et al. (1998, 25).
7 Dieser Einschätzung folgt das von Michael Fürst (2005) unternommene Projekt einer
„Risiko-Governance“, das eine Analyse der „Wahrnehmung und Steuerung moralökonomischer Risiken“ leistet und insbesondere darauf zielt, die Leistung ethischer Maßnahmen messbar zu machen, um sie in die bestimmende betriebswirtschaftliche Entscheidungspraxis leichter integrieren zu können. Die erst angekündigte Arbeit von Jochen
Fehling (2006) operiert mit der Zielstellung einer „Risikoethik der Selbstbestimmtheit“
ebenfalls auf dem Grenzgebiet von Ethik und Ökonomie, um die Wahrscheinlichkeit
einer erfolgreichen Umsetzung risikoethischer Normen in einer kapitalistischen Gesellschaft zu erhöhen.
8 Vgl. Hübenthal (2002, 67), der zum Problem der Einteilung „historisch vorfindbarer
Positionen der Ethik“ bemerkt, dass solche Einteilungen immer „nur einen tentativen
Status beanspruchen“ könnten, da sich konkrete ethische Konzepte der Zielstellung
einer „vollständigen Disjunktion“ entzögen.
ANHANG
9 Kant (1999, 416).
10 Luckner (2005, 75).
11 Ebd., 3.
12 Ebd.
13 Ebd., 78.
14 Luhmann (1989, 370).
15 Ebd.
16 Hubig (1997, 12).
17 Einen Überblick über Formen abgestuften Konsenses wird im Anschluss an Renn (1998,
45) in Kapitel IV 3.3. gegeben.
18 Kettner (1999, 153 ff.).
152
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