1.1 Mechanismen der Steuerung der Embryonalentwicklung

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1.1 Mechanismen der Steuerung
der Embryonalentwicklung
Bodo Christ und Beate Brand-Saberi
Wer weiter nichts als die Kreaturen erkennte,
der braucht an keine Predigt zu denken,
denn jegliche Kreatur ist Gottes voll und ist ein Buch.
Meister Eckhart
Inhaltsverzeichnis
1.1.1
Geschichte des Entwicklungsbegriffs . . .
3
Grundvorgänge der Entwicklung . . . . .
Wachstum . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Zellteilung und Zellvermehrung . . . . . .
Zellvergrößerung . . . . . . . . . . . . . . .
Bildung von extrazellulärer Matrix (ECM)
Gene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Transkriptionsfaktoren . . . . . . . . . . . .
Differenzierung . . . . . . . . . . . . . . . .
Apoptose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Extrazelluläre Matrix, Zelladhäsionsmoleküle und Zell-Matrix-Interaktionen .
1.1.2.7
Gemeinschaftseffekt (Community Effect)
1.1.2.8
Signalaustausch zwischen Zellen . . . . . .
1.1.2.8.1 Transformierender Wachstumsfaktor . . .
1.1.2.8.2 Fibroblastenwachstumsfaktoren . . . . . .
1.1.2.8.3 Epidermale Wachstumsfaktoren . . . . . .
1.1.2.8.4 Insulinähnliche Wachstumsfaktoren . . . .
1.1.2.8.5 Hedgehog-Familie . . . . . . . . . . . . . . .
1.1.2.8.6 WNT-Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1.2.8.7 Das Delta-Notch-System . . . . . . . . . . .
1.1.2.8.8 Die LIF-Familie . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1.2.8.9 Das Ephrinsystem . . . . . . . . . . . . . . .
1.1.2.8.10 Neurotrophine . . . . . . . . . . . . . . . . .
1.1.2.9
Morphogenetische Prozesse . . . . . . . . .
1.1.2.9.1 Morphologie und Vorkommen
von Epithelien in der Entwicklung . . . .
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7
9
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1.1.2
1.1.2.1
1.1.2.1.1
1.1.2.1.2
1.1.2.1.3
1.1.2.2
1.1.2.3
1.1.2.4
1.1.2.5
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1.1.2.9.3
1.1.2.9.4
1.1.2.9.5
1.1.2.9.6
1.1.2.10
1.1.2.10.1
1.1.2.10.2
1.1.2.11
1.1.2.11.1
1.1.2.11.2
1.1.2.11.3
1.1.2.11.4
1.1.2.11.5
1.1.2.11.6
1.1.2.12
1.1.2.12.1
1.1.2.12.2
1.1.2.13
1.1.2.14
1.1.3
Gastrulation . . . . . . . . . . . . . . . . .
Regeneration . . . . . . . . . . . . . . . .
Grenzziehungen . . . . . . . . . . . . . .
Fusionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Rechts-links-Asymmetrie . . . . . . . . .
Gefäßentwicklung . . . . . . . . . . . . .
Angiogenese . . . . . . . . . . . . . . . . .
Lymphangiogenese . . . . . . . . . . . . .
Entwicklung des Nervensystems . . . .
Induktion des Nervensystems . . . . . .
Bildung des Neuralrohrs . . . . . . . . .
Segmentierung des Gehirns . . . . . . .
Dorsoventrale Polarisierung
der Rückenmarksanlage . . . . . . . . .
Strukturentwicklung des ZNS . . . . . .
Wachstum der Axone . . . . . . . . . . .
Entwicklung der Extremitäten . . . . . .
Reziproke Interaktionen zwischen
Ektoderm und Mesoderm . . . . . . . .
Anterior-posteriore und dorsoventrale
Polarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Entwicklung der Nieren . . . . . . . . . .
Die Entwicklung einer Drüse
am Beispiel des Pankreas . . . . . . . . .
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39
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
21
1.1.1 Geschichte des Entwicklungsbegriffs
Das Fragen nach der Herkunft, dem Sein, dem
Werden und Vergehen des Menschen hat bereits
antike Philosophen beschäftigt und zu anatomischen und embryologischen Studien angeregt.
Die ersten ausführlichen Abhandlungen über Entwicklungsphänomene und deren Ursachen stammen von Aristoteles (384–322 v. Chr.) insbesondere in seinem Werk „Von der Zeugung und Ent-
wicklung der Tiere“. Aristoteles beschreibt die Entwicklung des Hühnchens im Ei. Inmitten der sich
ausbildenden Formen beobachtete er das pulsierende Herz und beschrieb es als den „springenden
Punkt“. Die Formentwicklung (Morphogenese)
wird nach Aristoteles durch ein gestaltendes Prinzip „entelecheia“ vorangetrieben. Das gesamte
Universum befindet sich danach in einer ständigen
Bewegung von niederen zu höheren Entwicklungsstufen. Die Vervollkommnung der Form, welche
die Materie prägt, geschieht nach einer VorstelGanten/Ruckpaul (Hrsg.)
gemeinsam mit R. R. Wauer
Molekularmedizinische Grundlagen
von fetalen und neonatalen Erkrankungen
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005
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B. Christ und B. Brand-Saberi
lung, „eidos“, die dem wirksamen Prinzip innewohnt.
Für die mittelalterlichen Menschen war die
göttliche Schöpfung der Natur und des Menschen
eher Gegenstand kontemplativer Betrachtungen.
Mit Beginn der Renaissance im 16. Jahrhundert
begann wiederum eine mehr gegenstandsbezogene
Forschung und es wurden Befunde erhoben, die
im Verlauf der folgenden Jahrhunderte in Abhängigkeit von den sich ständig verbessernden Untersuchungsmethoden an Exaktheit zunahmen und
die unser heutiges naturwissenschaftliches Weltbild, d. h. unsere „Weltanschauung“, geprägt haben.
In der Embryologie stand zunächst die Lehre
von der Präformation ganz im Vordergrund. Diese
besagte, dass der Embryo von Anfang an mit allen
Teilen ausgestattet ist. Diese Teile sollten zu Beginn der Entwicklung so winzig sein, dass sie
nicht identifiziert werden könnten. Die vollständig
ausgestatteten Miniaturtiere oder -menschen (Homunculi) sollten entweder in den 1677 von dem
Studenten Hamm entdeckten Spermienköpfen oder
in den von de Graaf 1672 beschriebenen Eiern
(Follikeln) enthalten sein. Die beweglichen Spermien wurden zunächst als Tierchen (Zoa oder
Animalcula) beschrieben und später von Karl
Ernst von Baer als Samentiere (Spermatozoa) benannt. Diejenigen, die sie als Sitz der Homunculi
ansahen, wurden als Animalkulisten bezeichnet
(Abb. 1.1.1). Demgegenüber hießen diejenigen,
welche die voll ausgestatteten menschlichen Winzlinge in den Eiern vermuteten, Ovisten. Die Präformationslehre führte die Ovisten konsequenterweise
zur Formulierung der Einschachtelungslehre (Emboîtement), die auf den Philosophen Malebranche
(1688) zurückgeht und besagt, dass bereits im
Ovar der Urmutter Eva ineinander verschachtelt
200 Millionen Miniaturmenschen enthalten gewesen seien, die alle von Gott vor 6000 Jahren an einem Tag geschaffen die Erde bis an das Ende aller
Tage bevölkern würden (nach Hertwig 1906).
Der Streit zwischen Ovisten und Animalkulisten
schien zugunsten der Ovisten auszugehen, als der
Genfer Gelehrte Charles Bonnet die Jungfernzeugung (Parthenogenese) der Blattläuse entdeckte. Er
hatte eine Blattlaus sorgfältig isoliert und beobachtete, dass sie, ohne je mit einem Männchen Kontakt gehabt zu haben, öfter hintereinander lebendige Junge zur Welt brachte. Nach den Vorstellungen
der Ovisten und Animalkulisten waren die unendlich kleinen Miniaturbilder der später ausgewachsenen Geschöpfe in Hüllen eingeschlossen, die im
Verlauf ihres Wachstums durchbrochen und abgeworfen würden. Dieser Prozess der Auswickelung
Abb. 1.1.1. Winziger Mensch in einem Spermium. Darstellung nach Nicholas Hartsoeker (1656–1725)
aus den Hüllen, diese „Entkapselung“, wurde als
Entwicklung oder Evolution bezeichnet. So genaue
Beobachter der Embryonalentwicklung des Hühnchens und der Amphibien wie William Harvey, Albrecht von Haller, Antoni van Leeuwenhoek, Marcello Malpighi und Jan Swammerdam, waren von
der Richtigkeit der Präformationstheorie überzeugt
(Abb. 1.1.2).
Ein Bedeutungswandel des Entwicklungsbegriffs
wurde durch die Arbeiten von Caspar Friedrich
Wolff eingeleitet, der 1759 die Theorie der Epigenese entwickelte. Er ging dabei davon aus, dass
die Entwicklung ein Fortschreiten vom Einfachen
zum Komplizierten darstellt: „Die verschiedenen
Teile eines tierischen Körpers entstehen alle einer
nach dem anderen, ein jeder Teil ist also allemal
erstlich ein Effekt eines anderen vorhergehenden
Teils und als dann wiederum Ursache anderer fol-
a
1.1 Mechanismen der Steuerung der Embryonalentwicklung
hen werden. Von Baer war durch seinen Jugendfreund Pander, der 1817 in den „Beiträgen zur
Entwicklung des Hühnchens im Ei“ bereits den
Übergang von der zweiblättrigen zur dreiblättrigen
Keimscheibe beschrieben hatte, für die embryologische Forschung begeistert worden. In seinem
Hauptwerk über die Embryologie der Tiere hat
von Baer 1828 am eingehendsten die Entwicklung
des Hühnchens vom Anfang der Bebrütung bis
zum Schlüpfen aus dem Ei beschrieben (Abb.
1.1.3). Dabei entdeckte er beispielsweise den Primitivstreifen. Er beobachtete, dass die Wirbeltiere
vorübergehend ein sehr ähnliches Embryonalstadium durchlaufen, wobei die Embryonen höherer
Tiere jedoch nie den bleibenden Formen niederer
Tiere entsprächen: „Im Grunde ist also nie der
Embryo einer höheren Tierform einer anderen
Tierform gleich, sondern nur ihrem Embryo.“ Er
widersprach damit der insbesondere von Meckel
und später von Haeckel (1834–1919) formulierten
These, die noch heute kontrovers diskutiert wird,
dass nämlich die Individualentwicklung (Ontogenese) eine abgekürzte Form der Stammesgeschichte (Phylogenese) darstelle. Hier zeigte sich besonAbb. 1.1.2. Darstellung der Entwicklung des Hühnerembryos
nach Marcello Malpighi (1628–1694)
gender Teile.“ Die späteren Organe sind demnach
nicht als solche in kleinem Maßstab zu Beginn der
Entwicklung vorhanden, sondern sie bilden sich
allmählich aus. So beschreibt Wolff in seiner
Schrift „De formatione intestinorum“, die 1768 erschien, wie sich der Darm des Hühnerembryos aus
einem Darmblatt über eine Darmrinne entwickelt,
deren Ränder sich einander nähern, um schließlich zu einem Rohr zu verschmelzen (nach Hertwig 1906).
Ein weiterer wesentlicher Anstoß zum besseren
Verständnis der Embryonalentwicklung kam vom
Abt Lazzaro Spallanzani (1729–1799), der 1780 erfolgreich künstliche Befruchtungen sowohl von
Amphibien mit Samen aus den Samenblasen der
Männchen durchführte und dem sogar die künstliche Befruchtung einer Hündin durch Injektion von
Samen eines Hundes in die Gebärmutter gelang.
Dadurch wurde erstmals demonstriert, dass beide
Geschlechter einen Beitrag zur Zeugung der Nachkommen liefern müssen (nach Hertwig 1906).
Die Eizelle selbst wurde von Karl Ernst von
Baer (1792–1876) entdeckt. Er gehörte zu den ganz
großen Forschern des 19. Jahrhunderts und kann
als Schöpfer der modernen Embryologie angese-
Abb. 1.1.3. Deckblatt des Buches über die Entwicklung des
Hühnchens im Ei von Karl Ernst von Baer (1828)
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B. Christ und B. Brand-Saberi
ders augenfällig, wie die wachsende Erkenntnis
von naturwissenschaftlichen Zusammenhängen einen Wandel der „Weltanschauung“ bewirken kann.
Eine weitere Dimension in der Betrachtung von
Entwicklungsvorgängen wurde durch die Beobachtungen von Schleiden (1838) und Schwann (1839)
eröffnet, dass alle Lebewesen aus Zellen zusammengesetzt seien, welche die kleinsten noch selbstständig lebensfähigen Bauelemente des Organismus darstellen. Hinzu kam die Erkenntnis, dass
Zellen nur durch Teilung von Zellen entstehen
können (Virchow 1855: „omnis cellulae e cellula“).
Dadurch wurde klar, dass es im Verlauf der Entwicklung zu einer Spezialisierung von ursprünglich gleich aussehenden Zellen kommen
muss (Differenzierung).
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann auf der Basis dieser Erkenntnisse und der Verfeinerung der mikroskopischen Untersuchungsmethoden, deren Entwicklung insbesondere von Remak, Kölliker und Hensen vorangetrieben worden
waren, die Epoche der Zellbiologie, Genetik und
der experimentellen Embryologie. Aufgrund von Ergebnissen mikrochirurgisch durchgeführter Defektund Isolationsexperimente an Embryonen verschiedener Spezies begann sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass embryonale Zellen bzw. Zellgruppen
für ihre Differenzierung Informationen von außen
benötigen. Driesch erkannte, dass das Schicksal einer Zelle abhängig von ihrer Lage im Ganzen ist.
Demnach sind die Zellen im jungen Embryo einer
„Positionsinformation“ ausgesetzt, die ihr weiteres
Schicksal festlegt (determiniert). Die induktiven
Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Keimabschnitten wurden am Beispiel des Amphibienkeims von Spemann u. Mangold untersucht und
führten zur Entdeckung eines den Embryo „organisierenden“ Keimbezirks, der beim Amphibienembryo in der oberen Urmundlippe und bei Vögeln
und Säugern im Hensen-Knoten lokalisiert ist (Spemann u. Mangold 1924, Abb. 1.1.4). Diese Fähigkeit
multipotenter Zellen, sich entsprechend äußerer Befehle (Signale) zu differenzieren, wird gegenwärtig
in der Stammzellenforschung mit dem Ziel der Gewebszüchtung genutzt.
Aus der Beobachtung, dass sich aus einem
Hühnerei immer nur ein Huhn und niemals ein
Adler oder eine Taube entwickelt, kann geschlossen werden, dass der Hühnchenbauplan bereits im
Hühnerei vorhanden sein muss. Das bedeutet, dass
auch alle epigenetischen Prozesse während der
Embryonalentwicklung letztendlich durch die Erbanlagen gesteuert werden. Diese artgemäße Steuerung der Entwicklungsprozesse führte Weismann
Abb. 1.1.4. Originalpräparat von Spemann und Mangold mit
experimentell induzierter Embryonalachse (Pfeil) nach
Transplantation der dorsalen Urmundlippe
(1885) zur Formulierung der Keimplasmatheorie.
Er postulierte eine besondere Substanz, das Keimplasma, das im Zellkern lokalisiert ist und den
Träger der arteigenen Erbinformation darstellt.
Dieses Keimplasma ist nach Weismann aus sehr
vielen Stoffteilchen, den Determinanten, zusammengesetzt, die ihrerseits aus noch kleineren Einheiten, den Biophoren, bestehen. Mit zunehmenden Zellteilungen sollen die Determinanten in der
Weise auf die Tochterzellen verteilt werden, dass
am Ende in jeder Zelle nur noch eine Art von Determinanten vorhanden ist, die den betreffenden
Zelltyp spezifiziert.
Flemming u. Strasburger entdeckten die Chromosomen, die nach Boveri für die Steuerung der
Entwicklung verantwortlich sind. Boveri stellte
darüber hinaus fest, dass zwischen dem Zytoplasma und den Chromosomen Wechselwirkungen bestehen. Die Voraussetzungen für die biochemische
und molekulare Entwicklungsbiologie wurden
schließlich durch Watson u. Crick geschaffen, die
a
1953 die Struktur und Bedeutung der DNA als
Träger der genetischen Information aufklärten.
Das Wechselspiel zwischen der DNA und zytoplasmatischen Faktoren, die Funktion einzelner Gene
sowie die Analyse des Austauschs und Transports
von Signalmolekülen zwischen den embryonalen
Zellen sind gegenwärtig Schwerpunkte der entwicklungsbiologischen Forschung, deren Ergebnisse in den folgenden Abschnitten beispielhaft diskutiert werden sollen.
Dabei werden Befunde vorgestellt, die größtenteils an Modellorganismen gewonnen wurden und
zu einem besseren Verständnis der Entwicklungsprozesse bei höheren Vertebraten beitragen. Die
wichtigsten Modellorganismen für das Studium
der Wirbeltierentwicklung sind der Afrikanische
Krallenfrosch (Xenopus laevis), der Zebrafisch
(Brachydanio rerio), das Hühnchen und die Maus.
Die Grundvorgänge der Entwicklung laufen bei
diesen Organismen grundsätzlich ähnlich ab und
sie erlauben darüber hinaus Rückschlüsse auf die
Entwicklung menschlicher Embryonen. Auch die
molekularen Steuerungsmechanismen der Organund Embryonalentwicklung dieser Spezies stimmen weitgehend überein.
Der jeweilige Modellorganismus wird in Abhängigkeit von der Problemstellung und den anzuwendenden
Untersuchungsmethoden
ausgewählt.
Wenn im nachfolgenden Beitrag ein großer Teil
des Bildmaterials der Hühnchenentwicklung entstammt, so werden damit keine hühnchenspezifische, sondern allgemeingültige Entwicklungsvorgänge illustriert. Der Grund für die starke Repräsentanz des Hühnchens liegt in dem Umstand begründet, dass die Autoren dieses Beitrags vorwiegend mit Hühnerembryonen gearbeitet haben und
daher auf entsprechendes Bildmaterial zurückgreifen können.
1.1 Mechanismen der Steuerung der Embryonalentwicklung
1.1.2 Grundvorgänge der Entwicklung
1.1.2.1 Wachstum
Unter Wachstum verstehen wir eine Volumen- und
Massenzunahme des Körpers. Sie kommt zustande
durch
• Zellvermehrung,
• Zellvergrößerung und
• Bildung von Interzellularsubstanz.
1.1.2.1.1 Zellteilung und Zellvermehrung
Die Zellvermehrung durch wiederholte Zellteilung
wird als Proliferation bezeichnet. Wenn sich die
Zelle teilt, durchläuft sie eine Folge von bestimmten Ereignissen, die man als Zellzyklus bezeichnet.
In der Mitose-Phase (M-Phase) werden die duplizierten Chromosomen auf zwei Tochterkerne verteilt und es entstehen schließlich zwei Tochterzellen. Der M-Phase wird die Interphase gegenübergestellt, die ihrerseits aus der G1-(Gap-1-)Phase,
der S-(Synthese-)Phase und der G2-Phase besteht.
Nach der Zellteilung am Ende der M-Phase
können die Zellen entweder in die G1-Phase eintreten und einen weiteren Zellzyklus durchlaufen
oder sie ziehen sich vorübergehend oder permanent aus dem Zellzyklus zurück, z. B. um sich
zu differenzieren (Abb. 1.1.5 u. 1.1.6). Dieser postmitotische Ruhezustand wird als G0-Phase bezeichnet. In der S-Phase wird die DNA verdoppelt
(repliziert). In der G1- und insbesondere in der
G2-Phase werden Informationen von den Genen
auf mRNA umgeschrieben (transkribiert). In jungen Embryonen können die G1- und G2-Phasen
extrem verkürzt sein, da eine Transkription noch
nicht erforderlich ist. Dadurch wird die Dauer der
Zyklen deutlich verkürzt.
Die Abfolge der Ereignisse des Zellzyklus wird
von internen Oszillatoren, den Zyklinen angetrieben, die mit einem anderen kontinuierlich hergestellten Protein (CDC2) interagieren und den
„mitosis promoting factor“ (MPF) bilden (Draetta
1990, Kumagai u. Dunphry 1991, Murray u. Hunt
1993). MPF wird durch Kinasen und Phosphatasen
modifiziert und aktiviert. Die Steuerung der Proliferation erfolgt durch Wachstumsfaktoren (z. B.
Fibroblastenwachstumsfaktor, FGF), die zum Teil
zellartspezifisch wirken, und durch andere Signalproteine (z. B. Sonic Hedgehog, SHH) oder WNTProteine, die in der G1-Phase an die entsprechenden Rezeptoren der Zelloberfläche binden. Durch
Transduktion der Signale in den Zellkern erfolgt
7
8
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Abb. 1.1.6. Transversalbruch eines 2-tägigen Hühnerembryos
im Bereich des Dermomyotoms. Beachte die hochprismatischen Epithelzellen und die abgerundeten Zellen, die sich in
der Mitose befinden (*). Aufnahme: Dr. H. J. Jacob, Bochum
Abb. 1.1.5. Querschnitt eines 2 Tage alten Hühnerembryos
nach Applikation von 5-Brom-2'-deoxyuridin und 20-minütiger Wiederbebrütung. Die dunkel gefärbten Kerne haben die
S-Phase durchlaufen. Die Zellen des Myotoms (Pfeile) sind
postmitotisch und haben sich aus dem Zellzyklus zurückgezogen (G0-Phase)
eine Aktivierung des Zellzyklus. Wachstumshormone sind weitere Faktoren, welche die Zellproliferation fördern. Die insulinähnlichen Wachstumsfaktoren 1 und 2 (IGF-1 und IGF-2) sind dafür
Beispiele (Baker et al. 1993, Heyner u. Garside Abb. 1.1.7. Transversalschnitt eines 2-tägigen Hühnerembry1994). Werden die Gene für IGF-1 oder IGF-2 bei os. Mittels In situ-Hybridisierung ist die Expression des
der Maus inaktiviert, so ist das Körpergewicht der Myostatin-Gens im Dermomyotom dargestellt
Neugeborenen stark reduziert (Fournier u. Lewis
2000). Andererseits kann das Körpergewicht durch
vermehrte Bildung dieser Wachstumsfaktoren be- der auch Myostatin genannt wird (Abb. 1.1.7). Dieträchtlich erhöht werden, wobei sowohl die Zell- ser zur TGF-b-Superfamilie (transformierender
zahl erhöht ist als auch die einzelnen Zellen ver- Wachstumsfaktor b) gehörende Faktor begrenzt
größert sind (Coleman et al. 1995). Neben Signal- Zahl und Größe der Skelettmuskelfasern (McPhermolekülen, welche die Proliferationsrate der Zellen ron et al. 1997). Mäuse mit inaktiviertem Myostaerhöhen, sind auch solche bekannt, welche die tin-Gen sind 30% schwerer als Wildtypmäuse, da
Proliferation hemmen. Als Beispiel sei der „growth die Einzelmuskeln der Mutanten zwei- bis dreimal
and differentiation factor“ 8 (GDF-8) angeführt, soviel Masse aufweisen wie die entsprechenden
a
1.1 Mechanismen der Steuerung der Embryonalentwicklung
Muskeln der Normaltiere. Die Blockade der
Myostatin-Wirkung durch die Applikation von Antikörpern führt zu einer Vermehrung der Muskelmasse und einer Verbesserung der Muskelfunktion
bei der mdx-Maus, die eine Muskeldystrophie entwickelt (Bogdanovich et al. 2002).
1.1.2.1.2 Zellvergrößerung
Einige Gewebe bzw. Organe wachsen insbesondere
in der Fetalzeit (Entwicklungsperiode vom Beginn
des 3. Monats bis zur Geburt) sowie nach der Geburt durch Größenzunahme der Zellen. Als Beispiel sei das zentrale Nervensystem angeführt, das
durch Vermehrung und Wachstum der Zellfortsätze, deren Ummantelung mit Myelin sowie durch
Volumenzunahme der Perikarya der Nervenzellen
an Masse zunimmt. Ein weiteres Beispiel für extensives Zellwachstum stellt die Skelettmuskulatur
dar. Durch die Einlagerung von Strukturproteinen
in die Muskelfasern, die für die Kontraktilität der
Fasern von Bedeutung sind, erfolgt deren Volumenzunahme. IGF-1 und IGF-2 wirken auch auf
das Wachstum von Muskelfasern stimulierend
(Coleman et al. 1995). Interessanterweise werden
beide insulinähnlichen Wachstumsfaktoren auch
von den Muskelzellen selbst gebildet, sodass sie
nicht nur systemisch, sondern auch auto- oder parakrin wirken dürften. Auf die das Wachstum der
Muskelzellen hemmende Wirkung von Myostatin
wurde bereits hingewiesen.
Abb. 1.1.8. Knorpeldifferenzierung in der Extremitätenanlage eines Hühnchens. Beachte die rötliche knorpelspezifische
extrazelluläre Matrix zwischen den noch eng beieinander
liegenden Knorpelbildungszellen
1.1.2.1.3 Bildung von extrazellulärer Matrix (ECM)
Die Bildung von Zwischenzellensubstanz, die auch
extrazelluläre Matrix genannt und im angloamerikanischen Schrifttum ECM abgekürzt wird, beginnt mit der Transformation von Epithelien in
embryonales Bindegewebe (Mesenchym). Die ECM
ist gewebsspezifisch zusammengesetzt und wird
von lokalen Mesenchymzellen sezerniert. Das Mengenverhältnis von Zellen zur ECM wechselt in Abhängigkeit vom Gewebstyp und verändert sich
auch während der Entwicklung (Abb. 1.1.8 u.
1.1.9). Besonders deutlich ist das durch starke
ECM-Produktion verursachte Wachstum des hyalinen Knorpels, bei dem der Volumenanteil der
ECM den der Zellsubstanz weit übertrifft. Die Vermehrung der ECM im hyalinen Knorpel ist die Ursache seines von innen heraus erfolgenden (interstitiellen) Wachstums (Benninghoff u. Drenckhahn
2003).
Abb. 1.1.9. Kollagenes Fibrillennetz der extrazellulären Matrix (ECM) im embryonalen Bindegewebe. * Fibroblast
1.1.2.2 Gene
Ein Gen ist ein DNA-Abschnitt, der Funktionen im
Leben eines Organismus hat. Die meisten Gene
von eukaryonten Zellen sind in den Chromosomen
der Kerne lokalisiert. Einige Gene lassen sich in
der DNA der Mitochondrien nachweisen. Entwicklungskontrollgene sind solche Gene, die bei der
Festlegung und Steuerung des Körperbauplans sowie bei der Differenzierung der Gewebe wichtige
Funktionen haben. Bei der Expression eines Gens
wird der dem Gen entsprechende Abschnitt der
DNA transkribiert, d. h. in RNA übersetzt. Bei den
9
10
B. Christ und B. Brand-Saberi
meisten Genen wird diese RNA auch in Proteine
translatiert und nur bei wenigen Klassen von Genen (z. B. rRNA-Genen) erfüllt die transkribierte
RNA eine biologische Funktion und wird nicht in
ein Protein translatiert. In der Entwicklung spielt
die unterschiedliche (differenzielle) Genexpression
eine große Rolle, da in allen Zellen die für die differenzierten adulten Zellen typischen Expressionsmuster irgendwann einmal angeschaltet werden
müssen. Die Kontrolle der Genexpression ist abhängig von regulatorischen Sequenzen der RNA,
den Enhancer- und Promotorregionen und von
Proteinen, die Transkriptionsfaktoren genannt werden, und die mit diesen DNA-Sequenzen interagieren und die Transkription der Gene entweder
hemmen oder aktivieren.
Zum Nachweis, dass ein bestimmtes Gen zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten
Ort exprimiert wird, kann man das translatierte
Protein z. B. durch spezifische Antikörper nachweisen. Häufiger jedoch wird die transkribierte RNA
mittels In situ-Hybridisierung nachgewiesen. Um
den Effekt eines Gens auf die Entwicklung zu studieren, hat sich die Methode der Ausschaltung
spezifischer Gene in sog. Knock out-Mäusen bewährt. Dafür wird ein DNA-Molekül (Vektor) hergestellt, das mit den Sequenzen in dem auszuschaltenden Gen homolog ist. Durch homologe
Rekombination wird dieser Vektor in das Gen eingebaut, das dadurch in seiner Nukleinsäuresequenz
so verändert wird, dass es nicht mehr ordnungsgemäß transkribiert werden kann. Derartige gezielte Mutagenesen werden an embryonalen
Stammzellen der Maus durchgeführt, die in Blastozysten implantiert werden.
über einen langen Zeitraum der Evolution erhalten
geblieben sind. Die 183 Basenpaare der Homöobox-Gene kodieren ein aus 61 Aminosäuren bestehendes Proteinsegment, dass die Eigenschaft besitzt, spezifisch an die DNA zu binden und damit
die Expression anderer Gene zu steuern. Dieses
Proteinsegment wird als Homöodomäne oder Helix-Turn-Helix-Motiv bezeichnet. Die Expressionsdomänen von Homöobox-Genen sind häufig
räumlich auf bestimmte Strukturen begrenzt, für
deren Entwicklung sie zuständig sind. Oftmals
wirken mehrere Homöobox-Gene einer Steuerungsebene in kombinatorischer Weise zusammen.
So wird die regionale Gliederung der Wirbelsäule
und der Extremitäten durch spezifische Expressionsmuster von Homöobox-Genen gesteuert. Andere Gruppen von Entwicklungskontrollgenen sind
die pax-Gene oder die Gene, die für die myogenen
Determinationsfaktoren (MYF-5, MyoD, MRF4 und
Myogenin) kodieren (Abb. 1.1.10). Letztere gehören zu den basischen Helix-Loop-Helix-(bHLH-)
Proteinen. Weitere Transkriptionsfaktoren sind die
Zinkfinger-Proteine und die T-Box-Faktoren.
1.1.2.3 Transkriptionsfaktoren
Transkriptionsfaktoren sind die Proteine, welche
die Transkription regulieren. Den Transkriptionsfaktoren ist gemeinsam, dass sie sich an spezifische Stellen der DNA anlagern und dadurch die
Transkription bestimmter Gene beeinflussen
können. Gene, die in der Entwicklung für Transkriptionsfaktoren kodieren, werden als Entwicklungskontrollgene bezeichnet. Eine besonders
wichtige Gruppe von Transkriptionsfaktoren sind
die Produkte der Homöobox-(hox-)Gene. Der Name Homöobox bezeichnet einen hochgradig konservierten DNA-Abschnitt von 183 Basispaaren.
„Konserviert“ heißt in diesem Zusammenhang,
dass identische DNA-Sequenzen bei vielen verschiedenen Lebewesen zu finden und sie somit
Abb. 1.1.10. Expression des myod-Gens bei einem Hühnerembryo während des 5. Bebrütungstages. Beachte die segmentalen Muskelanlagen in der Rumpfwand und die Vormuskelmassen in den Extremitätenknospen
a
1.1.2.4 Differenzierung
In vielen Geweben geht die Proliferation der Zellen
ihrer Differenzierung voraus. Die Balance zwischen
diesen beiden Prozessen bestimmt die artspezifische Menge von Zellen in den sich entwickelnden
Geweben und Organen (Raff 1996, Christ et al.
2001, Patel et al. 2002). In den meisten Geweben
bleiben in ihrem Schicksal zwar festgelegte (determinierte), jedoch noch teilungsfähige Zellen erhalten, die als Stammzellenersatz für physiologischerweise absterbende Zellen oder für Reparaturprozesse zur Verfügung stehen, wie z. B. die Satellitenzellen der Skelettmuskulatur. Die Zelldifferenzierung führt zu unterschiedlichen Zelltypen, wie
Nerven-, Muskel-, Fett-, und Knorpelzellen, die
sich in ihrer Morphologie, Proteinausstattung und
Funktion unterscheiden. In höheren Vertebraten
können mehr als 200 differenzierte Zelltypen eindeutig voneinander unterschieden werden. Der
Zelldifferenzierung liegt eine kontinuierlich erfolgende Veränderung der Genexpression zugrunde,
die schließlich zur Bildung der zelltypischen Proteine führt. Die gewebsspezifische Programmierung (Spezifizierung) der Zellen läuft in der Regel
schrittweise ab und erstreckt sich über mehrere
Zellgenerationen. In den frühen Phasen erfolgen
offenbar Aktivitätsänderungen nur einiger weniger
Gene, die Zellen werden jedoch hinsichtlich ihrer
Differenzierungspotenzen immer stärker eingeschränkt (Restriktion der prospektiven Potenz).
Wenn sie sich nur noch zu einem einzigen Zelltyp
entwickeln können, werden sie als „determiniert“
bezeichnet. Differenziert ist die Zelle, wenn sie
aufgrund der gewebs- oder organtypischen Merkmale identifiziert werden kann. Die noch teilungsfähige determinierte Zelle vererbt ihr Differenzierungsprogramm auf ihre Tochterzellen. Es wird somit ein Zellgedächtnis etabliert, das gewebs- bzw.
organtypische Regenerationen oder Reparaturen
ermöglicht. So gehen beispielsweise bei einer Muskelschädigung aus den Stammzellen, die mit den
Muskelfasern assoziiert sind, den Satellitenzellen,
immer Muskelzellen und nie Nervenzellen hervor.
Einmal installierte Differenzierungsprogramme
werden normalerweise zeitlebens beibehalten. Änderungen dieses Programms, die als Transdifferenzierung bezeichnet werden, stellen normalerweise
selten vorkommende Ereignisse dar, bei der
Züchtung und Spezifizierung von Stammzellen
sind sie dagegen von großer Bedeutung.
Die einzelnen Schritte der Zelldifferenzierung
werden von zahlreichen äußeren Signalen gesteu-
1.1 Mechanismen der Steuerung der Embryonalentwicklung
ert. Bei jedem Schritt des Differenzierungsprozesses verfügt die Zelle jeweils über nur wenige Optionen. Die von außen einwirkende Information ist
daher weniger instruktiv als vielmehr permissiv.
So kann sich ein Myoblast unter normalen Bedingungen nicht zu einer Nervenzelle differenzieren.
Welches sind nun die Mechanismen, die zur zelltypspezifischen Expression von Genen führen?
Hierbei ist die Regulation der Transkription eines
Gens von entscheidender Bedeutung. Das soll am
Beispiel der Differenzierung der Skelettmuskulatur
(Myogenese) dargestellt werden. Zellen, die Skelettmuskulatur bilden, entstammen einem einzigen
Mesodermkompartiment, das neben den Axialorganen, Neuralrohr und Chorda dorsalis, gelegen
ist, dem paraxialen Mesoderm (Christ et al. 1977,
Christ u. Ordahl 1995) (Abb. 1.1.11, 1.1.12, 1.1.13,
1.1.14). In ihm entstehen segmental angeordnete
Somiten, die in dorsoventraler Richtung in zwei
Kompartimente untergliedert werden, das dorsal
gelegene epitheliale Dermomyotom und das ventral
gelegene mesenchymale Sklerotom (Abb. 1.1.15).
Die teilungsfähigen Zellen des Dermomyotoms, die
z. B. das pax3-Gen exprimieren, das für einen
Transkriptionsfaktor kodiert, haben die Option,
sich zu Muskel-, Dermis- und Endothelzellen zu
differenzieren (Huang et al. 2003) (Abb. 1.1.16).
Unter dem Einfluss von Signalmolekülen, die von
Zellen der Axialorgane abgegeben werden, erfolgt
die Determination der medial im Dermomyotom
lokalisierten Zellen in Richtung Myogenese. Zu
den determinierenden Signalmolekülen gehören
das von der Chorda dorsalis sezernierte Sonic
Hedgehog (SHH) (Abb. 1.1.17 u. 1.1.18) und die
vom dorsalen Neuralrohr gebildeten WNT-Proteine, WNT-1 und WNT-3a (Münsterberg u. Lassar
1995, Fan et al. 1997, Fan u. Tessier-Lavigne 1994).
Diese Signalmoleküle binden spezifisch an Rezeptoren, die von den Muskelvorläuferzellen im Dermomyotom exprimiert werden. Über ein komplexes Signaltransduktionssystem werden myogene
Steuerungsgene, wie myod („myoblast determining
genes“), angeschaltet, die Meistergene der Muskeldifferenzierung darstellen und untergeordnete Effektorgene aktivieren (Abb. 1.1.10). Man kennt vier
Schlüsselgene der Myogenese, die für Proteine kodieren, die auch als MDF („muscle determination
factors“) bezeichnet werden: myod, myf5, mrf4
und Myogenin (Übersicht bei Arnold u. Braun
2000). Es handelt sich um Proteine mit einer basischen Helix-Loop-Helix-(bHLH-)Domäne, die sich
an eine Steuerregion der nachgeschalteten muskelspezifischen Gene (E-Box des Promoters) heftet
und diese aktiviert. Die myogenen Determinati-
11
12
B. Christ und B. Brand-Saberi
Abb. 1.1.12. Zwei Tage alter Hühnerembryo mit Darstellung
der Expression des Paraxis-Gens. Paraxis markiert das Kompartiment des paraxialen Mesoderms
Abb. 1.1.11. Rasterelektronenmikroskopische Dorsalansicht
eines 2 Tage alten Hühnerembryos. Auf der rechten Seite ist
das Oberflächenektoderm zur Darstellung der darunter gelegenen Somiten entfernt (Aufnahme: Dr. H. J. Jacob, Bochum)
onsfaktoren regulieren demnach die Transkription
als Transkriptionsfaktoren. Werden Zellen, die normalerweise keine Muskulatur bilden, wie z. B. Fibroblasten, in der Kultur mit dem myod-Gen
transfiziert, so ändern sie ihr Programm in Richtung Muskeldifferenzierung (Weintraub 1993). Die
MDF steuern nicht den gleichen Schritt des Differenzierungsprozesses, vielmehr agieren die MDF
Myogenin und mrf4 „downstream“ von myf5 und
myod. Mäuse, bei denen die beiden Gene myf5
und myod inaktiviert wurden, bilden überhaupt
keine Skelettmuskulatur aus (Rudnicki et al. 1993).
Mausmutanten mit fehlender Transkription von
pax3 und myf5 fehlt die Körpermuskulatur, während die Kopfmuskulatur normal gebildet wird
(Tajbakhsh et al. 1998). pax3 kann myf5, myod
und Myogenin aktivieren und muss demnach „upstream“ dieser MDF-Gene wirken. Die MDF interagieren mit einem zweiten Typ von myogenen Regulationsgenen den mef („myocyte enhancing
factors“). mef2 verstärkt und stabilisiert die Expression der MDF-Gene und trägt so zur myogenen Determination bei (Molkentin u. Olson 1996).
Die Aufrechterhaltung der zelltypspezifischen
Genexpression und damit des Differenzierungszustandes der Zellen ist an Wechselwirkungen des
Zellkerns mit dem Zytoplasma gebunden. Kerne
aus adulten Darm-, Haut- oder Nierenzellen
können nach ihrer Injektion in entkernte Eizellen
die Embryonalentwicklung in Gang bringen. Das
wurde sowohl mit Eiern des Krallenfrosches Xenopus wie auch mit Eizellen von Säugern experimentell gezeigt (Gurdon 1986, Willmut et al. 1997,
Wolf et al. 1998). Es hat sich dabei herausgestellt,
dass die Erfolgsrate höher war, wenn die Kernspendenden Zellen in ihrer Entwicklung noch
nicht weit fortgeschritten waren. Diese Experimente zeigen, dass durch Interaktionen mit dem Zytoplasma der Eizelle das genetische Programm von
differenzierten Zellkernen experimentell verändert
werden kann. Wenn die Gene den Einflüssen von
a
1.1 Mechanismen der Steuerung der Embryonalentwicklung
Abb. 1.1.15. Rasterelektronenmikroskopische Aufsicht auf einen Querbruch durch einen 3 Tage alten Hühnerembryo in
Höhe eines bereits kompartimentierten Somiten. Ek Ektoderm, En Entoderm, NR Neuralrohr, Ch Chorda dorsalis,
Ao Aorta, Co Coelom, So Somatopleura, Sp Splanchnopleura,
Am Amnion
Abb. 1.1.13. Sagittalschnitt (semidünn) durch einen 2 Tage
alten Hühnerembryo im Bereich der Somitenbildung. Aus
dem mesenchymalen präsomitischen Mesoderm wird gerade
ein epithelialer Somit abgegliedert (Pfeilmarkierung). * Noch
locker strukturiertes unsegmentiertes paraxiales Mesoderm.
Die Somiten sind mit römischen Zahlen durchnummeriert.
Ek Ektoderm, En Entoderm
Abb. 1.1.16. Querschnitt eines 3 Tage alten Hühnerembryos
und Darstellung der Expressionsdomänen von pax3: dorsales
Neuralrohr, Dermomyotom und in die Extremitätenanlage
auswandernde myogene Zellen
Abb. 1.1.14. Transversalschnitt durch einen 2 Tage alten
Hühnerembryo in Höhe des Somiten III. Ek Ektoderm, En
Entoderm, NR Neuralrohr, Ch Chorda dorsalis, Ao Aorta.
Aufnahme: Dr. Corina Schmidt, Freiburg
13
14
B. Christ und B. Brand-Saberi
Abb. 1.1.19. Zehenanlagen eines 15,5 Tage alten Mausembryos. Im Zusammenhang mit der Separation der Fingeranlagen werden die „Schwimmhäute“ (Pfeile) durch Apoptose
abgebaut
Abb. 1.1.17. Sonic-Hedgehog-Expression in der Chorda dorsalis (Pfeil) eines Hühnerembryos zu Beginn des 2.
Bebrütungstages
Zytoplasma der Eizelle ausgesetzt werden, verhalten sie sich wie die Gene im Kern einer befruchteten Eizelle. Wird eine Leberzelle mit einer Muskelfaser fusioniert, so werden im Kern der Leberzelle
die lebertypischen Gene herunterreguliert und
muskelspezifische Gene angeschaltet (Blau 1989,
Blau u. Baltimore 1991). Das ist ein weiterer Beleg
dafür, dass die Inaktivierung von nicht zellspezifischen Genen in differenzierten Zellen rückgängig
gemacht werden kann.
1.1.2.5 Apoptose
Abb. 1.1.18. Querschnitt von einem 2 Tage alten Hühnerembryo mit Sonic-Hedgehog-Expression in der Chorda dorsalis und der darüber liegenden Bodenplatte des Neuralrohrs
Das Absterben von Zellen ist ein wesentliches Ereignis nicht nur im adulten Organismus, sondern
bereits im jungen Embryo (Glücksmann 1951,
Saunders 1966, Hurle et al. 1996). Dieses auf physiologische Weise erfolgende und für die reguläre
Entwicklung außerordentlich wichtige Absterben
von Zellen wird als „programmierter“ Zelltod oder
Apoptose bezeichnet. Die Separation der Finger
und Zehen durch Rückbildung der Schwimmhäute
(Abb. 1.1.19) sowie die Eliminierung überschüssig
gebildeter Nervenzellen oder autoreaktiver Immunzellen erfolgen durch Apoptose. Untersuchungen
an Fadenwürmern (Nematoden) haben gezeigt,
dass der programmierte Zelltod durch die Aktivierung von zwei Genen ced3 und ced4 eingeleitet
wird (Metzstein et al. 1998). Eine Inaktivierung
dieser Gene hat das Überleben von Zellen zur Folge, die normalerweise absterben würden. Andererseits hat die Inaktivierung eines weiteren Gens,
ced9, zur Folge, dass zusätzlich zu den normaler-
a
weise absterbenden Zellen zahlreiche Zellen, die
normalerweise überleben würden, durch Apoptose
eliminiert werden. Wird dagegen ced9 überexprimiert, so findet keine Apoptose mehr statt. Das
ced9 homologe Gen wird bei Säugern als bcl2 bezeichnet. bcl2 ist demnach ein Apoptosehemmer
(Newton u. Strasser 1998). Die die Apoptose kontrollierenden Gene regulieren ein kaskadenartig
aktivierbares System von speziellen Proteasen, Caspasen, welche die Apoptose über eine Fragmentierung der DNA auslösen. Morphologisch sind die
Zellen, die bei der Apoptose zugrunde gehen,
durch pyknotische Zellkerne charakterisiert. Die
abgestorbenen Zellen werden schließlich von
Nachbarzellen phagozytiert. Es gibt Hinweise darauf, dass die meisten Zellen suizidal vorprogrammiert sind und von der Realisierung des Selbstmordprogramms durch externe Faktoren abgehalten werden müssen. So verhindert beispielsweise
der Nervenwachstumsfaktor (NGF) das Absterben
von Neuronen des sympathischen Nervensystems
(Levi-Montalcini 1958, 1976) und Sonic Hedgehog
sichert das Überleben von Somitenzellen (Teillet et
al. 1998, Cann et al. 1999). Andererseits können
auch Signalmoleküle, wie beispielsweise konzentrationsabhängig BMP-4 („bone morphogenetic protein 4“), die Apoptose induzieren (Schmidt et al.
1998). Die Apoptose lässt sich als besonderes Differenzierungsprogramm der Zellen ansehen.
1.1.2.6 Extrazelluläre Matrix, Zelladhäsionsmoleküle und Zell-Matrix-Interaktionen
Nicht alle von der Zelle gebildeten Proteine und
Glykoproteine bleiben innerhalb der Zelle. Ein von
Gewebstyp zu Gewebstyp variierender Anteil wird
von den Zellen sezerniert und füllt den Zwischenzellraum als extrazelluläre Matrix (ECM) aus. Andere Proteine sind an der Zelloberfläche lokalisiert
und dienen dem Zusammenhalt von Zellen oder
deren Verbindung mit Molekülen der ECM.
Eine wichtige Funktion einiger ECM-Komponenten besteht in der vorübergehenden Bindung, dem Transport, der Verteilung und der Präsentation von Signalmolekülen. Epitheliale Zellverbände fußen auf einer Basallamina, die aus geschichteten speziellen ECM-Bestandteilen besteht
und mit den angrenzenden Zellen über Kontakte
interagiert. Darüber hinaus muss die Basallamina
die Permeation von Signalmolekülen ermöglichen.
Zu den Bestandteilen der ECM gehört Kollagen,
dessen verschiedene Typen in gewebsspezifischer
Weise verteilt sind (Abb. 1.1.9). Die meisten Kol-
1.1 Mechanismen der Steuerung der Embryonalentwicklung
lagentypen bilden Fasern, die ihrerseits wiederum
fibrillär strukturiert sind. Ein Prokollagenmolekül
wird von drei untereinander gewundenen Polypeptidketten, den a-Ketten, gebildet, die endständige
Polypeptide, Registerpeptide, aufweisen. Nach der
Sekretion des Prokollagens werden diese endständigen Polypeptide im Zwischenzellraum durch Prokollagenpeptidasen abgespalten. Es entsteht auf diese Weise Tropokollagen, das nun zu größeren Einheiten, den Fibrillen, polymerisieren kann. TypI-Kollagen bildet den Hauptbestandteil der ECM.
Typ-II-Kollagen findet sich in der ECM der Chorda
dorsalis und des hyalinen Knorpels. Typ-III-Kollagen ist in der Grenzschicht, welche die Basallamina
mit dem darunter gelegenen Mesenchymkompartiment verbindet, und im retikulären Bindegewebe
nachweisbar (Kuhn 1987). Typ-IV-Kollagen, das keine Fibrillen bildet, ist ein wesentlicher Bestandteil
der Basallamina.
Eine weitere ECM-Komponente stellen die Glykosaminglykane (GAG) dar, die größtenteils an
Proteine gebunden sind und mit diesen Proteoglykane bilden (Esko 1991). GAG enthalten vor allem
Aminozucker, Uronsäure, Essigsäure und teilweise
auch noch Schwefelsäure. Zu den GAG gehören
Hyaluronsäure, Chondroitin-4-Sulfat, Chondroitin6-Sulfat, Dermatansulfat, Heparansulfat und Keratansulfat. Hyaluronsäure besitzt ein hohes Wasserbindungsvermögen und ist dadurch in der Lage,
die interzellulären Räume zu erweitern und auf
diese Weise Zellwanderungen zu ermöglichen. Das
Aufrichten der Gaumenfortsätze während der Embryonalentwicklung des Menschen kommt dadurch
zustande, dass in Folge vermehrter Produktion
von Hyaluronsäure und nachfolgender Hydratation
der extrazellulären Matrix der Gewebsturgor ansteigt und die Gaumenfortsätze anhebt.
Das Glykoprotein Fibronektin ist ein weiterer
Bestandteil der ECM, das insbesondere für ZellMatrix-Interaktionen und die Migration von Zellen
wichtig ist, da es Verbindungen der Zellen zur extrazellulären Matrix vermittelt (Abb. 1.1.20). Es ist
ein Dimer aus zwei Untereinheiten, die durch Disulfidbrücken verbunden sind, und besitzt verschiedene Domänen. Weiterhin verfügt Fibronektin
über eine Erkennungssequenz mit dem Motiv RGD
(Arg-Gly-Asp), die mit Zelladhäsionsmolekülen
vom Integrintyp, die an der Zelloberfläche lokalisiert sind, interagiert (Hynes 1992).
Laminin ist ein großes Glykoprotein, das insbesondere in der Basallamina vorkommt. Es ist,
ähnlich wie Fibronektin, für Zell-Matrix-Interaktionen von Bedeutung (von der Mark u. Goodman 1993). Es besitzt Bindungsdomänen für die
15
16
B. Christ und B. Brand-Saberi
Abb. 1.1.20. Querschnitt durch einen Hühnerembryo zu Beginn des 3. Bebrütungstages mit immunhistochemischem
Nachweis der Fibronektinverteilung
Matrixmoleküle Typ-IV-Kollagen, Heparansulfat
und Entactin. Wird beispielsweise die Anheftung
von wandernden Neuralleistenzellen an Laminin
und Fibronektin durch die Blockierung der Integrin-b1-Untereinheit inhibiert, so resultieren Fehlbildungen der Neuralleistenderivate im Kopfbereich. Die Bedeutung von Zell-Matrix-Interaktionen konnte auch für andere wandernde Zellpopulationen, wie z. B. Muskelvorläuferzellen, nachgewiesen werden.
Der Zusammenhalt von Zellen wird durch Zelladhäsionsmoleküle bewirkt. Es werden drei Klassen von Zelladhäsionsmolekülen unterschieden.
Die Cadherine (kalziumabhängige Adherine) sind
Transmembranproteine, die in gewebsspezifischen
Formen vorkommen, z. B. als E-Cadherin oder
N-Cadherin (Takeichi 1990, 1995) (Abb. 1.1.21).
Cadherine binden Zellen in Anwesenheit von Kalzium. Dabei interagieren identische Moleküle benachbarter Zellen (homophile Bindung). Cadherine
stellen die wichtigsten Adhäsionsmoleküle embryonaler Zellen dar. Der in das Zytoplasma hineinragende Schwanz der Cadherine ist über Catenin mit intrazellulären Aktinbündeln verankert.
E-Cadherin, das auch als Uvomorulin bezeichnet
wird, bindet die Furchungszellen (Blastomeren)
junger Embryonen.
Ein anderer Typ von Zelladhäsionsmolekülen
gehört zur Immunglobulin-Superfamilie und vermittelt die Zell-Adhäsion kalziumunabhängig. Das
neuronale Zelladhäsionsmolekül N-CAM („neural
cell adhesion molecule“) zählt zu dieser Gruppe.
Es wird in der frühen Embryonalentwicklung nicht
nur auf Nervenzellen gefunden. Auch bei diesem
Molekül ist die Bindung homophil, d. h. die
N-CAM einer Zelle binden an die N-CAM der
Nachbarzelle (Kreis u. Vale 1999).
Abb. 1.1.21. Sagittalschnitt eines 3 Tage alten Hühnerembryos mit immunhistochemischem Nachweis von N-Cadherin
im Dermomyotom und Myotom
Die Integrine sind Glykoproteine der Zelloberfläche, die hauptsächlich mit Komponenten der
ECM interagieren. Es sind Heterodimere, die aus
a- und b-Untereinheiten bestehen. Innerhalb der
Zelle sind sie mit Aktinfilamenten des Zytoskeletts
verbunden. Über die Integrine können Informationen aus der ECM vermittelt werden, die das Zellverhalten modulieren (Hynes 1992, Howe et al.
1998).
Die Wegfindung migrierender Zellen sowie die
Zell-Zell-Erkennung dürften ganz wesentlich durch
eine zelltypspezifische Adhäsivität vermittelt werden (Brand-Saberi et al. 1996 a, b).
1.1.2.7 Gemeinschaftseffekt (Community Effect)
Als Gemeinschafts- oder Community-Effekt bezeichnet man das Phänomen, dass zelltypische
Differenzierungen häufig nur dann erfolgen, wenn
die Zellen in einer Gruppe von mindestens 50–200
Zellen beieinander liegen, wohingegen Einzelzellen
oder kleinere Gruppen von Zellen am identischen
Ort keine Differenzierung zeigen. Diese Abhängigkeit des Zellverhaltens von der Anzahl der Zellen
wurde zuerst von His (1868) für die Knorpeldifferenzierung beschrieben: „Die weiche parablastische Gewebsanlage muss, damit sie zu Knorpel
a
werde, in einer gewissen Reichlichkeit angehäuft
sein.“ Diese Auffassung wurde am Beispiel der
Knorpelentwicklung durch Isolationen und Transplantationen unterschiedlicher Mengen des Anlagematerials bei jungen Hühnerembryonen bestätigt
(Christ 1969). In den letzten beiden Dekaden wurde dem Problem des Gemeinschaftseffektes von
Gurdon und Mitarbeitern besondere Aufmerksamkeit geschenkt (Gurdon et al. 1993). Dabei konnte
am Beispiel der Differenzierung von Muskel- und
Nervengewebe gezeigt werden, dass Einzelzellen
oder kleinere Gruppen von Zellen ihren Determinationszustand in einer fremden Umgebung nicht
beibehalten, während das bei größeren Zellgruppen der Fall ist. Gurdon et al. (1993) diskutieren
die Mechanismen, die für den Community-Effekt
verantwortlich sein könnten. Wenn Zellen ein Signalmolekül abgeben, das für den Ablauf eines Differenzierungsprozesses oder die Erhaltung eines
Differenzierungsprogramms in einer gewissen
Konzentration benötigt wird, so ist leicht vorstellbar, dass durch eine größere Anzahl beieinander
liegender Zellen eine höhere Konzentration des
Faktors erreicht werden kann. Die Kopplung von
Zellen durch Kommunikationskontakte („gap
junctions“) könnte die Funktion benachbarter Zellen synchronisieren und ebenfalls beim Gruppeneffekt eine Rolle spielen. Auch die Kommunikation
über Zelladhäsionsmoleküle könnte daran beteiligt
sein.
1.1 Mechanismen der Steuerung der Embryonalentwicklung
1.1.2.8.1 Transformierender Wachstumsfaktor
Der transformierende Wachstumsfaktor b (TGF-b)
bildet eine große Familie interzellulärer Signalsubstanzen (Assoian et al. 1987, Frolik et al. 1983, Roberts u. Sporn 1990). Er wurde ursprünglich als
mitogener Faktor beschrieben, der von transformierten Zellen abgegeben wird. Zu dieser Familie
gehören Aktivin, Vg-1, BMP, Nodal und Myostatin
(Abb. 1.1.7 u. 1.1.22). TGF-b agieren als Dimere.
Zwei Moleküle bilden einen Komplex, der einen
ebenfalls dimeren Rezeptor aktiviert. Sie wirken
oft inhibitorisch auf die Zellproliferation und
fördern die Sekretion von ECM-Komponenten. Aktivinähnliche Faktoren wie Vg-1 und Nodal sind
im Vertebratenembryo an der Induktion und Verteilung von Mesoderm beteiligt (Joubin u. Stern
1999). Nodal ist ein Bestandteil des Signalnetzwerks, der die Rechts-links-Asymmetrie determiniert (Rodriguez-Esteban et al. 2001, Schlange et
al. 2002). Die BMP haben vielfältige Funktionen,
zu denen die Hemmung der neuralen Differenzierung, die Spezifizierung des Körperbauplans, die
Induktion von Skelettgewebe, die Aufrechterhaltung der Proliferation der Muskelvorläuferzellen
und, bei höherer Konzentration, die Auslösung des
1.1.2.8 Signalaustausch zwischen Zellen
Wie bereits ausgeführt wurde, können zwei benachbarte Zellen Signale über Zelladhäsionsmoleküle austauschen. Auch nicht benachbarte Zellen
eines Embryos kommunizieren miteinander und
beeinflussen sich gegenseitig, entweder durch die
Abgabe von Signalmolekülen, die an der Zielzelle
von spezifischen Rezeptoren gebunden werden,
oder durch das Ausstrecken langer dünner Zellfortsätze, der Zytonemata, die durch die ECM auch
mit weiter entfernt liegenden Zellen vorübergehend in Kontakt treten. Signalmoleküle erreichen
die Zielzellen entweder durch Diffusion oder mithilfe von ECM-Komponenten, die diese Moleküle
binden und den Zielzellen präsentieren. Man
nennt Signalmoleküle, die das Differenzierungsverhalten der Zielzellen beeinflussen, auch Induktionsfaktoren und den Vorgang der Zellinformation
Induktion. Bei den Signalmolekülen können verschiedene Familien unterschieden werden.
Abb. 1.1.22. Aufsicht auf den kaudalen Abschnitt eines 2-tägigen Hühnerembryos mit Darstellung der Expression des
bmp4-Gens in der Somatopleura
17
18
B. Christ und B. Brand-Saberi
Apoptoseprogramms gehören (Amthor et al. 1998,
1999).
Die TGF-b binden an den Typ-II-Rezeptor, der
dann mit dem benachbarten Typ-I-Rezeptor einen
Komplex bildet. Die Aktivierung des Typ-I-Rezeptors führt zur Phosphorylierung von SMAD-Proteinen im Zytoplasma, die in den Kern transportiert
werden, wo sie als Transkriptionsfaktoren Zielgene
regulieren (Attisano u. Wrana 1998).
1.1.2.8.2 Fibroblastenwachstumsfaktoren
Eine weitere wichtige Familie von Signalproteinen
stellen die FGF dar. Sie wurden in der Zellkultur
als Faktoren identifiziert, welche die Proliferation
von Fibroblasten anregen (Armelin 1973, Gospodarowicz 1974, 1975). Inzwischen sind für den Säuger 17 fgf-Gene (fgf1–fgf17) kloniert worden. Es
handelt sich bei den Genprodukten um Proteine
von 155–268 Aminosäuren, die alle eine konservierte Sequenz von 120 Aminosäuren enthalten,
die an Heparin bzw. Heparansulfatproteoglykan
binden kann. Diese ECM-Komponenten werden
auch als FGF-Rezeptoren niedriger Affinität („lowaffinity FGFR“) bezeichnet. Der FGF-Heparansulfat-Komplex bindet an Rezeptoren mit hoher Affinität („high-affinity FGFR“), welche membranständige Tyrosinkinasen sind, FGFR-1–FGFR-4 (Green
et al. 1996). Diese Bindung führt zur Phosphorylierung des Rezeptors und zur Aktivierung des
komplexen MAP-(„mitogen-activated protein“-)Kinase-Transduktionsweges, an dessen Ende ERK
(„extracellular signal regulated kinase“) in den
Zellkern gelangt und Transkriptionsfaktoren durch
Phosphorylierung aktiviert (Fantl et al. 1996). Das
Wachstum der Extremitäten wird beispielsweise
über FGF gesteuert, die von Zellen der ektodermalen Randleiste AER abgegeben werden und die
Proliferation der benachbarten mesodermalen Zellen stimulieren (Abb. 1.1.23).
1.1.2.8.3 Epidermale Wachstumsfaktoren
Die epidermalen Wachstumsfaktoren (EGF) stellen
eine weitere Familie wichtiger Signalmoleküle dar
(Carpenter u. Cohen 1979). EGF, TGF-a und Neuroreguline sind Vertreter dieser Familie, die an Rezeptoren vom Tyrosinkinasetyp (z. B. ErbB2) binden und über den MAP-Kinase-Signaltransduktionsweg Gene aktivieren (Downward et al. 1984).
EGF sind an der Musterbildung bei Drosophila,
bei der geordnete räumliche Muster verschieden
differenzierter Zellen entstehen, und an der Differenzierung des Nervensystems beteiligt.
Abb. 1.1.23. Aufsicht auf einen 3-tägigen Hühnerembryo mit
doppelter In situ-Hybridisierung für fgf8 (schwarz) und
myod (rot). Beachte die fgf8-Expression in der ektodermalen
Randleiste der Flügelanlage (Pfeil). Aufnahme: Daniel Stolte,
Freiburg
1.1.2.8.4 Insulinähnliche Wachstumsfaktoren
IGF-1 und IGF-2 sind Polypeptide, die den Effekt
von Wachstumshormonen verstärken (Kaye 1993).
Sie werden von zahlreichen Zelltypen in engen
zeitlichen Fenstern und in spezifischer Weise exprimiert. Im Blut und im Extrazellularraum binden die IGF an IGF-bindende Proteine („IGF-binding proteins“, IGFBP) (Zapf et al. 1975). IGF-1
aktiviert den Typ-1-IGF-Rezeptor (IGFR), der auf
den meisten Zellen exprimiert wird, und bindet an
diesen mit hoher Affinität. IGF-2 bindet mit hoher
Affinität an den IGF-Typ-1-Rezeptor (Roth et al.
1987). Eine Überexpression der IGF führt beispielsweise zu einer Hypertrophie und Hyperplasie
der Skelettmuskulatur (Adams u. McCue 1998,
Awede et al. 1999). Das embryonale und postnatale
Wachstum wird ganz wesentlich durch die IGF reguliert, deren Produktion durch komplexe hormonelle Regelkreise gesteuert wird. Es wird nur das
auf dem väterlichen Chromosom lokalisierte IGF2-Gen transkribiert, während das auf dem mütterlichen Chromosom gelegenen Gen inaktiv bleibt
(genomische Prägung, Imprinting).
a
1.1 Mechanismen der Steuerung der Embryonalentwicklung
1.1.2.8.5 Hedgehog-Familie
In der Wirbeltierentwicklung sind Sonic Hedgehog, Indian Hedgehog und Desert Hedgehog von
großer Bedeutung (Riddle et al. 1993, Echelhard et
al. 1993, Ingham 1994) (Abb. 1.1.17 u. 1.1.18). Der
Hedgehog-Rezeptor heißt Patched (Hooper u. Scott
1989, Marigo et al. 1996 a). Er ist normalerweise
aktiviert und wird durch die Bindung des Liganden inaktiviert. Der aktive Rezeptor unterdrückt
die Aktivität eines anderen benachbarten Membranproteins, Smoothened, das wiederum die Aktivität der Transkriptionsfaktoren vom GLI-Typ
kontrolliert (Acedo et al. 1996, Marigo et al.
1996 b, Mo et al. 1997). Bei Abwesenheit von Hedgehog ist Patched aktiv, Smoothened inaktiv und
GLI inaktiv. Nach Bindung von Hedgehog ist Patched inaktiv, Smoothened aktiv und GLI aktiv. Sonic Hedgehog ist beteiligt an der Festlegung der
Rechts-links-Asymmetrie (Levin et al. 1995, Dathe
et al. 2002). Es kontrolliert die dorsoventrale Polarisierung und Differenzierung von Neuralrohr und
Somiten sowie die anterior-posteriore Polarisierung der Extremitäten (Riddle et al. 1993, Johnson
et al. 1994, Fan u Tessier-Lavigne 1994, Ingham
1994). Es wirkt als Überlebensfaktor und Proliferationsstimulus für Somitenzellen (Teillet et al.
1998). Indian Hedgehog ist ein wichtiges Signalmolekül für die Skelettentwicklung.
Abb. 1.1.24. Aufsicht auf einen 3-tägigen Hühnerembryo mit
wnt1-Expression in der Deckplatte des Neuralrohrs (Pfeil).
Aufnahme: Dr. Corina Schmidt, Freiburg
1.1.2.8.6 WNT-Familie
Durch WNT-Proteine vermittelte Signale sind an
zahlreichen Zellspezifizierungen im Embryo beteiligt (Wodarz u. Nusse 1998, Arias et al. 1999). Sie
wurden bei Drosophila-Mutanten entdeckt und das
für sie kodierende Gen wurde als wingless bezeichnet. Es handelt sich um Polypeptide, die wasserunlöslich sind und offenbar nur über kurze Distanzen wirken können (Abb. 1.1.24). Die WNT-Rezeptoren heißen Frizzleds (Chan et al. 1992). Es
gibt unterschiedliche Rezeptoren für verschiedene
Klassen von WNT-Proteinen. Von den Rezeptoren
wird das Signal über das intrazytoplasmatische
Protein Dishevelled zu einem Proteinkomplex geleitet, zu dem auch b-Catenin gehört (Abb. 1.1.25),
das dann phosphoryliert wird und im Kern zusammen mit einem Transkriptionsfaktor TCF-1 die
Genexpression reguliert (Willert u. Nusse 1998,
Gumbiner 1996). WNT-Signale wirken mit bei der
dorsoventralen Polarisierung des Neuralrohrs und
der Somiten, (Capdevila et al. 1998, Wagner et al.
2001), bei der Spezifizierung von Muskelzellen bei
der Nieren-, Extremitäten- und Federentwicklung
Abb. 1.1.25. b-Catenin-Expression in den gerade entstehenden Federknospen eines 8 Tage alten Hühnerembryos. Die
Expression ist der erste Hinweis darauf, dass in der Epidermis die Induktion von Federplakoden stattgefunden hat
19
20
B. Christ und B. Brand-Saberi
sowie in anderen Systemen als Kontrollfaktoren
für die Proliferation und das Überleben von Zellen
wie auch bei der Zelldetermination (Tajbakhsh et
al. 1998).
1.1.2.8.7 Das Delta-Notch-System
Das Delta-Notch-System unterscheidet sich von
den bisher angeführten Signalmechanismen dadurch, dass sowohl der Ligand (Delta) wie auch
der Rezeptor (Notch) Transmembranproteine sind
(Weinmaster 1998). Delta-Notch-Interaktionen
können demnach nur an benachbarten Zellen ablaufen. Die Aktivierung von Notch durch Delta löst
an der Notch tragenden Zelle ein Signal aus, das
zu einer Abtrennung der zytoplasmatischen Portion von Notch führt, die das CSL-Protein aktiviert,
das in den Kern transportiert wird und dort Zielgene aktiviert. Das Delta-Notch-System ist an der
Neurogenese, Myogenese, Hämatopoese und an
Grenzziehungen bei der Somitogenese beteiligt
(Hrabé de Angelis 1997, Gossler u. Hrabé de Angelis 1997).
1.1.2.8.8 Die LIF-Familie
Der LIF („leucemia inhibitory factor“) und ähnliche Faktoren wie Interleukin 6 und CNTF („ciliary
neurotrophic factor“) binden an einen spezifischen
Rezeptor, der mit einem Transmembranglykoprotein GP130, das keine Rezeptorfunktion hat, einen
Komplex bildet. GP130 ist intrazellulär mit JAKKinasen assoziiert. Nach Phosphorylierungen von
JAK und Transkriptionsfaktoren vom STAT-Typ gelangen diese in den Kern und aktivieren dort die
Zielgene. LIF ist an der Aufrechterhaltung der Pluripotenz von Zellen früher Mausembryonen beteiligt (Slack 2001).
1.1.2.8.9 Das Ephrinsystem
Die Ephrine und ihre Rezeptoren, die Eph, stellen
ein Signalsystem dar, das Informationen zwischen
benachbarten Zellen überträgt (Davis et al. 1994,
Gale et al. 1996) (Abb. 1.1.26). Die Ephrin-A-Untergruppe von Liganden ist durch Glycerophosphorinositol an der Zelle verankert und bindet an
Eph-A-Rezeptoren. Die Ephrin-B-Untergruppe ist
ein Transmembranprotein und bindet hauptsächlich an Eph-B-Rezeptoren. Das Ephrinsystem ist
an der Kontrolle der segmentalen Gliederung des
zentralen und peripheren Nervensystems beteiligt
(Orike u. Pini 1996). Die Identität arterieller und
venöser Endothelzellen ist durch eine spezifische
Abb. 1.1.26. epha4-Expression im kranialen Abschnitt des
präsomitischen Mesoderms sowie in den zuletzt gebildeten
Somiten
Expression verschiedener Komponenten des Ephrinsystems gekennzeichnet (Othman-Hassan et al.
2001).
1.1.2.8.10 Neurotrophine
Neurotrophine sind Komponenten eines komplexen Signalnetzwerks, das insbesondere für die Entwicklung des Nervensystems von Bedeutung ist
(Birling u. Price 1995, Davies 1994, Snider 1994).
Neurotrophine werden häufig von den Zielzellen
der auswachsenden Nervenfortsätze abgegeben
und sichern das Überleben der projizierenden
Neurone. Auch bei der Wegfindung der Axone
sind Neurotrophine beteiligt. Zu dieser Familie
von Signalmolekülen gehören z. B. der Nervenwachstumsfaktor (NGF), Neurotrophin 3 und
BDNF („brain-derived neurotrophic factor“). Die
Signalwirkung der Neurotrophine ist jedoch nicht
auf das Nervensystem beschränkt. Diffusible Faktoren, wie Netrine und Semaphorine führen aus-
a
wachsende Axone zu ihren Zielorten (Kennedy et
al. 1994, Serafini et al. 1996).
1.1.2.9 Morphogenetische Prozesse
1.1.2.9.1 Morphologie und Vorkommen
von Epithelien in der Entwicklung
Die Fähigkeit, Epithelien zu bilden, wohnt bereits
dem frühen Wirbeltierembryo inne. Das erste Epithel, das entsteht, ist der Trophoblast, aus dem
später der kindliche Teil der Plazenta hervorgeht.
Wenig später bildet der Embryoblast zwei weitere
Epithelien aus: den Epiblasten und das Amnionepithel. Der Epiblast stellt das Ausgangsmaterial aller drei Keimblätter dar. Vergleicht man das Entwicklungspotenzial von Epithelien mit dem von
Mesenchym während der Embryonalentwicklung,
so sind Epithelien oft die Quelle mehrerer verschiedener Derivate. Zum Beispiel bringt das Neuralepithel Neuroblasten, Glia- und Ependymzellen
hervor. Das Dermomyotom bildet Skelettmuskulatur, Endothelzellen und Fibroblasten. Aus dem Epiblasten gehen Ektoderm, Mesoderm und Entoderm sowie extraembryonale Gewebe hervor. Die
zellbiologische Grundlage für die Entstehung dieser Vielfalt an Derivaten könnten asymmetrische
Zellteilungen sein, die durch die polare Organisation von Epithelgeweben begünstigt wird.
Die Bezeichnungen Epithel und Mesenchym
charakterisieren histologische Organisationsformen von Zellen und kennzeichnen keineswegs eine
Keimblattzugehörigkeit. Während eine mesenchymale Zelle eine unregelmäßige Gestalt mit kurzen
Zellausläufern (Filopodien, Lamellipodien) besitzt,
weist eine Epithelzelle eine deutliche Polarität auf.
In einem Epithel unterscheiden wir eine apikale
von einer basalen Seite. Die apikale Seite ist einem
Lumen zugewandt, die basale ruht auf einer Basalmembran (Abb. 1.1.27). Benachbarte Epithelzellen
Abb. 1.1.27. Schematische Darstellung von Epithelgewebe
und Mesenchym
1.1 Mechanismen der Steuerung der Embryonalentwicklung
sind miteinander durch flächige Zellkontakte verbunden, die zum einen die parazelluläre Passage
von Molekülen verhindern („tight junctions“),
zum anderen die interzelluläre Passage kleiner Moleküle zum Zweck der Kommunikation ermöglichen („gap junctions“) und schließlich den mechanischen Zusammenhalt sichern (Maculae u. Zonulae adhaerentes). Häufig finden sich Kombinationen aller drei Typen von Zellkontakten. Im Gegensatz dazu ist für das Mesenchym charakteristisch, dass die Zellen von ECM umgeben sind
(Abb. 1.1.9 u. 1.1.20). Mesenchymale Zellen
können zwar über Filopodien miteinander in Verbindung stehen, doch handelt es sich hierbei um
sehr begrenzte Kontaktstellen (Foci), dies gilt auch
für die Kontaktstellen zur ECM.
Kontrolle der Transitionen zwischen Epithel und
Mesenchym. Epithelien entwickeln sich aus Verdichtungen mesenchymaler Zellen. Dies geht mit
einem qualitativen und quantitativen Umbau der
ECM und der Ausbildung bzw. Ausweitung der
Zwischenzellkontakte einher. In der Folge können
Hohlräume entstehen, die von den Epithelzellen
begrenzt werden. Auf diese Weise kommt es zur
mesenchymoepithelialen Transition (MET). Dieser
Vorgang spielt sich beispielsweise während der Somitogenese (Abb. 1.1.13), bei der Nierenentwicklung und der Angiogenese ab. In der Somitogenese
wird die Epithelialisierung durch den Transkriptionsfaktor Paraxis vom basischen Helix-Loop-Helix-Typ kontrolliert, der im unsegmentierten paraxialen Mesoderm exprimiert wird (Abb. 1.1.12).
Untersuchungen bei der Maus haben gezeigt, dass
die Epithelialisierung des paraxialen Mesoderms
unterbleibt, wenn das Paraxis-Gen ausgeschaltet
wird.
Wenn Epithelien sich wieder in Einzelzellen zerstreuen, spricht man von epitheliomesenchymaler
Transformation oder Transition (EMT). Dies geschieht im Embryo höherer Vertebraten während
der Gastrulation (s. 1.1.2.9.2), wenn Zellen des
Epiblasten in der Primitivrinne den Epithelverband verlassen und sich im Spaltraum zwischen
Epiblast und Hypoblast verteilen.
In ähnlicher Weise verlassen Zellen der Neuralleiste das dorsale Neuroepithel, Sklerotomzellen
das ventrale Somitenepithel, myogene und dermogene Vorläuferzellen das Dermomyotom (Abb.
1.1.15). Die EMT spielt auch in der Pathogenese
von Tumoren eine entscheidende Rolle. Die Malignität von Karzinomen (d. h. von Epithelien abgeleitete Tumoren) manifestiert sich unter anderem
durch einen Verlust der Polarität und eine Entdif-
21
22
B. Christ und B. Brand-Saberi
ferenzierung der Zellen. Diese Veränderungen stellen neben dem Verlust der Kontrolle des Zellzyklus
wichtige Voraussetzungen für die lokale Tumorprogression und für die Metastasierung dar. Demzufolge ist es nicht verwunderlich, dass Onkogene
sich häufig als Varianten von Entwicklungskontrollgenen darstellen, die während der Ontogenese
ähnliche Prozesse beeinflussen. So spielen beispielsweise die Signalproteine der WNT-Familie eine wichtige Rolle bei der Kontrolle von EpithelMesenchym-Übergängen in der Entwicklung und
wurden erstmals in Tumorgeweben identifiziert
(Brown et al. 1986, Peters et al. 1986, McMahon u.
Moon 1989, Nusse 1990).
Epitheliomesenchymale Transitionen sind die
Folge einer veränderten Adhäsivität zwischen benachbarten Zellen. Dies kann sowohl in der Ontogenese als auch in pathologischen Prozessen auf
unterschiedliche Weise geschehen. Zum einen
kann der lokale Verlust von Zelladhäsionsmolekülen auf Transkriptionsebene eine Lösung aus
dem Epithelverband bewirken. Der Transkriptionsfaktor vom Zinkfingertyp Snail hat einen inhibierenden Einfluss auf die Expression von E-Cadherin
in Epithelien in Tumorzellen (Battle et al. 2000,
Cano et al. 2000). Auch in der Embryonalentwicklung gibt es indirekte Hinweise dafür, dass Gene
dieser Familie EMT über diesen Mechanismus kontrollieren (del Barrio u. Nieto 2002). Daneben
kann aber auch durch intrazelluläre Wechselwirkung zwischen membranständigen Rezeptoren für
Wachstumsfaktoren und ECM-Molekülen die Haftfähigkeit von Zelladhäsionsmolekülen negativ beeinflusst werden, ohne dass diese vermindert exprimiert sein müssen. Im ersten Fall haben wir es
mit einer echten Deepithelialisierung zu tun, bei
dem sich die Voraussetzungen zur Epithelbildung
geändert haben, während im zweiten Fall ein
Übergang nur auf morphologischer Ebene stattfindet, der leicht reversibel ist. In der Ontogenese
sind beide Typen des Übergangs verwirklicht worden. Die Art des Übergangs hat zum Teil wichtige
Implikationen für das nachfolgende Entwicklungsschicksal der Zellen.
So geht beispielsweise im Somiten die Auflösung des Epithels bei der Sklerotombildung mit einem Verlust von N-Cadherin einher (Duband et al.
1987) (Abb. 1.1.21), während sie bei der Auswanderung der myogenen Vorläuferzellen durch eine
Interaktion zwischen intrazellulären Signalkaskaden der Tyrosinkinaserezeptoren und der Catenine
unter Erhaltung von N-Cadherin zustande kommt
(Brand-Saberi et al. 1996 b). Nur N-cadherinpositive Zellen können zu einem späteren Zeitpunkt in
die Muskeldifferenzierung eintreten (Brand-Saberi
et al. 1996 a). Neuronal determinierte Zellen der
Neuralleiste verlassen das Neuralepithel dagegen
unter Verlust von N-Cadherin, um es bei der Aggregation zu Ganglien erneut zu exprimieren (Akitaya u. Bronner-Fraser 1992).
Zellmigration. Die Zellmigration gehört zu den
wichtigsten und besonders komplexen morphogenetischen Prozessen der Entwicklung. Dies zeigt
sich darin, dass bei Fehlbildungen häufig Organe
betroffen sind, bei deren Entwicklung die Zellwanderung eine ausschlaggebende Rolle spielt. In der
Ontogenese wandern viele Zellpopulationen über
weite Strecken, um sich am Zielort zu differenzieren. Der erste Prozess der Zellwanderung findet
während der Gastrulation statt, wenn sich die Zellen aus dem Epithel des Epiblasten lösen und sich
zwischen Epiblast und Hypoblast verteilen. Auch
die Bewegung der Zellen innerhalb des Epiblasten
ist eine spezielle Form der Zellmigration, die man
als Konvergenz-Extensionsbewegung bezeichnet.
Im Folgenden werden wir uns ausschließlich
mit der gerichteten Wanderung von Einzelzellen in
der extrazellulären Matrix des Embryos beschäftigen. Eine solche ist außer für gastrulierende Zellen
auch für Zellen der Neuralleiste (sie stellt die
größte migrierende Zellpopulation dar), für Angioblasten, Myoblasten der Extremitätenanlagen,
primordiale Keimzellen, dermale Vorläuferzellen,
Endokardkissenzellen und andere charakteristisch.
Migrierende Zellen zeichnen sich durch eine
Polarisierung ihres lang gestreckten Zellleibes aus.
Grundlage dieser Polarität ist der dynamische Aufund Abbau des Zytoskeletts. In Migrationsrichtung
(„leading edge“) werden durch rasche Polymerisierung von G-Aktin zu F-Aktin breite Lamellipodien
oder fingerförmige Filopodien ausgestreckt, während am Hinterende („trailing edge“) Aktinfilamente abgebaut werden. Die Zellfortsätze verankern sich in Form von fokalen Kontakten an der
extrazellulären Matrix mithilfe von Transmembranproteinen, den Integrinen, die für bestimmte
Matrixmoleküle eine Spezifität aufweisen. Ausgehend vom fokalen Kontaktpunkt entstehen unter
Vermittlung des Rho-Signalwegs aktinreiche
Stressfasern, die für die Formgebung der Zelle
und ihre Substratadhärenz verantwortlich sind. Integrine sind relativ schwach bindende Rezeptoren,
deren Effizienz durch die große Zahl der auf einer
Zelle vorhandenen Moleküle erreicht wird, die sich
insbesondere auf die fokalen Kontakte konzentrieren. Die Bindung von Matrixmolekülen an Integrine kann über Disintegrine kompetitiv inhibiert
a
werden, da diese kleinen Peptide die Bindesequenz
RGD tragen, die in Integrin bindenden Matrixmolekülen vorhanden ist.
Die Fortbewegung der Zelle auf dem Substrat
wird durch verschiedene Myosine erreicht. Dabei
ist Myosin I am Vorderende der Zelle wirksam, wo
ein breiter Zellfortsatz in der Migrationsrichtung
ausgebildet wird. Myosin II wirkt dagegen bei dem
Vorwärtsziehen des hinteren Endes der Zelle.
Neben einer Präferenz für bestimmte Matrixmoleküle wie z. B. Laminin und Fibronektin spielt
auch die Weite der Interzellularräume eine Rolle
für die Zellwanderung, wenn auch eine vorwiegend permissive. Im Embryo ermöglicht der
Reichtum an Hyaluronsäure im Mesenchym die
Zellwanderung. Hyaluronsäure vermag aufgrund
seiner Ladungsverteilung Wassermoleküle zu binden und dadurch die ECM aufzulockern.
Für die gerichtete Migration sind Signalmoleküle ausschlaggebend, die von den wandernden
Zellen häufig über Membranrezeptoren vom Tyrosinkinasetyp gebunden werden. Zu den die Migration vermittelnden Wachstumsfaktoren gehört der
Hepatozyten-Wachstumsfaktor („scatter factor“,
SF/HGF), der an seinen Rezeptor Met bindet. In
der Embryonalentwicklung übt SF/HGF eine wichtige Funktion bei der Migrationskontrolle wandernder Muskelvorläuferzellen aus. Dies betrifft
vor allem die Extremitätenmuskulatur. Zum Zeitpunkt der Auswanderung aus den Dermomyotomen der Somiten ist SF/HGF im Extremitätenmesenchym exprimiert, während sein Rezeptor Met
in den wandernden Muskelvorläuferzellen exprimiert ist. Bei gezielter Deletion sowohl von SF/
HGF oder von Met bleibt die Besiedelung der Extremitätenknospen mit Muskelvorläuferzellen aus.
Auch das Zwerchfell bleibt muskelfrei. Im „Gainof-function-Experiment“ führt eine ektopische Applikation von SF/HGF im Vogelembryo zu einer
Deepithelialisierung und nachfolgenden Auswanderung von Dermomyotomzellen im Bereich außerhalb der Extremitätenknospen (Brand-Saberi et
al. 1996 b, Heymann et al. 1996). Innerhalb der Extremitätenknospen ermöglicht SF/HGF die nach
distal gerichtete Wanderung der Myoblasten (Scaal
et al. 1999). Die Wirkung von SF/HGF ist durch
die Destabilisierung der N-cadherinvermittelten
Zell-Zell-Kontakte zwischen Myoblasten und stationären Zellen zu erklären, die durch Phosphorylierung von b-Catenin zustande kommen könnte
(Birchmeier et al. 1996). Darüber hinaus aktiviert
SF/HGF Metalloproteasen (Harvey et al. 2000) und
stimuliert den Aufbau von fokalen Kontakten (Trusolino et al. 2000).
1.1 Mechanismen der Steuerung der Embryonalentwicklung
In ähnlicher Weise wirkt der EGF-ähnliche
Wachstumsfaktor Neuregulin (NDF, Heregulin,
GGF, ARIA, SMDF) über seinen Rezeptor ErbB2
und ErbB3 auf die Migration von Schwann-Zellen
der Neuralleiste (Britsch et al. 1998).
1.1.2.9.2 Gastrulation
Von der Bildung erster Epithelien abgesehen, stellt
bei allen Deuterostomiern (Zweitmündern; alle
Chordaten, Hemichordaten, Chaetognathen und
Echinodermata) eine Phase komplexer Umlagerung von Keimteilen den ersten wichtigen morphogenetischen Prozess dar: die Gastrulation (Urdarmbildung). Die Gastrulation läuft bei den Vertretern verschiedener Familien unterschiedlich ab,
das Ergebnis ist jedoch identisch, nämlich die Entstehung der drei Keimblätter Ektoderm, Mesoderm
und Entoderm. Aus dem außen befindlichen Ektoderm gehen Haut und ZNS hervor, die mittlere
Schicht ist das Mesoderm als Quelle für Skelett-,
Herz- und glatte Muskulatur, einen Teil der
Stützgewebe, des Bindegewebes und der Urogenitalorgane. Das innerste Keimblatt, Entoderm, liefert das Darmepithel und die Darmdrüsen sowie
Bronchien und Lungen.
Bei Amphibien stellt sich der Prozess der Gastrulation als eine relative Verschiebung von Epithelzellverbänden zueinander dar, ohne dass es zur
Auflösung des Gewebsverbandes kommt. Zellen
auf Höhe des Äquators fließen dabei auf eine Öffnung, den Blastoporus, zu. Der größte Anteil der
Zellen gleitet über die dorsale Blastoporuslippe (=
obere Urmundlippe, Spemann-Organisator; s. Spemann u. Mangold 1924, Spemann u. Schotté 1932).
Durch die Gastrulation werden Keimteile in eine
enge räumliche Beziehung zueinander gebracht,
die vorher voneinander entfernt waren. Dadurch
werden induktive Interaktionen ermöglicht, welche
die Voraussetzung für die Entwicklung komplexer
Strukturen bilden.
Höhere Vertebraten, wie die Amnioten (Sauropsiden und Mammalia), die sich außerhalb des
Wassers entwickeln können, besitzen keinen kugelförmigen, sondern einen flächig ausgebreiteten
Embryo. Während die Anordnung der beiden Ausgangsschichten Epiblast und Hypoblast im scheibenförmigen Embryo des Vogels und des Menschen gut nachvollziehbar ist, wird die Topographie in anderen sog. Modellorganismen wie der
Maus durch eine in zwei Achsen gekrümmte Ausrichtung komplizierter („egg cylinder“). Hier geht
die Gastrulation mit einer lokalen Auflösung des
Epithelverbandes der Ursprungsschicht (Epiblast)
23
24
B. Christ und B. Brand-Saberi
einher. Entlang einer von kranial nach kaudal verlaufenden Einsenkung, die als Primitivrinne bezeichnet wird, verlassen Zellen den Epiblasten und
verteilen sich im Spaltraum zwischen Epiblast und
Hypoblast. Auch aus der kranialen Endverdickung
der Primitivrinne, dem Primitivknoten, gehen Zellen von der oberen Schicht in die darunter gelegene über. Bereits vor der Einwanderung (Ingression) der Zellen sind die Bezirke des Epiblasten determiniert, welche die Quelle für verschiedene mesodermale und entodermale Derivate darstellen.
Zellen der Chorda gehen aus dem Primitivknoten
hervor, ebenso Material eines Teils des definitiven
Entoderms, das den Hypoblasten ersetzt.
Zellströme, die durch die kraniale Primitivrinne
gehen, bilden das Ausgangsmaterial für die Herzanlage, daran schließen sich Vorläuferzellen für
paraxiales, intermediäres, Seitenplatten- und extraembryonales Mesoderm an (Psychoyos u. Stern
1996, Smith u. Schoenwolf 1998). Eine deutliche
Homologie besteht zwischen den Wirbeltierklassen
im Hinblick auf die Expression von Kontrollgenen
während der Gastrulation. Primitivstreifen und
Chorda exprimieren brachyury („T“ bei der Maus).
Der Primitivknoten exprimiert das Homeoboxgen
goosecoid, während die weiter kaudal gelegenen
Anteile die cdx-Familie von Homeoboxgenen exprimieren. Die Signalmoleküle Nodal, BMP-4 und
sein Inhibitor Follistatin werden im Bereich des
Primitivknotens exprimiert. BMP-4 kommt dabei
eine Rolle bei der Vermittlung früher Lateralitätssignale zu (Schlange et al. 2002).
1.1.2.9.3 Regeneration
Voraussetzungen für die Regeneration. Während der
Ontogenese angelegte Organe unterliegen einer
Größenkontrolle, die durch Wachstumsfaktoren
wie IGF-1, IGF-2, FGF und TGF-b u. a. ausgeübt
wird. Viele der entstandenen Gewebe bestehen zu
einem frühen Entwicklungszeitpunkt bereits
größtenteils aus postmitotischen Zellen, wie z. B.
Neuronen, Skelett- und Herzmuskelzellen. In begrenztem Umfang bleiben in diesen Geweben undifferenzierte Vorläuferzellen erhalten, die zur
Neubildung differenzierter Zellen dienen können.
Im Gehirn sind dies vor allem Zellen der subependymalen Zone, der Ventrikelwand und des Hippocampus, aus denen neue Neurone hervorgehen
(Eriksson et al. 1998, Altman u. Das 1965, Altman
1969, Kuhn et al. 1996, Kempermann et al. 1998),
in der Skelettmuskulatur sind es die Satellitenzellen, die den Muskelfasern von außen angelagert
sind. Bei Läsionen können diese Zellen aktiviert
werden und die Entwicklungsschritte rekapitulieren, die auch während der ontogenetischen Histogenese durchlaufen werden. Im Fall der Satellitenzellen markieren pax7 und myf5 die ruhende
Zellpopulation. Nach Aktivierung, bei der unter
anderem SF/HGF und Met beteiligt sind, werden
zunächst Twist, später dann MyoD, Myogenin und
schließlich muskelspezifische Strukturproteine gebildet (Tatsumi et al. 1998, Leshem et al. 2000).
Die Spezifizierung von Satellitenzellen der Skelettmuskulatur erfolgt unter der Kontrolle von pax7,
da defiziente Mutanten dieses Gens keine Satellitenzellen enthalten (Seale et al. 2000).
Die Regeneration von Gliedmaßen. Die postnatal
vorherrschende Regeneration als reaktiver Wiedereintritt von dedifferenzierten Zellen in den Zellzyklus spielt in der Ontogenese von Amnioten keine große Rolle. Die „Regenerationsfähigkeit“ von
Blastomeren spiegelt sich allerdings in der Tatsache wider, dass die Vertebratenentwicklung allgemein nach dem sog. Regulationsprinzip abläuft.
Dies bedeutet, dass das Vorhandensein zu vieler
oder zu weniger Zellen der inneren Zellmasse oder
einer Organanlage durch verminderte bzw. verstärkte Proliferation ausgeglichen werden kann.
Bei Salamandern und Lurchen (Urodelen) ist
bekannt, dass diese erheblich länger die Möglichkeit zur Regeneration haben, da sie verlorene
Gliedmaßen auch im adulten Zustand regenerieren
können. Regeneration während der Ontogenese
wird auch von höheren Vertebraten berichtet, aber
dabei handelt es sich um Organanlagen im Blastemstadium und nicht um differenzierte Gewebe,
wie z. B. die Extremitätenanlagen der Maus (Wanek et al. 1989) und des Vogels (Hayamizu et al.
1994, Kostakopoulou et al. 1996). Auch bei Urodelen findet die Regeneration nicht aus differenzierten Geweben statt, obwohl sie lokaler Herkunft
sind (Wallace 1981). Es kommt zur Bildung eines
Regenerationsblastems, das sich aus entdifferenzierten Zellen rekrutiert, die Vorläuferzellen aller
differenzierten Gewebe der Extremität bilden
können. Da die Regeneration wiederholte Male
stattfinden kann, müssen diese Zellen sich selbst
erneuern können und damit Stammzellcharakter
haben (Flake 2001). Zellmarkierungsstudien haben
ergeben, dass die Regeneration zum überwiegenden Teil von dermalen Fibroblasten ihren Ausgang
nimmt (Muneoka et al. 1986).
Embryonale und „adulte“ Stammzellen. Die Regenerationsfähigkeit von Geweben wird in der Regel
durch eine limitierte Teilungsfähigkeit der undiffe-
a
renzierten Reservezellen begrenzt. Diese Beschränkung gilt nicht für Stammzellen. Stammzellen sind
durch zwei Eigenschaften charakterisiert: ihre Fähigkeit zur asymmetrischen Teilung und zur praktisch unbegrenzten Aufrechterhaltung der eigenen
Population in vitro, die sich aus der asymmetrischen Teilung zu Vorläuferzellen bestimmter Gewebe und neuen Stammzellen ergibt.
In neuerer Zeit mehren sich Hinweise dafür,
dass Gewebe mit großer Regenerationsfähigkeit
Reparaturen auch mithilfe umschriebener Stammzellpopulationen bewerkstelligen. So konnte gezeigt werden, dass bei der Leberregeneration Zellen der Gallengänge ähnlich wie im Pankreas Zellen der Ausführungsgänge eine höhere Proliferationsfähigkeit aufweisen und sich zu mehr Zelltypen
differenzieren als die Zellen des Leber- bzw. Pankreasparenchyms (Zimmermann 2002, Wagner u.
Adler 2002). Eine besondere Bedeutung kommt
dabei einer Gruppe von Zellen zu, die aus dem
Knochenmark stammt (Sell 2001, Lowes et al.
2003). Diese werden nach ihrer Lage in der Leber
als periduktale Stammzellen bezeichnet.
Dem
Entwicklungspotenzial
somatischer
Stammzellen wird derzeit wegen der therapeutischen Möglichkeiten, aus ihnen Ersatz für Gewebsuntergang bzw. -verlust zu erhalten, viel Beachtung
geschenkt. Unter einer Stammzelle versteht man
eine Zelle, deren Tochterzellen sowohl Vorläuferzellen eines bestimmten Gewebes als auch wiederum Stammzellen sind. Stammzellen sind demnach potenziell unsterblich. Sie sind undifferenziert und besitzen ein unterschiedlich großes Entwicklungspotenzial (Blau 2002). Embryonale
Stammzellen können sich zu allen Zelltypen des
Körpers entwickeln und werden daher als pluripotent bezeichnet. Als embryonale Stammzellen
werden definitionsgemäß nur solche bezeichnet,
die der inneren Zellmasse der Blastozyste von Säugerembryonen entnommen wurden. Infolgedessen
werden alle Stammzellen, die zu späteren Zeitpunkten der Entwicklung vorliegen, bereits als
adulte (somatische) Stammzellen bezeichnet. Ihr
Entwicklungsschicksal ist gegenüber dem der embryonalen Stammzellen eingeschränkt, sie sind
aber noch in der Lage, mehrere Zelltypen zu liefern (multipotent). Der Gebrauch der Begriffe totipotent, pluripotent und multipotent ist in der Literatur sehr uneinheitlich, was zum einen darauf
zurückzuführen ist, dass der experimentelle Nachweis der Totipotenz (Fähigkeit zur Bildung aller
Gewebe des Körpers) aus embryonalen Zellen
noch aussteht, und zum anderen, dass unterschiedliche Sichtweisen in der entwicklungsbiolo-
1.1 Mechanismen der Steuerung der Embryonalentwicklung
gisch-embryologischen Forschung und anwendungsbezogenen Zellbiologie bestehen.
Stammzellen eines einzigen Gewebetyps liegen
in Organen mit starker Zellmauserung vor, so z. B.
in der Haut oder im Darm. Die Stammzellen der
Epidermis sind auf die basale Zellschicht beschränkt. Durch asymmetrische Teilungen geben
sie nach apikal sog. transitorische Zellen ab, die in
die Differenzierungsphase eintreten. Man geht davon aus, dass nicht nur die Epidermis, sondern
auch die Dermis Stammzellen enthält. Es gibt Hinweise darauf, dass letztere insbesondere in den
dermalen Haarpapillen vorhanden sind (Jahoda u.
Reynolds 2001 a, b). Bei Verletzungen können sie
aktiviert werden und an der Wiederherstellung der
Haut teilnehmen. Eine besonders gute Heilung ist
daher in der behaarten Haut zu beobachten. Die
Dermis soll darüber hinaus noch multipotente
Stammzellen enthalten, aus denen in Zellkultur Fettzellen, glatte Muskelzellen und sogar Neurone hervorgehen können (Toma et al. 2001). Dies könnte
als Reminiszenz an die Regeneration der Urodelen
verstanden werden (Muneoka et al. 1986).
Das bekannteste und älteste Beispiel für das
Vorhandensein multipotenter Stammzellen ist das
hämatopoetische System des Knochenmarks. Es
enthält lebenslang teilungsfähige Stammzellen, aus
denen sowohl Blutzellen als auch Zellen des Immunsystems, Osteoklasten und Langerhans-Zellen
der Haut hervorgehen. An der Determination einzelner Zelltypen sind Signalmoleküle und Transkriptionsfaktoren beteiligt, die auch in der Ontogenese eine Rolle spielen, z. B. die Signalkaskaden
von WNT und Notch (Überblick van de Wetering
et al. 2002) und PAX-5 (Maier u. Hagman 2002,
Bruno et al. 2002).
1.1.2.9.4 Grenzziehungen
Die Entwicklung verschiedener Organsysteme und
Gewebe macht es erforderlich, dass innerhalb des
Anlagematerials Grenzen gezogen werden. Der Somit z. B. enthält das Anlagematerial für die Wirbelsäule, die Skelettmuskulatur und das Hautbindegewebe des Rückens (Christ u. Ordahl 1995). Damit
aus den pluripotenten Somitenzellen Skelettgewebe, Muskelgewebe und Hautbindegewebe gebildet
werden können, entwickeln sich unter dem Einfluss von außen kommender Signalmoleküle zunächst Abteilungen (Kompartimente), nämlich das
dorsal liegende Dermomyotom und das ventral gelegene Sklerotom. In diesen Kompartimenten werden unterschiedliche Gene aktiviert, die für Transkriptionsfaktoren kodieren und welche die unter-
25
26
B. Christ und B. Brand-Saberi
schiedlichen Differenzierungswege vorprogrammieren (dorsal pax3 und pax7, ventral pax1 und
pax9). Es verändert sich auch die Organisationsform der Zellen in den beiden Kompartimenten:
Das dorsale Kompartiment ist epithelial strukturiert, während das ventrale Kompartiment eine
mesenchymale Strukturierung aufweist (Christ u.
Ordahl 1995). Dadurch wird die Grenze zwischen
beiden Abteilungen besonders deutlich. Das Niveau
der Grenzziehungen, d. h. die quantitative Zuordnung von Somitenzellen zu den Kompartimenten,
ist abhängig von der Intensität der von den Nachbarstrukturen gegebenen dorsalisierenden und ventralisierenden Signale (Wagner et al. 2001).
Ein anderes Beispiel für Grenzziehungen stellt
die Segmentierung des paraxialen Mesoderms dar.
Die einzelnen Segmente, die Somiten, werden in
regelmäßiger Folge und in kraniokaudaler Richtung aus dem paraxialen Mesoderm abgegliedert
(Christ et al. 1998). Die Grenzziehungen zwischen
den Somiten erfolgt in zwei aufeinander folgenden
Schritten. Zunächst werden im noch unsegmentierten paraxialen Mesoderm die Grenzlinien festgelegt. Voraussetzung dafür ist die oszillierende
Expression von Segmentierungsgenen, wie hairy1
und lunatic fringe (Palmeirim et al. 1997, Aulehla
u. Johnson 1999, Pourquié 1999). Diese wirken
modifizierend auf den Delta-Notch-Signalweg mit
dem Ergebnis, dass Notch entlang einer Grenze
aktiviert wird, die zwischen solchen Zellen gelegen
ist, die lunatic fringe exprimieren und solchen, die
es nicht exprimieren (Hrabé de Angelis et al. 1997,
Irvine 1999). Dabei treten Veränderungen der Adhäsivität der Zellen auf, die durch Ephrine vermittelt
werden (Bergemann et al. 1995, Schmidt et al. 2001).
Der zweite Schritt dieser Grenzziehung besteht darin, dass die abgegliederten Segmente epithelialisiert werden, wodurch erst selbständige und stabile
Kompartimente, die Somiten, entstehen (Abb. 1.1.12
u. 1.1.26). Dieser Schritt wird durch die Expression
des bHLH-Gens Paraxis bewirkt (Sosic et al. 1997).
Die einzelnen Segmente werden darüber hinaus jeweils über den Delta-Notch-Signalweg in eine kraniale und eine kaudale Hälfte zerlegt, was zu unterschiedlichen Expressionen des Ephrinsystems führt
und die Voraussetzung für eine geordnete Morphogenese der Wirbelsäule und des peripheren Nervensystems darstellt. Das Muster der entlang der
Körperachse exprimierten hox-Gene wird als hoxKode bezeichnet und determiniert die Grenzen der
Körperregionen (Kessel u. Gruss 1990, 1991).
Auch bei der Verzweigung von Blutgefäßen spielen Grenzziehungen eine Rolle. So wird das Gefäßmuster der embryonalen Lunge dadurch modifi-
ziert, dass sich Endothel mit angrenzendem Mesenchym in das Gefäßlumen einwölbt und es schließlich unterteilt (Pfostenbildung). Das auf diese Art
ablaufende Gefäßwachstum wird als intussuszeptives Wachstum bezeichnet (Burri u. Tarek 1990).
1.1.2.9.5 Fusionen
Die Verschmelzung getrennter Anlagen spielt in
der Entwicklung eine sehr große Rolle. Die häufigste Fehlbildung beim Menschen, die Gaumenspalte, kommt durch eine Störung der Fusion der
paarigen Gaumenfortsätze zustande. Die Rückenmarksanlage, das Neuralrohr, entsteht dadurch,
dass die sich aufwölbenden Neuralfalten in der
Mittellinie zu einem Rohr verschmelzen. Rhachischisis nennt man die Spaltbildung des Rückenmarks, deren Ursache eine Fusionsstörung der
Neuralfalten ist. Die unpaare Aorta entsteht aus
paarigen Gefäßanlagen, die miteinander verschmelzen. Es ist interessant, dass identische Organanlagen beider Seiten immer verschmelzen,
wenn sie in Kontakt treten. Aus dieser Verschmelzungstendenz können Fehlbildungen erwachsen,
wenn ein derartiger Kontakt dort entsteht, wo er
normalerweise nicht vorkommt. Berühren sich beispielsweise die beiden unteren Nierenpole, so
kommt es zu einer Fusion und zur Bildung einer
Hufeisenniere. Berühren sich die Augenanlagen,
dann entsteht eine Synophthalmie. Bei der sog. Sirenenbildung sind die Beinanlagen fusioniert.
Da alle Organe wie auch die Körperwand paarig
angelegt sind, sind ordnungsgemäß ablaufende Fusions- und Verschlussmechanismen die Voraussetzung für eine normale Entwicklung. Bei den Fusionsprozessen lassen sich zwei unterschiedliche Mechanismen beobachten, die auch kombiniert ablaufen können:
• die Fusion epithelialer Anlagen und
• die Fusion mesenchymaler Anlagen.
Ein Beispiel für eine Fusion rein epithelialer Anlagen ist die Verschmelzung der Neuralfalten zum
Neuralrohr (Abb. 1.1.28). Die Kanten dieser Falten
nähern sich einander und die führenden Zellen
senden Fortsätze (Filopodien) aus, die sich aufgrund der Expression identischer Zelladhäsionsmoleküle (z. B. N-Cadherin) erkennen. Die Prozesse der Fortsatzbildung und Verschmelzung sind
abhängig von mikrotubulären Strukturen. Beim
Opitz-Syndrom des Menschen, bei dem zahlreiche
epitheliale Fusionen gestört sind, ist das mid1-Gen
defekt, das für einen Regulator des mikrotubulären
Zytoskeletts kodiert.
a
1.1 Mechanismen der Steuerung der Embryonalentwicklung
Abb. 1.1.28. Querschnitt durch einen menschlichen Embryo
in der 3. Entwicklungswoche. Das Neuralepithel (NE) bildet
Falten, die sich im weiteren Verlauf einander nähern (Pfeile)
und schließlich zum Neuralrohr fusionieren. Ek Ektoderm,
En Entoderm, Am Amnion
Bei der Fusion der Gaumenfortsätze kommt es
zunächst ebenfalls zu einem Kontakt der epithelialen Zellen. Dabei werden unter dem Einfluss von
TGF-b Zellfortsätze ausgebildet. Mäuse mit inaktiviertem TGF-b 3-Gen weisen Gaumenspalten auf.
Im weiteren Verlauf dieser epithelialen Fusion sind
umschriebene Apoptosen der Epithelzellen von
morphogenetischer Bedeutung. Werden die Apoptosen durch Modulation der Retinsäure-Expression
oder durch Caspasehemmer verhindert, resultieren
Gaumenspalten. Nach erfolgter epithelialer Fusion
muss der Gaumen durch den Aufbau einer mesenchymalen Brücke stabilisiert werden.
Mesenchymale Fusionen im Bereich der Wirbelkörper und der Wirbelanlagen sind Voraussetzung für die Entwicklung der unpaaren Wirbelsäule, die das Rückenmark einschließt. Diese Fusionen
sind abhängig von der Migrationsfähigkeit der
mesenchymalen Zellen (Abb. 1.1.29). Da differenzierte Zellen ihre Migrationsfähigkeit verlieren,
müssen die Zellen in einem undifferenzierten Zustand gehalten werden, was im Anlagegebiet der
dorsalen Wirbelbogenanteile durch die Expression
von msx1 bewirkt wird (Monsoro-Burq u. Le
Douarin 2000). Die Differenzierung erfolgt nach
Abschluss der Zellwanderung durch Signalmoleküle (z. B. BMP-4), die vom dorsalen Neuralrohr
und möglicherweise vom epithelialen Anteil der
Hautanlage abgegeben werden. Störungen dieser
komplexen Entwicklungsprozesse sind die Ursache
einer Spina bifida.
Die Segmentierung der Wirbelsäule bleibt dadurch erhalten, dass die Wirbelkörper durch Bandscheiben getrennt bleiben. Die embryonalen Bandscheiben stellen die Zuwachsgebiete für die Wir-
Abb. 1.1.29. Rasterelektronenmikroskopische Aufsicht auf
die Ventralseite eines 3 Tage alten Hühnerembryos nach Entfernung des Entoderms. Die aus den Sklerotomen einwandernden Zellen (Pfeile) umgeben die Chorda dorsalis (Ch)
und bilden später die Wirbelkörper und Bandscheiben. Aufnahme: Dr. H.J. Jacob Bochum
belkörperanlagen dar und exprimieren pax1. Die
Verschmelzung von Wirbelkörperanlagen, wie sie
in den Bereichen des Os basioccipitale, des Os sacrum und zwischen dem Dens axis und dem Axiskörper vorkommt, dürften mit der Herunterregulierung von pax1 in Zusammenhang stehen (Wilting et al. 1995) Abb. 1.1.30).
Der richtige Zeitpunkt der Fusion ist ebenfalls
von Bedeutung. So ist eine wichtige Voraussetzung
für die normale Entwicklung des Schädels die
nicht zu frühe Fusion der Schädelknochen. Zu
frühe Verschlüsse der Schädelnähte (Suturen)
führen zur Verformung des Schädels, z. B. zum
Turmschädel. Mutationen des fgfr1-Gens liegen
dem Pfeiffer-Syndrom zugrunde, bei dem eine zu
frühe Fusion der Schädelknochen erfolgt. Der
FGF-Signalweg ist demnach für die Proliferation
der Zellen in den Schädelnähten von Bedeutung.
1.1.2.9.6 Rechts-links-Asymmetrie
Die Brust- und Baucheingeweide weisen eine sehr
deutliche Rechts-links-Asymmetrie auf, die normalerweise sehr konstant ist. Es muss daher einen genetischen Steuerungsmechanismus geben, der z. B.
für die Darmdrehung und die asymmetrische Entwicklung des Herzens verantwortlich ist. Die Festlegung der Rechts-links-Asymmetrie beginnt be-
27
28
B. Christ und B. Brand-Saberi
Abb. 1.1.31. Aufsicht auf das äußere Keimblatt eines 24 h
lang bebrüteten Hühnerembryos mit Darstellung der SonicHedgehog-Expression. Beachte die asymmetrische, auf der
linken Seite des Hensen-Knotens (Pfeil) lokalisierte Expressionsdomäne. Aufnahme: Verena Dathe, Freiburg
Abb. 1.1.30. Medianer Sagittalschnitt durch einen Mausembryo mit Nachweis des PAX1-Proteins in der Wirbelsäulenanlage insbesondere in Höhe der Bandscheiben (Pfeile).
Im Bereich des Os basioccipitale (*) sind die Skelettanlagen
zu einem segmentübergreifenden Blastem fusioniert. Aufnahme: Prof. Dr. J. Wilting, Freiburg
reits während der Gastrulation und kann durch
asymmetrische Genexpressionsmuster sowie durch
eine asymmetrische Morphologie des Hensen-Knotens nachgewiesen werden (Levin et al. 1995, 1997,
Dathe et al. 2002). So ist beispielsweise im
Hühnerembryo nach dem Auswachsen des Kopffortsatzes im linken Abschnitt des Hensen-Knotens
und daran angrenzend eine Expressionsdomäne
von Sonic Hedgehog (shh) nachweisbar, während
auf der rechten Seite Activin-bB und sein Rezeptor
actr-IIa exprimiert werden (Abb. 1.1.31). Es folgen
auf beiden Seiten Genaktivierungskaskaden, die
sich in mediolateraler Richtung auf das Seitenplattenmesoderm fortsetzen, aus dem das Herz und
die Darmwand hervorgehen.
Auf der rechten Seite wird shh durch Activin
herunter- und fgf8 sowie N-Cadherin werden
hochreguliert (Garcia-Castro et al. 2000, Boettger
et al. 1999). Die Rechtsidentität wird dann durch
die Bildung des Transkriptionsfaktors cSnR1 in
den Organanlagen festgelegt. Auf der linken Seite
aktiviert Sonic Hedgehog nodal, ein Mitglied der
TGF-b-Superfamilie. Über das paraxiale Mesoderm
und das darin exprimierte Gen Caronte (car), das
zur Cerberus-Genfamilie gehört, wird nodal im
Seitenplattenmesoderm angeschaltet, das wiederum pitx2 aktiviert und damit die Entwicklung
der Links-Identität in den Organanlagen festlegt
(Collignon et al. 1996, Rodriguez-Esteban et al.
1999, 2001, Capdevila et al. 2000).
Die Informationen für die Rechts-links-Verschiedenheit können nicht primär im HensenKnoten lokalisiert sein, da sich nach seitenverkehrter Transplantation oder Exstirpation des HensenKnotens vor dem Auswachsen des Kopffortsatzes
eine normale Rechts-links-Asymmetrie entwickelt
(Levin et al. 1997). Wird demgegenüber in eine
der seitenspezifischen Genaktivierungskaskaden
experimentell eingegriffen, z. B. durch eine Aktivierung der shh-Expression auf der rechten Seite,
dann entwickeln 50% der Embryonen einen Situs
inversus. Für den geordneten Ablauf der seitenspezifischen Genaktivierungen ist eine Barriere in der
Mitte des Embryos erforderlich, durch die Signale
von einer Kreuzung der Mittellinie abgehalten werden. Diese Barrierenfunktion wird von lefty-1, das
zur TGF-b-Superfamilie gehört und das in der
Chordaanlage exprimiert wird, wahrgenommen
(Schlange et al. 2001). Die frühesten Ereignisse in
der Etablierung der Rechts-links-Asymmetrie sind
noch ungeklärt und weisen möglicherweise artspezifische Besonderheiten auf, während die späteren
Genaktivierungen, wie die von nodal und pitx2,
bei allen untersuchten Vertebratenembryonen
gleich ablaufen. Die frühe Determinierung der
Rechts-links-Asymmetrie könnte bei der Maus auf
eine gerichtete Bewegung von Monozilien zurückgehen, die auf den entodermalen Zellen des Hensen-Knotens nachgewiesen worden sind. Mäuse
a
mit Mutationen der Kinesin-Gene haben defekte
Monozilien und entwickeln Lateralitätsstörungen
(Nonaka et al. 1998). Daher wurde postuliert, dass
die Zilienbewegung eine asymmetrische Verteilung
von Signalmolekülen bewirkt, die der asymmetrischen Genexpression zugrunde liegt. Dieser Mechanismen einer gerichteten Zilienbewegung als
Ursache der Lateralitätsentwicklung kann jedoch
nicht auf alle Vertebraten übertragen werden, da
sie im Vogelembryo beispielsweise keine Rolle
spielt (Dathe et al. 2002).
1.1.2.10 Gefäßentwicklung
Bei den Gefäßen ist zunächst zwischen den Blutgefäßen und den Lymphgefäßen zu unterscheiden.
Die Entwicklung der Blutgefäße müsste eigentlich
als Hämangiogenese der Entwicklung der Lymphgefäße, Lymphangiogenese, gegenübergestellt werden. Da man jedoch in der Vergangenheit der
Lymphgefäßentwicklung keine besondere Aufmerksamkeit entgegengebracht hat, wurde der sehr
allgemeine Begriff der Angiogenese zur Beschreibung der Blutgefäßentwicklung verwandt. Wir werden hier aus diesem Grund den Terminus Angiogenese für die Blutgefäßentwicklung und den Terminus Lymphangiogenese für die Lymphgefäßentwicklung verwenden. Bei der Analyse von Prozessen der Gefäßentwicklung ist zu berücksichtigen,
dass jedes Gefäß zunächst als Endothelrohr (Kapillare) existiert. Die Kapillaren sind häufig durch organspezifische Baueigentümlichkeiten gekennzeichnet. Erst später erfolgt dann die Entwicklung der
Gefäßwand, die entsprechend der Position des Gefäßes im Gefäßbaum in unterschiedlicher Dicke
und mit unterschiedlichen Zelltypen ausgestattet
werden muss.
1.1 Mechanismen der Steuerung der Embryonalentwicklung
pria intimae, die als subendotheliales Bindegewebe
einen Teil der Intima darstellt, entwickelt sich erst
nach der Geburt aus bisher unbekanntem Anlagematerial.
Entwicklung des Endothelrohrs. Bei der embryonalen Entwicklung der Endothelrohre werden in der
Literatur zwei Mechanismen unterschieden (Risau
1995, 1997). Vaskulogenese bezeichnet eine Endothelrohrbildung, bei der sich mesodermale Mesenchymzellen in situ zu Angioblasten differenzieren,
die sich dann zu Gefäßendothelien zusammenlagern und ein Lumen begrenzen (Abb. 1.1.32 u.
1.1.33). Diese Art der Gefäßbildung wird in ganz
jungen Embryonen beobachtet, z. B. bei den Dottersackgefäßen, bei der Bildung der paarigen Aorten sowie bei der Gefäßbildung in der Splanchnopleura. Angioblasten differenzieren sich darüber
hinaus im paraxialen Mesoderm, den Somiten,
und wandern in die primär avaskuläre Somatopleura ein, wo sie die Gefäße der Körperwand und
der Extremitäten bilden. Später wächst das Gefäßsystem aus sich selbst heraus (Angiogenese, Gefäßbildung durch „Sprossung“), wobei vorübergehend
noch Angioblasten in den endothelialen Zellverband eingegliedert werden. Es gibt sogar Hinweise
darauf, dass selbst im Blut des Erwachsenen noch
angioblastische Zellen zirkulieren, die bei Bedarf
den endothelialen Zellverband ergänzen können
(Asahara et al. 1997). Diese Zellen können anhand
der Oberflächenmoleküle CD34 und VEGFR-2
identifiziert werden. Das Phänomen der Gefäßsprossung erfolgt in zelldichten Geweben, z. B. der
Anlage des zentralen Nervensystems, mittels langer
und feiner Filopodien, über die unterschiedliche
angioblastische Zellen in Kontakt treten und Gefäßverbindungen herstellen (Kurz u. Christ 2002).
Die Lumenbildung der Angioblasten ist mit einer
Polarisierung der Zellen verbunden. Es wird eine
1.1.2.10.1 Angiogenese
Die Bildung von Blut und Blutgefäßen beginnt im
menschlichen Embryo bereits in der 3. Woche und
in der 4. Woche ist ein funktionstüchtiger Blutkreislauf vorhanden (Blechschmidt 1961). Es ist interessant, dass die Endothelien der arteriellen
Strombahn Ephrin-B2 und die der venösen Strombahn ephb4 exprimieren und somit eine arterielle
oder venöse Identität der Endothelzellen markieren (Wang et al. 1998, Adams et al. 1999). Die
Blutgefäße reifen von innen nach außen. An die
zuerst entstehenden Endothelrohre lagern sich
dann außen nach und nach die Tunica media und
die Tunica externa an. Lediglich die Lamina pro-
Abb. 1.1.32. Immunhistochemische Darstellung der Angioblasten und Endothelzellen in einem Wachtelembryo zu Beginn des 2. Bebrütungstages. Beachte die subentodermale
Lokalisation der Gefäßanlagen sowie den lateral-medialen
Differenzierungsgradienten
29
30
B. Christ und B. Brand-Saberi
Abb. 1.1.33. Hühnerembryo während des 3. Bebrütungstages
nach Tuscheinjektion zur Gefäßdarstellung. Beachte die Aorta (*) sowie die nach dorsal abgehenden Gefäßäste, die einen Plexus speisen, der das zu diesem Zeitpunkt noch avaskuläre Neuralrohr umgibt
luminale von einer abluminalen Seite unterscheidbar, von der die letztere mit der extrazellulären
Matrix über Integrine interagiert. Die Stabilität der
Endothelrohre wird durch endotheliale Adhäsionsmoleküle gewährleistet, zu denen VE-Cadherin
und PECAM-1/CD31 gehören (Risau 1995).
Angiogene Wachstumsfaktoren. Der vaskuläre endotheliale Wachstumsfaktor (VEGF) ist für die Gefäßentwicklung essentiell (Oh et al. 1997). Die
VEGF-Familie umfasst sechs Mitglieder (ClaessonWelsh 1999). VEGF-A bindet an die VEGF-Rezeptoren VEGFR-1 und VEGFR-2 mit hoher Affinität.
Ohne VEGFR-1 (FLT-1) entstehen keine Endothelrohre und ohne VEGFR-2 (KDR, FLK-1) differenzieren sich keine Angioblasten (Abb. 1.1.34). Das
humane vegf-Gen ist auf Chromosom 6 P21.3 lokalisiert. Die Wirkungen von VEGF auf die Endothelzellen umfassen eine Erhöhung der proteolytischen
Aktivität, eine Erhöhung der Permeabilität, eine
Verstärkung der Expression von VCAM-1 und
ICAM-1, eine Vasodilatation durch NO-Freisetzung, eine Stimulierung der Proliferation und eine
Anregung zur Migration. Die Expression von vegf
wird durch Hypoxie stimuliert (Ferrara 1999). Der
„hypoxia-inducible factor-1“ (HIF-1) bindet an
Abb. 1.1.34. Darstellung der vegfr2-Expression in den lateralen Dermomyotomabschnitten eines 2-tägigen Hühnchens
den VEGF-Promotor. Die vegf-Expression kann
darüber hinaus durch Wachstumsfaktoren, wie
FGF, EGF, Interleukin 1 und Prostaglandin E2 stimuliert werden. Die Expression des VEGFR-1-Gens
wird ebenfalls durch HIF-1 stimuliert. An der Regulation des VEGFR-2-Gens sind Transkriptionsfaktoren wie c-ETS1, GATA-2, HIF-2a und SCL/
TAL-1 beteiligt. Andererseits inhibiert TGF-b die
VEGFR-2-Expression.
Eine weitere Familie von Wachstumsfaktoren,
die für das Gefäßsystem von großer Bedeutung
sind, werden als Angiopoietine (Ang) bezeichnet.
Diese Familie besteht aus vier Mitgliedern, die
hochaffin an den Tyrosinkinaserezeptor Tie-2
(TEK) binden. Eine Inaktivierung des tie2-Gens
bei Mäusen ist letal aufgrund gravierender Störungen der Gefäßbildung. Ang-1 aktiviert den Rezeptor und trägt zur Stabilisierung der Gefäße bei,
während Ang-2 den Rezeptor hemmt und destabilisierend auf Gefäße wirkt, was bei Anwesenheit
von VEGF zur Stimulation der Angiogenese führt.
Das embryonale Gefäßsystem ist in ständigem
Umbau begriffen (Remodeling). Die Regression
von Gefäßen wird in der Regel durch VEGF-Entzug oder durch die Produktion antiangiogener
Faktoren bewirkt. So produziert der avaskuläre
a
1.1 Mechanismen der Steuerung der Embryonalentwicklung
Knorpel schon in der Frühphase seiner Entstehung
den antiangiogenen Faktor Chondromodulin I
(Dietz et al. 1999).
Entwicklung der Gefäßwand. Im weiteren Verlauf
werden die Gefäße entsprechend ihrer Position im
arteriellen oder venösen Gefäßbaum von periendothelialen Zellen umhüllt (Investment). Diese Zellen
umfassen Perizyten, Fibrozyten, Myofibroblasten,
Myoblasten und Adventitiazellen (Makrophagen).
Im Gegensatz zu den Endothelzellen, die nur aus
einigen Mesodermkompartimenten hervorgehen,
können sich die Wandzellen aus allen Mesodermkompartimenten und aus der Neuralleiste entwickeln. Im ZNS sind offenbar Neuralepithelzellen
in der Lage, Perizyten und glatte Muskelzellen zu
liefern (Korn et al. 2002). Der Gefäßwandentwicklung dürften Interaktionen zwischen dem Endothelrohr und den angrenzenden ortsständigen
Mesenchymzellen zugrunde liegen. Das Angiopoietinsystem und der „platelet-derived growth factor“
(PDGF) sind an der Regulation der Gefäßwandbildung beteiligt (Vikkula et al. 1996 1998). Bei Mäusen mit inaktiviertem pdgfb-Gen ist die Gefäßwandentwicklung gestört.
Abb. 1.1.35. Gefäßstrang eines Hühnchens mit prox1-Expression in den Lymphendothelien (Pfeile). Die Endothelien der
Blutgefäße (*) zeigen demgegenüber keine prox1-Expression.
Aufnahme: Dr. M. Rodriguez-Niedenführ, Freiburg
1.1.2.10.2 Lymphangiogenese
Die Lymphangiogenese tritt während der Embryonalentwicklung gegenüber der Angiogenese mit
zeitlicher Verzögerung in Erscheinung (Wilting et
al. 2003). In unmittelbarer Nähe der Kardinalvenen
entstehen Kapillarkonvolute, die zu Lymphsäcken
fusionieren. Durch experimentelle Untersuchungen
an Vogelchimären konnte gezeigt werden, dass das
Lymphgefäßsystem nur zum Teil venösen Ursprungs ist und zum anderen Teil aus Lymphangioblasten gebildet wird, die in der Splanchnopleura und in den Somiten lokalisiert sind (Wilting et
al. 2001). Aus den Somiten wandern Lymphangioblasten in die Körperwand und in die Extremität
ein, wo sie sich an der Bildung der Lymphgefäße
beteiligen. Die Lymphangioblasten für die Lymphgefäße der inneren Organe entstammen der
Splanchnopleura.
Lymphangiogene Wachstumsfaktoren. VEGF-C und
VEGF-D sind Wachstumsfaktoren, welche die
Lymphangiogenese induzieren können. Sie binden
mit hoher Affinität an VEGFR-2 (KDR, FLK1) und
VEGFR-3 (FLT4). VEGFR-3 wird in der Fetalentwicklung spezifisch von Lymphendothelzellen exprimiert. PROX-1 ist ein Homeobox-Transkriptionsfaktor, der von Lymphangioblasten und
Lymphendothelzellen exprimiert wird (Abb.
1.1.35). Mäuse mit inaktiviertem prox1-Gen weisen
keine Lymphgefäße auf. PROX-1 und VEGFR-3
werden in den Zellen humaner Lymphangiome exprimiert (Wilting et al. 2002).
1.1.2.11 Entwicklung des Nervensystems
1.1.2.11.1 Induktion des Nervensystems
Die Oberhaut (Epidermis) und das Nervensystem
entwickeln sich aus dem äußeren Keimblatt, dem
Ektoderm. Im frühen Embryo haben noch alle Ektodermzellen die Option, sich zu Haut- oder zu Nervenzellen zu differenzieren. Spemann u. Mangold
(1924) war durch Transplantation der dorsalen Urmundlippe von einem pigmentierten auf einen nicht
pigmentierten Froschembryo der Nachweis gelungen, dass das Ektoderm des Wirtsembryos, das normalerweise Haut gebildet hätte, nach Unterlagerung
mit mesodermalen Zellen des Transplantats ein zusätzliches Neuralrohr bildete (Abb. 1.1.4). Diese experimentell herbeigeführte Änderung des Entwicklungsverhaltens der Ektodermzellen wurde als „Induktion“ und die gesamte Wirkung der Urmundlippe als „Organisatorwirkung“ bezeichnet.
31
32
B. Christ und B. Brand-Saberi
Nun hat sich herausgestellt, dass das frühe Amphibienektoderm von vornherein in Richtung Nervensystem programmiert ist (Grunz u. Tacke 1989,
Hemmati-Brivanlou u. Melton 1994, Sasai et al.
1995). Es wird an der Realisation dieses Programms durch BMP-4 gehindert, das von den Ektodermzellen gebildet wird und parakrin im Ektoderm wirkt. Im Verlauf der Gastrulation wird
von der dorsalen Urmundlippe aus Material nach
innen verlagert, das als axiales Mesoderm einen
umschriebenen Bereich des Ektoderms unterlagert.
Diese Mesodermzellen sezernieren BMP-Antagonisten wie Chordin, Noggin, Follistatin und Cerberus, wobei letzteres auch noch als WNT-Antagonist wirkt. Dadurch wird im darüber liegenden Ektoderm der BMP-Signalweg blockiert und die
Hemmung des Nervenzelldifferenzierungsprogramms aufgehoben (Thomson 1997). Weitere Einzelheiten der Induktion des Nervensystems und
seiner Regionalisierung können dem Kapitel 2.1
dieses Bandes entnommen werden.
Abb. 1.1.36. Rasterelektronenmikroskopische Dorsalansicht
eines 2 Tage alten Hühnerembryos in Höhe der zuletzt gebildeten Somiten. * Neuralleiste auf dem Neuralrohr, WG WolffGang, So Somatopleura. Aufnahme: Dr. H.J. Jacob, Bochum
1.1.2.11.2 Bildung des Neuralrohrs
1.1.2.11.3 Segmentierung des Gehirns
Die Neuralplatte wölbt sich beiderseits der Chorda
dorsalis zu Neuralfalten auf, die schließlich miteinander verschmelzen und das Neuralrohr bilden
(Abb. 1.1.28). Die Neurulation erfolgt vom Ende
der dritten bis zum Ende der vierten Entwicklungswoche (Christ u. Wachtler 1998). Die Neuralrohrbildung beginnt in Höhe des späteren Hirnstammes und schreitet von hier aus in anteriorer
und besonders in posteriorer Richtung fort. Zunächst bleibt dieses Rohr durch den Neuroporus
anterior und den Neuroporus posterior vorn und
hinten geöffnet. Wenn sich die beiden Öffnungen
schließen, wird das spätere Ventrikelsystem des
Gehirns und der Zentralkanal des Rückenmarks
von der Amnionhöhle abgetrennt.
An den beiden seitlichen Grenzen zwischen der
Neuralplatte und dem Oberflächenektoderm befinden sich Neuralleistenzellen. Im Verlauf der Neuralrohrbildung gelangen diese paarigen Ektodermstreifen in die Kanten der Neuralfalten. Im Kopfgebiet wandern die Neuralleistenzellen bereits vor
dem Schluss des Neuralrohrs aus, im Rumpfabschnitt erst danach. Mit der Verschmelzung der
Neuralfalten entsteht eine unpaare Neuralleiste,
aus der die Zellen nach beiden Seiten hin auswandern (Christ u. Wachtler 1998, Abb. 1.1.36).
Besonders augenfällig werden im Rautenhirn
(Rhombencephalon) Segmentgrenzen gezogen
(Lumsden 1991). Es entstehen in kraniokaudaler
Richtung sieben Vorwölbungen des Neuralrohrs,
die als Rhombomere bezeichnet und von kranial
nach kaudal durchnummeriert werden (r1–r7).
Zum Rückenmark hin wird eine achte Rhombomere (r8) beschrieben, deren Grenzen von außen
nicht sichtbar sind. Das erste Rhombomer (r1)
enthält das Anlagematerial des Kleinhirns. Je zwei
der folgenden Rhombomere bilden die Wurzel eines Hirnnerven. Der Nervus trigeminus (V)
kommt aus r2 und r3, der N. facialis (VII) aus r4
und r5 und der N. glossopharyngeus (IX) aus r6
und r7. Folgende Rhombomere liefern Neuralleistenzellen für die angrenzenden Pharyngealbögen:
r2 für den ersten Bogen, r4 für den zweiten und r6
und r7 für den dritten Bogen.
Die Rhombomere sind Kompartimente, deren
Zellen die Grenzen zu Nachbarrhombomeren nicht
überschreiten. Dieser
rhombomerspezifischen
Identität der Zellen liegen möglicherweise gemeinsame Adhäsionsmerkmale zugrunde, die durch die
alternierende Expression von Ephrinen und EphRezeptoren vermittelt werden. Die aus den Rhombomeren auswandernden Neuralleistenzellen besitzen eine Segmentidentität (Keynes u. Lumsden
1990). So sind beispielsweise die Neuralleistenzellen aus r2 programmiert, Kieferknochen zu bilden.
a
1.1 Mechanismen der Steuerung der Embryonalentwicklung
Die positionelle Identität der Rhombomere und
der Neuralleistenzellen wird durch hox-Gene festgelegt, deren Expressionsmuster durch Transkriptionsfaktoren induziert werden, die ihrerseits durch
Gradienten von FGF und Retinsäure aktiviert werden. KROX-20, ein Zinkfingerprotein, ist ein derartiger Transkriptionsfaktor, der in den Rhombomeren 3 und 5 exprimiert wird. Mäusen mit einem inaktivierten krox20-Gen fehlen die Rhombomeren 3 und 5. Die vordere Grenze der hoxb-1-Expression liegt beispielsweise an der Grenze zwischen r3 und r4, die der hoxb-2-Expression zwischen r2 und r3, die der hoxb-3-Expression zwischen r4 und r5 und die der hoxb-4-Expression
zwischen r6 und r7. Inaktivierungen dieser hoxGene führen zu Fehlbildungen der entsprechenden
Pharyngealbogenderivate.
1.1.2.11.4 Dorsoventrale Polarisierung
der Rückenmarksanlage
Die funktionelle Gliederung des Zentralnervensystems ist ganz entscheidend an die Ausbildung ventraler und dorsaler Strukturen knüpft und wird
durch Signale der Chorda dorsalis eingeleitet, die
ventral an das Neuralrohr angrenzt (Jessel et al.
1989). Dorsale Strukturen sind beispielsweise
Kommissurenneurone, welche die beiden Rückenmarkshälften miteinander verbinden; ventrale
Strukturen sind die Bodenplatte und die Motoneurone. Wird eine zusätzliche Chorda dorsalis an
den dorsalen Umfang des Neuralrohrs experimentell angelagert, so entwickelt sich eine ektopische
Bodenplatte mit zusätzlichen Motoneuronen
(Placzek u. Furley 1996).
Das ventralisierende Chordasignal konnte als
Sonic Hedgehog (SHH) identifiziert werden (Chiang et al. 1996). Mäuse mit inaktiviertem shh-Gen
entwickeln weder eine Bodenplatte noch Motoneurone. SHH unterdrückt die Expression der Gene
pax3 und pax7, die ursprünglich im gesamten
Umfang des Neuralrohrs exprimiert werden. Ist
durch die shh-Signale der Chorda dorsalis eine Bodenplatte induziert, so übernehmen die Bodenplattenzellen die Produktion von SHH (Abb. 1.1.18).
Unter dem Einfluss des Oberflächenektoderms, das
BMP-4 und BMP-7 abgibt, wird in der dorsalen
Hälfte des Neuralrohrs die Expression von pax3
und pax7 aufrechterhalten und in der Deckplatte
die Expression von bmp4, bmp7 und Dorsalin, das
ebenfalls zur TGF-Superfamilie gehört, induziert.
Diese Signale sind für die Differenzierung dorsaler
Zelltypen erforderlich. Es wird davon ausgegangen, dass die Balance zwischen SHH sowie BMP
Abb. 1.1.37. Querschnitt von einem Hühnerembryo zu Beginn des 3. Bebrütungstages. Beachte die ventrikulären Mitosen im Neuralrohr. Pfeile Bodenplatte des Neuralrohrs,
* differenzierende Motoneurone, Ch Chorda dorsalis, SG
Spinalganglion
und Dorsalin die dorsoventrale Polarisierung des
Neuralrohrs kontrolliert. Dabei ist interessant, dass
die Signalmechanismen und Genaktivierungen bei
der dorsoventralen Polarisierung des Neuralrohrs
und der angrenzenden Somiten sehr ähnlich ablaufen (Abb. 1.1.37).
Bezüglich weiterer Einzelheiten der dorsoventralen Musterbildung sei auf das Kapitel 2.1 dieses
Bandes verwiesen.
1.1.2.11.5 Strukturentwicklung des ZNS
Das mehrreihige hochprismatische Epithel des
Neuralrohrs liefert Nervenzellen, Gliazellen und
glatte Muskelzellen für die Wand der später einsprossenden Gefäßanlagen. Es ist durch eine hohe
Proliferationsaktivität gekennzeichnet und grenzt
außen an eine Basalmembran und innen an das
Ventrikelsystem. Die Lage der Zellkerne innerhalb
des Epithels ist abhängig vom Zellzyklus. Während
der S-Phase liegen die Kerne außen unterhalb der
Basalmembran und sie migrieren lumenwärts, um
sich zu teilen (ventrikuläre Mitosen). Die Wanderung der Kerne wird auch als „interkinetic migration“ bezeichnet. Die neuronale Determination
der Zellen erfolgt über den Mechanismus der Late-
33
34
B. Christ und B. Brand-Saberi
ralinhibition, dem das Delta-Notch-Signalsystem
zugrunde liegt (Chenn u. McConnell 1995). Delta
ist der Ligand, der an den Rezeptor Notch bindet.
Durch die Aktivierung von Notch wird die Expression des bHLH-Transkriptionsfaktors Neurogenin
gehemmt, der über die Aktivierung eines weiteren
bHLH-Transkriptionsfaktors NeuroD das neuronale Schicksal der Zellen festgelegt. Wenn eine Zelle
Delta stärker exprimiert als ihre Nachbarzellen,
unterdrückt sie deren Delta-Expression. Diese Zellen können dann keine hemmenden Signale mehr
aussenden und ermöglichen der Zelle, die als erste
Delta hochreguliert hatte, über eine verstärkte Expression von Neurogenin und neuroD die Differenzierung zum Neuron.
Die ventrikulären Mitosen des Neuralepithels
laufen zunächst symmetrisch ab, d. h. es entstehen
zwei gleichwertige Tochterzellen, deren Fähigkeiten
mit denen der Mutterzelle identisch sind (Kim u.
Schagat 1996). Bei den symmetrischen Zellteilungen, die parallel zur inneren Epitheloberfläche ablaufen, werden zwei Proteine, nämlich Notch und
Numb gleichmäßig auf die Tochterzellen verteilt.
Bei den asymmetrischen Zellteilungen, die senkrecht zur inneren Epitheloberfläche ablaufen, behält die lumennah gelegene Tochterzelle das
Numb-Protein und die lumenabgewandte Tochterzelle das Notch-Protein. Das Ergebnis der asymmetrischen Zellteilung ist, dass die lumenwärts gelegene Zelle als Stammzelle erhalten bleibt und die
mehr basal gelegene Zelle zum Neuron wird und
die Proliferationszone verlässt. Das Neuralepithel
wird auf diese Weise mehrschichtig und es können
drei Zonen unterschieden werden: eine innere ventrikuläre Zone, die zum Ependym wird, die Intermediärzone (Mantelzone) sowie die äußere Marginalzone, die von Nervenzellfortsätzen gebildet wird
und an die von außen die Pia mater angrenzt
(Abb. 1.1.38). Die früh gebildeten Neurone migrieren über kürzere, die später geborenen über
größere Distanzen. Im Ependym verbleiben multipotente Stammzellen, die aufgrund der Expression
des Intermediärfilamentproteins Nestin identifiziert werden können (McConnell et al. 1996).
Neurone und Makrogliazellen (Astrozyten, Oligodendrozyten) gehen aus einer einzigen multipotenten Vorläuferzelle hervor, wobei im Allgemeinen Neurone früher und die meisten Gliazellen
später entstehen. Vorläuferzellen können in Kultur
durch den Zusatz verschiedener Wachstumsfaktoren stimuliert werden, sich in die eine oder andere Richtung zu differenzieren. Unter dem Einfluss von FGF-2 und Neurotrophin 3 (NT3) wird
eine neuronale Differenzierung induziert, wohin-
Abb. 1.1.38. Neuralrohr eines 4 Tage alten Hühnchens. Lokalisation der S-Phase-Kerne (Pfeile). Ch Chorda dorsalis, VH
Vorderhorn mit Motoneuronen
gegen EGF und CNTF die Differenzierung von Astrozyten begünstigt. Unter bestimmten Bedingungen induziert PDGF die Entwicklung von Oligodendrogliazellen. Auch BMP haben Einfluss auf
die Entscheidung des Differenzierungsweges. Früh
differenzierte Gliazellen sind die radialen Gliazellen, die den auswandernden Neuronen als Klettergerüst dienen und die nach neueren Befunden
auch Vorläuferzellen von Neuronen darstellen
(Heins et al. 2002). Bei der Rindenentwicklung im
Telencephalon wandern die in späteren Entwicklungsstadien gebildeten Neurone in immer höhere,
d. h. oberflächlichere Schichten der Rindenanlage.
Bei der Mausmutante reeler werden die Rindenschichten demgegenüber von außen nach innen
ausgebildet. Diese Mutante weist ein funktionsuntüchtiges Reelin-Molekül auf. Das Reelin-Protein
ist für die Kontrolle der Auswanderung der Neurone von großer Bedeutung (Rice u. Curran 2001).
In der Rückenmarksanlage beginnt die Spezifizierung der Neurone entlang der dorsoventralen
Achse durch einen Sonic-Hedgehog-Gradienten,
der durch die Chorda dorsalis und die Bodenplatte
des Neuralrohrs erzeugt und aufrechterhalten wird
(Yamada et al. 1991, 1993, Ericson et al. 1997,
Briscoe et al. 2001) (Abb. 1.1.18). Zunächst werden
Domänen von Vorläuferzellen abgegrenzt, die
durch die Expression verschiedener Transkripti-
a
onsfaktoren (z. B. PAX-3, PAX-3 u. -7, PAX-6) charakterisiert werden können (Mansouri u. Gruss
1998, Brisco et al. 2000). Diese Gruppen von Progenitorzellen generieren unterschiedliche Zellpopulationen, die wiederum durch die Expression weiterer Transkriptionsfaktoren identifiziert werden
können (Zhou et al. 2000). So lassen sich beispielsweise die Motoneuronsubtypen durch eine kombinatorische Expression von Homöobox-Genen der
lim-Familie spezifizieren (Tsuchida et al. 1994).
Die Musterbildung und Differenzierung des Gehirns sind dem Kapitel 2.1 zu entnehmen.
1.1.2.11.6 Wachstum der Axone
Wenn die Neurone ihren definitiven Ort erreicht
haben, bilden sie Nervenfortsätze aus: Axone und
Dendriten, von denen die Axone auf bestimmten
Wegen über z. T. beachtliche Entfernungen auswachsen, bis sie ihre Zielzellen erreichen (TessierLavigne u. Goodman 1996). Sie werden dabei von
der extrazellulären Matrix (ECM) sowie von anziehenden und abstoßenden Leitsignalen gelenkt
(Abb. 1.1.39). Innerhalb der Rückenmarksanlage
entstehen im dorsalen Abschnitt Kommissurenneurone, deren Axone in der äußeren Marginalzone in
ventraler Richtung auswachsen. In Höhe der Moto-
1.1 Mechanismen der Steuerung der Embryonalentwicklung
neurone ändern sie ihre Wachstumsrichtung nach
ventromedial und wachsen an den Motoneuronen
vorbei auf die Bodenplatte zu. Die Bodenplatte
produziert einen diffusiblen Faktor, das Netrin1-Protein, das die Axone anlockt. Nach der Kreuzung der Axone auf die kontralaterale Seite der
Rückenmarksanlage, die durch adhäsionsmolekülvermittelte Interaktionen mit den Bodenplattenzellen bewirkt wird, wachsen sie nun in dorsaler
Richtung weiter, weil sie durch abstoßende Faktoren, die Semaphorine, die im ventralen Neuralrohrabschnitt in hoher Konzentration vorhanden
sind, umgelenkt werden.
Die für das Auswachsen des Axons wesentliche
Struktur ist der am Ende des Axons lokalisierte
Wachstumskegel („growth cone“). Hier ist das
Axon verbreitert und sendet feine Zellfortsätze (Filopodien) aus, welche die Umgebung erkunden.
Durch die Reaktionen des Wachstumskegels auf
die lokalen Kontakte wird das Auswachsen des
Axons gesteuert. Trifft das Axon beispielsweise auf
eine „falsche“ Zielzelle, so zieht es sich zurück,
wobei der Wachstumskegel kollabiert und seine Filopodien einzieht (Kapfhammer u. Raper 1987).
Die auswachsenden Axone der Spinalganglienneurone werden durch abstoßende Faktoren, die vom
Chorda-Bodenplatten-Komplex auf der einen Seite
und vom Dermomyotom auf der anderen Seite abgegeben werden, geführt (Keynes et al. 1997). Zu
den anziehenden Faktoren gehören die ECM-Komponenten Laminin und Fibronektin, das Signalmolekül Netrin sowie die Zelladhäsionsmoleküle
N-CAM, NgCAM und N-Cadherin, zu den abstoßenden Faktoren das ECM-Molekül Tenascin (Abb.
1.1.40), die Semaphorine sowie die Ephrine, die
Rezeptoren vom Eph-Typ erkennen (Orike u. Pini
1996, Keynes u. Cook 1995). Einige der Semaphorine werden von den Zellen abgegeben und wirken
über längere Distanzen, andere sind Transmembranmoleküle und wirken bei Zellkontakt. Rezeptoren für die Semaphorine sind die Neuropiline
und die Plexine. Wenn auch im Allgemeinen die
Netrine als anziehende und die Semaphorine als
abstoßende Faktoren wirken, ist deren Wirkung
auch abhängig von der Art der individuellen Zellpopulation.
1.1.2.12 Entwicklung der Extremitäten
Abb. 1.1.39. Darstellung eines sich bildenden Spinalnerven
bei einem Hühnchen während des 3. Bebrütungstages. HW
Hinterwurzel mit Spinalganglien, VW Vorderwurzel, A Axone des Spinalnerven, die in die Peripherie auswachsen
Die Gliedmaßen der Wirbeltiere entwickeln sich
aus Material der parietalen Seitenplatten und dem
Ektoderm, das den Seitenplatten, dem intermediären Mesoderm und dem paraxialen Mesoderm auf-
35
36
B. Christ und B. Brand-Saberi
gelagert ist (Abb. 1.1.41). Das Seitenplattenmesoderm liefert das Baumaterial für Bindegewebe,
Skelett, glatte Muskulatur und möglicherweise einen Teil der Endothelien (Brand-Saberi et al.
1995). Die Entwicklung der Gliedmaßen vollzieht
sich in einem Dialog zwischen den mesenchymal
strukturierten Zellen des mesodermalen Kerns,
dem ektodermalen Epithelüberzug (Saunders 1948)
und den angrenzenden Strukturen wie dem intermediären und paraxialen Mesoderm. Die Vorgänge, die zur Ausbildung der Extremitäten führen,
gehören zu den Modellprozessen der Organogenese und sind Gegenstand zahlreicher klassischer
Untersuchungen beim Vogelembryo gewesen, die
zur Identifizierung von Signalzentren der Vertebratenextremität geführt haben.
1.1.2.12.1 Reziproke Interaktionen
zwischen Ektoderm und Mesoderm
Abb. 1.1.40. Sagittalschnitt eines Hühnchens zu Beginn des
4. Bebrütungstages mit immunhistochemischer Darstellung
von Tenascin. Beachte die Lokalisation von Tenascin in den
kranialen Sklerotomhälften
Abb. 1.1.41. Frühe Extremitätenknospe, sichtbar als Vorwölbung der Somatopleura (*). Dm Dermomyotom, My Myotom, Sk Sklerotom, mT mesonephrogener Tubulus, NR Neuralrohr, Ch Chorda dorsalis. Semidünnschnitt
Die frühe Spezifizierung der Extremitätenfelder erfolgt höchstwahrscheinlich durch Signale aus dem
benachbarten paraxialen Mesoderm. Dabei spielt
FGF-10 eine Schlüsselrolle. Aus Knock-out-Studien
an der Maus wissen wir, dass FGF-10 für die Extremitätenentstehung notwendig und hinreichend
ist (Ohuchi et al. 1997). Die Kontur der frühen Extremitätenknospen entsteht durch Proliferationsunterschiede zwischen dem Bereich der Knospen
und dem der restlichen Flanke (Hornbruch u.
Wolpert 1970).
Die weitere Morphogenese ist gekennzeichnet
durch eine Elongation der Knospe, die hauptsächlich auf eine starke Proliferation im distalen Extremitätenmesenchym (Progressionszone) zustande
kommt. Das Mesenchym induziert und unterhält
die Ausbildung einer distalen Ektodermverdickung, welche die Extremitätenknospe von anterior nach posterior einfasst. Diese als apikale ektodermale Randleiste (AER) bezeichnete Struktur
(Abb. 1.1.42) markiert die Grenze zwischen der
Dorsalseite und der Ventralseite, die zur späteren
Strecker- bzw. Beugerseite werden (Rubin u. Saunders 1972, Abb. 1.1.23). Die AER ist notwendig,
um das Auswachsen der Extremitätenknospe aufrechtzuerhalten. Die experimentelle Entfernung
der AER zu unterschiedlichen Entwicklungszeitpunkten beim Vogelembryo hat den Beweis erbracht, dass weiter distal gelegene Strukturen sich
später entwickeln als proximale (Summerbell
1974). Die Abschnitte der Extremität, Stylopodium, Zeugopodium und Autopodium, gehen demnach sukzessive in proximodistaler Reihenfolge
aus der Progressionszone hervor (Summerbell et
a
1.1 Mechanismen der Steuerung der Embryonalentwicklung
Abb. 1.1.42. Schnitt durch eine Extremitätenknospe des
Menschen. Apikale ektodermale Randleiste (AER) sichtbar
(Pfeil). Im distalen Extremitätenmesenchym ist das auffällige
Blutgefäß, der Randsinus, angeschnitten (*). Semidünnschnitt
Abb. 1.1.44. Expression des Gens für den basischen HelixLoop-Helix-Transkriptionsfaktor Twist im Extremitätenmesenchym. Twist ist außerdem noch in den Somiten und
den Branchialbögen exprimiert. In situ-Hybridisierung beim
3 Tage alten Hühnerembryo
Abb. 1.1.43. Skelettelemente des Armes eines 12 Wochen alten menschlichen Feten. Lundvall-Färbung
al. 1973, Abb. 1.1.43). Die Identität der Abschnitte
soll durch die Dauer ihres Verbleibs in der Progressionszone determiniert werden. Dieses Modell
ist in neuerer Zeit infrage gestellt worden (Dudley
et al. 2002, Sun et al. 2002). Nach Auffassung dieser Autoren sind bereits alle Extremitätenabschnitte in der frühen Knospe enthalten, vergrößern sich
jedoch erst nach und nach. Nach experimenteller
Entfernung der Randleiste sterben die am weitesten distal gelegenen Zellen ab, sodass sich nur
noch die proximalen weiterentwickeln können.
Demnach käme der AER keine Kontrollfunktion
für das Zellschicksal, sondern eine proliferationserhaltende Funktion zu. Das instruktive Signal
würde damit zu einem lediglich permissiven.
Die Interaktionen zwischen AER und Extremitätenmesenchym lassen sich als positive Rückkoppelungsschleife begreifen. Die Randleiste exprimiert FGF-2, FGF-8 und FGF-4 (Abb. 1.1.23). Diese
aktivieren die mitotische Aktivität in der Progressionszone, wie der Ersatz der Randleistenfunktion
durch FGF-4 zeigt (Niswander et al. 1993). Die
FGF-Expression wird andererseits aufrechterhalten
durch ein Signalmolekül aus dem Hinterrand der
Extremitätenknospe, dem SHH (Niswander et al.
1994). An der Aufrechterhaltung dieser Signalinteraktionen ist Twist beteiligt, ein bHLH-Transkriptionsfaktor, der im Extremitätenmesenchym
exprimiert ist (Zuniga et al. 2002, Abb. 1.1.44)
1.1.2.12.2 Anterior-posteriore
und dorsoventrale Polarität
Die Extremitätenentwicklung lässt sich leichter erfassen und beschreiben, wenn man die morphogenetischen Prozesse entlang ihrer drei Hauptachsen
betrachtet. Demnach laufen neben den Vorgängen
entlang der proximodistalen Achse auch noch weitere entlang der anterior-posterioren und dorsoventralen Achse ab. In Wirklichkeit sind diese Teilprozesse jedoch miteinander eng verzahnt, z. B. ist
SHH außer am Auswachsen nach distal noch an
der anterior-posterioren Musterbildung der Extremitätenknospe beteiligt (Riddle et al. 1993, Pearse
u. Tabin 1998).
37
38
B. Christ und B. Brand-Saberi
Klassische Versuche, Teile der Extremitätenknospe bei Vogelembryonen zu transplantieren,
führten zur Beschreibung eines Signalzentrums
am Hinterrand der Gliedmaßenanlage, der Zone
polarisierender Aktivität (ZPA) (Tickle et al. 1975).
Durch Verpflanzung der ZPA nach anterior können
zusätzliche Fingerstrahlen auswachsen, deren Orientierung sich nach der Position des Transplantates richtet. Aus diesen Versuchen wurde auf das
Vorhandensein eines Morphogengradienten in der
Gliedmaßenanlage geschlossen, der von den Zellen
interpretiert werden kann und ihnen eine Positionsinformation zuweist. Sowohl SHH als auch die
früher als mögliches Morphogen diskutierte Retinsäure haben die Fähigkeit, die polarisierende Wirkung der ZPA nachzuahmen (Eichele et al. 1985).
Obwohl erst vor kurzem gezeigt werden konnte,
dass SHH weit genug nach anterior diffundieren
kann, um einen Gradienten aufzubauen (Gritli-Linde et al. 2001, Zeng et al. 2001), wird andererseits
auch die Beteiligung von BMP-2 an der Spezifizierung der Fingerstrahlen diskutiert (Drossopoulou
et al. 2000, Lewis et al. 2001).
Grundlegende Erkenntnisse zum Verständnis
der Determination der dorsoventralen Extremitätenachse sind erst in den vergangenen acht Jahren durch Studien an Vogel- und Mausembryonen
erarbeitet worden. Ihnen zufolge wird die dorsale
Identität der Extremitätenknospe vom dorsalen
Ektoderm durch WNT-7a bestimmt, die ventrale
dagegen durch Engrailed 1 des ventralen Extremitätenektoderms. Im dorsalen Extremitätenmesenchym wird die Expression des LIM-Homöodomänen-Transkriptionsfaktors LMX-1 induziert, welche
die dorsale Identität begründet (Riddle et al. 1995,
Vogel et al. 1995, Chen et al. 1998). Zwischen dorsalem und ventralem Extremitätenmesenchym
kommt es aufgrund der Expression von lmx zur
Ziehung einer scharfen Grenze. Studien an Mausmutanten für engrailed-1 haben gezeigt, dass die
ventrale Identität verloren geht, wenn Engrailed1-Protein nicht korrekt gebildet werden kann. Dies
geht mit einer ektopischen Expression von lmx1b
(dem entsprechenden Gen der Maus) auf der Ventralseite einher (Loomis et al. 1996).
1.1.2.13 Entwicklung der Nieren
Ähnlich wie die Entwicklung der Extremitäten
läuft auch die der Nieren in einer Sequenz reziproker induktiver Interaktionen ab. Da es möglich ist,
die Nierenanlage über mehrere Tage in Organkultur zu halten, sind die meisten Untersuchungen
am Metanephros von Säugerembryonen durchgeführt worden. Eine Besonderheit der Nierenentwicklung besteht darin, dass sie sich in drei aufeinander folgenden Generationen entwickelt, bei
denen die Entwicklung der nächstfolgenden Generation von den vorausgehenden abhängig ist.
Die frühe Nierenentwicklung nimmt ihren Ausgang von einem eigenen Mesodermkompartiment,
dem intermediären Mesoderm, in Nachbarschaft
zum paraxialen Mesoderm (Abb. 1.1.36). Es bildet
das Ausgangsmaterial für Niere und Gonaden. Bei
Amnioten entwickeln sich alle drei Nierengenerationen, Pronephros (Vorniere), Mesonephros (Urniere) und Metanephros (Nachniere). Im Gegensatz zu Fischen und Amphibien ist der Pronephros
hier nur in Spuren erhalten und ohne physiologische Funktion. An allen Nierengenerationen unterscheidet man einen epithelialen Gang von einem
mesenchymalen Nierenblastem. Der erste Gang,
der entsteht, ist der Vornierengang im Bereich des
zervikalen intermediären Mesoderms. Aus ihm
geht kontinuierlich der Urnierengang (Wolff-Gang)
hervor, der dem Mesonephros zugeordnet wird.
Der zuletzt entstehende Gang entwickelt sich aus
einer dorsalen Ausknospung des Urnierengangs,
kurz bevor dieser die Kloake erreicht. Die Ausknospung wird als Ureterknospe bezeichnet. Aus
ihr entsteht der gesamte harnableitende Apparat,
also Ureter, Nierenbecken und Sammelrohre. Die
Nachniere entwickelt sich durch induktive Wechselwirkungen zwischen Ureterknospe und metanephrogenem Blastem. Zunächst wird die Ureterknospe vom metanephrogenen Blastem angelockt
und zum gerichteten Wachstum angeregt. Als Signal des Blastems konnte GDNF („glial-derived neurotrophic factor“) identifiziert werden (Moore et
al.1996, Pichel et al. 1996, Sanchez et al. 1996),
dessen Rezeptor RET sich auf den Zellen der Ureterknospe befindet (Pachnis et al. 1993, Srinivas et
al. 1999 ).
Die dichotome Verzweigung wird dagegen
durch den Transkriptionsfaktor PBX1 kontrolliert,
der zum Typ der TALE-Homöodomänen-Transkriptionsfaktoren gehört. Er ist auch an den
nachfolgenden Entwicklungsschritten beteiligt
(Schnabel et al. 2003).
Die weitere Entwicklung ist durch die Induktion
von Zellkondensationen im metanephrogenen
Blastem in Nachbarschaft der sich verzweigenden
Ureterspitzen charakterisiert. Die Zellaggregate
durchlaufen eine mesenchymoepitheliale Transition, bilden sog. S-förmige Körperchen, die nachfolgend Röhrensysteme entwickeln. Der Prozess der
Epithelialisierung des metanephrogenen Blastems
a
Abb. 1.1.45. pax2-Expression im Pronephros eines Hühnerembryos mit 10 Somiten. In-situ-Hybridisierung. Präparat:
Anton Gamel, Freiburg
steht unter dem Einfluss von WNT-4. In Mäusen
mit inaktiviertem wnt4-Gen blieb die Epithelialisierung, nicht aber das Wachstum der Ureterknospe aus. Die mit der Spezifizierung der späteren
Nephrone verbundene Rekrutierung aggregierender Zellen aus dem metanephrogenen Blastem
wird durch Transkriptionsfaktoren der PAX-Familie, insbesondere von PAX-2 kontrolliert (Dressler
1995, 1996, Dressler et al. 1990). PAX-2 und ein
weiterer Transkriptionsfaktor, LIM-1, werden sowohl im Gangepithel als auch in den entstehenden
Tubuli von Pro-, Meso- und Metanephros exprimiert (Abb. 1.1.45) und sind für deren Entstehung
notwendig (Barnes et al. 1994, Warady et al. 1994,
Keller et al. 1994, Torres et al. 1995).
1.1.2.14 Die Entwicklung einer Drüse
am Beispiel des Pankreas
Das Pankreas besitzt einen exokrinen und einen
endokrinen Drüsenanteil. Der endokrine Drüsenanteil, das Inselorgan, weist vier verschiedene Zelltypen auf, die Insulin (b-Zellen), Glukagon (a-Zellen), Somatostatin (c-Zellen) und pankreatisches
Polypeptid (PP-Zellen) bilden. Die azinösen End-
1.1 Mechanismen der Steuerung der Embryonalentwicklung
stücke des exokrinen Pankreas sezernieren Enzyme für die Eiweiß-, Kohlenhydrat- und Fettverdauung, die in den Dünndarm abgegeben werden. Die
intralobulären Gangepithelien bilden Bikarbonat,
welches das Sekret des exokrinen Pankreas auf einen pH-Wert von etwa 8 einstellt. Wie andere
Drüsen auch besteht das Pankreas weiterhin aus
einem Gefäß bildenden Bindegewebe, das die aus
dem Entoderm stammenden epithelialen Strukturen abgrenzt und ernährt.
Das Pankreas geht aus zwei entodermalen Knospen hervor: der dorsalen und ventralen Pankreasanlage. Beide Knospen werden bei menschlichen
Embryonen zu Beginn der 5. Entwicklungswoche
nachweisbar (Blechschmidt 1961). Sie entstehen
zum einen direkt aus dem dorsalen Entoderm des
späteren Duodenums (dorsale Pankreasanlage)
und zum anderen im Zusammenhang mit dem Leberdivertikel aus dem ventralen Entoderm der
Duodenalanlage.
Die beiden Pankreas bildenden Entodermabschnitte sind unterschiedlichen mesodermalen
Zellpopulationen benachbart. Das prospektive dorsale Pankreasentoderm steht mit der Chorda dorsalis, den Aorten sowie dem Pankreasmesenchym
in Kontakt; das prospektive ventrale Pankreasentoderm grenzt an das Septum transversum, an das
Mesoderm der Herzplatte sowie an die Venae vitellinae sowie an prospektives Pankreasmesenchym.
Die Spezifizierung der Pankreasendothelien erfolgt
durch Signalaustausch mit diesen angrenzenden
Strukturen. Eine komplexe Kaskade von Aktivierungen unterschiedlicher Transkriptionsfaktoren
führt zur Zelldiversifikation in beiden Pankreasanlagen. Die Proliferation des Pankreasepithels
und -mesenchyms, die zunehmende Verzweigung
des epithelialen Gangsystems sowie die Fusion beider Pankreasanlagen führen zur Bildung eines epitheliomesenchymalen Drüsenkomplexes, in dem
alle Vorläuferzellen für die azinösen Endstücke,
das Ausführungssystem sowie für das Inselorgan
vorhanden sind (Schwitzgebel 2001, Abb. 1.1.46).
Während der Gastrulation wird das Entoderm
entlang der kraniokaudalen Achse durch ektodermale und mesodermale Signale vorprogrammiert.
Das dorsale präpankreatische Entoderm befindet
sich in unmittelbarem Kontakt zur Chorda dorsalis. Die Chordasignale (FGF-2 und Aktivin bB) unterdrücken im angrenzenden Entoderm die Expression von SHH (Hebrok et al. 2000). An der
Spezifikation der entodermalen Zellen sowohl der
dorsalen als auch der ventralen Pankreasanlage
sind Signale (z. B. FGF-2) beteiligt, die von den
Endothelzellen der angrenzenden Blutgefäße abge-
39
40
B. Christ und B. Brand-Saberi
Abb. 1.1.46. Schematische Darstellung der aufeinander folgenden Schritte bei der Entwicklung der dorsalen Pankreasanlage. Erläuterung im Text. En Entoderm, Ch Chorda dorsalis, Ao Aorta, Ep Epithel der Drüsenanlage, DM Drüsenmesenchym, Az Azinus, LI Langerhans-Insel. Zeichnung: Dr.
M. Rodriguez-Niedenführ, Freiburg
geben werden. Als Folge dieser induktiven Prozesse exprimiert das Entoderm der Pankreasanlagen
die Transkriptionsfaktoren HLXB9 und IPF1 („insulin promoter factor 1“), die für die Morphogenese und Differenzierung der Pankreasanlage unerlässlich sind. Die Konzentration von FGF-2 und
das Vorhandensein von BMP-4, das von Zellen des
Septum transversum abgegeben wird, entscheiden
zwischen pankreatischem und hepatischem Differenzierungsschicksal der Entodermzellen. An der
Festlegung des pankreatischen Differenzierungsweges sind weitere Transkriptionsregulatoren wie
PBX1 und PTF1-P48 beteiligt. PBX1 ist ein Mit-
glied der TALE-Familie („three amino acid loop
extension“), von Transkriptionsfaktoren, die eine
Homöodomäne enthalten und für die Aufrechterhaltung des Differenzierungszustandes der Zellen von Bedeutung sind. PBX1 bildet einen Komplex mit IPF1 und reguliert so die Aktivität dieses
Transkriptionsfaktors (Kim et al. 2002). PTF1-P48
ist in den Progenitorzellen der ventralen und dorsalen Pankreasanlagen exprimiert, die sich zu Azinus-, Duktus- und Inselzellen differenzieren, und
komplementiert die Funktion von IPF1 (Kim u.
MacDonald 2002). IPF1 wird auch im adulten Organismus in den b-Zellen des Inselorgans exprimiert und aktiviert die Insulinsynthese. Vorläufer
der Inselzellen sind durch die Expression von ngn3
charakterisiert. Sie werden in der Pankreasanlage
aus den distalen Abschnitten der Gänge (bzw.
Knospen) abgegliedert. An der Spezifizierung der
Zellen der Inselorgane sind pax-Gene beteiligt.
pax4 ist für die Entwicklung der Insulin produzierenden b-Zellen erforderlich, während pax6 für die
Differenzierung der Glukagon produzierenden
a-Zellen benötigt wird (Sosa-Pineda et al. 1997, StOnge et al. 1997).
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass
bei der Drüsenentwicklung eine zunehmende Spezifizierung der Epithelzellen stattfindet, bei der
Signale von umgebenden Strukturen sowie vom
mesodermalen Stroma der Drüsenanlage eine determinierende Rolle spielen. Durch diese Signale
werden Kaskaden von Transkriptionsregulatoren
aktiviert, die zur Differenzierung der Drüsenepithelzellen führen. Die drüsentypspezifische Verzweigung des Drüsengangepithels wird durch Interaktionen zwischen dem mesodermalen Drüsenstroma und dem epithelialen Anlagematerial kontrolliert (Go et al. 1986).
Danksagung
Wir danken den Mitarbeitern unserer Laboratorien
sowie unseren Kollaborationspartnern für ihre
Beiträge zu unserer Arbeit. Frau U. Uhl danken
wir für ihre Schreibarbeit bei der Erstellung des
Manuskriptes. Weiterhin sagen wir der Deutschen
Forschungsgemeinschaft Dank für ihre langjährige
und großzügige finanzielle Unterstützung unserer
Arbeit.
a
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