2. Vorgriechische Mathematik Obwohl der Satz des Pythaogras mit dem Namen eines Griechen verbunden ist, gibt es Spuren davon auch in anderen Kulturen. Dass wir über die Mathematik der Germanen nichts wissen, liegt am vollständigen Fehlen schriftlicher Zeugnisse aus dieser Kultur. Eine – wenn nicht die – Kultur, über die wir relativ genau Bescheid wissen, ist die der Babylonier. An dieser Stelle möchte ich die antiquarisch erhältlichen Büchlein [14, 15] von J. Lehmann wärmstens empfehlen. 2.1 Die Babylonier Die Wiege der westlichen Kultur liegt in Babylon, einer Stadt im fruchtbaren “Land zwischen den Flüssen” (griech.: Mesopotamien) Euphrat und Tigris, die etwas südlich des heutigen Bagdad im Irak gelegen hat (Bagdad liegt am Tigris, Babylon lag am Euphrat). Die erste Hochkultur Babylons, von der wir wissen, ist die der Sumerer. Diese hatten eine Keilschrift entwickelt, die von den Akkadiern übernommen wurde, als diese das sumerische Reich einnahmen. Einer der bekanntesten Herrscher Babylons war Hammurapi (etwa 1792 – 1750 v. Chr.). Babylon beherbergte eines der 7 antiken Weltwunder, die hängenden Gärten der Semiramis (auch wenn sich Historiker darüber streiten, ob es diese wirklich gegeben hat: Relikte sind jedenfalls keine vorhanden), und taucht in der Bibel im Zusammenhang mit dem Turmbau zu Babel und der Entwicklung der verschiedenen Sprachen auf. Später, nämlich 323 v. Chr., stirbt Alexander der Große in Babylon. Der Großteil unseres Wissens über die Völker, die Bablyon bewohnten, verdanken wir dem Umstand, dass die Keilschrift traditionell in Tontafeln geritzt wurde, die dann in der Sonne trockneten, und die teilweise die Jahrtausende überdauerten. Das Zahlensystem der Babylonier war auf der 60 aufgebaut (und heißt deswegen Sexagesimalsystem); Erinnerungen an ein solches System wecken bei uns die Wörter Dutzend für 12, sowie die inzwischen praktisch ausgestorbenen Wörter Schock für 60 und Gros für 120. Die Keilschrift Die Zahlen der Sumerer wurden in einem Stellenwertsystem geschrieben, d.h. der Platz, an dem eine Ziffer stand, legte ihren Wert fest. Die Sumerer kamen mit zwei 2.1 Die Babylonier 43 Ziffern aus: ein vertikaler Strich mit Einkerbung bedeutete eine 1, ein waagrechte Kerbe eine 10: 1 steht für die 1, 3 steht für die 10. Andere Zahlen unterhalb von 60 wurden additiv aus diesen beiden zusammengesetzt: 1 1 2 2 12 3 22 4 12222 9 ... ... 3 10 13 11 23 12 ... ... 4 20 124 23 1 224 84 Die letzte Zahl 84 kommt so zustande: die linke 1 steht für 1 × 60, die 224 im zweiten Feld für 2 + 2 + 20 = 24, was zusammen 84 ergibt. Da die Sumerer kein Zeichen für die 0 hatten, konnte 1 sowohl 1, als auch 60, 602 = 3600 oder sogar 1 60 bedeuten; welche Deutung richtig war, musste man aus dem Zusammenhang erschließen. Aufgabe 2.1. Wandle folgende Zahlen ins Dezimalsystem um: 12, 122, 1233. Um eine Zahl aus dem Dezimalsystem, z.B. 8000, in das Sexagesimalsystem umzuwandeln, geht man wie folgt vor. Man beginnt mit der Beobachtung, dass 602 < 8000 < 603 ist; also prüft man, wie oft 602 in 8000 enthalten ist, und findet 8000 = 2 · 602 + 800. Jetzt ist 800 = 13 · 60 + 20, und damit 8000 = 2 · 602 + 13 · 60 + 20, also 8000 = 2 13 20 = 21232. Aufgabe 2.2. Wandle die Dezimalzahlen 1234, 4321, 21 , 61 und gesimalsystem um. Was passiert, wenn man 71 umwandelt? 1 10 in das Sexa- Die Quadratwurzel von 2 Ein kleines Täfelchen1 aus der Yale Sammlung enthält ein Quadrat samt Diagonalen. Eingeritzt sind die Zahlen 30 an der Seite des Quadrats, sowie 1; 24, 51, 10 und 42, 25, 35 (Fig. 2.1). Die Zahl 1; 24, 51, 10 = 1 + 24 51 10 30 547 + = 1.41421296 + 3 = 60 602 60 21 600 ist nichts anderes als eine Approximation der Quadratwurzel aus 2: 1 Der genaue Name ist YBC 7289, aus der “Yale Babylonian Collection”. Die Skizze unten rechts stammt von Asger Aboe [1]. Die vollständigste Sammlung und Besprechung mathematischer Keilschrifttexte findet man in dem monumentalen Buch [6] von Friberg. 44 2. Vorgriechische Mathematik Fig. 2.1. YBC 7289 √ 2 = 1.414213562373095048801688724 . . . Die babylonische Näherung liegt zwischen 30 548 = 1.414259, 21 600 √ gibt also die ersten drei Nachkommastellen von √ 2 korrekt an. Multipliziert man die Seitenlänge √ 30 mit 2, oder, was im Sexagesimalsystem auf dasselbe hinausläuft, teilt man 2 durch 2, so erhält man die Länge der Diagonalen zu 30547 [42, 25, 35] = ≈ 42.4263888 . . . . 720 Manche Historiker vermuten, dass es sich bei dem Täfelchen um eine Übungsaufgabe eines Schreiberlehrlings gehandelt haben könnte. 30 546 = 1.41416 21 600 und DIN A4 Die Quadratwurzel aus 2 taucht heute, fast unbemerkt, im täglichen Leben auf. Man nehme ein Din A4 Papier; Messen mit dem Lineal ergibt a = 29, 7 cm für die lange und b = 21 cm für die kurze Seite. Das Verhältnis beider Seiten ist etwa 29, 7 ≈ 1,414; 21 diese Zahl sollte uns bekannt vorkommen! Faltet man das Papier entlang der langen Seite, erhalten wir zwei Seiten vom Format Din A5, mit Seitenlängen a0 = 21 cm und b0 = 21 a = 14,85 cm. Auch hier ist das Verhältnis von langer zu kurzer Seite etwa a0 : b0 ≈ 21 : 14,85 ≈ 1.414. Das ist kein Zufall: die Seitenlängen sind in der Tat so gewählt, dass nach dem Falten das Verhältnis von langer zu kurzer Seite das gleiche ist wie zuvor. Es muss also gelten b a = , b a/2 2.1 Die Babylonier 45 √ was auf a2 = 2b2 oder a2 : b2 = 2 führt. Wurzelziehen zeigt, dass a : b = 2 ≈ 1.414 sein muss. Damit liegt das Verhältnis a : b einer Din A4-Seite fest. Wie kommt es zu den tatsächlichen Werten? Die √ hat man so gewählt, dass das Din A0-Blatt eine Fläche √ von 1 m2 hat: aus ab = 2 und ab = 1 folgt dann 1 = ab = a · √a2 , also a2 = 2 p√ √ und damit a = 2, was etwa 1,189 m ausmacht, und b = a/ 2, also 0,851 m. Bei A2 sind beide Seiten halb so lang, bei A4 nur ein Viertel davon: es ist daher 1√ 4 2 = 0,2973 . . . , 4 1 √ = 0.21022 . . . 442 in genauer Übereinstimmung mit den DIN-A4-Vorgaben. DIN steht übrigens für Deutsches Institut für Normung; dieses hat die Papierformate 1922 für Deutschland festgelegt. Pythagoreische Tripel Eine ganz berühmte Tontafel2 ist “Plimpton 322”, die eine ausführliche Tabelle von Pythagoreischen Tripeln enthält, also Zahlen a, b, c mit a2 + b2 = c2 . Der seltsame Name der Tafel rührt daher, dass es das Ausstellungsstück Nr. 322 in der Sammlung von G.A. Plimpton an der Columbia University ist. Plimpton hatte diese Tontafel nach 1920 von einem Händler gekauft und sie zusammen mit seiner ganzen Sammlung von Tontafeln der Columbia University vermacht. Geschrieben wurde die Tafel etwa 1800 v. Chr., sie ist etwa 13 cm × 9 cm und ist 2 cm dick. Die elfte Zeile dieser Tabelle lautet wie folgt: 1 333111 44122 steht für 60 + 33 + 5625 752 45 = = , 60 60 60 45 3 = , 60 4 15 75 5 1 3122 steht für 1 + = = , 60 60 4 44122 steht für und es gilt 45 2 + 12 = 75 2 60 60 Die letzten fünf Zeilen dieser Tabelle sind . 1, 33, 45 45 1, 15 11 1, 29, 21, 54, 2, 15 27, 59 48, 49 12 [1], 27, 0, 3, 4 7, 21, 1 4, 49 13 1, 25, 48, 51, 35, 6, 40 29, 31 53, 49 14 [1], 23, 13, 46, 40 56 53 15 2 Es soll hier nicht der Eindruck entstehen als handelten alle babylonischen Tontafeln von Mathematik. Die Tafel W 20472,167 (Deutsches Archäologisches Institut, Berlin) enthält beispielsweise eine Auflistung von Getreidelieferungen zur Herstellung von Bier. 46 2. Vorgriechische Mathematik Plimpton 322 samt Skizze von Eleanor Robson [27]. 2.1 Die Babylonier 47 Hierbei ist die zweite Spalte von rechts nicht abgebildet, in denen im Original jeweis die Silbe “ki” steht. Im Dezimalsystem sieht die Tabelle so aus: 119 169 1 3367 4825 2 3 4601 6649 12709 18541 4 5 65 97 319 481 6 2291 3541 7 8 799 1249 481 769 9 266 407 684 000 000 4961 8161 10 5 625 45 75 11 1 158 170 535 1679 2929 12 18 792 184 161 289 13 66 729 222 400 1771 3229 14 17 977 600 56 53 15 Diese Tabelle enthält Teile Pythagoreischer Tripel: nennt man die Zahlen in der 2. und 3. Spalte von rechts c bzw. b, dann gibt es Zahlen a (welche die Tabelle nicht enthält) mit a2 + b2 = c2 . Die letzte Zeile ist dabei fehlerhaft: das pythagoreische Tripel (90, 56, 106) ist nicht primitiv; teilt man die einzelnen Zahlen durch 2, erhält man das Tripel (45, 28, 53). Die Tabelle gibt fälschlicherweise die Zahlen (56, 53), die aus beiden Tripeln zusammengesetzt ist. a b c 120 119 169 3456 3367 4825 4800 4601 6649 13500 12709 18541 72 65 97 360 319 481 2700 2291 3541 960 799 1249 600 481 769 6480 4961 8161 60 45 75 2400 1679 2929 240 161 289 2700 1771 3229 45 28 53 Nr. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 In der vierten Spalte von rechts stehen in Plimpton 322 nicht die Werte von a, 2 5625 sondern von c2 /a2 . So ist, in der 11. Zeile, 75 602 = 3600 ; im Sexagesimalsystem ist 2 5625 = 60 + 33 · 60 + 45 = [1, 33, 45]. 48 2. Vorgriechische Mathematik Es ist ganz offenkundig, dass diese Werte nicht durch probierendes Suchen gefunden wurden, sondern dass die Babylonier Formeln zur Erzeugung pythagoreischer Tripel gekannt haben müssen. Auch die Pythagoreer kannten eine Methode zur Konstruktion “pythagoreischer Tripel”: für jede ungerade Zahl m ist (a, b, c) mit a= m2 − 1 , 2 b = m, c= m2 + 1 2 ein pythagoreisches Tripel. Aufgabe 2.3. Zeige, dass für obige Werte von a, b, c tatsächlich a2 + b2 = c2 gilt. Wo kommen diese Zahlen her? Schreibt man a2 + b2 = c2 in der Form c2 − a2 = b , und erkennt man die “binomische Formel” auf der linken Seite, schreibt also 2 (c − a)(c + a) = b2 , (2.1) dann erkennt man, dass das Produkt von c−a und c+a sicherlich dann ein Quadrat ist, wenn c − a = 1 und c + a = m2 eine Quadratzahl ist. Addition dieser beiden Gleichungen liefert 2c = m2 +1 und 2a = m2 −1, und wegen b2 = (c−a)(c+a) = m2 ist b = m. In den Schriften von Platon findet man eine weitere Formel für pythagoreische Tripel: a = n2 − 1, b = 2n, c = n2 + 1. Im Falle ungerader Zahlen n sind diese Tripel einfach die doppelten der Pythagoreer. Euklid beweist in seinen Elementen die folgende allgemeine Formel: a = m2 − n2 , b = 2mn, c = m2 + n2 liefert für jedes Paar natürlicher Zahlen m > n ein pythagoreisches Tripel, und tatsächlich kann man jedes pythagoreische Tripel auf diese Weise erhalten. Aufgabe 2.4. Zeige, dass die von Euklid angegebenen Tripel (a, b, c) der Gleichung a2 + b2 = c2 genügen. Die Herleitung dieser Formeln ist auch nicht schwieriger als die der speziellen Pythagoreischen Lösung: in der Gleichung (2.1) muss man, damit die beiden Faktoren c − a und c + a eine Quadratzahl als Produkt ergeben, nur c − a = dn2 und c + a = dm2 zu setzen, denn dann ist ja (c − a)(c + a) = dn2 · dm2 = (dmn)2 . Daraus folgt durch Addition bzw. Subtraktion dieser Gleichungen a = d2 (m2 − n2 ), b = dmn und c = d2 (m2 + n2 ), also mit d = 2 die angegebenen Formeln. Für d = 1 erhält man nur ganze Zahlen, wenn a und c beide gerade oder beide ungerade sind, für große d dagegen findet man Tripel, die nicht “primitiv” sind, bei denen also a, b und c einen gemeinsamen Teiler haben. 2.2 Die Ägypter 49 Aufgabe 2.5. Zeige, dass die Gleichung a2 + b4 = c2 unendlich viele Lösungen hat. (Hinweis: mache in Euklids Formeln den Term b = 2mn zum Quadrat.) Aufgabe 2.6. Zeige, dass die Gleichung a2 + b6 = c2 unendlich viele Lösungen hat. Zeige allgemeiner, dass a2 + b2n = c2 für jede natürliche Zahl n unendlich viele ganzzahlige Lösungen hat. Aufgabe 2.7. Zeige, dass die Gleichung a2 + b2 = c4 unendlich viele Lösungen hat. (Hinweis: mache in Euklids Formeln den Term c = m2 + n2 zum Quadrat.) Die Gleichung a4 + b4 = c2 hat dagegen überhaupt keine Lösungen in natürlichen Zahlen. Der Nachweis dieser Behauptung ist zuerst Pièrre de Fermat (nach 1640) gelungen, und zwar ausgehend von der Lösung der pythagoreischen Gleichung. Insbesondere gibt es dann auch keine Lösung von a4 + b4 = c4 in positiven ganzen Zahlen. Fermat hat sogar behauptet, dass die Gleichung xn + y n = z n für jeden Exponenten n > 2 nur die triviale ganzzahlige Lösung mit x = 0 oder y = 0 hat. Euler gelang der Beweis für n = 3, Dirichlet und Legendre für n = 5. Kummer konnte den Satz für sehr viele Exponenten beweisen, insbesondere für alle n unterhalb von 100. Als der Industrielle Wolfskehl 1909 einen Geldpreis für den vollständigen Beweis auslobte, begann eine wilde Jagd; eine ganze Horde unqualifizierter Amateure (ebenso wie eine deutlich kleinere Anzahl von Mathematikern mit einer soliden Ausbildung) bemühten sich um Beweise, die sich aber alle als falsch herausstellten. Die komplette Fermatsche Vermutung wurde erst von A. Wiles im Jahre 1995 bewiesen, der dazu sämtliche Hilfsmittel einsetzen musste, die die Zahlentheoretiker des 20. Jahrhunderts geschaffen haben. Damit ist die Fermatsche Vermutung sicherlich der Satz der Mathematik mit den meisten fehlerhaften Beweisen. 2.2 Die Ägypter Die Ägypter benutzten Hieroglyphen zum Schreiben (in zwei Variationen), die von etwa 3000 v. Chr. bis 400 n. Chr. in Gebrauch waren; damit sind Hieroglyphen das am längsten benutzte Schreibsystem. Hieroglyphen sind ein “Silbenaplhabet”; das erste Alphabet, das einzelne Laute kodiert, kam erst um 1600 v. Chr. im Nahen Osten auf. Um 1100 v. Chr. stabilisierte sich das Phönizische Alphabet, das aus 22 Zeichen bestand und mit Namen von Dingen belegt wurden: aleph wurde nach dem Ochsen benannt, beth nach dem Haus. Es gab nur Großbuchstaben, und geschrieben wurde von rechts nach links. Von diesem Alphabet stammt das Griechische ab, ebenso wie Aramäisch, und damit arabische, persische und indische Buchstaben. Die Etrusker übernahmen und modifizierten das griechische Alphabet, die Römer wiederum borgten ihr Alphabet von den Etruskern und legten die Schreibweise von links nach rechts fest. 50 2. Vorgriechische Mathematik Hieroglyphen sind ein komplett anderes Schreibsystem; in den dreieinhalb Jahrtausenden, in denen es benutzt wurde, waren insgesamt etwa 6000 verschiedene Zeichen in Gebrauch. Ein großer Teil unseres Wissens über die frühe ägyptische Mathematik verdanken wir dem Rhind Papyrus, das der Schotte A. Henry Rhind3 1858 entdeckt hat, und das heute im Britischen Museum ausgestellt ist. Das Papyrus wurde etwa 1650 v.Chr. von dem Schreiber Ahmes (auch Achmes oder Ahmose buchstabiert) geschrieben (genauer kopierte er ein Dokument, das von 1800 v.Chr. stammte) und ist eine Art “Lehrbuch”, eine Sammlung von 84 mathematischen Problemen. Die ursprüngliche Rolle ist etwa 5 m lang und 32 cm breit, und ist im Britischen Museum ausgestellt. Die Ägypter benutzten ein Dezimalsystem, allerdings ohne Stellenwert: eine 1 bedeutete also immer eine 1 (und nicht eine 10, 100, usw. je nachdem an welcher Dezimalstelle sie steht). Dies bedeutet, dass die Ägypter für jede Zehnerpotenz ein eigenes Zeichen brauchten. Die folgende Tabelle gibt einige davon an: Zahl 1 Hieroglyphe | 2 3 4 10 100 1000 10 000 100 000 1 000 000 5 6 7 Die Zahl 237 im Dezimalsystem der Ägypter hat also so ausgesehen: |||||||2 2 2 3 3 Stammbrüche Die Ägypter kannten auch Brüche, allerdings benutzten sie (mit Ausnahme von 1 1 2 3 ) nur “Stammbrüche”, also Brüche der Form n . Der Bruch n wurde geschrieben als die Zahl n unter dem “Auge des Horus” . Beispielsweise war e 1 = 12 3 e ||2 . Im Gefolge von Napoleons Feldzug in Ägypten besuchte eine ganze Horde von Wissenschaftlern und Abenteuern das Land; ihr berühmtestes Beutestück war der RosettaStein, benannt nach der Stadt (Rosetta oder Rashid in der Nähe von Alexandria), in der er gefunden wurde, auf dem ein und derselbe Text in zwei verschiedenen Sprachen (Griechisch und Ägyptisch, letzteres in zwei verschiedenen Schriftarten) gemeißelt war. Dieser Stein erlaubte Thomas Young und Jean François Champollion um 1820 herum die Entzifferung der Hieroglyphen. 1858 kaufte Rhind das nach ihm benannte Papyrus, das 1877 von August Eisenlohr erstmals übersetzt wurde. 2.2 Die Ägypter 51 Brüche wie 47 wurden allerdings nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, in der Form 74 = 71 + 17 + 17 + 17 geschrieben, sondern immer als Summe von Stammbrüchen mit verschiedenen Nennern, also etwa 1 1 4 = + 7 2 14 oder auch 3 1 1 1 = + + . 7 3 11 231 Wenn die Ägypter eine einzige Methode zum Schreiben eines Bruchs bentutzt haben, dann ist diese nicht bekannt. Eine solche Methode zum Verwandeln eines Bruchs in eine Summe von Stammbrüchen ist der “gierige Algorithmus”: um pq < 1 als Summe von Stammbrüchen zu schreiben, sucht man den grössten Stammbruch p 1 n , der kleiner als q ist, der also den Ungleichungen 1 p 1 < < n q n−1 (2.2) genügt. So ist z.B. 4 1 1 3 1 1 < < und < < , 2 7 1 3 7 2 1 was wir oben benutzt haben. Wegen 47 − 12 = 14 ist man in diesem Fall schon 2 1 2 1 fertig, währen man wegen 37 − 31 = 21 noch weiterrechnen muss; mit 11 < 21 < 10 2 1 1 findet man aber 21 − 11 = 231 . Die Ungleichung (2.2) ist übrigens äquivalent zu n−1< q < n, p (2.3) d.h. um n zu finden muss man lediglich herausfinden, unterhalb welcher ganzer 2 Zahl der Kehrbruch pq von pq < 1 liegt. Im Falle von pq = 21 ist z.B. 21 = 10,5, 2 und damit 1 11 < 2 21 < 1 10 also 10 < 21 < 11 2 wie oben. Aufgabe 2.8. Schreibe n2 für ungerade n ≥ 3 als Summe zweier Stammbrüche, zuerst in konkreten Fällen (n = 3, 4, 5), dann allgemein. Aufgabe 2.9. Schreibe n3 für n ≥ 4 als Summe von Stammbrüchen. Unterscheide die Fälle n = 6k + 1, 6k + 2, 6k + 4 und 6k + 5. Man vermutet (dies geht auf Erdös und Straus zurück), dass man jeden Bruch mit n ≥ 5 als Summe von höchstens drei Stammbrüchen schreiben kann; ein Beweis dieser Vermutung dürfte aber sehr sehr schwer sein. Man weiß, dass es für alle Zahlen funktioniert außer womöglich für solche der Form 24n + 1. Eine ähnliche Vermutung gilt übrigens für das Problem, n5 als Summe von höchstens drei Stammbrüchen zu schreiben. 4 n 52 2. Vorgriechische Mathematik Aufgabe 2.10. Sei pq < 1 ein echter Bruch, sei die natürliche Zahl n festgelegt durch (2.3). Zeige, dass pq − n1 = rs ein Bruch mit einem kleineren Zähler ist: r ≤ p − 1. Folgere daraus, dass man jeden Bruch als Summe von Stammbrüchen schreiben kann. Aufgabe 2.11. Zeige, dass 73 nicht als Summe zweier Stammbrüche geschrieben werden kann. (Hinweis: schreibe 37 = a1 + 1b mit a < b. Zeige, dass 3 ≤ a ≤ 7 sein muss und gehe alle Möglichkeiten durch.) 2.3 Rechnen – Damals und Heute Wir haben gesehen, dass die Ägypter ein Dezimalsystem, die Babylonier ein Sexagesimalsystem benutzten; die Maya hatten ein Zahlensystem, das auf der 20 aufgebaut war; die Zahl 80 bei den Maya hat also “vier mal zwanzig” geheißen, wie es heute noch im Französischen üblich ist. Die Basis 10 hat natürliche anatomische Gründe: wir haben 10 Finger, mit denen wir zählen. Die Maya zählten dann mit ihren Zehen weiter, und entwickelten so ein Vigesimalsystem, das auf der 20 basiert. Multiplikation und Division Die Babylonier benutzten zum Rechnen diverse Tricks; insbesondere für die Multiplikation gab es die Formeln ab = (a + b)2 − a2 − b2 2 und ab = (a + b)2 − (a − b)2 , 4 die sich mit Hilfe der binomischen Formeln leicht bestätigen lassen. So ist beispielsweise 202 − 62 = 102 − 32 = 91, 4 562 − 102 33 · 23 = = 282 − 52 = 784 − 25 = 759 4 232 − 172 − 62 529 − 289 − 36 17 · 6 = = = 102. 2 2 13 · 7 = Damit die Schreiber schnell multiplizieren konnten, haben sie Tafeln von Quadratzahlen benutzt. Die Ägypter entwickelten eine ganz andere Technik des Multiplizierens. Die Aufgabe 13 · 12 = 156 wird im Papyrus Rhind vorgerechnet (rechts die Rechnung im Dezimalsystem): 2.3 Rechnen – Damals und Heute ||2 ||||2 2 ||||||||2 2 2 2 ||||||2 2 2 2 2 2 2 2 2 ||||||2 2 2 2 2 3 | || |||| |||||||| |||2 1 2 4 8 13 53 12 24 48 96 156 Der Multiplikand 12 wird immer wieder verdoppelt, ebenso die 1, und zwar so lange, bis man den ersten Faktor 13 als Summe der Zweierpotenzen schreiben kann: wegen 13 = 1 + 4 + 8 ist 13 · 12 = (1 + 4 + 8) · 12 = 12 + 48 + 96 = 156. Dabei wurde diese Regel nicht sklavisch angewandt, sondern mit andern Tricks verknüpft. Um 15 · 37 zu berechnen, hätten die Ägypter nicht etwa 15 = 1 + 2 + 4 + 8 gerechnet, sondern durch 15 = 10 + 1 + 4 ihr “Dezimalsystem” ausgenutzt: 1 2 4 10 1 + 4 + 10 37 74 148 370 370 + 74 + 37 Im Laufe der Zeit wurde diese Methode verfeinert: sie wurde dadurch leichter zu handhaben, aber schwieriger zu erklären. Die “äthiopische Multiplikation” (auch im 20. Jahrhundert noch gebraucht, und ebenfalls bekannt unter den Namen “russische Bauernmultiplikation” oder “tibetanisches Multiplikationsverfahren” (sh. den Beitrag von E. Panke in Archimedes, Jan./Febr. 1952)) funktioniert z.B. so: zur Berechnung von 13 · 12 wird eine Zahl ständig halbiert (und etwaige Reste vergessen), die andere verdoppelt: 13 6 3 1 12 24 48 96 Jetzt addiert man diejenigen Zahlen der rechten Spalte, neben denen in der linken Spalte eine ungerade Zahl steht, und man findet 13 · 12 = 12 + 48 + 96 = 156 wie oben. Binärsystem und ASCII Die Systeme zum Schreiben von Zahlen, welche die Babylonier und die Ägypter eingeführt haben, sind grundsätzlich verschieden: die Babylonier benutzten ein System der Basis 60; anstatt aber dafür 60 “Ziffern” für die Zahlen von 0 bis 59 zu erfinden, setzten sie diese “dezimal” aus Zeichen für die 1 und die 10 zusammen. Das Dezimalsystem hat den Vorteil, dass man nur 10 Ziffern braucht. Im 54 2. Vorgriechische Mathematik Binärsystem, das auf der Basis 2 aufgebaut ist, braucht man sogar nur zwei Ziffern, nämlich die 0 und die 1: so wie 111 im Dezimalsystem 1 · 102 + 1 · 10 + 1 bedeutet, steht (111)2 im Binärsystem für 1 · 22 + 1 · 2 + 1 = 7. Für Schüler hätte die Benutzung des Binärsystems den Vorteil, dass sich das kleine Einmaleins auf die Multiplikation mit 0 und mit 1 reduzieren würde; der Nachteil ist, dass selbst sehr bescheiden große Zahlen sich nur mit sehr vielen Ziffern schreiben ließe. Dieser Nachteil wird sehr schnell spürbar, wenn man sich vor Augen hält, dass eine im Dezimalsystem vierstellige PIN (z.B. 4321) im Binärsystem plötzlich etwa dreimal so viele Stellen hat: 4321 = (1000011100001)2 . Vermutlich wären nur die wenigsten in der Lage, sich auch nur ihre eigene Telefonnummer zu merken. Dennoch spielt das Binärsystem (auf das wohl Leibniz als erster aufmerksam gemacht hat) im modernen Leben eine zentrale Rolle, weil es intern von allen Geräten, die etwas mit Computern zu tun haben, benutzt wird. Das Verwandeln einer Binärzahl ins Dezimalsystem ist einfach: wir haben (10110)2 = 1 · 24 + 0 · 23 + 1 · 22 + 1 · 2 + 0 · 1 = 16 + 4 + 2 = 22. Umgekehrt ist es nicht ganz so simpel: um 22 im Binärsystem zu schreiben, muss man schauen, welche Zweierpotenz gerade noch kleiner als 22 ist; dann ist 22−16 = 6, und wegen 6 = 4 + 2 ist 22 = 16 + 4 + 2 = (10110)2 . Das ist aber mehr ein Probieren als ein Rechnen. 22 = 2 · 11 + 0 11 = 2 · 5 + 1 5=2·2+1 2=2·1+0 1=2·0+1 Schaut man sich die Reste in der rechten Spalte an, so sieht man die Binärentwicklung von 22 von hinten. Zufall? 45 = 2 · 22 + 1 22 = 2 · 11 + 0 11 = 2 · 5 + 1 5=2·2+1 2=2·1+0 1 = 2 · 0 + 1, und (101101)2 = 1 + 4 + 8 + 32 = 45. Also eher nicht. Klar ist, dass der Rest bei der ersten Division durch 2 die letzte Binärstelle geben muss: ist der Rest nämlich 0, dann ist die Zahl gerade, folglich die letzte Binärstelle ebenfalls 0. Aus dem gleichen Grund ist die letzte Binärstelle gleich 1, wenn bei der ersten Division der Rest 1 bleibt, weil die Zahl ungerade ist. 2.3 Rechnen – Damals und Heute 55 Mathematiker denken an dieser Stelle an einen Beweis durch vollständige Induktion. Wir werden darauf noch zurückkommen. An dieser Stelle machen wir den Induktionsbeweis ohne Gerüst und beweisen die beiden folgenden Aussagen: 1. Ist der Algorithmus für eine Zahl n gültig (d.h. berechnet er die Binärdarstellung einer Dezimalzahl n korrekt), dann gilt er auch für das Doppelte der Zahl, also für 2n. 2. Ist der Algorithmus für eine gerade Zahl 2n gültig, dann gilt er auch für die darauffolgende ungerade Zahl 2n + 1. Was ist damit gewonnen? Nun, damit ist sichergestellt, dass der Algorithmus für alle Zahlen funktioniert. Um beispielsweise einzusehen, dass der Algorithmus für 11 gilt, überlegt man sich, dass er für 1 gilt (trivial), also auch für 2 (nach 1.), für 4 (wieder nach 1.), für 5 (nach 2.), für 10 (nach 1.) und endlich für 11 (wieder nach 2.). Da man jede beliebige Zahl durch Verdoppeln und Addieren von 1 erreichen kann, gilt der Algorithmus damit für alle natürlichen Zahlen. Beweis von 1.: Die Sache wird klar, wenn man sich das ganze am Beispiel der Zahlen 5 und 10 vor Augen führt: 10 = 2 · 5 + 0 5=2·2+1 5=2·2+1 2=2·1+0 2=2·1+0 1=2·0+1 1=2·0+1 Nach unserer Annahme wissen wir, dass der Algorithmus für 5 funktioniert. Zu zeigen ist, dass er auch für 10 funktioniert. Die Entwicklung nach dem ersten Schritt ist aber die gleiche; der Unterschied ist nur, dass der Algorithmus für 10 eine zusätzliche erste Zeile hat, die dafür sorgt, dass aus 5 = (101)2 ein 10 = (1010)2 wird. Aber das Anhängen einer 0 an die Binärdarstellung der 5 bewirkt nichts anderes als eine Verdoppelung. Im Dezimalsystem ist diese Beobachtung nichts anderes als die Tatsache, dass das Zehnfache von 132 einfach 1320 ist. Wenn wir also die Binärentwicklung einer Zahl n kennen, erhalten wir die des Doppelten 2n durch Anhängen einer 0; der Algorithmus ist für beide Zahlen der gleiche, sieht man von der ersten Zeile für 2n ab, die diese letzte 0 produziert. Beweis von 2.: das ist noch einfacher. Der Algorithmus für 2n und für 2n + 1 unterscheidet sich nur in der ersten Zeile: 2n = 2 · n + 0 2n + 1 = 2 · n + 1, danach ist alles gleich. Und in der Tat erhält man die Binärdarstellung von 2n + 1 einfach, indem man die letzte 0 durch eine 1 ersetzt. Damit ist das Umwandeln einer Dezimalzahl in eine Binärzahl ein Kinderspiel4 Auch Buchstaben werden vom Computer intern als binäre Zahlen dargestellt, und 4 Tatsächlich tauchte dies 2013 auch als Kinderwette in einer “Wetten-Dass”-Folge auf. 56 2. Vorgriechische Mathematik zwar im ASCII-System5 . Die ersten 65 Zeichen sind dabei für allerlei Sonderzeichen usw. reserviert, die Buchstaben beginnen mit dem großen A bei 65 = (100 0001)2 . Demnach ist B repräsentiert von 66 = (100 0010)2 , und der 26. Buchstabe Z von 90 = (101 1010)2 . Nach einigen weiteren Sonderzeichen geht es mit Kleinbuchstaben weiter ab 97 = (1100001)2 , was für ein kleines a steht. Potenzen In der modernen Nachrichtenübertragung kommt es auf viele Dinge an. Eines davon ist Geschwindigkeit. Werden Daten verschlüsselt, sei es auf dem smart phone6 oder dem PC7 , muss gerechnet werden, und kein Benutzer wartet gerne, bis das Gerät soweit ist. Ein Möglichkeit, Zeit zu sparen, indem man effektiv rechnet, wurde früher, als man noch von Hand rechnete, tatsächlich unterrichtet: das Horner-Schema. Dies erklärt man am einfachsten durch ein Beispiel: hat man ein Polynom f (x) = 2x3 + 3x2 + 4x + 5 an der Stelle x = 6 auszuwerten, so braucht man dafür in der Form f (6) = 2 · 6 · 6 · 6 + 3 · 6 · 6 + 4 · 6 + 5 6 Multiplikationen und 3 Additionen (kurz: 6M + 3A). Etwas intelligenter wäre es, sich das Ergebnis von 6 · 6 zu merken und es einmal mit 3, das andere mal mit 2 · 6 zu multiplizieren. Dann muss man zwar etwas mehr speichern als vorher, dafür kostet das ganze nun nur noch 5M + 3A. Noch schneller geht es mit einer Idee von Horner: in f (6) = ((2 · 6 + 3) · 6 + 4) · 6 + 5 kommt man mit 3M + 3A aus, und das ist (da Multiplikationen teurer sind als billige Additionen) fast doppelt so schnell wie die naive Art, f (6) auszurechnen. Entsprechendes gilt allgemein; am Beispiel des Polynoms ax4 + bx3 + cx2 + dx + e = (((ax + b)x + c)x + d)x + e sieht man, wie man für Polynome höheren Grades vorzugehen hat. Aufgabe 2.12. Zeige, dass man für die Berechnung von f (a) bei einem Polynom n-ten Grades f (x) = an xn + an−1 xn−1 + . . . + a1 x + a0 mit dem Hornerschema mit n Multiplikationen und n Additionen auskommt (etwas weniger, wenn einige Koeffizienten gleich 0 sind). 5 6 7 American Standard Code for Information Interchange. Sprache wird durch eine Fourieranalyse in Schwingungen umgewandelt, also in Frequenzen und den zugehörigen Amplituden; diese Zahlen werden dann digital übertragen und am Ende wieder in Sprache umgewandelt. Beim Speichern auf ein Medium passieren zwangsläufig Fehler; würde man Daten ohne Zusätze speichern, wären diese in der Regel zu nichts zu gebrauchen und nicht mehr lesbar. Deswegen muss man Daten so verschlüsseln, dass man kleinere Fehlere ohne weiteres beim Lesen wieder herausrechnen kann. 2.3 Rechnen – Damals und Heute 57 Das Horner-Schema ist nicht der Weisheit letzter Schluss: zum Berechnen von x17 = (((x · x) · x) · · · x) brauchen wir mit dieser Methode insgesamt 16 Multiplikationen. Schneller (und dies ist für die Anwendungen z.B. beim Abspielen einer CD unerlässlich) geht es mit dem Trick der Ägypter: wir berechnen x2 , x4 , x8 , x16 durch wiederholtes Quadrieren (dafür brauchen wir vier Multiplikationen) und berechnen dann x17 = x16 · x. Wir kommen also mit fünf Multiplikationen (statt 16) aus! Das Heron-Verfahren √ Wie die Babylonier zu ihrer Approximation von 2 gekommen sind, ist nicht 8 bekannt. Von Heron von Alexandria stammt folgende Methode: Angenommen, √ wir haben eine Näherung von 2 gefunden, sagen wir x ≈ 75 = 1,4. Wegen ( 75 )2 ≈ √ 7 2 ist, 2 ist auch 57 ≈ 27 = 10 7 ≈ 1,428 eine Näherung. Und während 5 < 5 √ √ 10 ist 7 > 2. Mit jedem Näherungswert x1 < 2 haben wir also einen zweiten √ Näherungswert x21 > 2 (und umgekehrt). Es liegt daher nahe, aus diesen beiden Näherungswerten einen dritten zu bilden, indem man deren Mittelwert nimmt: 1 2 x1 1 x2 = x1 + = + . 2 x1 2 x1 Die Ungleichung (1.3) zwischen geometrischem und arithmetischem Mittel zeigt uns r √ 2 1 2 x1 + ≥ x1 · x2 = = 2, 2 x1 x1 √ d.h. der zweite Näherungswert x2 liegt immer über dem wahren Wert von 2. Diesen Schritt kann man nun wiederholen: hat man eine Näherung xn , setzt man xn 1 xn+1 = + . 2 xn Mit x1 = 1 findet man z.B. x2 = 23 , x3 = 17 12 , x4 = 577 408 ≈ 1.4142157 usw. Aufgabe 2.13. Die Näherungsbrüche xn = pn /qn , die wir oben erhalten haben, besitzen eine Unmenge an zahlentheoretischen Eigenschaften. Verifiziere anhand von Beispielen die Gleichung p2n − 2qn2 = 1 (z.B. ist 32 − 2 · 22 = 1). Berechne auch p2n + 2 · qn2 ; welche Vermutung drängt sich auf ? Berechne die Darstellung von x4 = 577 408 im babylonischen Sexagesimal-System und vergleiche mit YBC 7289. 8 Zu Herons Lebzeiten (ca 10 – 85 n.Chr.) war Alexandria bereits Teil des römischen Imperiums. Die Jahreszahlen sind, wie bei vielen anderen Daten auch, mit Vorsicht zu genießen. Heron zitiert Appolonius und wird von Pappus zitiert, lebte also irgendwo zwischen 150 v.Chr. und 250 n.Chr.; eine von Heron zitierte Mondfinsternis wurde von Neugebauer auf den 13. März 62 n.Chr. datiert. 58 2. Vorgriechische Mathematik Das Heron-Verfahren kann man zur Berechnung beliebiger Quadratwurzeln √ verwenden; die allgemeine Formel für die Berechnung von a (natürlich ist a > 0) lautet dann a xn + . (2.4) xn+1 = 2 2xn Für a = 2 erhalten wir selbstverständlich unsere obigen Formeln zurück. Wenn man (2.4) in der Form a 1 xn + xn+1 = 2 xn schreibt, so sieht man, dass die neue Näherung einfach der Mittelwert der beiden Näherungswerte xn und xan ist. Ist xn zu klein, wird xan zu groß sein, und man darf hoffen, dass das arithmetische Mittel der beiden Werte einen besseren Näherungswert liefert. √ Aufgabe 2.14. Ist a klein, so kann man als erste Näherung für 1 + a den Wert x1 = 1 wählen. Welchen Wert für x2 liefert das Heron-Verfahren? Aufgabe 2.15. Von Ptolemäus stammt die Näherung √ 3 ≈ 1; 43 55 23 im Sexagesimalsystem. Zeige, dass dieser Bruch der Dezimalzahl 1,7320509 . . . entspricht, und kontrolliere ihn durch eine Berechnung mit dem Heron-Verfahren. Mit dem Startwert x1 = 2 erhält man die Näherungen xn = pn /qn ; zeige p2n − 3qn2 = 1 für n = 1, 2, 3. Man kann nachrechnen, dass x2 fast immer eine bessere Näherung ist als x1 (oder allgemein xn+1 besser als xn ). Man findet nämlich a 2 x2 a a2 −a= 1 + − 2 −a 2 2x1 4 2 4x1 2 2 4 2 a a x x − 2ax1 + a2 (x2 − a)2 = 1− + 2 = 1 = 1 2 2 4 2 4x1 4x1 4x1 2 x −a = (x21 − a) · 1 2 . 4x1 x22 − a = x 1 + Der Unterschied von x22 und a ist also der Unterschied von x21 und a, multipliziert mit dem Faktor 1 a x21 − a = − 2. 4x21 4 4x1 Wenn die Näherung x1 nicht zu schlecht ist, dann ist dieser Faktor betragsmäßig kleiner als 1. In der Tat ist dieser Faktor immer < 41 (da a positiv ist), und er ist > − 14 wenn 2.3 Rechnen – Damals und Heute 1 a 1 − 2 >− 4 4x1 4 1 a > 2 2 4x1 a x21 > . 2 1 + , 4 · 2x21 + 59 a 4x21 √ Satz 2.1. Ist a eine positive reelle Zahl und x1 eine Näherung von a mit x21 > a2 , dann ist x1 a x2 = + 2 2x1 eine bessere Näherung. Dieses Verfahren kann dann wiederholt werden. Das Heron-Verfahren ist bis heute eines der effektivsten Mittel zur Berechnung von Quadratwurzeln geblieben. Heron spielt also mit, wenn ein Schüler auf dem Taschenrechner die Quadratwurzeltaste drückt. √ Aufgabe 2.16. Das√Heron-Verfahren beruht darauf, aus der Näherung n ≈ a die zweite Näherung n ≈ na zu gewinnen und aus diesen beiden Näherungen den Mittelwert zu nehmen. Erfinde√ein Verfahren zur Berechnung der dritten √ Wurzel √ einer Zahl n aus der Näherung 3 n ≈ x und teste es an den Beispielen 3 8 und 3 2. Aufgabe 2.17. Statt des arithmetischen Mittels kann man bei der Berechnung der Kubikwurzel auch das geometrische Mittel heranziehen. Beschreibe das so entstehende Verfahren. Moderne Methoden Ein sehr elegantes Verfahren, um die Nullstelle von (differenzierbaren) Funktionen zu finden, geht auf Simpson9 zurück und ist nach Newton10 (164211 - 1727) benannt (der sich ebenfalls damit befasst hat, aber seine Methode nicht wirklich deutlich 9 10 11 Sucht man im Netz nach “Simpson Biographie”, kommt eine Seite Treffer zu Homer Simpson, gefolgt von Jessica Simpson. Thomas J. Simpson (1710–1761) dagegen war Weber von Beruf und hatte sich als Kind Schreiben, und in seiner Freizeit als Weber die höhere Mathematik beigebracht. Er hat in Londoner Kaffeehäusern als Privatlehrer Mathematik unterrichtet und eine ganze Reihe von Lehrbüchern darüber geschrieben. Isaac Newton studierte von 1664 bis 1666 am Trinity College in Cambridge, und kehrte beim Ausburch der Pest in sein Elternhaus zurück. Dort entdeckte er das Gravitationsgesetz und die Differentialrechnung, ließ sich mit der Veröffentlichung aber sehr viel Zeit, um dann, als Leibniz einige seiner Ergebnisse vor ihm publizierte, einen öffentlichen Streit um die Priorität dieser Ergebnisse vom Zaun zu brechen. 1696 wurde er zum Direktor der königlichen Münze ernannt, und siedelte nach London über. Nach dem Julianischen Kalender wurde Newton am 25.12.1642 geboren; auf dem europäischen Festland – mit Ausnahme Russlands – war dagegen schon der gregorianische Kalender in Gebrauch, und in diesem wurde Newton am 4. Januar 1643 geboren. Die Umstellung, bedingt durch die langsame Verschiebung der Jahreszeiten im auf Julius Caesar zurückgehenden julianischen Kalender, ging nicht ohne Proteste der Bevölkerung von statten, die sich teilweise um knapp 2 Wochen ihres Lebens betrogen fühlte. 60 2. Vorgriechische Mathematik und allgemein aufgeschrieben hat): das Newton-Verfahren. Die Berechnung von √ z.B. 2 ist ja äquivalent zur Berechnung der positiven Nullstelle der Funktion f (x) = x2 − 2. Um diese näherungsweise zu bestimmen, gehen wir vor wie folgt. Wir starten mit der Näherung x1 = 2; wir erhalten einen besseren Näherungswert, wenn wir die Tangente an die Parabel f (x) = x2 − 2 in x = x1 bestimmen und deren Nullstelle als neue Näherung x2 nehmen. Die Gleichung der Tangente an f (x) = x2 − 2 in einem Punkt P (x1 |f (x1 )) ist gegeben durch y = f 0 (x1 )(x − x1 ) + f (x1 ), denn diese Gerade hat die richtige Steigung m = f 0 (x1 ), und wenn man x1 einsetzt, kommt y = f (x1 ) heraus, d.h. sie geht auch durch den richtigen Punkt, nämlich P . Die Nullstelle der Tangente in x1 erhält man aus 0 = f 0 (x1 )(x − x1 ) + f (x1 ) durch Auflösen nach x zu f (x1 ) x = x1 − 0 , f (x1 ) d.h. wir wählen x2 = x1 − f (x1 ) x2 − 2 = x1 − 1 0 f (x1 ) 2x1 als neue Näherung und erhalten x2 = 2 − 24 = 32 . Dieses Verfahren wird jetzt wiederholt: damit folgt x3 = x2 − 1 f (x2 ) 3 17 = − 4 = . 0 f (x2 ) 2 3 12 Diese Werte sollten uns bekannt vorkommen: Aufgabe 2.18. Zeige, dass man aus dem Newton-Verfahren mit dem Startwert x1 = 2 genau die Näherungsbrüche aus dem Heron-Verfahren bekommt. Aufgabe 2.19. Welche √ explizite Formel erhält man aus dem Newtonverfahren für die Berechnung von a? √ Aufgabe 2.20. Bestimme eine Näherung für 32 durch dreimalige Anwendung des Newtonverfahrens mit x1 = 1. Für den Praktiker ist mit dem oben beschriebenen Newton-Verfahren fast alles gesagt, auch wenn die Frage offen bleibt, ob das Verfahren immer funktioniert. Ein Mathematiker wird dagegen wissen wollen: 2.4 Zeittafel 61 • Wie nahe an der Nullstelle muss der Startwert sein, damit das NewtonVerfahren gegen diese Nullstelle konvergiert (und z.B. nicht eine andere liefert)? • Unterscheidet sich x1 um einen Betrag ε1 von der wahren Nullstelle x, d.h. ist |x1 − x| < ε, wie groß ist dann |x2 − x|? 2.4 Zeittafel Die folgende Tabelle soll eine kleine Übersicht über die Entwicklung der Ursprünge der Mathematik geben. Das Kürzel BC (before Christ) steht dabei für v. Chr., AD (Anno Domini, “Im Jahr des Herrn”) für n. Chr. Die Publikation von Fibonaccis “liber abaci”, in dem das Rechnen mit den neuen “arabischen” Ziffern in Europa gelehrt wurde, markiert den Beginn einer neuen Epoche: Europa lernte danach über die Araber die griechischen Manuskripte kennen, was zu einer “Wiedergeburt” (Renaissance) der klassischen Werke führte. Der “dunkle” Teil des Mittelalters war damit in der Wissenschaft vorbei, auch wenn es noch etwas dauern sollte, bis die Mathematik mit Cardano, Fermat und Descartes wesentlich über die klassische griechische Mathematik hinausging; in der Gesellschaft dauerte der Prozess um einiges länger12 . 12 Wir verweisen nur auf die Stichworte Leibeigenschaft, Inquisition, Hexenprozesse, und Sklaverei. In welche Richtung wir heute gehen, ist angesichts von Manning, Snowden, Finanzspekulanten und Zeitarbeitsfirmen alles andere als klar. 62 2. Vorgriechische Mathematik Jahr 3000 BC 2560 2500 2200 2000 BC BC BC BC 1850 1800 1700 570 BC BC BC BC 530 BC 509 BC 425 BC 378 BC 360 BC 300 290 250 235 225 212 BC BC BC BC BC BC 146 BC 30 BC 150 AD 250 AD 500 AD 628 AD 800 AD 1140 AD 1150 AD 1200 AD Ereignis Die Ägypter benutzen Hieroglyphen zur Darstellung von Zahlen, die Babylonier führen das Sexagesimalsystem ein. Vollendung der Cheopspyramide Mammuts sterben aus Stonehenge Die Babylonier lösen Aufgaben, die auf quadratische Gleichungen führen Die Babylonier kennen den Satz des Pythagoras Die Phönizier entwickeln das erste Alphabet Der Schreiber Ahmes fertigt den Rhind Papyrus an. Thales bringt babylonisches und ägyptisches Wissen nach Griechenland. Pythagoras zieht nach Kroton Athen führt die Demokratie ein √ √ Theodorus beweist die Irrationalität von Quadratwurzeln ( 3, 5, etc.) Platon gründet die Akademie in Athen Eudoxos entwickelt die Ausschöpfungsmethode zur Berechnung von Flächen und Volumina Euklid veröffentlicht seine Elemente Aristarch bestimmt den Abstand von Mond und Sonne zur Erde Archimedes bestimmt Oberfläche und Volumen der Kugel Eratosthenes bestimmt den Erdumfang Appolonius schreibt seine Bücher über Kegelschnitte Ein römischer Soldat erschlägt Archimedes bei der Eroberung von Syrakus Die Römer erobern Griechenland Die Römer marschieren in Alexandria ein; große Teile der Bibliothek verbrennen Ptolemäus schreibt Bücher über Astronomie und Mathematik Die Maya entwickeln ein Zahlensystem, das auf der 20 aufgebaut ist. Diophant schreibt seine Bücher über “diophantische Gleichungen” Der Inder Aryabhata I berechnet die Näherung 3,1416 für π Der Inder Brahmagupta benutzt die 0 und negative Zahlen im Dezimalsystem Arabische Mathematiker beginnen mit der Übersetzung griechischer Werke Der Inder Bhaskara II schreibt Bücher über zahlentheoretische Probleme Die “arabischen Ziffern” (ursprünglich aus Indien) tauchen erstmals in Europa auf Fibonacci schreibt sein “Liber Abaci” über das Rechnen mit den “arabischen Ziffern” Tafel 2.1. Entwicklung der Mathematik bis Fibonacci