Klaus Peter Rippe Ethischer Relativismus Seine Grenzen - Seine Geltung Ferdinand Schöningh Paderborn • München • Wien • Zürich Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Rippe, Klaus Peter: Ethischer Relativismus: seine Grenzen - seine Geltung / Klaus Peter Rippe. - Paderborn; München; Wien; Zürich: Schöningh, 1993 Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. ISBN 3-506-77211-2 Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier D 7 Göttinger Philosophische Dissertation © 1993 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany, Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn ISBN 3-506-77211-2 1 Einleitung 'The main object of this book will perhaps be best explained by a few words concerning Its origin: Its author was once discussing with some friends the point, how far a bad man ougiht to be treated with kindness. The opinions were divided, and, in spite of much dellberation, unanimity could not be attained. It seemed strange that the disagreement should be so radical, and the question arose, Whence the diversity of opinion? Is lt due to defective knowledge, or has lt a merely sentimental origin? And the problem gradually expanded. Why do the moral ideas in general differ so greatly? And, an the other hand, why is there in many cases such a wide agreement? Nay, why are there any moral ideas at all? Since then many years have passed, spent by the author in trying to find an answer to these questions. The present work Is the result of his researches and thoughts." (Westermarck 1906:1) So beginnt Eduard Westermarcks Buch 'The Origin and Development of the Moral Ideas". Nehmen wir dies als einen aufrichtigen Bericht über die Anfangsgründe seiner Philosophie, so haben ihn zwei Beobachtungen bewegt: Er bemerkte (i), de es moralische Fragen gibt, bei deren Beantwortung verschiedene Meinungen vertreten werden, ja, bei denen radikal unterschiedliche Auffassungen zutagetreten. "Radikal unterschiedlich" bedeutet dabei, daß eine Handlung oder ein Charakter von einem Urteilenden moralisch für richtig oder gut, vom einem anderen Urteilenden aber für falsch oder schlecht gehalten wird. Im folgenden werde ich den Begriff des moralischen Meinungsunterschieds stets in diesem radikalen Sinne gebrauchen. Es ist wichtig, daß man dieses Phänomen der moralischen Meinungsunterschiede innerhalb einer Gesellschaft von dem Phänomen eines moralisches Konflikts und eines moralischen Dilemmas absetzt.' Einen moralischen Konflikt haben wir dann vor uns, wenn ein Urteilender in einer Situation meint, zwei oder mehreren moralischen Pflichten nachkommen zu müssen. (vgl.: Hare 1980) Ein moralischer Konflikt kann dann zu einem moralischen Dilemma werden, wenn der Handelnde, gleichgültig welche Handlungsalternative er wählt, stets moralisch falsch handelt. Dies wird dann der Fall sein, wenn in einer Situation zwei Prinzipien gelten, die keine Ausnahmen zulassen. Einen moralischen Meinungsunterschied haben wir dagegen, ganz allgemein, in all jenen Fällen vor uns, in denen Menschen eine Handlung, eine Person oder Situation moralisch unterschiedlich beurteilen. Geht Westermarck zunächst von der Feststellung von Meinungsunterschieden innerhalb einer Gesellschaft aus, gehen seine Fragen schnell zu der Vielfalt der Moralvorstellungen über, die zwischen den Kulturen festzustellen ist. Mit der Beobachtung einer Vielfalt eng verknüpft ist aber zugleich die Feststellung, daß es daneben auch überraschende Übereinstimmungen der Moralvorstellungen gibt. Westermarck stellte zudem fest, daß es (il) in solchen moralischen Meinungsverschiedenheiten vorkommen kann, daß auch vernünftig argumentierende Kontrahenten zu keiner Einigung gelangen. Der ethische Relativismus ist - so verstand ihn nicht zuletzt Westermarck eine Theorie, die diese beiden Beobachtungen erklären soll. Er richtet sich dabei, entsprechend den beiden Beobachtungen, nicht nur gegen einen, sondern gegen Die Nichtberücksichtigung dieser Unterscheidung führt z.B. bei WAGNER DECEw (1990) zu einiger Verwirrung. 14 Ethischer Relativismus: Seine Grenzen, seine Geltung zwei theoretische Ansätze. Ich werde die beiden Gegenpositionen als "ethischer Universalismus" und "ethischer Absolutismus" bezeichnen. (vgl. auch Wong 1991: 442) Der ethische Universalismus verweist darauf, daß es eine Moral gibt, die universell von allen Menschen anerkannt wird. Dies wird teilweise so verstanden, de es - aus biologischen oder sozialen Gründen - einige Normen, Prinzipien und Werte gibt, die von allen Menschen akzeptiert werden. Diese Theorie, die davon ausgeht, daß es universell geltende und relativ geltende moralische Urteile gibt, kann auch als Eingeschränkter ethischer Relativismus bezeichnet werden. Der ethische Universalist im eigentlichen Sinne des Wortes verweist darauf, daß der Eindruck einer Vielfalt täuscht und de, betrachtete man die empirischen Berichte genauer, die Menschen grundsätzlich dieselben Werte und Prinzipien anerkennen. Dem stellt der Relativast die These (1) entgegen, daß moralische Meinungsunterschiede - bis in den Bereich der Axiome der moralischen Argumentation hinab - bestehen. Der ethische Absolutist ist der Ansicht, daß bestimmte moralische Urteile objektiv - und für alle vernunftbegabten Wesen oder zumindest alle menschlichen vernunftbegabten Wesen nachvollziehbar - wahr sein können. Dies wäre z.B. dann der Fall, wenn es moralische Tatsachen gibt, auf die ein Urteilender verweisen kann, oder aber, wenn es ein rationales Verfahren (oder einen rationalen Standpunkt) gibt, durch das (bzw. von dem aus) über die Richtigkeit moralischer Urteile entschieden werden kann. Es gibt z. B. eine naturalistische Position, die folgende These vertritt: Da alle Menschen aufgrund ihrer einheitlichen Natur dieselben Bedürfnisse und Wünsche haben, läßt sich eine Moral ermitteln, die diese Bedürfnisse und Wünsche bestmöglich befriedigt. Dem stellt der ethische Relativist die These (2) entgegen, daß zumindest einige moralische Meinungsunterschiede bestehen bleiben werden, auch wenn alle Menschen im Besitz aller Kenntnisse sind und gänzlich vernünftig argumentieren. Die Thesen (1) und (2), die der ethische Relativast den ethischen Universalisten und ethischen Absolutisten entgegenstellt, können in einer zusammengefatit werden. Der ethische Relativismus scheint folgende These zu vertreten: ER Es gibt moralische Meinungsunterschiede zwischen Menschen aus einer oder aus verschiedenen Gesellschaften, die weder durch Verweis auf (moralische oder nicht-moralische) Tatsachen noch durch rationale und verständige Argumentation überwunden werden können. Entspricht dies den Definitionen, die in der Literatur zu finden sind? Ich werde mich auf vier Formulierungen beschränken, mit denen eingestandene Kenner dieses Gegenstandes das Phänomen des ethischen Relativismus zusammenzufassen suchen. (1) D. H. Monro schreibt: "By relativism I mean the theory that men do genuinely differ in their ultimate moral judgments. and that there are no grounds für preferring one such moral judgment to another." (Monro 1950:19) Dies steht im Einklang mit ER. (2) In seinem Buch "Hopi Ethics" vertritt Richard Brandt (1954) die Ansicht, daß der ethische Relativismus zwei Thesen beinhalte. Zum einen bestehe er aus einer logischen These, die folgendes besagt: Einleitung 15 'It is logically possible for a person X to afiirm of some act A, 'A is wrong (or 'obligatory', etc.) and for some person Y to say of the same thing, 'A is not wrong' ('obligatory', etc.) and for neither statement to be incorrect." (Brandt 1954:235) Zudem enthalte ein ethischer Relativismus auch, daß es kausal erklärt werden kann, daß sich zwei Personen im obigen Sinne im Widerspruch befinden. Die kausale These setzt freilich voraus, daß ein solcher Widerspruch logisch möglich ist. Sie geht also von der Geltung der oben aufgeführten logischen These aus. Diese Definition geht - mit ihrer kausalen These - über unseren Vorschlag hinaus. Worauf sich Brandt hierbei bezieht, wird ersichtlich werden, wenn wir betrachten, was mit der Relativität moralischer Urteile gemeint ist. (3) In seinem Aufsatz 'The Definition of Ethical Relativism" sagt Thomas McClintock: "I take the general thesis of ethical relativism to assert: lt is logically possible for any (an expression denoting a type of subject of uroral judgment) to be judged correctly to be (a uroral predicate-express ton applicable to such an subject) and either by the same or by different persons, either at same or at different times) to be judged correctly to be (the ostens ble-contradtctory of this uroral predicate-eapression). Two expressions are ostensible-contradictories when one is formed from the other by the preflx "not", or is synonymous with the term so formed." (McClintock 1969:435) Die Definition hat den Vorteil, daß sie die Vielfalt der moralischen Prädikate berücksichtigt und davon ausgeht, daß man nicht nur über Handlungen, sondern auch über Charaktere und Eigenschaften moralische Urteile fällen kann. Dies ist wichtig. Ich werde mich aber der Einfachheit halber vorläufig auf die moralische Beurteilung von Handlungen beschränken. Der ethische Relativist behauptet also, daß sich (logisch scheinbar) widersprechende moralische Prädikate auf dasselbe Subjekt angewandt werden können. Zwei absolut rational Urteilende, die im Besitz aller relevanten Fakten sind, können so in eine Situation gelangen, in der keines ihrer widersprüchlichen Urteile so begründet werden kann, daß der andere von der Falschheit seiner Ansicht überzeugt wird. Man könnte vielleicht dagegen halten, daß eine Position, welche die Begründbarkeit moralischer Urteile bestreitet, nicht relativistisch, sondern skeptisch genannt werden mußte. Allerdings mini eines betont werden: Der ethische Relativismus gibt eine andere Antwort auf die Frage nach der möglichen Beurteilung moralischer Meinungsunterschiede als der ethische Skeptizismus. Der ethische Skeptiker2 ist der Ansicht, daß es kein Verfahren gibt, diese Meinungsverschiedenheit zu beheben und daß wir deswegen von keinem der beiden Urteile behaupten können, es sei richtig oder zumindest richtiger als das an- 2 Wir müssen jedoch vorsichtig sein und den ethischen Skeptizismus von einer anderen Position, dem ethischen Nihilismus, abgrenzen. Der ethische Nihilismus besteht aus der These, daß es sinnlos Ist, von etwas moralisch Richtigem zu reden. Für einen ethischen Nihilisten sind alle moralischen Begriffe und Urteile entweder bedeutungslos oder sie beruhen auf einem Fehler. Der ethische Skeptizismus besagt dagegen, daß es unmöglich ist, von irgendeiner Handlung zu wissen, ob sie moralisch richtig oder falsch ist. (vgl.: McCuorrocx 1971a, 1971b) Sowohl beim ethischen Nihilismus wie beim ethischen Skeptizismus ist es eigentlich erforderlich, weitere Unterformen zu unterscheiden. Dies kann an dieser Stelle aber nicht unternommen werden. 16 Ethischer Relativtsrrtus: Seine Grenzen, seine Geltung dere. 3 Der ethische Relativist ist dagegen der Ansicht, daß beide - einander offenbar widersprechende Meinungen - dieselbe Berechtigung haben und daß beide (im selben Sinne) richtig oder wahr sind. In seinem Aufsatz von 1971 gibt McClintock eine Definition, die dies stärker betont. Hiernach ist der Relativismus mit folgender Position gleichzusetzen. "It is possible* for any particular action to be both right and wrong." (McClintock 1971 a:35) 4 Diese Formulierung ist aber mißverständlich. Der ethische Relativismus ist weniger eine These über die moralische Richtigkeit von Handlungen als eine These über moralische Urteile. Demnach müssen wir eine spätere Formulierung McClintocks vorziehen. Dort heißt es: "It is possible for both of some possible pair of opposed Judgments as to the rightness or wrongness of any particular action to be true." (McClintock 1971b:153) Diese Definition verlagert die Betonung auf die entscheidende Stelle. Wir können sie damit fast akzeptieren. Nur die Rede von "wahren" Urteilen scheint etwas gewagt. Der ethische Relativist könnte sich damit begnügen, daß sich keines der beiden Urteile in einem rationalen Verfahren als das bessere herausstellen wird. Da dies aber auch ein ethischer Skeptiker sagen kann, muß es besser heißen: daß beide sich als gleichermaßen berechtigt erweisen. (4) Betrachten wir daneben eine andere Definition. Nach Wong (1984:65) richtet sich der ethische Relativismus vor allem gegen folgende These: "When two moral statements conflict as recommendations to action, only one statement can be true" (Wong 1984:1) Auch für Wong ist der ethische Relativismus also im wesentlichen eine These über moralische Meinungsunterschiede. Auch er ist der Ansicht, daß zwei im oben genannten Sinne radikal verschiedene moralische Urteile beide wahr sein können. Die Rede von der Wahrheit moralischer Urteile ist aber auch hier mbglicherweise irreführend. Narveson weist in seiner Besprechung von Wongs Buch auf einen Punkt hin, der hier von Interesse ist. Er schreibt: "(Wong is) confusing the view (a) that at least one of two contrary normative clairns must be wrong, with the view (b) that all controversies are at least in principle resolvable." (Narveson 1987:238) Nehmen wir dies an, kann der ethische Relativismus also einmal die Thesen beinhalten, daß nicht alle moralischen Meinungsunterschiede entscheidbar sind, a) oder zum anderen die These, daß in Meinungsunterschieden zwei richtige, einander widersprechende Urb) teile gefällt werden können. gibt auch eine sehr gute Definition des ethischen Skeptizismus. Er schreibt: "It is impossible (in principle on conceptual grounds relating speciflcally to ethics) to know which of any possible pair of opposed Judgments as to the rightness (rather than wrongness) or the wrongness (rather than rightness) of any particular action is true (and which is false)." (McCuN'rocK 1971b:153). 4 "Possible'" heißt dabei "Possible on conceptual grounds relating speciflcally to ethics" (McClintock 1971 a:31). 3 MCCUNrOCK Einleitung 17 ER hatte ich bisher in der Form a) definiert. Ich nenne diese Position jetzt: ER 1 Es gibt moralische Meinungsunterschiede zwischen Menschen aus einer oder aus verschiedenen Gesellschaften, die weder durch Verweis auf (moralische oder nicht-moralische) Tatsachen noch durch rationale und verständige Argumentation überwunden werden können. Davon müssen wir also nun absetzen: ER2 Es gibt moralische Meinungsunterschiede zwischen Menschen aus einer oder aus verschiedenen Gesellschaften, bei denen beide moralischen Urteile wahr sind. Die Frage, welche dieser beiden Positionen dem ethischen Relativismus eher entspricht und welche eher vertreten werden kann, kann an dieser Stelle noch nicht entschieden werden. Wenn der ethische Relativismus die erste Position (ER,) vertreten würde, wäre der ethische Relativismus eine bestimmte und eine eher gemäßigte Form des ethischen Skeptizismus. Zur Beantwortung der Frage, wieso zwei rational Urteilende in Fällen radikaler moralischer Meinungsunterschiede zu keiner Einigung gelangen, wird von ethischen Relativisten von einer Relativität moralischer Urteile gesprochen. Was ist damit gemeint? Beginnen wir zunächst damit, genauer festzustellen, was damit nicht gemeint ist. Es ist nicht die Rede davon, daß moralische Urteile situationsabhängig sind. Dies ist unbestritten, wie Neil Cooper mit einem schönen Beispiel illustriert: ' For no one, I take lt. would deny that the truth of ' You ought to help him sharpen his keife" depends, inter altes, an who you and him are. If you are David and he is Goliath the position is a bit different from if you and he are fellow workers in the local butcher's" (Cooper 1978:98) Der ethische Relativist bezieht sich auch nicht darauf, daß Handlungen unter verschiedenen Umständen zum Erreichen eines bestimmten Zieles unterschiedlich geeignet sind. 5 Will man das Wohl seiner Eltern, mögen Im Eis der Arktis andere Handlungen erforderlich sein als auf einer Südseeinsel. Leben Gesellschaften in unterschiedlichen ökologischen, geographischen oder wirtschaftlichen Verhältnissen, kann es möglich sein, daß sie unterschiedliche moralische Normen bedürfen. 6 Aber diese Feststellung allein impliziert noch keinen ethischen Relativismus. Die Situationsbedingtheit unserer moralischen Urteile werden in der Regel weder jene bestreiten, die man als "ethische Absolutisten" bezeichnet, noch diejenigen, die man "ethische Relativisten" nennt. (vgl. hierzu Stevenson 1962) Auf diesen Zusammenhang wies auch Broad hin. Es besteht nach ihm ein Unterschied zwischen folgenden drei Analysen moralischer Begriffe: 6 Ich beziehe mich hier auf eine Unterscheidung, die SFIIA MOSER in ihrem Buch "Absolutism and Relativism in Ethics" (1968), einer der wenigen Monographien zu diesem Thema. einführt. Sie betont, daß sich der ethische Relativismus nicht auf den instrumentellen Wert der Handlungen bezieht. (MosER 1968:209) Diese Position bezeichnet Moser als deontologischen Relativismus. MosER unterscheidet den deontologischen Relativismus von dem "aadologischen Relativismus", der von dem Wert von Handlungen an sich spricht. Eine solche Begriiillchkeit verwirrt die Diskussion allerdings mehr, als daß sie sie fördert. Sie hat sich auch nicht in der Ethik-Diskussion durchgesetzt, und auch Ich werde sie im folgenden nicht gebrauchen.