Einführungsvorlesung „Internationale Umweltpolitik“ 21.11.2008 Dr. Markus Wissen Gliederung 1. 2. 3. Das „Rio-Modell“ internationaler Umweltpolitik Bilanz des „Rio-Modells“ Lehren aus dem „Rio-Modell“ 1. Das Rio-Modell internationaler Umweltpolitik Rio 1992: • UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) • Regierungsvertreter/innen von 180 Staaten, internationale Organisationen, NGOs • Zentrale Frage: Wie können Umwelt und Entwicklung miteinander versöhnt werden? 1. Das Rio-Modell internationaler Umweltpolitik „Nachhaltige Entwicklung“ (Sustainable Development“): • Welt-Kommission für Umwelt und Entwicklung der UN (Brundlandt-Kommission) • Abschlussbericht 1987: „Our Common Future“ • Kerngedanke: „Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ • Inter- und intragenerationelle Gerechtigkeit 1. Das Rio-Modell internationaler Umweltpolitik Probleme des Konzepts „nachhaltige Entwicklung“: • Operationalisierung • „Drei-Säulen-Modell“: ökologische, ökonomische und soziale Nachhaltigkeit • Ausblendung von Widersprüchen • Trennung von ökologischen Fragen und sozioökonomischen Herrschaftsverhältnissen 1. Das Rio-Modell internationaler Umweltpolitik Nachhaltige Entwicklung im Sinne der RioKonferenz (UNCED): • Zentrale Rolle von Technologie: ökologische Modernisierung, „Effizienzrevolution“, • Technologietransfer von Nord nach Süd • Forderung nach Handelsliberalisierung • Wichtige Rolle der sog. „Zivilgesellschaft“ auf allen Ebenen des politischen Systems • Wichtige Rolle der Wissenschaft • Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung • Agenda 21 1. Das Rio-Modell internationaler Umweltpolitik Klima-Rahmenkonvention (UNFCCC – UN Framework Convention on Climate Change) • Ziel: globale Erwärmung verlangsamen • Kyoto-Protokoll 1997 • Verpflichtung für Industrieländer zur Reduktion von Treibhausgas-Emissionen (5,2% bis 2012 gegenüber 1990) • Marktförmige Instrumente: Emissionshandel, Clean Development Mechanism (hierüber auch Technologietransfer) • Keine Reduktionsverpflichtungen für Entwicklungsund Schwellenländer • USA haben sich ausgeklinkt. 1. Das Rio-Modell internationaler Umweltpolitik Übereinkommen über die biologische Vielfalt (CBD – Convention on Biological Diversity) • Hintergrund: beschleunigter Verlust der biologischen Vielfalt (genetische Vielfalt, Artenvielfalt, Vielfalt der Ökosysteme) • Ziele: Schutz und nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt, Regelung des Zugangs, Vorteilsausgleich • Ökonomischer Ansatz: Schutz durch Nutzung • Andererseits: „nationale Souveränität“ über genetische Ressourcen • Schwache Verankerung der Interessen von indigenen Gemeinschaften 1. Das Rio-Modell internationaler Umweltpolitik Zusammenfassung der Grundannahmen des „RioModells“: • Glaube an kooperative Problemlösungen und winwin-Konstellationen • „Geist der weltweiten Partnerschaft“, „gemeinsame, wenngleich unterschiedliche Verantwortlichkeiten“ (Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung, 7. Grundsatz) • Marktförmige Instrumente und technischer Fortschritt • Interdependenz • Schaffen von Verhandlungsarenen 2. Bilanz des „Rio-Modells“ Staat Emissionen 1990 in Mio. t CO2-Äquivalent Verpflichtete Emissionsänderung Ist-Stand 2004 USA 6 103 keine (urspr. -7,0 %) +15,8 % Russland 2 975 0% -32,0 % -32,0 % Japan 1 272 -6,0 % +6,5 % +12,5 % Deutschland 1 226 -21,0 % -17,2 % +3,8 % Ukraine 925 0% -55,3 % -55,3 % Vereinigtes Königreich 776 -12,5 % -14,3 % -1,8 % Kanada 599 -6,0 % +26,6 % +32,6 % Frankreich 567 0% -0,8 % -0,8 % Polen 459 -6,0 % -31,2 % -25,2 % Italien 520 -6,5 % +12,1 % +18,7 % Australien 423 +8,0 % +25,1 % +17,1 % Spanien 287 +15,0 % +49,0 % +34,0 % Rumänien 230 -8,0 % -41,0 % -33,0 % Niederlande 213 -6,0 % +2,4 % +8,4 % Tschechien 196 -8,0 % -25,0 % -17,0 % Belgien 146 -7,5 % +1,4 % +8,9 % Österreich 79 -13,0 % +15,7 % +28,7 % Schweiz 53 -8,0 % +0,4 % +8,4 % Quelle: UNFCCC (2006):GHG Data 2006 Abweichung in Prozentpunkten 2. Bilanz des „Rio-Modells“ Fortdauer und Ausbreitung nicht-nachhaltiger Konsummuster • • • • → → Motorisierter Individualverkehr, Billigflüge, Fleischkonsum Studie von Greenpeace Österreich: jedes neunte neu zugelassene Auto in Österreich ist ein SUV (Luxusgeländewagen) Vor allem ein Phänomen des globalen Nordens, aber: Entstehen einer „transnationalen Verbraucherklasse“, obere Mittel- und Oberschichten im Norden und Süden Knapp zwei Milliarden Menschen, von denen 850 Millionen im Globalen Norden und 1,1 Milliarden im globalen Süden leben („the new consumers“ – Norman Myers, Jennifer Kent) Nicht-Verallgemeinerbarkeit der dominanten nördlichen Produktions- und Konsummuster Die von der UNCED angestrebte nachhaltige Entwicklung des Südens ist höchst fraglich. 2. Bilanz des „Rio-Modells“ Zweifelhafte Wirkungen des Clean Development Mechanism: • • • • → Unternehmen aus dem globalen Norden, die zu Emissionsreduktionen verpflichtet sind (Energiekonzerne, Schwerindustrie), führen „emissionsmindernde“ Projekte im globalen Süden durch Kriterium der Zusätzlichkeit kaum überprüfbar Projekte mit fragwürdigen sozialen und ökologischen Konsequenzen Investitionsfluss konzentriert sich auf Schwellenländer wie Indien oder China „moderner Ablasshandel“ (Elmar Altvater, Achim Brunnengräber) 2. Bilanz des „Rio-Modells“ Biodiversität • Verlust schreitet voran • Welternährung beruht nur noch auf wenigen Kulturpflanzenarten und Nutztierrassen • Allerdings: große wissenschaftliche Unsicherheit über das genaue Ausmaß des Problems und darüber, für wen es sich genau stellt • Unsicherheit leistet gesellschaftlichen Kämpfen über die Problemdefinition Vorschub → Wichtige Grundannahmen des Rio-Modells werden dadurch in Frage gestellt: das geteilte Bewusstsein über vorgebliche Menschheitsprobleme und die Bereitschaft, sie kooperativ zu bearbeiten 2. Bilanz des „Rio-Modells“ Umweltpolitik im Schatten der WTO • 1995: Gründung der WTO • Sozial-ökologische Problematik des Freihandels • Spannungsverhältnis zwischen der CBD und dem TRIPs-Abkommen der WTO (Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte an geistigem Eigentum) 2. Bilanz des „Rio-Modells“ Zunehmend gewaltförmige Bearbeitung von Umweltproblemen • Rückkehr unilateraler Machtpolitik im Zuge von 9/11 • Kriege in Vorder- und Zentralasien sind auch vor dem Hintergrund zu betrachten, dass die „claims“ für die Verteilung strategischer Rohstoffe (Öl, Gas) neu abgesteckt werden sollen (angesichts zunehmender Konkurrenz vor allem seitens Chinas) • Ziel ist es, nicht-verallgemeinerbare „fossilistische“ Produktions- und Konsummuster exklusiv auf Dauer zu stellen → stellt den Kooperationsansatz des Rio-Modells nachhaltig in Frage 2. Bilanz des „Rio-Modells“ Fazit: • • • • • • → → Die ökologische Krise hat sich seit der Rio-Konferenz verschärft. Marktförmige Instrumente zur Bearbeitung der Krise schaden oft mehr als sie nutzen. Umweltpolitik wird von der neoliberalen Globalisierung, wie sie in der WTO institutionalisiert ist, überlagert. Umweltpolitische Verhandlungsarenen bzw. Konfliktterrains werden von wichtigen Akteuren wie den USA nicht anerkannt. Nicht-verallgemeinerbare „fossilistische“ Produktions- und Konsummuster werden bisweilen gewaltförmig auf Dauer zu stellen versucht. Das Projekt, mit marktförmigen und technischen Instrumenten Umwelt und Entwicklung miteinander zu versöhnen, ist gescheitert. „Death of Rio Environmentalism“ (Jacob Park, Ken Conca, Matthias Finger) nachhaltige Entwicklung als Mantra, „a phrase that bears repeating because it has a calming effect“ (Ronnie Lipschutz) Nachfragen zum Rio-Modell und seiner Bilanz? 3. Lehren aus dem „Rio-Modell“ 1. • • • • Internationale Umweltprobleme sind nicht einfach gegeben. Ihre Definition und die Formen ihrer Bearbeitung sind umkämpft. Es gibt nicht einfach die globale Bedrohungslage. Was für die eine ein existenzielles Problem darstellt, kann für den anderen ein gutes Geschäft sein. Als politisch relevante Fragen konstituieren sich Umweltprobleme in konflikthaften Prozessen der Problemdefinition. Wissenschaftliches Wissen spielt dabei eine wichtige Rolle. 3. Lehren aus dem „Rio-Modell“ 2. Internationale Umweltprobleme sind Verteilungsfragen. Sie sind nicht neutral. Es sitzen nicht alle Menschen im selben Boot. • • Unterschiedliche Verteilung von Verantwortlichkeiten im globalen Maßstab (→ ökologischer Fußabdruck) Unterschiedliche soziale Verteilung von Verantwortlichkeiten 3. Lehren aus dem „Rio-Modell“ 2. Internationale Umweltprobleme sind Verteilungsfragen. Sie sind nicht neutral. Es sitzen nicht alle Menschen im selben Boot. • • • Betroffenheiten sind ungleich verteilt (nach Klasse, Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe). Ebenso sind die Möglichkeiten, sich ökologischen Bedrohungen zu entziehen, ungleich verteilt. Umweltprobleme können soziale Gegensätze verschärfen. 3. Lehren aus dem „Rio-Modell“ 3. • • Ein zentrales Problem internationaler Umweltpolitik ist die Dominanz technischer und marktförmiger Elemente. Ökologische Modernisierung („Effizienzrevolution“) allein lässt die vorherrschenden Produktions- und Konsummuster unangetastet. Marktförmige Instrumente – die Ökonomisierung der Aneignung von Natur und die Ökonomisierung der Krisenbearbeitung – können soziale Gegensätze verschärfen. 3. Lehren aus dem „Rio-Modell“ 4. • • • → Wichtiger als die explizite ist oft die implizite Umweltpolitik. Internationale Umweltpolitik ist nie isoliert, sondern immer nur im Kontext des widersprüchlichen Zusammenspiels verschiedener Institutionen zu begreifen. Die verschiedenen Institutionen sind keineswegs gleichrangig und gleich einflussreich. Die WTO gibt in vielen auch umweltpolitisch relevanten Angelegenheiten den Takt vor. „Das wichtigste umweltpolitisch relevante Abkommen der 1990er Jahre war weder die CBD noch die FCCC, sondern die WTO“ (Ulrich Brand, Christoph Görg) 3. Lehren aus dem „Rio-Modell“ 5. • • Internationale Umweltpolitik ist nicht einfach kooperative Problembearbeitung. Die Terrains internationaler Umweltpolitik sind herrschaftsförmig strukturiert. In sie schreiben sich bestimmte Interessen und Kräfteverhältnisse ein. Dadurch werden sie strukturell selektiv: D.h., bestimmte Problemwahrnehmungen und Bearbeitungsformen (vor allem marktförmige und technische) werden begünstigt, andere werden marginalisiert, manche Alternativen können gar nicht sichtbar gemacht werden. 3. Lehren aus dem „Rio-Modell“ 6. • • Internationale Umweltpolitik ist umkämpft. Die in den 1990er Jahren geschaffenen Verhandlungsarenen bzw. Konfliktterrains werden noch nicht einmal von allen dominanten internationalen Akteuren anerkannt. Außerdem sind sie der Kritik „von unten“ ausgesetzt Nachfragen zu Punkt 3, Lehren aus dem „Rio-Modell“? „Café-Haus“ 1. 2. 3. Welche Akteure und Interessen prägen die internationale Umweltpolitik? Welche Rolle spielen (internationale) Institutionen? Welche Alternativen zum „Rio-Modell“ internationaler Umweltpolitik könnten Sie sich vorstellen? Ausgewählte Literatur • Elmar Altvater, Achim Brunnengräber (Hrsg. 2008): Ablasshandel gegen Klimawandel? Hamburg • Christoph Görg, Ulrich Brand (Hrsg. 2002): Mythen globalen Umweltmanagements. Münster • Ronnie Lipschutz (2003): Global Environmental Politics. Santa Cruz • Jacob Park, Ken Conca, Matthias Finger (eds. 2008): The Crisis of Global Environmental Governance. London, New York