Der Kraftbegriff im Physikunterricht von der Statik zur Dynamik, vom "Kraft - Haben" zur Wechselwirkung ; Von Reinders Duit (Bron: Naturwissenschaften im Unterricht Physik/Chemie; Heft 34:Kraftbegriff; Mai 1988; Fachzeitschriften bei Friedrich in Velber in Zusammenarbeit mit Klett, 3016 Seelze) Unterricht zum Kraftbegriff im Wandel Bis in die jüngste Zeit hinein wurde der physikalische Kraftbegriff in den Schuljahren 5 bis 10 merkwürdig verkürzt unterrichtet. Erstens wurde er weitgehend auf die Statik reduziert, die Dynamik spielte kaum eine Rolle. Kräfte wurden vorwiegend als Ursachen für Formänderungen betrachtet, Bewegungsänderungen wurden bestenfalls am Rande erwähnt. Noch im Jahre 1978 fand sich im gymnasialen Lehrplan des Landes Nordrhein - Westfalen [1 ] die folgende Passage: "Kräfte werden in der Sekundarstufe l vornehmlich als Ursachen von Formänderungen aufgefaßt. Die bewegungsändernden Wir kungen von Kräften werden erst auf der Sekundarstufe II thematisiert. Sie lassen sich in Klasse 9 wegen der Schwierigkeit des Begriffs Beschleunigung kaum sachgerecht bearbeiten". Mit dieser Auffassung stand der vorstehend zitierte Lehrplan keineswegs allein da, obwohl es bereits Bemühungen gab, den "bewegungsändernden" Wirkungen gleiche Bedeutung wie den "formändernden" zuzubilligen (so z.B. im gymnasialen Lehrplan von Schleswig Holstein aus dem Jahre 1976; s. [2]). Bis heute hat sich die "Gleichberechtigung" der beiden Wirkungen noch nicht völlig durchgesetzt, wiewohl es in allen Schularten einen deutlichen Wandel in diese Richtung gibt. Zweitens wurde der Tatsache nur geringe Aufmerksamkeit gewidmet, daß es sich beim Kraftbegriff um einen Wechselwirkungsbegriff handelt, also um einen Begriff, der nicht die Eigenschaften von Körpern beschreibt, sondern die Beziehungen zwischen Körpern, nämlich ihr gegenseitiges Aufeinandereinwirken. Durchaus üblich war es beispielsweise davon zu sprechen, daß Körper "Kraft haben", Lebewesen (Tiere und Menschen) wie Geräte (z.B. ein Magnet). Kraft wurde damit vorwiegend als Fähigkeit bestimmter Körper angesehen, auf andere einzuwirken. Daß aus physikalischer Sicht der Körper, auf den eine Kraft wirkt, eine gleich große Kraft auf den anderen beteiligten Körper ausübt, wurde kaum thematisiert. Auch hier gibt es einen Wandel. Der Wechselwirkungsaspekt, d.h. die Idee des gegenseitigen Aufeinandereinwirkens von Körpern erhält stärkere Beachtung, er wird beispielsweise bereits in einer Reihe von Lehrbüchern herausgearbeitet. Das vorliegende Themenheft möchte den vorstehend skizzierten Wandel unterstützen. Im Zentrum stehen deshalb zwei Unterrichtsmodelle, die sowohl den dynamischen Aspekt wie auch den Wechselwirkungsaspekt betonen. Ergänzt werden diese Unterrichtsmodelle durch eine Übersicht zur historischen Entwicklung des Kraftbegriffs und durch "Denkaufgaben", die zur Erläuterung von Lernschwierigkeiten dienen. Eher im "traditionellen" Fahrwasser bewegen sich einige zusätzliche Anregungen zu Versuchen mit Kraftmessern. Zum physikalischen Kraftbegriff Im folgenden soll ein Überblick über die wichtigsten Aspekte des physikalischen Kraftbegriffs gegeben werden, die beim Unterricht in der S l zu berücksichtigen sind. Die drei Newtonschen Axiome Formulierungen wie diese lassen das Trägheitsprinzip leicht als pure Selbstverständlichkeit erscheinen. Man muß sich indes darüber klar sein, daß die Wissenschaft lange um dieses Prinzip gerungen hat (s. dazu z. B. den nachfolgenden Beitrag von H. Schecker), und daß das Prinzip ganz und gar nicht unserem intuitiven durch Alltagserfahrungen geprägten "Kraftdenken" entspricht (s. dazu näheres weiter unten). Zu (II) F = m • a Die "Formel" F = m • a wird häufig als Definitionsgleichung für die Größe Kraft angesehen. Kraft wird damit zu einer abgeleiteten Größe, basierend auf den Grundgrößen Masse und Beschleunigung. Es soll hier nicht diskutiert werden, ob dies aus wissenschaftstheoretischer Sicht haltbar ist (s. dazu z.B. [3]). Für Unterricht zum Kraftbegriff in der S l erscheint nämlich der folgende Gesichtspunkt wichtiger zu sein. Bei F=ma handelt es sich um die quantitative Formulierung des Trägheitsprinzips mit Hilfe der Begriffe Kraft, Masse und Beschleunigung. Wird die Idee des Trägheitsprinzips nicht mitgedacht, so verliert die Formel F = m • a ihren Sinn. Zu (III) Wechselwirkungsprinzip Kräfte treten immer "paarweise" auf. (I)Trägheitsprinzip (II)F=m-a (III)Wechselwirkungsprinzip Dies sind die drei Säulen auf denen der physikalische Kraftbegriff ruht. Wir nennen sie die Newtonschen Axiome. Sie wurden zuerst von Newton in seinem Werk "Principia Mathematica" vor etwa 300 Jahren (1687) ausgesprochen. Im nachfolgenden Beitrag von H. Schecker finden sie sich in der Originalfassung, eingegliedert in einen Abriß der Geschichte des physikalischen Kraftbegriffs. Zu (l) Trägheitsprinzip Ein Körper behält seinen Bewegungszustand (also den Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung) bei, solange kein anderer Körper auf ihn einwirkt. Wenn man z.B. davon redet, daß eir Magnet eine Kraftwirkung auf ein Stück Eisen ausübt und dies mit Hilfe eine; Kraftpfeils darstellt (s. Abb. 2 a), so mus man sich darüber im klaren sein, das dies eine verkürzende Rede- bzw. Dar stellungsweise ist. Das Eisenstück übt ja seinerseits eine gleich große Kraftwirkung auf den Magneten aus (s. Abb. 2 b) Allzu häufig leiten solche Verkürzungen in die Irre. Auch in Lehrbüchern findet man manches Mißverständnis. Der griffige Merksatz von der "Gleichheit von Kraft und Gegenkraft" z.B. läßt leicht vergessen, daß Kraft und Gegenkraft an verschiedenen Körpern angreifen. Die Formulierung der "Gleichheit von Actio und Reactio" leitet überdies zur Fehlvorstellung, daß einer der beiden Wechselwirkungspartner der "aktive" sei, der andere (zeitversetzt) reagiere. In Abb. 2 z.B. ist der Magnet keineswegs der "aktive" Körper, das Eisenstück der "passive". Das Eisenstück ist vielmehr in gleicher Weise "aktiv" wie der Magnet, denn es zieht ja den Magneten in gleicher Weise an wie jener das Eisenstück. Das Wechselwirkungsprinzip unterstreicht einen grundlegenden Aspekt des physikalischen Kraftbegriffs, der wie einleitend bereits erwähnt - häufig nicht genügend beachtet wird, er bezieht sich auf Beziehungen (Wechselwirkungen nämlich) zwischen Körpern, nicht auf Eigenschaften von Körpern. Am Rande sei bemerkt, daß das Wechselwirkungsprinzip ergänzt um F= m • a den Satz von der Erhaltung des Impulses ergibt. Vom Impulsbegriff soll aber im folgenden nicht weiter die Rede sein. "Bewegungsändernde" und "formändernde" Wirkungen von Kräften Von den bis heute den Physikunterricht in der S l dominierenden "formändernden" Wirkungen ist in den drei Newtonschen Axiomen nicht die Rede. Jede durch die Axiome beschriebene Kraftwirkung ist indes mit "formändernden" Wirkungen verbunden. Beschleunigt z. B. ein fallender Körper einen horizontal reibungsfrei gleitenden Klotz (s. Abb. 3), so treten mannigfaltige, wenn auch kaum beobachtbare, Formänderungen auf: u.a. am ziehenden Gewichtsstück, im Seil und am gezogenen Klotz. Meist beachtet man diese Formänderungen nicht, wenn Bewegungsänderungen im Vordergrund ste- hen. Formänderungen werden i.a. nur dort betrachtet, wo es keine Bewegungsänderungen gibt (wenn z.B. wie in Abb. 4 mehrere Kräfte so einwirken, daß sich ein Gleichgewicht einstellt). Kräfte und Bezugssystem - Zentrifugalkräfte und andere "Scheinkräfte" Verantwortlich für eine schier endlose Kette von Mißverständnissen ist die sogenannte Zentrifugalkraft. Auch Lehrbücher sind nicht immer frei von Fehlern (s. z.B. [4]). Bittet man z.B. Schüler und Studenten, die Kräfte zu zeichnen, die auf ein Auto bei der Fahrt durch eine Kurve einwirken (Abb. 5), so findet sich häufig ein nach außen weisender Pfeil, der Zentrifugalkraft genannt wird (vg. Aufg. 7 im Beitrag "Denkaufgaben zum Kraftbegriff" von H. Schecker in diesem Heft). Diese Zentrifugalkraft hält der Zentripetalkraft die Waage, so eine häufig zu findende Erklärung. Tatsächlich gibt es die Zentrifulgalkraft im ruhenden System (also dem System, dem der Erdboden angehört) nicht. Dort gibt es als resultierende Kraft nur die Zentrifugalkraft, die das Auto ständig auf den Krümmungsmittelpunkt hin beschleunigt. Würden sich Zentrifugalkraft und Zentripetalkraft tatsächlich die Waage halten, so müßte sich das Auto geradeaus bewegen und nicht auf gekrümmter Bahn. Unsere "Krafterfahrungen" bei der Kurvenfahrt sind anscheinend verantwortlich für das starke Bedürfnis, die Kurven bewegung durch Zentrifugalkräfte zu erklären. Sitzen wir in einem Auto, das durch eine Kurve fährt, so spüren wir eine Kraft, die uns scheinbar nach außen zieht. Diese Kraft hat durchaus reale Ursprünge. Es handelt sich um die Wechselwirkung von Teilen des Autos (Sitz, Tür oder dg.) mit unserem Körper. Infolge der Trägheit muß ja unser Körper ständig in Richtung des Krümmungsmittelpunkts beschleunigt werden. Was hier am Beispiel der Zentrifugalkraft etwas ausführlicher erläutert worden ist, gilt ganz generell. Bei Kraftbetrachtungen ist das Bezugssystem wichtig. Wird dies nicht beachtet, ergeben sich heillose Verwirrungen. Die Kraft als Vektor Betrag, Richtung, Angriffspunkt Kräfte sind Vektoren, die durch Betrag und Richtung eindeutig bestimmt sind. Man kann sie entlang der Wirkungslinie (s. Abb. 6) beliebig verschieben - aber nur, solange Formänderungen des Körpers, auf den die Kraft wirkt, vernachlässigbar oder nicht von Interesse sind (wenn der Körper als ganzer z.B. beschleunigt wird) und solange Drehungen des Körpers außer Betracht bleiben können. In der Physik muß also meistens der Angriffspunkt mitberücksichtigt werden, wenn es um die Wirkung der betreffenden Kraft geht. Es ist zu beachten, daß hinter der Darstellung einer Kraft als Kraftpfeil i.a. ganz erhebliche Abstraktionen stehen. Die Gewichtskraft z.B. stellt man i.a. als Kraftpfeil, der am Schwerpunkt angreift, dar (Abb.7). Dahinter steht ein sehr komplexer Zusammenhang. Der Pfeil faßt die Wechselwirkungen zwischen allen Teilchen des Körpers mit allen Teilchen der Erde zusammen. In ähnlicher Weise fassen Kraftpfeile ganz generell viele Einzel-Wechselwirkungen zusammen. Denn Einzelkräfte gibt es in der Realität streng genommen nicht. Masse sind untrennbar miteinander verbunden, sie verschmelzen zu einer einzigen Eigenschaft, die in der Physik Masse heißt. "Puristen" werden aus den vorstehenden Erläuterungen vielleicht den Schluß ziehen, daß die oben erwähnte assoziative Verknüpfung von "Substanzmenge" und "Masse" unzulässig ist. Ihnen muß allerdings aus einer pragmatischen Sicht entgegengehalten werden, daß träge und schwere Masse proportional zu dem gedachtwerden können, was mit Substanzmenge gemeint ist, nämlich "Materiemenge" -jedenfalls im nicht-relativistischen Bereich. Im übrigen, das sei hier eingeflochten, erlaubt ein Unterricht, der den Wechselwirkungsaspekt betont, eine sehr einleuchtende Klärung des Unterschieds zwischen Gewichtskraft und Masse. Gewichtskraft ist eine Größe, die sich auf die Wechselwirkung zwischen Körpern bezieht. Die Masse dagegen ist eine Eigenschaft der Körper selbst (vgl. den Beitrag von Bohr u.a. in diesem Heft). Krafteinheit und Kraftmessung Das Gesetz über "Einheiten im Meßwesen" [5] erklärt 1N zur Einheit der Kraft. Dies ist eine Einheit, der eine "dynamische Messung" zugrunde liegt. Dies bedeutet aber nicht, daß auch der Physikunterricht die Kraftmessung auf die Änderung von Bewegungszuständen gründen müßte. Vielmehr sind die üblichen und bewährten Methoden zur Einführung der Krafteinheit durch Formänderungen (vgl. den Beitrag von Eberwein in diesem Heft) sinnvoll und zulässig. Auch gegen die Festlegung der Krafteinheit durch die Gewichtskraft eines Wägestücks von ca. 102 g (s. Abb. 8) ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Kraft und Masse Zu den großen Schwierigkeiten des Unterrichts über Kraft in der S l zählt es, den Unterschied zwischen Gewichtskraft (gemessen in N) und Masse (gemessen in g) verständlich zu machen. Häufig versucht man, Masse als "Substanzmenge" zu veranschaulichen. Dies ist aus fachlicher Sicht nicht unproblematisch. Denn der hysikalische Begriff Masse umfaßt nur die Eigenschaften Trägheit und Schwere. Jede Materieportion (Felder eingeschlossen) hat einerseits eine bestimmte Trägheit, eine träge Masse. Sie setzt sozusagen Bewe gungsänderungen einen bestimmten "Widerstand" entgegen. Jede Materieportion hat andererseits die Eigenschaft mit allen anderen Materieportionen wechselzuwirken. Man spricht von Gravitations- oder Schwerkraft. Diese Eigen schaft ist gemeint, wenn von schwerer Masse die Rede ist. Träge und schwere Vorstellungen der Schüler zum Kraftbegriff Das Erlernen des physikalischen Kraftbegriffs wird durch eine Reihe von Vorstellungen behindert, die ihren Ursprung in Alltagserfahrungen beim Umgang mit Dingen und in der Alltagssprache haben. Alltagserfahrungen beim Anschieben und Abbremsen von Körpern, beim Verbiegen und Verformen, kurz mannigfaltige körperliche Erfahrungen, führen zu einem "intuitiven" Kraftverständnis, das dem physikalischen in wichtigen Aspekten diametral entgegengesetzt ist. Kraft ist ein Wort, das in der Alltagssprache nicht gerade selten vorkommt. Die Wörter Kraftausdruck, Geisteskraft, Waschkraft, Kraftfutter, Kraftfahrzeug, Kraftwerk, Kraftvergeudung und Kraftwirkung mögen die Spannweite der Bedeutungen umreißen. Sie können auch darauf hinweisen, daß es unter den alltagssprachlichen Bedeutungen von Kraft kaum solche gibt, an denen der physikalische Kraftbegriff nahtlos anschließen kann. Zwar lassen sich leicht offensichtlich "unphysikalische" Kräfte abspalten, wie z.B. Geisteskraft. Im verbleibenden Rest aber sind beinahe untrennbar Bedeutungen vermischt, die mit den physikalischen Begriffen Energie, Leistung und Kraft erfaßt werden. Im folgenden kann nur eine kurze orientierende Übersicht über Vorstellungen der Schüler gegeben werden. Der Beitrag "Denkaufgaben zum Kraftbegriff" von H. Schecker in diesem Heft diskutiert einige Vorstellungen genauer. Eine recht ausführliche Zusammenfassung der Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet findet sich im Themenheft "Alltagsvorstellungen" (Mai 1986) dieser Zeitschrift (s. [4]). Die nachfolgenden Aussagen stützen sich auf die schon genannten und einige weitere Arbeiten (nämlich [6, 7, 8, 9]). Beschleunigung In der Alltagssprache bedeutet das Wort Beschleunigung lediglich "etwas schneller machen". Für manche Schüler ist dies sogar eingeschränkt auf den Fall, daß etwas, z.B. ein Auto, vom Stillstand bis zu einer bestimmten Geschwindigkeit "beschleunigt" wird. Von den drei Bewegungsänderungen, die der Physiker mit dem Begriff Beschleunigung beschreibt, nämlich "schneller machen", "langsamer machen" und "Richtung ändern" wird alltagssprachlich vorwiegend "schneller machen" mit Kräften in Verbindung gebracht. Abbremsen wird meist als Behinderung, nicht als Kraftwirkung gesehen (vgl. weiter unten). Kraft-Haben Kraft ist in der Alltagssprache eng mit dem Gefühl der Muskelanspannung verknüpft (interessanterweise ist dies auch der etymologische Ursprung des Wortes). Mit dieser assoziativen Nähe zum Muskelgefühl hängt es zusammen, daß Kraft in der Alltagssprache als Eigenschaft von Körpern gesehen wird. "Kraft-Haben" bedeutet, daß Körper stark sind und infolgedessen Wirkungen auf andere Körper ausüben können. Nur aktive Körper haben Kraft Die Kraft-Haben-Vorstellung hängt eng mit einer "Aktivitäts-vorstellung" zusammen. Nur "aktive" Körper, wie bewegte Dinge, Lebewesen und Motoren oder solche, deren Aktivität schnell herzustellen ist, wie z.B. gespannte Federn, können eine Kraft ausüben. Manchmal wird auch noch Magneten oder der Erdanziehung diese Fähigkeit zugesprochen, wobei letztere bisweilen als Magnetwirkung angesehen wird. Diese "Aktivitätsvorstellung" hat eine Reihe sehr wichtiger Konsequenzen. Liegt z.B. ein Buch auf dem Tisch, so ist es für die Schüler verhältnismäßig einfach zu verstehen, daß am Buch die Gewichtskraft angreift. Daß aber der Tisch mit gleich großer Kraft auf das Buch "rückwirkt" bleibt unverständlich, auch nach Unterricht über Kraft. Denn ein passiver toter Körper kann eben keine Kraft ausüben (vgl. Aufgabe 8 im Beitrag "Denkaufgaben zum Kraftbegriff" von H. Schecker in diesem Heft). Es gibt also für manche Schüler auch nach dem Unterricht eine klare Trennung zwischen "wahren" Kräften, die aktiv einwirken und Hindernissen, die nichtzu den Kräften gezählt werden. Meist wird deshalb - wie erwähnt - lediglich "schneller machen" zu den Bewegungsänderungen gezählt, die durch eine Kraft hervorgerufen werden können. Die Reibung gehört zu den genannnten Hindernissen. Sie als Kraft zu erkennen, fällt den Schülern sehr schwer. "Normalerweise" dominieren die "wahren" Kräfte über die Reibung. Erst wenn diese Kräfte aufgezehrt sind - so die Vorstellung vieler Schüler - kann die Reibung zum Zuge kommen. Erwähnt sei noch, daß für manche Schüler auch die Trägheit in der Kategorie der eher "lästigen" Widerstände fällt. Gravitationskraft Auch die Gravitation wird nicht immer zu den "wahren" Kräften gezählt, aber aus anderen Gründen. Wenn ein Stein infolge der Gravitation fällt, so tut er das eben. Dieser "natürliche" Vorgang bedarf keiner weiteren Kraft-Erklärung, so die Auffassung vieler Schüler. Wird ein Stein hochgeworfen, so tritt die Gravitation in Konkurrenz zu anderen Kräften. Erst wenn die aufgezehrt sind, d.h. wenn der Stein den Scheitelpunkt erreicht, kommt die Gravitation zur Wirkung. Daran zeigt sich übrigens ein Denkschema, das man häufig antrifft: sind mehrere Kräfte in Konkurrenz (d.h. greifen sie gleichzeitig an), so gewinnt eine die Oberhand (vgl. die oben erwähnte Dominanz aktiver Kräfte über die Reibung). Zur Gravitationskraft sei noch angemerkt, daß sie für viele Schüler nur bis zum Ende der Lufthülle der Erde reicht. Schließlich sind ja Astronauten im Weltall schwerelos. den Antriebs, wenn sie nicht stehen bleiben sollen. Abb. 9 stellt die physikali sche, Newtonsche Sicht und die Alltags sicht zum Zusammenhang zwischen Kraft und Bewegung einander gegenüber. Es zeigt sich, wie unterschiedlich die beiden Sichtweisen sind. In der Newtonschen Theorie zeigen Kraft und Änderung der Geschwindigeit, also Kraft und Beschleunigung in die gleiche Richtung, und die Größen sind einander proportional. In der Alltagssicht dagegen zeigen Kraft und Geschwindigkeit in die gleiche Richtung. Kraft und Geschwindigkeit sind hier proportional, d.h. je größer die einwirkende Kraft ist, desto größer ist auch die Geschwindigkeit, mit der sich der Körper bewegt. Die in Abb. 9 "Alltag" genannte Sichtweise findet sich in vielen Untersuchungen - keineswegs nur bei Schülern - vor jedem Unterricht zum Kraftbegriff. Vielmehr ist sie bis hinauf zu Physikstudenten anzutreffen. Sie erinnert in vielen Aspekten an "Impetusvorstellungen" des Mittelalters (s. dazu den Trägheit nachfolgenden Beitrag von H, SchekDas Wort Trägheit ruft einige Vorstellun- ker). Diese gehen davon aus, daß einem gen hervor, die bei Erlernen des physika- Körper beim Anstoß "etwas" (ein "Impetus") mitgegeben wird, der sich im Verlischen Trägheitsprinzips hinderlich laufe der Bewegung langsam aufzehrt. sind. Trägheit hat für manche Schüler Interessant ist, daß es in der Auffassung auch nach dem Unterricht mit Faulheit, mancher Schüler und Studenten nicht Lahmheit, Schwunglosigkeit zu tun. Dies allein einen "linearen" Impetus gibt. Sie sind Vorstellungen, die nicht damit über- sind vielmehr auch der Auffassung, daß einstimmen, daß Körper, die "in eine "eingeprägte" Richtung der Bewegung jedenfallls eine Zeitlang noch beiSchwung sind", das Bestreben haben, behalten wird. Wird z.B. ein Stein an auch "in Schwung zu bleiben", wie es ja der Trägheitssatz aussagt. Häufig ist die einem Faden herumgeschleudert, so fliegt der Stein nicht etwa auf gerader skizzierte Alltagsvorstellung von TrägBahn tangential weiter, wenn der Faden heit mit einer Schwellenvorstellung verreißt. In der Auffassung mancher Schüler bunden, d.h. Trägheit kann durch genüund Studenten folgt er vielmehr der in gend Energie überwunden werden. Abb. 10 gestrichelt eingezeichneten krummen Bahn (vgl. Aufg. 9 in H. SchekKraft und Bewegung kers Beitrag "Denkaufgaben zum KraftUnsere alltäglichen Krafterfahrungen begriff" in diesem Heft). leiten nicht zum Trägheitsprinzip. Körper "um uns herum" bedürfen eines dauern- Ruhe und Bewegung In der Newtonschen Sicht sind Ruhe und Bewegung prinzipiell gleichrangige Bewegungszustände. In der Alltagssicht ist dies nicht so. Ruhe und Bewegung sind kategorial verschieden. Ruhe als Grenzfall einer immer kleinerwerdenden Bewegung anzusehen, fällt schwer. Der traditionelle Weg zum Kraftbegriff und Alternativen______ Eine kurze Charakterisierung des traditionellen Weges Es gibt ihn nicht, den traditionellen Weg. Was hier gemeint ist, betrifft zentrale Gemeinsamkeiten von in Aspekten durchaus unterschiedlichen Wegen. Angemerkt sei, daß mit dem Wort "traditioneller Weg" keineswegs etwas herablassend abwertendes ausgedrückt werden soll. "Traditionell" bezeichnet also nicht etwas, das prinzipiell als überholt anzusehen ist. Es bedeutet aber auch nicht etwas, das durch die Patina seines ehrwürdigen Alters jeder Kritik entzogen wäre. Der traditionelle Weg folgt in gewisser Weise der historischen Entwicklung. Er konzentriert sich zunächst auf das, was man mit Statik bezeichnet, also auf Kraftwirkungen in Geräten, Konstruktionen und Gebäuden, die deren Stabilität (u.a. Bruchfestigkeit) betreffen. Verformungen sind die Kraftwirkungen, die hier betrachtet werden. Im Physikunterricht der S l haben lange Zeit fast ausschließlich Verformungen als Kraftwirkungen eine Rolle gespielt (vgl. die Einleitung dieses Beitrags). Ein weiteres Kennzeichen dieses Weges ist die Verknüpfung des Kraftbegriffs mit dem Gefühl der Muskelanspannung. Diese Verknüpfung bleibt auch dann ein wichtiger Aspekt, wenn dynamische Kraftwirkungen einbezogen werden. einer Reihe von Problemen. Zunächst | bleibt ein Kraftbegriff, der sich auf "form- | ändernde" Wirkungen beschränkt, an einer frühen Stelle der Physikgeschichte stecken. Ein solcher Begriff ist nicht in der Lage, den Schülern die neuen Sichtweisen zu vermitteln, die Newton's Kraftbegriff erschlossen hat. Weiterhin wird die Vorstellung vermittelt, die "formändernden" und "bewegungsändernden" Kraftwirkungen träten immer je für sich auf. Wie oben erläutert, ist diese Vorstellung falsch. Bei jeder Kraftwirkung sind beide Arten beteiligt, wenn man den Sonderfall der "Bewegungsänderung" a = 0 einschließt, wenn sich also die insgesamt auf einen Körper einwirZur Kritik am traditionellen Weg kenden Kräfte "die Waage halten". Zunächst einmal: es gibt gute Gründe, Angefügt sei eine weitere Kritik am tradiden traditionellen Weg zu wählen, d.h. tionellen Weg. Es wird dort meist nicht sich in der S l auf den "statischen Kraftherausgearbeitet, daß "formändernde" begriff" zu beschränken und am MuskelWirkungen im Fall des Gleichgewichts gefühl anzuknüpfen. nur deshalb auftreten, weil mehrere Die vorstehenden Ausführungen zum Kräfte am verformten Körper angreifen physikalischen Kraftbegriff und zu Schü(vgl. [10]). lervorstellungen haben gezeigt, wie Zusammenfassend kann festgehalten schwierig dieser Begriff ist, wie weit er werden, daß der traditionelle Weg zum insbesondere bei "bewegungsändernKraftbegriff eine Reihe von Schwierigkeiden Wirkungen" vom intuitiven, alltägliten hat. Er steht seinem eigenen Ziel, chen Kraftempfinden entfernt ist. Die nämlich zum physikalischen Kraftbegriff Anknüpfung am Muskelgefühl ist als zu leiten, im Wege. Es ist sicher nicht Bemühen zu werten, den Zugang zum übertrieben festzustellen, daß er für viele Kraftbegriff zu erleichtern. In der Tat wird Mißverständnisse unter Lehrbuchautohier an etwas angeknüpft, das dem allren wie Schülern mitverantwortlich ist. täglichen Kraftempfinden durchaus entWenn es beispielsweise in Lehrbüchern spricht. Es muß allerdings gefragt werlange Zeit Mißverständnisse beim Prinden, was man sich durch die Beschränzip von "Kraft und Gegenkraft" und bei kung auf "formändernde Wirkungen" der "Zentrifugalkraft" gegeben hat (s.o.) und die Anknüpfung am alltäglichen so ist die Vernachlässigung des WechKraftempfinden einhandelt. selwirkungsaspekts eine Mit-Ursache Wie der vorstehende Abschnitt zu Vordafür. stellungen der Schüler gezeigt hat, ist das alltägliche Kraftempfinden ein unge- Alternativen Von Alternativen darf man nicht gleich eigneter Start auf dem Weg zum physiden ganz großen Durchbruch erwarten. kalischen Kraftbegriff (vgl. [10]). Fast Auch sie haben ihre "Nebenwirkungen". untrennbar vermischt sind dort z.B. Das was an Alternativen vorliegt, verAspekte, die den physikalischen Begrifspricht aber, daß manche Probleme fen Energie, Leistung und Kraftzuzuordganz vermieden, andere jedenfalls nen sind. Das Muskelgefühl ist deshalb gemindert werden. In den Unterrichtsein äußerst tückischer Anknüpfungsmodellen des vorliegenden Themenhefpunkt. Er ist für die Schüler zwar "eintes werden zwei Versuche vorgestellt, leuchtend", leitet aber gar nicht zum den "bewegungsändernden" WirkunBegriff, den der Unterricht im Auge hat. gen und dem Wechselwirkungsaspekt Dies gilt noch aus einem anderen mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Beide Grund. bemühen sich, dies im Rahmen des Das Muskelgefühl unterstützt nämlich durch die Lehrpläne zwangsläufig eindie Vorstellung des Kraft-Habens, also geengten Spielraumes zu tun. Es handie Vorstellung Kraft sei etwas, das eidelt sich in gewisser Weise um Kompronem Körper als eine Eigenschaft zumisse. Sie erfordern zwar ein erheblikommt. Diese Vorstellung muß erst wie ches Umdenken auf Seiten der Lehrer, der sehr mühsam fortgeräumt werden, sie entfernen sich aber auch nicht so weit wenn Kraft als Beziehungsgröße, als vom "Gewohnten", daß sie im Unterricht Wechselwirkungsgröße, angesehen nicht zu realisieren wären. werden soll. Es gibt Alternativen, die sehr viel stärker Nicht allein die Orientierung des mit dem "Gewohnten" brechen. W. Jung Kraftbegriffs am Muskelgefühl, sondern hat beispielsweise eine konsequent an auch die Dominanz formändernder Wirkungen des traditionellen Weges führt zu Bewegungsänderungen anknüpfende Einführung des Kraftbegriffs erarbeitet und in der Schulpraxis erprobt, (s. [11]). Kraftwirkungen werden dabei in eine Folge von Kraftstößen aufgelöst. Durchgesetzt hat sich dieser interessante und fruchtbare Ansatz bislang nicht. Dies dürfte zwei Hauptgründe haben. Erstens weicht der Weg sehr stark vom Gewohnten ab und zweitens kann er auch nur in einem gänzlich neuen Aufbau der gesamten Mechanik sinnvoll realisiert werden. Noch weiter vom Gewohnten entfernt ist das Konzept von G. Falk und F. Herrmann [12]. Kräfte werden als Impulsströme konzeptualisiert. Dieses Konzept löst zwar manche Probleme des Kraftbegriffs aus Physiksicht auf elegante Weise. Es erzeugt aber eine Reihe neuer Verständnisschwierigkeiten. Literatur [I] Vorläufige Richtlinien Physik, Gymnasium, Sekundarstufe l. Schriftenreihe "Die Schule in Nordrhein-Westfalen". Köln: Greven Verlag, 1978 [2] Lehrplan Gymnasium Physik Klasse 6 10 des Landes Schleswig-Holstein, 1976 [3] Stegmüller, W.: Theorie und Erfahrung. Band II, 2. Halbband. Probleme der Wissenschaftstheorie und der analytischen Philosophie. Berlin, Heidelberg: Springer, 1973, 13 und 118 f [4] Nachtigall, D.: Vorstellungen im Bereich der Mechanik. In: Duit, R., Jung, W., Rhöneck, Ch. v. (Hrg.): Alltagsvorstellungen. Naturwissenschaften im Unterricht Physik/ Chemie 34, April 1986, 16-20 [5] Gesetz über Einheiten im Meßwesen vom 2. Juli 1969. Bundesgesetzblatt 1969, Teil 1, 709 [6] Duit, Ft.: Kraft, Arbeit, Leistung, Energie Wörter der Alltagssprache und der physikalischen Fachsprache, physica didactica 10, 1984, 129 - 144 [7] Jung, W., Wiesener, H., Engelhard, P.: Vorstellungen von Schülern über Begriffe der Newtonschen Mechanik. Bad Salzdetfurth: Franzbecker, 1981 [8] Schecker, H.: Das Schülervorverständnis zur Mechanik. Bremen: Universität Bremen, 1985 [9] Warren, J. W.: Unterstanding force. London; J. Murray, 1979 [10] Jung, W.: Zur Einführung des Kraftbegriffs. physica didactica 4, 1977, 171 - 187 [II] Jung, W., Reul, H., Schwedes, H.: Untersuchungen zur Einführung in die Mechanik in den Klassen 3 - 6. Frankfurt/M.: Diesterweg, 1977 [12] Falk, G., Herrmann, F.: Klassische Mechanik in moderner Darstellung. Konzepte eines zeitgemäßen Physikunterrichts, Heft 5. Hannover: Schroedel, 1982 Anregungen für den Unterricht Denkaufgaben zum Kraftbegriff Von Horst Schecker (Bron: Naturwissenschaften im Unterricht Physik/Chemie; Heft 34:Kraftbegriff; Mai 1988; Fachzeitschriften bei Friedrich in Velber in Zusammenarbeit mit Klett, 3016 Seelze) Einleitung In vielen Untersuchungen über "Schülervorstellungen" im Bereich der Mechanik finden sich "Denkaufgaben" zum Kraftbegriff. Im Gegensatz zu "Rechenaufgaben" sind zu ihrer Lösung weniger formale Fertigkeiten als ein entwickeltes qualitatives Verständnis der Begriffe Kraft, Geschwindigkeit oder Beschleunigung erforderlich. Ich habe 9 Denkaufgaben zusammengestellt und überarbeitet. Sie bieten einen vertieften Einblick in die Lernschwierigkeiten von Schülern beim Kraftbegriff, die im Basisartikel von R. Duit nur kurz zusammengefaßt sind. Sie können darüberhinaus klarmachen, daß die Newtonsche Mechanik ein schwieriges Gebiet des Physikunterrichts ist - insbesondere wenn man zunächst versucht, die Aufgaben selbst zu lösen. Viele der Denkaufgaben eignen sich aber auch für die Heranführung der Schüler an die klassische Mechanik. Wie sie zu diesem Zweck verwendet werden können, ist im folgenden näher erläutert. Das Anspruchsniveau der Aufgaben ist nicht gering. Sie eignen sich frühestens für das Ende der Sekundarstufe l, wenn einige Aspekte der Newtonschen Mechanik bereits behandelt worden sind. In voller Tiefe lassen sich die meisten Aufgaben erst auf der Sekundarstufe II diskutieren. Sinn von Denkaufgaben im Unterricht Der Newtonsche Kraftbegriff liegt dem Alltagsdenken fern, ja er erscheint sogar auf den ersten Blick für die Beschreibung von Alltagsvorgängen unangemessen. Die prinzipiellen Unterschiede zwischen ihrem intuitiven Kraftbegriff (Kraft als Stärke/Wirkungsfähigkeit, Geschwindigkeit proportional zur Kraft) und dem Newtonschen Konzept werden den Schülern jedoch selten bewußt. Kraftpfeile in Richtung der momentanen Bewegung haben z.B. im Alltagsdenken über Kraft und Bewegung einen guten Sinn. Die drei Newtonschen Axiome bilden in ihrer kompakten Formulierung für Schüler kaum einen Anlaß, ihr spontanes Denken zu überdenken. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Newtonsche Kraftkonzept im Unterricht auf die Gleichungen 'FAB = -FBA und 'F= m ä (bzw. "Kraft gleich Gegenkraft") verkürzt werden. Diese Gleichungen werden als reine Rechenkalküle ohne Vorstellungshintergrund gehandhabt. Denkaufgaben bieten im Unterricht Anlässe zur Problematisierung und bewußten Verarbeitung der Schülervorstellungen. Sie sprechen direkt die qualitativen Grundlagen des Denkens über den Zusammenhang von Kraft und Bewegung an. Wir müssen den Schülern die Gelegenheit geben, ihre Lösungsansätze frei zu äußern und zunächst untereinander zu vergleichen. Der Lehrer sollte die physikalisch korrekte Lösung nicht vorzeitig von sich aus einbringen oder bestätigen. Er kann die Schülervorschläge stichwortartig an der Tafel festhalten. Die Sichtweise der klassischen Mechanik wird dann, ggf. mit Hinweisen auf typische Fehlvorstellungen, explizit den Schülersichtweisen gegenübergestellt. Dem Physikunterrichtwird es nicht gelingen, die spontanen Kraftvorstellungen der Schüler grundlegend zu ersetzen. Ein realistischeres Ziel, das auch auf der Sekundarstufe II immer noch schwer genug zu erreichen ist, besteht darin, zwischen den beiden Systemen zu unterscheiden und Phänomene zunehmend auch in der wissenschaftlichen Sichtweise zu erfassen. Zur Festigung eines qualitativen Verständnisses der Newtonschen Dynamik kann man das folgende Suchprogramm im Unterricht behandeln, das gleichzeitig die Lösungsprinzipien für die unten vorgestellten Denkaufgaben zusammenfaßt: Aufgabentyp l: Bahnkurve vorgegeben, Kräfte gesucht - Ändert sich der Bewegungszustand des betrachteten Körpers K nach Betrag oder Richtung der Geschwindigkeit? - Nein: An K greift keine resultierende Kraft FR an. Wohl aber können Einzelkräfte Fi auf K einwirken, deren Addition Null ergibt. Für jede Einzelkraft muß ein anderer Körper als Wechselwirkungspartner zu K angegeben werden können (z.B. die Straße, die Erde, eine Zugmaschine). Findet man keinen Wechselwirkungspartner, so handelt es sich um eine "Scheinkraft", die im Newtonschen System nicht berücksichtigt wird. - Ja: An K greift in Richtung der Bewegungsänderung eine resultierende Kraft FR an. Die Einzelkräfte F, die sich zu FR addieren, erhält man, wenn man die Körper sucht, mit denen K durch Zug, Druck, Stoß, Anziehung oder Abstoßung in Wechselwirkung steht. Die F wirken jeweils in Richtung der Verbindungslinien der beiden Körper. Die Addition der Einzelkräfte nach Betrag und Richtung muß FR ergeben. Aufgabentyp II: Körperkonstellation gegeben, zukünftige Bahnkurve gesucht - In welchem Bewegungszustand befindet sich K (Ausgangsimpuls, im wesentlichen Betrag und Richtung der Geschwindigkeit)? - Mit welchen anderen Körpern steht K in Wechselwirkung? - In welchem relativen Verhältnis stehen die Beträge der Einzelkräfte? (z.B. grobe Abschätzung der relativen Beträge von Gravitationskraft und Luftwiderstandskraft) - Addition der Einzelkräfte F zu FR . - Der Bewegungszustand von K (Ausgangsimpuls) wird in Richtung von FR geändert. Der neue Bewegungszustand ergibt sich aus der Addition des Ausgangsimpulses und der Zusatzimpulse, die K erwirbt, solange FR wirkt. Denkaufgaben in Klassenarbeiten Zwei Einwände gegen die Einbeziehung von Denkaufgaben in Klassenarbeiten müssen ernstgenommen werden: 1. Es ist schwerer, Aufgaben zu bewerten, deren Lösung nicht an Zahlenangaben oder hergeleiteten Formeln gemessen werden kann. 2. Rechenautgaben geben auch schwächeren Schülern die Möglichkeit, Punkte zu sammeln. Denkaufgaben setzen das Anforderungsniveau stark herauf. Während Kraftpfeildiagramme noch recht einfach als "richtig" oder "falsch" zu kategorisieren sind, können schon Prognosen über Bewegungsverläufe zu Problemen führen. Die Antwort "Der Schlitten wird langsamer" bei Denkaufgabe 4 (s.u.) kann auf reiner Alltagser- Anregungen für den Unterricht fahrung, ohne jeglicher physikalischer Überlegung beruhen oder Ergebnis von sehr differenzierten Überlegungen zur Impulsänderung durch Luftreibungskräfte sein. Es ist daher wichtig, die Schüler zur expliziten Begründung ihrer Antworten anzuhalten. Erst aus Antwort plus Begründung läßt sich die physikalische Problemlösungskompetenz abschätzen. Ein pragmatisches Argument spricht für Denkaufgaben in Klassenarbeiten: Qualitative Phänomenbetrachtungen werden von Schülern im Vergleich zu Rechnungen leicht als unwichtig, unproduktiv oder gar unphysikalisch abgetan. Dahinter steht die Vorstellung, physikalische Kompetenz drücke sich primär in der Kenntnis von Gesetzesformeln und deren Anwendung aus. Man kann diesen Denkrahmen effektiver aufbrechen, wenn solche Betrachtungen erkennbar in die Bewertung der Schülerleistung eingehen. Die Argumente im zweiten Einwand stimmen mit der Einschätzung durch Schüler überein. Denkaufgaben sind zu Anfang unbeliebt. Sie gelten als schwierig, weil man sich kaum durch Einübung von Musteranworten auf Tests vorbereiten kann. Die Anteile richtiger Lösungen liegen eher niedriger als bei Rechenaufgaben. Aufzufangen ist dies durch eine allmähliche Steigerung der Anteile qualitativer und halbquantitativer Betrachtungen am Unterrichtsgeschehen. Dies muß - ohne daß ich ihre Bedeutung für das Erlernen der exakten Naturwissenschaften damit geringschätze - auf Kosten der Rechenanteile erfolgen. Denn: Formale Fähigkeiten sind unnütz und gehen schnell wieder verloren, wenn ihnen die begriffliche Basis fehlt. Aufgaben 1 bis 3: Kraft und Bewegungsrichtung Wenn eine Bewegung abläuft, so wirkt ständig eine Kraft in Richtung Bewegung, solange die Bewegung anhält. Diese Vorstellung ist Teil des intuitiven Kraftverständnisses vieler Schüler und Studenten. Sie bringen also Kraft mit der Bewegung selbst, nicht mit deren Änderung in Zusammenhang. Die Münzaufgabe (siehe Aufgabe 1) nach Clement [1 ] erscheint so einfach und wird dennoch von Schülern überwiegend falsch beantwortet. Sie zeichnen bei Punkt B eine Kraft nach oben ein und nennen sie "Abwurfkraft" oder "Bewegungskraft". Falls die Gravitationskraft (die einzige an den Punkten B und C tatsächlich angreifende Kraft) bei B berücksichtigt wird, wird sie vom Betrage kleiner angenommen als die "Antriebskraft", denn nur so können die Schüler ihrer Vorstellung genügetun, daß in Richtung der Bewegung immer eine (resultierende) Kraft wirkt. Bei C ist nach Meinung der Schüler die Wurfkraft aufgebraucht, bzw. genauso groß wie Found der Körper fällt wieder. Die Variante in Aufgabe 2 zeigt die eingefrorenen Bewegungen mehrerer Bälle, die sich auf gleicher Höhe befinden. Wiederum ist die Gravitationskraft die einzige und in allen Fällen gleiche, angreifende Kraft. Etwa die Hälfte der von Viennot [2] befragten Schüler und Studenten meinten jedoch, die Kräfte seien nicht gleich, weil die Bälle zum gewählten Zeitpunkt unterschiedliche Geschwindigkeiten bzw. Bewegungsformen hätten. Die Kopplung von Kraft an Bewegung oder Geschwindigkeit statt an Bewegungsänderung zeigt sich besonders deutlich in den Antworten zu Aufgabe 3 [3], Durchgehender Fehler bei Position A ist das Einzeichnen eines Pfeils in horizontaler Richtung der momentanen Bewegungsrichtung, Typische Begründung: "Wenn es diese Kraft nicht gäbe, würde der Ball senkrecht nach unten fallen". Die "Bewegungskraft", ('W) "Trägheitskraft", "Bewegungsenergie" usw. wird z.T. vektoriell mit der Gravitationskraft zu einer nach schräg rechts unten orientierten Gesamtkraft zusammengefügt. Am Punkt B wird zwar meist eine Kraft nach oben eingezeichnet ("Reaktion"); diese wird jedoch dem Betrage nach der Gravitationskraft gleichgesetzt. Kaum ein Schüler oder Student beachtet, daß eine starke resultierende Kraft in Richtung der Bewegungsänderung, also nach oben, auftreten muß. Literatur: [1] J.J. Clement: Student preconceptions in introductory mechanics. American Journal of Physics 50, 1982, 66-71, S. 67. [2] L. Viennot: Spontaneous reasoning in elementary dynamics. European Journal of Science Education 1, 1979, S. 206f [3] J.W. Warren: Understanding Force. London: Murray 1979 [4] W. Jung, H. Wiesner, P. Engelhard: Vorstellungen von Schülern über Begriffe der Newtonschen Mechanik. Bad Salzdetfurth: Franzbecker 1981, S. 60. [5] H. Schecker: Das Schülervorverständnis zur Mechanik. Dissertation, Universität Bremen 1985, S. 307f. [6] H. Schecker: a.a.O., S. 462ff. [7] W. Jung, H. Wiesner, P. Engelhard. a.a.O., S, 41. [8] J.W. Warren. a.a.O., S. 36. [9] M. McCIoskey: Irrwege der Intuition in der Physik. Spektrum der Wissenschaft, Juni 1983, 88-99, S. 91. [10] A.B. Arons: Thinking, reasoning and understanding in introductory physics courses. The Physics Teacher 19, 1981, 166-172, S. 169. A Aufgaben 4 und 5: Bewegung nach Fortfall des Bewegers Auch an diesen Aufgaben kann man die schon erläuterte Vorstellung "Ohne Kraft keine Bewegung" im Unterricht abarbeiten. Ein häufiger Fehler bei den Aufgaben 4 und 5c ist nämlich die Annahme, die (Horizontal-) Bewegung komme ziemlich abrupt zum Stillstand, nachdem der Gewichtsüberschuß, bzw. der Mast als "Beweger" keine "bewegende" Kraft mehr ausübt. Aufgabe 4 [4] wird zudem oft als ein Gleichgewichtsproblem betrachtet. Dies führt zu der Antwort, der Schlitten gleite bei gleichen Gewichten zur Mitte zurück, bzw. pendele sich in der Mitte ein. Ein Fünftel von 254 befragten Elftklässlern schrieben, derSchlitten gleite langsam aus. Die abstrahierende Annahme einer vollkommen reibungsfreien Bewegung stellt für Schüler eine große Hürde dar. Bei einer Besprechung der Aufgabe kam der Einwand: "Ja, wenn da wirklich überhaupt keine Reibung wäre, dann würde der vielleicht weiterfahren. Aber ein bißchen Reibung ist immer da." [5] Die Bedeutung des Trägheitssatzes (1. Newtonsches Axiom) für irdische Bewegungen wird von Schülern vielfach unterschätzt, weil sie die Unterscheidung zwischen Einzelkräften und der Resultierenden nicht beachten. Aufgabe 5a [6] greift diesen Punkt auf. Aussage l, die der Alltagsauffassung nahekommt, ist an ein Zitat von Aristoteles angelehnt. Aussage II stammt nahezu wörtlich aus Newtons 'Principia'. In einer der wenigen treffenden Schülerlösungen wurde der Unterschied so auf den Punkt gebracht: "Therorie l setzt die Reibungskraft als immer gegeben voraus. Sie ist in der Antriebskraft nicht enthalten. Theorie II berücksichtigt eine Reibungskraft als einwirkende Kraft." Nach Aussage l müßte eine Landestelle in der Nähe des Hecks eingezeichnet werden; das Schiff fährt unter dem antriebslosen Stein weg. Bei Aussage II ergibt sich eine Landestelle am Mastfuß, wo der Stein - sieht man vom Drehimpuls des Steins bezüglich des Erdmittelpunkts und eventuellen orkanartigen Winden ab - auch tatsächlich auftrifft. In den Antworten zu Teil c findet man jedoch überwiegend eine Landestelle am Heck. Ursachen sind neben dem Wegfall des Bewegers eine Überschätzung der Luftreibungskraft und die mangelnde Beachtung des Bezugssystems Schiff. Aufgaben 6 und 7: Reibung als Kraft. Häufig wird die Reibung von den Schülern nicht als Kraft angesehen. Es muß im Mechanikunterricht besonders hervorgehoben werden, daß Reibung nicht einfach ein "Widerstand" oder "Hemmnis" für Bewegungen ist, sondern eine Kraft, die vollkommen gleichrangig neben anderen Kräften steht und mit diesen zu bilanzieren ist. In Aufgabe 6 [7] greift am Klotz neben der Gravitationskraft eine nach links oben gerichtete Haftreibungskraft an, die Schüler aus folgenden Gründen oft unbeachtet lassen: - Es ist kein "aktiver" Körper da, der diese Kraft ausübt (Die Unterlage der schiefen Ebene ist "passiv"). - Der Klotz bewegt sieht nicht; wie soll also Reibung auftreten? - Der Klotz liegt fest; Ruhe braucht man nicht durch Kräfte zu erklären. Die Summe der am Klotz angreifenden Kräfte (Gravitationskraft, Unterstützungskraft durch die Unterlage, und Haftreibungskraft) ist Null, denn der Klotz wird nicht beschleunigt. Daß auch Haftreibungskräfte eine beschleunigende Wirkung haben können, soll an Aufgabe 7 erarbeitet werden [8]. Voraussetzung ist die Einsicht, daß es sich bei einer Kreisbewegung mit konstantem Tempo um eine beschleunigte Bewegung handelt, deren Richtung ständig von einer zum Zentrum gerichteten resultierenden Kraft geändert wird. Typische Fehler bei Aufgabe 7: - Die resultierende Kraft zeigt nicht nach innen, sondern in Fahrtrichtung nach außen. - Eine von Schülern angenommene Reibungskraft liegt grundsätzlich entgegengesetzt zur Fahrtrichtung. (Reibung heißt "Widerstand"). - Eine (Haft-) Reibungskraft der "passiven" Straße auf die Reifen, die das Auto nach innen beschleunigt, wird nicht für möglich gehalten. - Es wird eine "Zentrifugalkraft" nach außen eingezeichnet, - Die Summe der angegebenen Einzelkräfte ergibt nicht die eingezeichnete Resultierende. Aufgabe 8: Die "Zentrifugalkraft" Bei Aufgabe 8 wird sehr oft an der Kugel eine nach außen gerichtete Kraft eingezeichnet (s.a. Aufgabe 7). Die Annahme dieser "Zentrifugalkraft" geht auf Körpererfahrungen bei Karussellfahrten oder Kurvenfahrten in Autos zurück. Die Schüler versetzen sich bei Kreisbewegungen gedanklich stets auf den beschleunigten Körper. Es gehört zu den schwierigsten Aufgaben im Mechanikunterricht, die "Zentrifugalkraft" zu problematisieren. Sie genügt nicht dem Newtonschen System, denn nach dem Wechselwirkungsprinzip müssen immer zwei Wechselwirkungspartner identifizierbar sein. Welcher Körper aber übt die Zentrifugalkraft aus? Die Kraft, die an der Hand des Schleuderers angreift, ist ebenfalls nicht die Zentrifugalkraft, sondern die Wechselwirkungskraft zur Kraft des Schleuderes auf den Faden, der die Kugel auf die Kreisbahn zwingt. Die Gravitationskraft wird durch eine gegengleiche Komponente der Fadenkraft kompensiert, so daß als Resultierende die Zentripetalkraft übrigbleibt. Wenn der Faden reißt, findet keine Radialbeschleunigung mehr statt und die Kugel vollführt in der Projektion auf die Blattebene eine geradlinige gleichförmige Bewegung. McCIoskey [9] fand bei einem Drittel der Antworten jedoch weiterhin eine gekrümmte Bahn, so als speichere die Kugel die Kreisbewegung als innere Bewegungstendenz. Nur die Hälfte der Schüler zeichnete die korrekte Bahnkurve. . Aufgabe 9: Kraftausübung und Aktivität Eine bereits mehrfach angesprochene Schülervorstellung lautet, nur "aktive" Körper wie Menschen, gespannte Federn oder bewegte Dinge, übten "wirkliche Kräfte" aus, während "passive Körper, die nur so daliegen" (Straßenbeläge, Tische usw.) lediglich "Widerstand" leisten. Dies führt bei Aufgabe 9 (10] zu dem Einwand: "Wie kann der Tisch auf das Buch eine Kraft ausüben? Er hat doch keine Kraft." Am Buch greift neben der Gravitationskraft die Unterstützungskraft durch den Tisch an. Diese ist Reaktionskraft (besser "Wechselwirkungskraft") zu der Kraft, die das Buch auf den Tisch ausübt. Schließlich darf die Unterstützungskraft des Bodens auf die Tischbeine nicht vergessen werden.