Univ.-Prof. Dr. Verena Krieger: Einführung in die Ikonologie Handout zu 4. Aby Warburg – Kunstgeschichte als Kulturwissenschaft II „Psychohistorik“ Themen: - Rezeptionsweisen von Bildern zwischen „Einverseelung“ vs. „Distanzschaffen“ Spannung zwischen magischer und aufgeklärt-wissenschaftlicher Haltung zu Bildern Beispiele: Astrologiegläubigkeit der frühen Neuzeit und das Schlangenritual der Hopi-Indianer Warburgs Theorie des „sozialen Gedächtnisses“ Warburgs Symboltheorie Die Funktion der Bilder für das „soziale Gedächtnis“ Bilder: - Domenico Ghirlandaio, Profane und mythologische Szenen in der Grabkapelle Francesco Sassettis in S. Trinità, Florenz, 1482-85 Raffael, Madonna mit dem Stieglitz, 1506, Uffizien, Florenz Hildegard von Bingen, der Kosmosmensch (Zokiakusmensch), Anfang 14. Jh Zodiakusmensch, Italien, 15. Jh Zodiakusmensch aus Steffen Arndes, Nyge Kalender, 1519 Saturnkinder, Handschrift, undatiert Marskinder, Handschrift, 1404 Francesco Cossa, Monatsbild des März, Sala grande, Palazzo Schifanoia, Mantua, Mitte 15. Jh. Himmel mit Sternbildern im Altargewölbe der Alten Sakristei von S. Lorenzo, Florenz, 15. Jh. Baldassare Peruzzi, Sternhimmel mit den Sternbilder Perseus und Pegasus im Gewölbe der Villa Farnesina (Geburtskonstellation von Agostino Chigi), Rom, 1510/11 Raffael, Kuppel der Cappella Chigi in S. Maria del Popolo, Rom mit Darstellung von Gottvater, den Planeten und der Fixtsterne, um 1516 Grafik der Reformationszeit mit astrologischen Weissagungen: Johann Carion, Prognosticatio, 1521; Leonhard Reymann, Practica für 1524; Saturn aus Nyge Kalender, 1519 Sebastian Brant, Die Wundersau von Landser, Holzschnitt, 1496 Albrecht Dürer, Die Sau von Landser, Kupferstich, um 1496 Albrecht Dürer, Melencolia I, Kupferstich, 1504 Büste des Francesco Sassetti Fotos aus Warburgs Buch „Schlangenritual“: Warburg und Hopi-Indianer, Warburg-Fotos von rituellen Tänzen der Hopi Antiker Heilgott Asklepios Die eherne Schlange und Kreuzigung (aus einem Speculum Humanae Salvationis) Verschiedene Beispiele für historische und zeitgenössische Gebrauchsgrafik, u.a. Briefmarke, astrologische Propaganda, Werbung Tafel aus dem Mnemosyneatlas mit Delacroix‘ Medea, Mänaden, Golfspielerin u.a. (Hochkunst und Gebrauchsgrafik) - Tanzende Mänade Magd in Ghirlandaios Fresko „Geburt Johannes d. Täufers“ im Hochaltar von S. Maria Novella, Florenz, von Warburg als „Ninfa fiorentina“ bezeichnet Sandro Botticelli, Judith, Kupferstich Golfspielerin als moderne „Ninfa“, Zeitungsfoto (Im Mnemosyneatlas) Erster Dekan des Märzfreskos (sog. Perseus) im Palazzo Schifanoia, Ferrara Namen: Karl Lamprecht Hermann Usener Friedrich Theodor Vischer Agostino Chigi Philipp Melanchthon Martin Luther Albrecht Dürer Ernst Cassirer Henri Hubert Marcel Mauss Edward B. Tylor Maurice Halbwachs Richard Semon Begriffe: Mikro-Makrokosmos-Schema Zodiakusmensch Planetenkinderbilder Begriffe und Zitate Warburgs: Unternimmt an Francesco Sassetti den „Versuch einer Synopsis von Lebensgefühl und Kunststil“ Bilder enthalten „seelische Schwingungen“ menschlicher Leidenschaft, die im Betrachter ein analoges Mitschwingen, ein „Einverseelen“ hervorrufen können Das „einfühlende Bildgedächtnis“ kann sich von den in den antiken Bildern gespeicherten dämonischen Energien ergreifen lassen, es kann diese aber auch einbinden, bändigen und veredeln Dürers Melencolia I deutet Warburg in diesem Sinne als „künstlerisch-vergeistigende Umformung“ des astrologischen Gedankenguts seiner Zeit Damit versucht Dürer (ähnlich wie Luther) „den Denkraum der Besonnenheit zwischen sich und dem Objekt zu erringen“ Tagebucheintrag vom 3.4.1929: "Manchmal kommt es mir vor, als ob ich als Psychohistoriker die Schizophrenie des Abendlandes aus dem Bildhaften in selbstbiographischem Reflex abzulesen versuche..." die Schlange als Symbol durchläuft in der abendländischen Kultur einen allmählichen „Sublimierungsprozess“ über zahlreiche Zwischenglieder „vom Fetischismus zur reinen Erlösungsreligion“ Der „Denkraum“, den symbolisches und mythisches Denken sich über Jahrhunderte erkämpft haben, wird durch die moderne „Augenblicksverknüpfung“ wieder zerstört Warburgs Ziel ist ein „Ausgleich“ zwischen den Polen „Einverseelung“ (magisches Bildverhältnis) und „Distanzschaffen“ (aufgeklärtes Bildverhältnis) Manche Bilder sind „Ausgleichserzeugnisse“, „Ausgleichsformeln“, „Ausgleichssymbole“ Alle künstlerische Gestaltung bewegt sich an den „Grenzpolen des psychischen Verhaltens“ zwischen „ruhiger Schau oder orgiastischer Hingabe“, zwischen „einschwingender Phantasie und ausschwingender Vernunft“. Innerhalb dieser Pendelbewegung hat das „bewusste Distanzschaffen“, also die aufklärerische Haltung die Aufgabe, als ein unverzichtbarer „Grundakt menschlicher Zivilisation“ zu wirken. Künstlerisches Gestalten kann zu solcher Erzeugung von „Distanzbewusstsein“ grundlegend beitragen, jedoch, wie im Falle der astrologischen Bilder deutlich wird, auch in gegensätzlicher Richtung wirken. Darin liegt der Doppelcharakter von Bildern: Sie sind einerseits „Ausdruck“ der widerstreitenden seelischen Energien, können andererseits auch im Dienste des „Ausgleichs“ zwischen ihnen stehen. „Du lebst und tust mir nichts“ (Motto von Warburgs gesammten Fragmenten zur Kunstpsychologie) „soziales Gedächtnis“ Maurice Halbwachs: „mémoire collective“ (Kollektives Gedächtnis) Richard Semon: „Engramm“ (energetische Spuren in einem Organismus) Warburg: Die „Ausdrucksformen des maximalen inneren Ergriffenseins“ sind „Engramme leidenschaftlicher Erfahrung“, die sich als „gedächtnisbewahrtes Erbgut“ im Gedächtnis der Menschheit einprägen „Inversion“ (Umformung von traditionellen Pathosformeln durch Bedeutungswandel, Säkularisierung, Banalisierung o.ä., Beispiel Ninfa) Erwähnte Literatur: Aby M. Warburg, Einleitung zum Mnemosyne-Atlas (1929), in: WGS Bd. II, 1, S. 3-6 Aby M. Warburg, Notizen zur „Ninfa fiorentina“ (1900), unter dem Titel „Fragmente zum Nymphenprojekt“ in: Werke in einem Band, hg. von Martin Treml/ Sigrid Weigel und Perdita Ladwig, Berlin 2010, S. 198-210; siehe hierzu auch: Kap. „Das Nymphenfragment“ in Gombrich 1992, S. 141-164 Aby M. Warburg, Eine astronomische Himmelsdarstellung in der alten Sakristei von S. Lorenzo in Florenz (1911), WGS, Bd. I, 2, S. 169-172 Aby M. Warburg, Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten (1920), WGS, Bd. I, 2, S. 487-558 Aby M. Warburg, Orientalisierende Astrologie (1926), WGS I, 2, S. 559-565 Aby M. Warburg, Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer in Nord-Amerika, in: Schlangenritual. Ein Reisebericht. Mit einem Nachwort von Ulrich Raulff, Berlin 1988 Friedrich Theodor Vischer, Das Symbol (1887), in: Symbol. Grundlagentexte aus Ästhetik, Poetik und Kulturwissenschaft, hg. von Frauke Berndt und Heinz J. Drügh, Frankfurt am Main 2009, S. 200-214 Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la mémoire, Paris 1925, dt.: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, übersetzt von Lutz Geldsetzer, Berlin/Neuwied 1966 Lektüreempfehlung: Aby M. Warburg, Einleitung zum Mnemosyne-Atlas (1929), in: WGS Bd. II, 1, S. 3-6; auch in: Ilsebill Barta Fliedl/Christoph Geissmar (Hg.), Die Beredsamkeit des Leibes. Zur Körpersprache in der Kunst, Salzburg/Wien 1992, S. 171-173 – sowie den Kommentar dazu: Ilsebill Barta Fliedl, „vom Triumph zum Seelendrama. Suchen und Finden oder Die Abentheuer eines Denklustigen“. Anmerkungen zu den gebärdensprachlichen Bilderreihen Aby Warburgs, in: Dies./Christoph Geissmar (Hg.), Die Beredsamkeit des Leibes (wie oben), S. 165-170