Gruppe als Gedächtnismedium

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Gruppe als Gedächtnismedium zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip in Emma
Braslavskys Aus dem Sinn (2007)
Inhaltsverzeichnis
Seite
1 Zielsetzung …………………………………………………………….…….. 3
2 Methodologischer Ansatz und Forschungsstand …………………….….... 5
2.1 Zum aktuellen Gedächtnisdiskurs (Literatur und Gedächtnis) …………………….. 5
2.1.1
Begriff ‚Memoire collective‘ von Maurice Halbwachs …………….……. 6
2.1.2
Das ‚kulturelle Gedächtnis‘ von Aleida und Jan Assmann ………….....… 10
2.1.3
‚Lieux de memoire‘ von Pierre Nora ……………………………………... 15
2.1.4
Erinnerungskulturen ……………………………………………………..... 17
2.2 Strukturmerkmale einer ‚geschlossenen Gesellschaft‘ …………………………….. 20
2.3 Flucht und Vertreibung als geschichtliches Phänomen ……………………………. 24
3 Emma Braslavskys Aus dem Sinn in narratologischer Perspektive …….. 28
3.1 Zur Erzählperspektive …….…………………..…………………………………….. 28
3.1.1
Kindheitserinnerungen - Eduard Meißerl als autodiegetischer Erzähler .… 28
3.1.2
Die Position des heterodiegetischen Erzählers ………………………...….. 32
3.2 Figurenkonstellationen …..…………………………………………………………. 34
3.2.1
Paul Händl als ideologischer Wortführer der Sudetendeutschen und Eduard
Meißerls Interessenlosigkeit ……………………………………………... 34
3.2.2
Zum Vertriebenenschicksal Ella Meißerls ……………………………….
38
3.3 Raumstruktur …………….….…………………………………………………….. 41
3.3.1
Die tschechische Stadt Tuschkau als ein ‚Erinnerungsort‘
der Sudetendeutschen ……………………………………………………… 42
3.3.2
Die Erfurter Realität der 'geschlossenen' Gesellschaft …………………….. 44
3.3.3
Prag als Symbol des Unabhängigkeitskampfes ………………………….
1
47
4 Fazit - Literarische Sudetendeutsche als Medium des kollektiven
Gedächtnisses ……………………………………………………………… 51
5 Anhang – Biographische Angaben zu Emma Braslavsky ………………… 54
6 Literatur …………………………………………………………………..…. 56
6.1 Primärliteratur …………………………………………………….……………… 56
6.2 Sekundärliteratur ………………………………………………………….……... 56
2
1 Zielsetzung
Bereits seit der Mitte des letzten Jahrhunderts beschäftigt sich die Wissenschaft mit dem Phänomen
des kollektiven Gedächtnisses und der kulturellen Bedingtheit individueller Erinnerung. Die
Aufgabe der vorliegenden Arbeit ist es, an einem konkreten Beispiel des Romans einer deutschen
debütierenden Autorin Emma Braslavsky Aus dem Sinn, aufzuzeigen, in wie weit das individuelle
Gedächtnis von dem kollektiven Gedächtnis determiniert wird. Im Mittelpunkt des Interesses soll
hierbei auch der übergreifende Themenkomplex Flucht und Vertreibung stehen, zusätzlich
eingeschränkt auf die Gruppe der sudetendeutschen Zwangsaussiedler.
Im zweiten Kapitel wird der theoretische Bezugsrahmen für die Diplomarbeit festgelegt. Zunächst
werden die Grundbegriffe Erinnerung und Gedächtnis angeführt. In den folgenden Kapiteln werden
die weiteren Termini charakterisiert: das ‚kollektive Gedächtnis‘ von Maurice Halbwachs, die sog.
‚Erinnerungsorte‘ Pierre Noras und das von Aleida und Jan Assmann erarbeitete ‚kulturelle‘ und
‚kommunikative Gedächtnis‘. Relevant ist dabei auch der aktuelle Gedächtnisdiskurs, der im
Rahmen des Projekts Sonderforschungsbereich 434 Erinnerungskulturen erörtert wird. Es ist hier
auf die Beteiligung der autobiographischen Erinnerung an der Konstruktion vom subjektiven und
kollektiven Gedächtnis hinzuweisen. Der inhaltlich sachlichen Auseinandersetzung folgt die
Erörterung von Strukturmerkmalen der ‚geschlossenen Gesellschaft‘. Anhand des vorliegenden
Textes wird zugleich die DDR-Gesellschaft als Beispiel für diese Form des sozialen Lebens
dargestellt. Im weiteren Teil des Kapitels werden die Phänomene Flucht und Vertreibung dargelegt.
Es ist auch auf die Art und Weise, wie der o.g. Ausschnitt aus der Geschichte im Rahmen der
geschlossenen DDR-Wirklichkeit behandelt wird, hinzuweisen.
Mit den sog. erzählten Welten in der narratologischen Perspektive befasst sich das letzte
Unterkapitel des theoretischen Ansatzes.
Der dargestellte Forschungsstand gilt als eine Basis für die Analyse des Romans Aus dem Sinn, der
im narratologischen Kontext untersucht wird. Das dritte Kapitel behandelt die Erzählperspektiven,
Figurenkonstellationen und die Raumstruktur des Romans. Hier wird das Leben einer kleinen
Gemeinde vertriebener Sudetendeutscher in der DDR-Gesellschaft der Nachkriegsjahre dargestellt.
Es ist zu fragen, wie diese durch Missbrauch und Verfolgung gekennzeichnete Bevölkerungsgruppe
3
in einer neuen Gesellschaft fundiert wird. Die an gemeinsames Schicksal gebundenen
Erinnerungen, die im Rahmen des kollektiven sudetendeutschen Gedächtnisses funktionieren und
über die Zukunftsperspektiven der von Braslavsky erschaffenen Figuren entscheiden, werden einer
genaueren Betrachtung unterzogen. Im Anschluss daran wird auf die Notwendigkeit von
Erinnerung in Bezug auf ihre sinnstiftende Funktion eingegangen. Im letzten Unterkapitel soll auch
die Einflussnahme eines totalitären Herrschaftssystems auf die Gestaltung von Geschichtsbildern
erläutert werden.
Das Kapitel 4 fasst abschließend die wichtigsten Erkenntnisse zusammen und gibt Antwort auf die
zentrale Frage dieser Arbeit. Es wird zu bestimmen sein, welcher Zusammenhang zwischen der
individuellen und der kollektiven Erinnerung besteht und warum die Gruppe der heimatvertriebenen
Sudetendeutschen als ein Gedächtnismedium gelten kann. Besonderes Augenmerk ist auf die
Begriffe des Eigenen und des Fremden zu richten. Das Reflektieren über Identität, Fremdheit und
über die daraus resultierenden gesellschaftlichen Abgrenzung und Stereotypisierung, die mit der
vorurteilsbeladenen Wahrnehmung des ‚Anderen‘ einhergeht, werden zum Fokus dieser
Diplomarbeit.
Im Anhang werden einige biographische Bemerkungen zu dem Leben der Autorin präsentiert.
4
2 Methodologischer Ansatz und Forschungsstand
2.1 Zum aktuellen Gedächtnisdiskurs
Die Themenbereiche des Gedächtnisdiskurses, das im 20.Jahrhundert mit den Werken Maurice
Halbwachs
seinen
Anfang
genommen
hat
und
im
21.Jahrhundert
mit
intensiven
Auseinandersetzungen anderer Wissenschaftler Anklang findet, sind sehr gegenwartsbezogen.
Mit dem Forschungsschwerpunkt Gedächtnis, Erinnerung und Identitätsbildung wird ein breites
Feld für die Gedächtnisforschung, Sozialpsychologie, Literaturwissenschaft und andere
wissenschaftlichen Disziplinen eröffnet. Die Frage, die in den Vordergrund tritt, ist die Frage nach
dem Wesen und der Bedingtheit der Erinnerung.
Es muss in erster Linie darauf hingewiesen werden, dass die Erinnerungen keine Abbilder der
vergangenen Realität sind. Die Bilder, die mittels Erinnerung vermittelt werden, sollen demzufolge
nicht als ein festes Konstrukt sondern als eine unvollständige und, so Carsten Gansel, deformierte
Re-Konstruktion der Vergangenheit betrachtet werden. Über die Gestalt der gegebenen
Reminiszenzen entscheidet die Situation, in der erinnert wird. Die Art und Weise der Wahrnehmung
und der Bewertung bzw. Interpretation hängt jeweils von der Perspektive der Gegenwart ab. Dieser
Feststellung liegt das Prinzip zugrunde, dass der zeitliche Abstand zwischen der Vergangenheit und
dem Zeitpunkt, an dem die vergangenen Inhalte erinnert werden, zu den Verformungen der
Erinnerungen beiträgt.1 Darüber hinaus wird einerseits die Einwirkung der gesellschaftlichen
Deutungsmuster auf die Verarbeitung der Vergangenheit des Subjekts und andererseits die
psychische Befindlichkeit des erinnernden Individuum2 akzentuiert. Es ist in diesem
Zusammenhang zwischen den Erinnerungen, die über keine besondere emotionale Qualität
verfügen, und den traumatischen Erinnerungen zu differenzieren. 3
Sowohl das Verhältnis zwischen den individuellen Erinnerungen, dem kollektiven Gedächtnis und
der Kultur als auch die Prozesse des Überganges von dem Individuellen in das Soziale und deren
1
Vgl., Gansel, Carsten: Zwischen offiziellem Gedächtnis und Gegen-Erinnerung- Literatur und kollektives Gedächtnis
in der DDR. In: Gansel, Carsten (Hg.): Gedächtnis und Literatur in den >geschlossenen Gesellschaften< des RealSozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen: V&R unipress 2007, S.7-9.
2
Ebd., S.9.
3
Ebd., S.7-10.
5
Neustrukturierung werden in nachfolgenden Kapiteln dargelegt.
2.1.1 Der Begriff ‚memoire collective‘ von Maurice Halbwachs
Der französische Soziologe Maurice Halbwachs nimmt einen wichtigen Platz in dem
Gedächtnisdiskurs ein. Er hat als einer der Ersten das Phänomen ‚kollektives Gedächtnis‘ im
Rahmen einer modernen Kulturtheorie untersucht.
Der Begriff ‚memoire collective‘ ist auf Halbwachs zurückzuführen. Der von ihm entwickelte
Begriff besagt, dass die Vergangenheit sozial konstruiert ist. Seine Interpretation des Gedächtnisses
als ein soziales Phänomen hat sich aufgrund des Studiums bei H.Bergson und E.Durkheim
herausgebildet. Henry Bergson, ein französischer Philosoph und Nobelpreisträger für Literatur
1927, befasste sich mit dem Begriff Gedächtnis. Emile Durkheim, ein französischer Soziologe und
Ethnologe, entfaltete den Begriff des Kollektivbewusstseins.
Einen zentralen Platz in seinen Werken nimmt die soziale Bedingtheit des Gedächtnisses ein. Ein
Individuum hätte nach Halbwach kein Gedächtnis. Es wird erst im Prozess seiner Sozialisation als
solches erworben. Der Einzelne verfügt demnach über ein individuelles Gedächtnis, das aber
kollektiv geprägt wird. Halbwachs hebt hervor, dass auch die persönlichen Erinnerungen lediglich
durch Kommunikation und Interaktion im Rahmen sozialer Gruppen entstehen.
Kollektives
Gedächtnis ist organisch und bildet sich im Horizont eines soziokulturellen Umfeldes heraus. Es ist
ein infolge der Interaktion, Kommunikation, Institutionen und Medien resultierte Bezug auf das
Vergangene.4
Halbwachs definiert 3 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses. Mit der ersten Dimension hängt
der von dem Soziologen eingeführte Begriff ‚cadres socieux‘ (soziale Bezugsrahmen) zusammen.
Cadres socieux ist eine unbedingt notwendige Voraussetzung für jede individuelle Erinnerung.
Damit hat er die These von sozialer Bedingtheit der Erinnerung aufgestellt. Jeder Mensch ist ein
soziales Wesen und gehört mehreren sozialen Gruppen an: der Familie, der Religionsgemeinschaft,
der Belegschaft am Arbeitsplatz, der Studentengruppe an der Universität usw. und er wird innerhalb
dieser Gruppen geprägt, weil er zu kommunizieren und zu interagieren braucht. Der einzelne
Mensch braucht demnach andere Menschen, sonst hätte er keinen Zugang
zu den sozialen
Phänomenen wie Sprache oder Sitten. Seine persönliche Erinnerung wird, so Halbwachs, durch die
Überlieferung von Fakten, Daten und Vorstellungen durch andere Menschen organisiert. Durch
diese ständige Vermittlung nehmen die Menschen an einer symbolischen Ordnung teil. Sie
4
Vgl., Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B.Metzler 2005, S.14-15.
6
partizipieren am kollektiven Gedächtnis. Im Rahmen einer Gruppe bzw. Gemeinschaft werden
Erfahrungen ausgetauscht und bestimmte Denk- und Erfahrungsströmungen vermittelt. Die daraus
abgeleiteten sozialen Rahmen im metaphorischen Sinne, sog. Denkschemata, leiten die menschliche
Wahrnehmung und Erinnerung in bestimmte Bahnen. Durch cadres socieux wird ein umfassender
Horizont gebildet, der aus der mentalen, materiellen und sozialen Sphäre kultureller Formationen
zusammengesetzt ist. In diesen Horizont ist die Wahrnehmung und Erinnerung der Einzelnen
eingebettet. Die Erinnerung wird nach Halbwachs durch ‚cadres‘ konstituiert und stabilisiert. 5
Das kollektive Gedächtnis ist nach Halbwachs keine „überindividuelle, von organischen
Gedächtnissen losgelöste Instanz“.6 Der Soziologe liegt einen besonderen Akzent auf die Beziehung
zwischen dem kollektiven und individuellen Gedächtnis, die sich durch wechselseitige
Abhängigkeit gekennzeichnet, so dass „das Individuum sich erinnert, indem es sich auf den
Standpunkt der Gruppe stellt, und das Gedächtnis der Gruppe sich verwirklicht und offenbart in den
individuellen Gedächtnissen“.7 Das wirklich Individuelle resultiert erst aus der Kombination der
Gruppenzugehörigkeiten. „Individuell ist es im Sinne einer je einzigartigen Verbindung von
Kollektivgedächtnissen als Ort der verschieden gruppenbezogenen Kollektivgedächtnisse und ihrer
je spezifischen Verbindung.“8 Von dem Individuum aus gesehen stellt sich das Gedächtnis als eine
Ansammlung dar, die sich aus mehreren verschiedenartigen Gruppengedächtnissen ergibt.
Die zweite Dimension bezieht sich auf das sog. Generationengedächtnis; ein Familiengedächtnis,
das intergenerationell ist, weil verschiedene Generationen in einer Familie die Erfahrungen
austauschen können. Die Familie wird als eine Gruppe bzw. Gemeinschaft betrachtet, in der nicht
nur eine, sondern mehrere Generationen an dem Gedächtnis beteiligt sind. Es wird dabei darauf
hingewiesen, dass im Rahmen einer Familie durch den andauernden Austausch der Erinnerungen
die individuellen Gedächtnisse aller Familienmitglieder geprägt werden. Das Familiengedächtnis
wird einerseits durch soziale Interaktion wie gemeinschaftliche Handlungen oder geteilte
Erfahrungen
uns andererseits durch die Kommunikation konstituiert. Die Kommunikation
innerhalb einer Familie zeigt sich dadurch, dass die Vergangenheit durch gemeinsames Wiederholen
vergegenwärtigt wird.
Halbwachs grenzt dabei das Generationengedächtnis von der Zeitgeschichte ab. Die Begriffe
‚Geschichte‘ und ‚Gedächtnis‘ schließen sich einander aus. Die Geschichte ist universal d.h. sie
bildet eine unparteiische gleichrangige Reihenfolge von allen vergangenen Ereignissen, die nur auf
5
Vgl., Ebd.
Ebd., S.16.
7
Ebd., S.16.
8
Assmann Jan Das kulturelle Gedächtnis: 5.Aufl., C.H.Beck 1999, S. 35.
6
7
Gegensätze und Brüche fokussiert ist. Das kollektive Gedächtnis ist hingegen partikular. Seine
Träger sind, so Halbwachs, zeitlich und räumlich begrenzte Gruppen. Die Erinnerung innerhalb
dieser Gruppen wird hierarchisiert und bewertet. Dadurch ergibt sich die zentrale Funktion dieses
Vergangenheitsbezugs, die Identitätsbildung. Die Bewahrung der Identität erfolgt durch die
Erinnerungen, die den Interessen der Gruppe entsprechen. Erinnert werden die Ähnlichkeiten und
Kontinuitäten, durch die die Gruppe konstant bleibt. Das Generationengedächtnis steht in fester
Verbindung mit dem aus der englischer Sprache stammenden Begriff ‚Oral History‘. Dadurch wird
die Eigenart dieses Gedächtnisses charakterisiert, weil die Erfahrungen unter Familienmitglieder als
Träger im größten Teil mündlich überliefert und ausgetauscht werden.
Die dritte Dimension wird durch das kulturelle Gedächtnis konstruiert, wobei es betont werden
muss,
dass
diese
Theorie
des
‚kulturellen
Gedächtnisses‘
von
einem
deutschen
Kulturwissenschaftler, Religionswissenschaftler und Ägyptologen Jan Assmann entwickelt wurde.
Halbwachs weitet dabei den Begriff der memoire collective auf den Bereich kultureller
Überlieferung und Traditionsbildung aus.9 Das kulturelle Wissen wird im Rahmen des kulturellen
Gedächtnisses tradiert, gestiftet und gepflegt.
Das Kollektivgedächtnis muss auf der Konzeption der Konkretheit beruhen. Ein Begriff und eine
Erfahrung müssen eine konkrete zusammengefügte Form darstellen, um sich in der Erinnerung
einer Gruppe durchzusetzen. Die Form offenbart sich als ein Ereignis, eine Person, ein Gegenstand,
ein Ort. Um sich der Begrifflichkeit nach Halbwachs zu bedienen, sind es die sog.
‚Erinnerungsbilder‘. Bei Assmann wird der Begriff ‚Erinnerungsfiguren‘ eingeführt. Der Begriff
des ‚Bildes‘ wird durch den Begriff der ‚Figur‘ ersetzt, weil es sich hier nicht nur um „ikonische,
sondern auch narrative Formung“10 handelt. Die Erinnerungsfiguren lassen sich durch drei
Hauptmerkmale bestimmen: durch den konkreten Bezug auf Zeit und Raum, durch den konkreten
Bezug auf eine Gruppe und durch die Rekonstruktivität. Zu dem Raum gehört auch die ganze Welt
der Dinge, die das Ich umgibt, sog. ‚entourage matériel‘. Diesen Raum bilden Geräte, Möbel,
Räume aber auch ihre bestimmte Anordnung. Durch diese konkrete Orientierung des kollektiven
Gedächtnisses kristallisieren sich seine Bezugsrahmen. Der Raum wird auch sozial geprägt, weil
seine Bestandteile ihr Wert und ihr Preis haben. Die Neigung, sich Orte zu gestalten und zu sichern,
entspricht dem Bedürfnis zur Verräumlichung innerhalb der Gemeinschaften. Es wird dabei auf die
Symbole ihrer Identität hingewiesen. Die Räume werden zugleich auch zu den Anhaltspunkten ihrer
Erinnerung. Mit den Raum- und Zeitbegriffen des kollektiven Gedächtnisses hängen die
9
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B.Metzler 2005, S.14-15.
Vgl. Assmann Jan Das kulturelle Gedächtnis: 5.Aufl., C.H.Beck 1999, S. 38.
10
8
Kommunikationsformen der entsprechenden Gruppe zusammen. Dies besagt, dass das
Kollektivgedächtniss nicht beliebig übertragbar ist und nimmt immer auf eine konkrete existierende
Gruppe Bezug.
Die Rekonstruktivität ist das nächste Merkmal des kollektiven Gedächtnisses. Das Erinnern im
Rahmen des kollektiven Gedächtnisses erfolgt selektiv. Das Gedächtnis liefern kein Abbild sondern
eine Rekonstruktion der Vergangenheit, die auf den Bedürfnissen und Belangen einer Gruppe
basiert. Es muss dabei darauf aufmerksam gemacht werden, dass das Gedächtnis eine andere
relevante Funktion erfüllt; es bezieht sich und hat Einfluss nicht nur auf das Vergangene, sondern
veranstaltet auch die Erfahrung der Gegenwart und Zukunft.
Ein soziales Phänomen ist nach Halbwachs nicht nur das Erinnern sondern auch das Vergessen.
Den Prozess des Vergessens konkretisiert er als Verschwinden des sozialen Rahmens oder seines
Teiles. Der Grund des Vergessens liegt in unserer Aufmerksamkeit, die entweder nicht imstande ist,
sich auf die Rahmen zu richten oder weil sie anders worauf fixiert ist. Es muss dabei bedacht
werden, dass die Rahmen auch von einem Zeitabschnitt zu dem anderen variieren, wodurch etwas
vergessen oder die Erinnerung an sich deformiert werden kann.11
11
Vgl., Ebd., S. 35.
9
2.1.2 Das ‚kulturelle Gedächtnis‘ von Aleida und Jan Assmann
Die Gedächtniskonzepte von Aleida und Jan Assmann nehmen den zentralen Platz in dem
Gedächtnisdiskurs ein. Dank der Begrifflichkeit, die von ihnen eingeführt wurde, haben sie einen
interdisziplinären Anschluss ermöglicht, so dass auch die Vertreter anderer Disziplinen ihre
Konzepte aneignen können:
Durch den in vielen Sammelbänden demonstrierten hohen Grad der Anschließbarkeit an
etablierte Disziplinen, Forschungsgegenstände und Methoden wird mit dem Begriff des
kulturellen Gedächtnisses ein gemeinsames Forschungsfeld eröffnet, dass so
unterschiedliche
akademische
Fächer
wie
Geschichtswissenschaft,
Altertumswissenschaft, Religionswissenschaft, Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft
oder Soziologie unter einem Dach zu vereinen vermag.12
Es besteht ein fester Zusammenhang zwischen der kulturellen Erinnerung, der kollektiven
Identitätsbildung und den politischen Machtstrukturen. Die politische Legitimierung hat einen
starken Einfluss auf die kollektive Identitätsbildung und auf die Identitätsbildung des Individuums.
Die politische Gesellschaftsordnung entscheidet u.a. über den Festkalender und dadurch prägt sie
das nationale kollektive Gedächtnis, das sich durch das Zelebrieren der kulturellen Feierlichkeiten
entwickelt und fixiert. Zugleich werden durch die politischen Mächte andere Feste glorifiziert und
damit wird das kollektive Gedächtnis beeinflusst.13
Bei Jan und Aleida Assmann werden innerhalb des Halbwachs'schen Kollektivgedächtnisses zwei
sich wesentlich voneinander unterscheidende Gedächtnisse herausgesondert. Diese Unterteilung
erfolgt mit der Berücksichtigung der Inhalte, Formen, Medien, Zeitstrukturen und Träger des
kollektiven Gedächtnisses. Das Gedächtnis, das sich auf die Alltagskommunikation stützt, wird
‚kommunikatives Gedächtnis‘ genannt; das Gedächtnis, das
Vergegenständlichung Bezug nimmt, hingegen
auf symboltragende kulturelle
‚kulturelles Gedächtnis‘. Im weiteren Schritt
werden die beiden Typen des kollektiven Gedächtnisses erläutert.
Im Rahmen des kommunikativen Gedächtnisses werden die Geschichtserfahrungen der
Zeitgenossen zirkuliert. Es muss dabei vermerkt werden, dass sich die Inhalte immer nur auf einen
begrenzten Zeitraum von ca. 80 bis 100 Jahren beziehen und - was als relevant erscheint 12
13
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2005, S. 27.
Vgl., Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2005, S.27-28.
10
veränderlich sind. Jeder Träger des kommunikativen Gedächtnisses ist dazu berechtigt, die
gemeinsame Vergangenheit zu erinnern und sie auf seine individuelle Art und Weise auszulegen.
Die Trägerschaft des kommunikativen Gedächtnisses ist als unspezifisch zu bezeichnen. Als
Medium gelten hier die Erinnerungen, die in den organischen Gedächtnissen, Erfahrungen und
Hörensagen als lebendig funktionieren. Das kommunikative Gedächtnis gehört, so Jan Assmann,
zum Gegenstandsbereich der Oral History; sie entsteht durch die Interaktion zwischen seinen
Trägern,
ist informell und weniger geformt als das kulturelle Gedächtnis. Das ‚kulturelle
Gedächtnis‘ beinhaltet hingegen mythische Ereignisse, die in einer absoluten Vergangenheit
zurückliegen und zugleich die Gruppe bzw. die Gemeinschaft fundamentieren. Das kulturelle
Gedächtnis ist an feste Objektivationen gebunden. In Bezug auf die Formen ist es als
Festtagsgedächtnis zu bezeichnen, weil es gestiftet und durch symbolische Inszenierungen (in Wort,
Bild und Tanz) zeremonialisiert wird. Nicht jeder Träger gilt als kompetent, die Inhalte und
Sinnstiftungen im Rahmen des kulturellen Gedächtnisses zu deuten. Über ihre Konstituierung und
Interpretation entscheiden die dazu Ausgebildeten, wie Priester, Schamanen, Pastoren oder
Archivare, was einen bedeutenden Unterschied zu dem kommunikativen Gedächtnis ausmacht. 14
Das kulturelle Gedächtnis wird von Jan Assmann wie folgt definiert:
Unter dem Begriff kulturelles Gedächtnis lassen wir den jeder Gesellschaft und jeder
Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten
zusammen, in deren >Pflege< sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv
geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf
das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt.15
Das kulturelle Gedächtnis ist ein mit Wiedergebrauchstexten, Bildern und Riten aufgefüllter
Fundus. Durch die Pflege der oben genannten Medien wird das Selbstbild einer Gemeinschaft
ausgedrückt und stabilisiert. Die Funktion vom kulturellen Gedächtnis beruht darauf, einer
Gemeinschaft Bewusstsein und Einheit zu vermitteln. Das kulturelle Gedächtnis lässt sich durch
bestimmte
Merkmale
festlegen:
Identitätskonkretheit,
Rekonstruktivität,
Geformtheit,
Organisiertheit, Verbindlichkeit und Reflexivität. Die Identitätskonkretheit besagt, dass die
Menschen ohne kollektives Gedächtnis nicht imstande wären, eine kollektive Identität
herauszubilden. Aus diesem Gedächtnis wird die Identität sozialer Gruppen abgeleitet. Das
kulturelle Gedächtnis ist ein „retrospektives Konstrukt“16, das die Inhalte von der Ebene der
Gegenwart rekonstruiert und selektiv aufnimmt. Es ist nur mit Hilfe fester Ausdrucksformen und
14
Ebd., S. 28.
Ebd.
16
Ebd.
15
11
Ausdrucksmedien zu vermitteln. In Bezug auf historische Veranstaltungen muss das kulturelle
Gedächtnis organisiert, systematisiert und verwaltet werden. Diese Eigenschaft ist unzertrennlich
mit der Institutionalisierung des kulturellen Gedächtnisses und mit der Spezialisierung seiner
Trägerschaft verbunden. Die Lebenswelt einer Gruppe unterliegt einem bestimmten Rhythmus und
wird durch eine bestimmte Form ausgedrückt. Das kulturelle Gedächtnis reflektiert diese
Lebenswelt und das Selbstbild jeder Gruppe.
Bemerkenswert ist eine von Assmann vorgenommene Gegenüberstellungen von jeweils zwei
Genres der Kulturen: einerseits der ‚oralen‘ und ‚scriptualen Kulturen‘ und andererseits der ‚heißen‘
und ‚kalten Kulturen‘. Aufgezeigt wird, wie verschiedene Gesellschaften ihre Selbstbilder
überliefern und konstituieren. Als Kriterium dieses Vergleichs gelten Medien des kulturellen
Gedächtnisses: die Mündlichkeit und die Schriftlichkeit.
Es wird festgestellt, dass die oralen Kulturen auf der Mündlichkeit in der Überlieferung der Inhalte
beruhen. Die scriptualen Kulturen stützen sich dagegen auf das Prinzip der Schriftlichkeit, auf das
geschriebene Wort. In diesem Zusammenhang wird zwischen der rituellen Kohärenz oraler
Kulturen und der textuellen Kohärenz scriptualer Kulturen unterschieden. Das kulturelle Gedächtnis
wird in den oralen Kulturen ausschließlich in den organischen Gedächtnissen der „Spezialisten“
(Schamanen od. Sänger) beschützt. Infolgedessen kann der Zusammenhang der Überlieferung sogar
beim genauen Wiederholen durch eventuelle Abweichungen gefährdet sein. In den scriptualen
Kulturen wird der kulturelle Sinn in das Medium der Schrift verlagert, dank dem diese Kulturen
dauerhafter wirken. Im Rahmen einer ‚zerdehnten Situation‘17 kann eine Mitteilung in Form eines
Textes später wiederaufgenommen werden. Es erfolgt eine Zerdehnung einer kommunikativen
Situation. Der Außenbereich von der oralen in die schriftliche Form wird transformiert.
18
In den
schreibkundigen Gemeinschaften kann auch wesentlich mehr an Inhalten überliefert und behalten
werden, mehr als bei dem Gedächtnis einer Person wie bei den oralen Kulturen. Es trägt dazu bei,
dass die dabei entstehende Sammlung der Inhalte umfangreicher ist.
Im weiteren Schritt sind auch die ‚heißen ‘ und ‚kalten Kulturen‘ zu nennen. Von den heißen
Kulturen ist bei den Gesellschaften zu sprechen, die Erinnerung zum Motor ihrer Entwicklung
machen. Ihr Gedächtnis basiert auf Mythen im Sinne von Geschichten, die gemeinsame
Vergangenheit beinhalten; die einerseits erlauben, sich in der gegenwärtigen Welt zu orientieren,
und die andererseits die Hoffnung für die Zukunft liefern. Die kalten Kulturen tendieren hingegen
dazu, den geschichtlichen Wandel durch Erinnerung an das ewig Gleiche >einzufrieren< ”.19
Für den Begriff einer ‚zerdehnten Situation‘ ist Konrad Ehlich zuständig. Vgl., Assmann Jan Das kulturelle
Gedächtnis: 5.Aufl., C.H.Beck 1999, S. 21-22.
18
Vgl., Assmann Jan Das kulturelle Gedächtnis: 5.Aufl., C.H.Beck 1999, S. 21-22.
19
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B.Metzler 2005, S. 30.
17
12
Dadurch bleibt die Kultur konstant, unveränderlich.
In dem Buch Erinnerungsräume von Aleida Assmann hat die Wissenschaftlerin den Begriff des
kulturellen Gedächtnisses weiter differenziert und zwei weitere Begriffe eingeführt: Gedächtnis als
‚ars‘ im Sinne von Kunst oder Technik, und Gedächtnis als ‚vis‘ im Sinne von Kraft. Assmann
greift dabei auf ein Modell der in der Antike entwickelten Mnemotechnik zurück. Die antiken
Griechen haben ihr Gedächtnis ununterbrochen geschult, um seine Kapazität und Leistungsfähigkeit
zu erweitern. Der römische Philosoph Cicero äußert sich zu der Mnemotechnik aus folgende Weise:
Wer diese Fähigkeit (des Gedächtnisses) trainieren will, muss deshalb bestimmte Orte
auswählen und von den Dingen, die er im Gedächtnis behalten will, geistige Bilder
herstellen und sie an die bewussten Orte heften. So wird die Reihenfolge dieser Orte
die Anordnung des Stoffs bewahren, das Bild der Dinge aber die Dinge selbst
bezeichnen, und wir können die Orte anstelle der Wachstafel, die Bilder statt der
Buchstaben benützen.20
Es wurde festgestellt, dass das Assoziieren dabei eine entscheidende Rolle spielt. Durch das
Anknüpfen des Stoffes an bestimmte Orte oder das Aneignen mittels anschaulicher Bilder werden
die Informationen mühelos abgerufen.
Das Gedächtnis als ars wird bei Aleida Assmann als ein Wissensspeicher angesehen. In dem
Speicher werden Informationen magaziniert, um später in gleicher Form abgerufen werden zu
können. Unter dem Begriff des Gedächtnisses als vis wird die Dimension der Zeit verstanden, die
einen direkten Einfluss auf das Variieren die Gedächtnisinhalte hat.21 Das Gedächtnis als vis
schließt auch das Vergessen ein. Es funktioniert letzten Endes nach dem Auswahlprinzip, wo nur
bestimmte Elemente des zu erinnernden Stoffes ausgesiebt werden können. Zum Gegenstand der
Untersuchungen werden hier zwei Eigenschaften des Gedächtnisses: seine Prozesshaftigkeit und
Rekonstruktivität. Das Gedächtnis wird weiter differenziert: in das sog. ‚Funktionsgedächtnis‘ und
‚Speichergedächtnis‘. Das Funktionsgedächtnis wird bei Assmann mit der Bezeichnung ‚bewohntes
Gedächtnis‘ versehen. Es ist aus „bedeutungsgeladenen Elementen“22 zusammengesetzt, die zu
einer zusammenhängenden Geschichte verknüpft werden können. Das bewohnte Gedächtnis bezieht
sich immer auf eine Gruppe, erinnert selektiv; bewertet und ist auf die Zukunft fokussiert. Das
Speichergedächtnis wird dagegen das ‚unbewohntes Gedächtnis‘ genannt. Es besteht aus
20
Yates A. Frances Gedächtnis und Erinnern. Mnemotechnik von Aristoteles bis Shakespeare: 6. Aufl., Akademie
Verlag 2001, S.11.
21
Vgl., Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2005, S. 31.
22
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2005, S.32.
13
„ungebundenen bedeutungsneutralen Elementen“23, die keinen Bezug auf die Gegenwart nehmen.
Die Relation zwischen diesen zwei Gedächtnisarten ist als perspektivisch vorzustellen. Das
Funktionsgedächtnis und das Speichergedächtnis funktionieren im Rahmen des kollektiven
Gedächtnisses, wobei Aleida Assmann darauf hinweist, dass dem Speichergedächtnis die Rolle des
Hintergrundes zugewiesen wird. Das
Funktionsgedächtnis ist hingegen als Vordergrund zu
bezeichnen. Das Speichergedächtnis ist dem Funktionsgedächtnis gleichrangig, hat aber einen
anderen Charakter. Das Speichergedächtnis erfüllt die Funktion eines „Reservoirs zukünftiger
Funktionsgedächtnisse“.24 Es ist ein Mittel, womit das kulturelle Wissen erneuert werden kann. Es
ermöglicht auch den kulturellen Wandel. Seine Elemente können in das Funktionsgedächtnis
übergehen. Sie müssen aber für eine Gesellschaft eine bestimmte zusätzliche Sinndimension
gewinnen. Es wird dabei auf den Grad der Durchlässigkeit hingewiesen, der wichtiger als die
Inhalte selbst ist und über eventuelle Veränderungen und Erneuerung der Gedächtnisse
entscheidet.25
Angesichts der Medien und Institutionen wird das Funktionsgedächtnis durch die Literatur, Kunst,
Museum und Wissenschaft zum Ausdruck gebracht. Als Träger sind hier Individuen zu nennen, die
in der Gemeinschaft tätig sind. Das Speichergedächtnis erscheint dagegen in Form von Festen und
anderen medial inszenierten Riten bzw. Aktionen, während deren kollektiv gehandelt wird. Diese
Formen der Überlieferung und der Vergegenwärtigung des kulturellen Sinnes implizieren die
Verkettung der Vergangenheit an die Gegenwart. Es geschieht anders als beim Speichergedächtnis,
wo die Inhalte anachron präsentiert werden: das Vergangene neben dem Gegenwärtigen. 26
Anschließend muss hervorgehoben werden, dass sich das Funktionsgedächtnis und das
Speichergedächtnis nicht mit dem Begriff ‚Tradition‘ gleichsetzten lassen. In diesem
Zusammenhang weist Aleida Assmann auf zwei Modi: Potentialität und Aktualität der zu
erinnernden Inhalten. Das aus den zwei oben genannten Bestandteile zusammengesetzte kulturelle
Gedächtnis umfasst die beiden Modi: im Sinne der Potentialität ist das kulturelle Gedächtnis als ein
Archiv zu verstehen; im Sinne von Aktualität als das heute Kultivierte. Der Traditionsbegriff besteht
bloß
aus
dem
Funktionsbereich,
die
die
Dimension
der
Aktualität
berücksichtigt.
Das kulturelle Gedächtnis erlaubt, so Assmann, die Traditionen mit ihren Mechanismen und Trieben
zu analysieren, sich die Frage zu beantworten, wie die Prozesse der Aneignung und des Vergessens
23
Ebd.
Vgl., Ebd.
25
Ebd.
26
Ebd.
24
14
der Inhalte im Rahmen der Tradition verlaufen.27
2.1.3 ‚Lieux de mémoire‘ von Pierre Nora
Eines der bedeutendsten Konzepte im Rahmen des Gedächtnisdiskurses ist Pierre Nora, einem
französischen Historiker, zu verdanken. Er studierte Geschichte, Ethnologie, Literatur und
Philosophie. Er arbeitete als Gymnasiallehrer in Algerien. Seit 1977 ist er als Studienleiter an der
Hochschule École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris tätig. Er hat eine der wichtigsten
intellektuellen Zeitschriften im französischen Raum, die Zeitschrift Le Débat begründet. Seit dem
Jahr 2001 ist er auch Mitglied der sog. Académie française. Nora setzt sich in seiner Arbeit mit der
Geschichte und nationaler Identität Frankreichs auseinander. Berühmt wurde er durch sein 7bändiges Werk Les lieux de mémoire (1984-1992).28
Einerseits bezieht sich Nora bei seinen Überlegungen auf die von Halbwachs vorgenommene
Trennung zwischen Geschichte und Gedächtnis, und verleiht der Gegenüberstellung einen neuen
Sinn; andererseits entwickelt er einen neuen Begriff ‚lieux de mémoire‘ (‚Erinnerungsorte‘).
Während sich das Gedächtnis nach Halbwachs in dem Begriff des kollektiven Gedächtnisses
kristallisiert, findet man bei Nora den Bezug nur auf das Gegenwärtige: „Es gibt lieux de mémoire,
weil es keine milieux de mémoire mehr gibt.“29 Es ist zugleich eine Erklärung, warum sich Nora
nur der Untersuchung von Gedächtnisorten widmet. Seine Theorie bleibt bis an den heutigen Tag
sehr aktuell und wird oft aufgegriffen und diskutiert. Zwar bezieht sich Nora überwiegend auf
Frankreich, sind seine Konzepte leicht auf andere Länder übertragbar.
In dem Aufsatz Zwischen Geschichte und Gedächtnis seines Hauptwerks Les lieux de mémoire
trennt Nora die im Titel enthaltenen Begriffe: „Gedächtnis, Geschichte: keineswegs sind dies
Synonyme, sondern, wie uns heute bewusst wird, in jeder Hinsicht Gegensätze.“30 Das Gedächtnis
sollte nach Nora als das Leben verstanden werden. Seine Träger sind Angehörige lebendiger
Gruppen und dadurch weist das Gedächtnis eine Tendenz zur ständigen Entwicklung auf. Es gibt
auch keine festen Grenzen des Erinnerns und des Vergessens. Das Gedächtnis konzentriert sich auf
Einzelheiten und „nährt sich von unscharfen, vermischten, globalen oder unsteten Erinnerungen,
besonderen oder symbolischen, ist zu allen Übertragungen, Ausblendungen, Schnitten oder
27
Ebd.
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 23.
29
Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt: Fischer 2001, S.11.
28
15
Projektionen fähig.“31 Im Rahmen der Geschichte wird das Nicht-mehr-vorhandene rekonstruiert.
Das Vergangene wird hier nur repräsentiert, während das Gedächtnis immer gegenwartsnah bleibt.
Die Erinnerungen erhalten innerhalb des Gedächtnisses einen besonderen „sakralen“ Status. Die
Geschichte ist dagegen in ihrer Vorgehensweise stets analytisch und kritisch. Das Gedächtnis
verbindet sich immer mit einer Gruppe; ist zugleich das Kollektive und das Individualisierte. Es ist
ein „Absolutes“. Die Geschichte ist eher als universal und relativ zu bezeichnen.
Zum Gegenstand der wissenschaftlichen Arbeit Noras wurden auch sog. Erinnerungsorte, die als
‚loci‘ (Von dem lateinischen Wort ‚locus‘ abgeleitet; bedeutet ‚Ort‘ , ‚Platz‘) erklärt werden. Nora
greift bei dieser Auslegung auf die antike Mnemotechnik (der Begriff wurde in einem der früheren
Kapiteln erläutert) zurück. Die Erinnerungsorte, sowohl im materiellen als auch im metaphorischen
Sinne, gelten dementsprechend dem Aufruf der Erinnerungsbildern einer Nation. Als Beispiele
dienen hier: geographische Orte, Architektur (Bauten, Denkmäler), Kunstwerke aber auch
historische Persönlichkeiten, nationale Feiertage, wissenschaftliche Texte, Redeweisen, soziale
Umgangsformen oder Handlungen symbolischer Art. Die Erinnerungsorte thematisieren wichtige
Inhalte bzw. Themen aus der Vergangenheit. Sie konstituieren aber das kollektive Gedächtnis nicht.
Sie fungieren, so Nora, als eine Art “künstlicher Platzhalter für das nicht mehr vorhandene,
natürliche kollektive Gedächtnis.“32 Sie stellen nur eine Aufsammlung von Elementen der
französischer Kultur dar. Sie sind weder zusammenhängend noch hierarchisch geordnet.
Das kollektive Gedächtnis ist nach Nora nicht mehr vorhanden, weil sich die Bedingungen geändert
haben. Das 19. Jahrhundert als die Zeit der III. Republik Frankreichs stand noch für den
Nationalgedanken und ist damit die Quelle der französischen Erinnerungsorte. Das die kollektive
Identität stiftende Gedächtnis zerfällt im 20. Jahrhundert. Das trifft bei Nora auf Frankreich zu, ist
aber auch in anderen europäischen Ländern spürbar. Die Tendenz, die besonders in der 2.Hälfte des
20. Jahrhunderts zu Tage trat, führt weg von der Nationalhaftigkeit überhaupt. Mit der Begründung
der Europäischen Union (gemeinsame Währung und Verfassung) auf der einen Seite und dem
Prozess der Migration auf der anderen Seite erleidet das kollektive Gedächtnis heutzutage eine
Niederlage.
Nora definiert drei Voraussetzungen, die ein Ereignis oder ein Gegenstand erfüllen muss, um als
Erinnerungsort benannt zu werden. Eine kulturelle Objektivation muss über eine materielle,
funktionale und symbolische Dimension verfügen. Alle der Aspekte müssen miteinander existieren.
30
Ebd., S.13.
Ebd., S.13.
32
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 23.
31
16
Die Erinnerungsorte, die materielle Dimension aufweisen, müssen materiell existent, aber nicht
unbedingt „fassbar“ sein. Es sind hier Bücher oder Gemälde, aber auch Ereignisse aus der
Vergangenheit oder Schweigeminuten zu nennen, die als ein „materieller Ausschnitt einer
Zeiteinheit“33 auftreten. Jede Objektivation muss auch in der Gesellschaft eine Funktion erfüllen.
Nimmt man die Schweigeminute als Beispiel, so ist es zu betonen, dass sie das regelmäßig
wiederkehrende Erwecken der Erinnerung zum Zweck hat. Entscheidend ist auch eine symbolische
Bedeutung, die eine Objektivation haben muss, um als ein Erinnerungsort betrachtet zu werden.
Hierzu werden ritualisierte Handlungen oder Orte mit einer symbolischen Ausstrahlung einbezogen.
Es wird auch auf ein Unterschied zwischen einem Erinnerungsort und der anderen kulturellen
Objektivationen hingewiesen:
„Am Anfang muß es einen Willen geben, etwas im Gedächtnis festzuhalten. Gäbe man das
Prinzip dieser Vorgängigkeit auf, würde man schnell von einer enggefaßten Definition
[…] zu einer möglichen, aber unscharfen Definition abgleiten, die theoretisch jedes einer
Erinnerung würdige Objekt einschlösse.“ 34
Resümierend können alle Phänomene aus dem Bereich der Kultur als Erinnerungsorte gelten, die
bezüglich der Vergangenheit und kollektiver Identität einer Nation kohärent sind. 35
2.1.4 Erinnerungskulturen
1997 wurde an der Justus-Liebig Universität Gießen mit dem Ziel der Rekonstruktion der
Geschichte des Erinnerns der Sonderforschungsbereich 434 Erinnerungskulturen gegründet. Dieses
interdisziplinäre Unterfangen, das nicht nur Literaturwissenschaftler, sondern auch Historiker,
Germanisten, Latinisten, Orientalisten, Politologen und Soziologen zusammenschließt, untersucht
die Inhalte und Formen der kulturellen Erinnerung von der Antike bis ins 21. Jahrhundert. Die
Erkenntnisse dieses Forschungsbereichs liefern ein neues Bild der Erinnerung und zeigen komplexe
Mechanismen des Erinnerns und zugleich des Vergessens auf. 36
33
Ebd., S. 24.
Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt: Fischer 2001, S.32.
35
Vgl., Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 23-26.
34
17
Es wurde festgestellt, dass die Erinnerung kein statisches, sondern ein prozesshaftes Gebilde ist, das
einem fortlaufenden Wandel unterliegt. Die Erinnerung ist von einer Dynamik gekennzeichnet.
Diese Eigenschaft der Prozesshaftigkeit betrifft dabei sowohl das individuelle als auch das
kollektive Gedächtnis. Als relevant erscheint, dass es nicht nur eine einzige Erinnerungskultur,
sondern mehrere Erinnerungskulturen gibt, deshalb wird bei dem Gedächtnisdiskurs auf die
Pluralität der Erinnerung hingewiesen. Man unterscheidet auch zwischen einer Pluralität von
Erinnerungskulturen und einer Pluralität von Vergangenheitsbezügen. Wenn bedacht wird, dass die
Erinnerungskulturen pluralistisch sind, so muss man eine Einteilung vornehmen: in die
Erinnerungskulturen, die 1) sich einander ergänzen, die komplementär zueinander stehen, 2) sich
einander ausschließen, 3) universal sind, 4) partikular sind. 37
Im Rahmen des Sonderforschungsbereich 434 wurde ein Modell entworfen, das der Beschreibung
von kulturellen Erinnerungsprozessen verhelfen soll. Dem Modell nach unterscheidet man drei
Ebenen: die Rahmenbedingungen der Erinnerns, die Ausformung spezifischer Erinnerungskulturen
und zuletzt das konkrete Erinnerungsgeschehen.38 Es wird hervorgehoben, dass der Mensch nicht in
einem Vakuum oder einem luftleeren Raum lebt, sondern in Gruppen, Gesellschaften,
Gemeinschaften und Vereinen mit konkreter Gestalt und Struktur funktioniert. Deshalb wird hier
zwischen sog. ‚offenen‘ und ‚geschlossenen‘ Gesellschaftsformationen 39
differenziert. Eine
Gesellschaftsformation ist ein bestimmter Typus der Gesellschaft, in der erinnert wird. Die
Rahmenbedingungen werden durch vier Faktoren bestimmt: 1) Gesellschaftsformation, 2)
Wissensordnung, 3) Zeitbewusstsein und 4) Herausforderungslage.
Der Begriff der Herausforderungslage bezieht sich auf die Krisen und gesellschaftliche Umbrüche.
Das Zeitbewusstsein ist mit der Modernisierung und Beschleunigung des Lebenstempo verbunden.
Das prominente Beispiel für das 21. Jahrhundert ist das jüngste Massenmedium, das Internet. Die
Popularität des Internets wächst. Es ermöglicht die Nutzung der Dienste wie E-Mail, die Nutzung
der WWW-Seiten, die Datenübertragung, und zunehmend auch Telefonverbindung, Radio und
Fernsehen. Mit Hilfe vom Internet, das aus vielen Rechnernetzwerken besteht, erfolgt der weltweite
Datenaustausch schneller denn je. Der Umlauf der Informationen in solchem Ausmaß war dabei vor
20 Jahren unvorstellbar.
Wenn bedacht wird, dass die Erinnerungskulturen über spezifische Ausformungen verfügen, kann
man hier vier Aspekte heraussondern. Die Erinnerungshoheit, im Rahmen deren über Relevanz und
36
Vgl., Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S.34.
Ebd., S.34.
38
Ebd., S.34-35.
39
Ebd., S.34-35.
37
18
über dem Charakter der jeweiligen Erinnerung entschieden wird, ist der erste zu nennende Aspekt.
Die großen Gruppen können sich auch durch Akzentsetzung d.h. durch sog. Erinnerungsinteressen
und -Bedürfnisse voneinander unterscheiden. Die Erinnerungsinteressen können dazu beitragen,
dass verschiedene gesellschaftliche Gruppen entweder miteinander rivalisieren oder eine neben der
anderen funktionieren und sich gegenseitig beeinflussen. Es gibt bestimmte Erinnerungsgattungen,
die bei diesem Thema vom zentralen Interesse sind und über die man sich an etwas erinnert. Sie
dienen ebenfalls als Medium des kollektiven Gedächtnisses. Historienbild, Geschichtsfilm,
historischer Roman aber auch Historiographie als eine Wissenschaft, die sich mir der Darstellung
von geschichtlichen Ereignissen befassen, und Architektur als direkter materieller Bezug auf das
Vergangene. Dieser besonderen Form werden viele spezifische Funktionen wie die Funktion eines
„Kommunikationsintrumentes“ zugewiesen. Architektur wird als „steinerne Sprache“ angesehen
werden. Sie ist eine Art Code, die die Inhalte durch bestimmte symbolische Zeichen weitergibt.
Nicht nur bauliche Formen wie Räume oder Denkmäler, nicht nur Bilder, sondern auch Gerüche
sind damit verbunden.40
Wenn man die Konstituierung des kollektiven Gedächtnisses analysiert, muss auch das
Erinnerungsgeschehen berücksichtigt werden. Es wird dabei darauf verwiesen, dass sich das
Erinnerungsgeschehen in zwei Formen: individuelle Lebenserfahrung („erfahrene Vergangenheit“)
und eine Aneignung einer Erinnerungsraums („nicht-erfahrene Vergangenheit“), einteilen lässt. Die
individuelle Erfahrung bezieht sich nur auf das selbst Erlebte. Bei der Aneignung einer
Erinnerungsraums wird eine Erinnerung, die nur vom Hören bekannt ist, in den Fokus gestellt. Bei
dieser Form ist der Erinnerungsvermittelnde nicht in das Geschehen, in das Vergangene involviert.
Davon hängen die Intensität der Erinnerung und die Strategien, mittels deren es erinnert wird, ab. 41
In diesem Zusammenhang muss noch auf das Phänomen des ‚kulturellen Erbes‘ verwiesen werden,
das im Gedächtnisdiskurs oftmals erörtert wird. Ist die Kultur die Gesamtheit der geistigen und
kulturellen Errungenschaften der Gesellschaften, so ist unter dem Begriff ‚kulturelles Erbe‘ die
Grundlage dieser Kultur bzw. Kulturen zu verstehen. Das kulturelle Erbe ist eine Sinnwelt, die
durch die Menschen konstruiert wird, indem sie manche Inhalte aufnehmen, andere aber parallel
außer Acht lassen. Es ist eine „anthropologische Grundausstattung des Menschen“. 42 Diese
Sinnwelten funktionieren selektiv und werden über sog. Auswahlmechanismen gesteuert.
40
Vgl. Burkhardt, Benjamin: Der Triefels und die nationalistische Erinnerungskultur: Architektur als Medium des
kollektiven Gedächtnisses. In: Nünning, Ansgar/ Erll, Astrid: Medien des kollektiven Gedächtnisses. Berlin/New York:
Walter de Gruyter 2004.
41
Vgl. Ebd.
42
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S.35.
19
Das kulturelle Erbe hat eine identitätsstiftende Funktion, deshalb soll durch die Menschen nicht nur
gestiftet und gepflegt werden. Über diese Inhalte soll auch reflektiert werden. Die menschliche
Existenz ist ohne kollektives Gedächtnis nicht denkbar. Die Menschen brauchen Identität und
Angehörigkeitsgefühl, die durch die Beteiligung an sozialen Gruppen gewonnen werden. Im
Rahmen des Sonderforschungsbereich 434 wird demzufolge die Erhaltung und Schutz des
kulturellen Erbes postuliert. 43
2.2 Strukturmerkmale einer ‚geschlossenen‘ Gesellschaft
Eine klare Eingrenzung von Begriffen der ‚offenen‘ und der ‚geschlossenen‘ Gesellschaft wird von
Karl Popper vorgeschlagen, der sich dabei für das Modell einer ‚offenen‘ Gesellschaft ausspricht.
Die offene Gesellschaft bildet ein Konstrukt, der sich durch Dynamik und Pluralismus
gekennzeichnet. Im Rahmen einer Gesellschaft koexistieren nach Popper verschiedene Interessen
und Lebensstile, die einem ständigen Prozess des Variierens unterliegen. Als Voraussetzungen für
die Entstehung und Aufrechterhaltung einer offenen Gesellschaft werden die Möglichkeit des
Einzelnen, individuelle Entscheidungen zu treffen und dessen kritische Weltbetrachtung angesehen.
Das soll einen direkten Einfluss auf die Gestaltung von Werten und Normen haben. Das Modell der
offenen Gesellschaft wird im Zusammenhang mit den demokratischen Herrschaftsformen, die dem
Individuum die weitgehende Freiheit, Gleichheit und politische Partizipation gewährleisten, in
Betracht genommen. Eine geschlossene Gesellschaft kann hingegen, so Popper, mit einem
Organismus verglichen werden. In Bezug auf die sogenannte organische bzw. biologische Theorie
des Staates ist die geschlossene Gesellschaftsordnung immer einer Herde oder einem Stamm
ähnlich. Der Zusammenhalt dieser halborganischen Einheit ist durch die Teilnahme ihrer Mitglieder
an gemeinsamen Anstrengungen, Gefahren, Freuden und Unglück bedingt.
Mit den von Popper erarbeiteten Strukturmerkmalen der geschlossenen Gesellschaften und deren
genauer Beschreibung ergibt sich eine ausführliche Definition dieser besonderen sozialen Ordnung,
die durch 1) Historizismus, 2) Holismus, 3) Essentialismus, 4) Kollektivismus und 5) mit dem
Traditionalismus vereinten Utopismus bestimmt wird.44
43
44
Vgl., Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S.35.
Vgl. Pfahl-Traughber, Armin: Ideologische Strukturmerkmale der geschlossenen Gesellschaft. Karl R. Popper als
20
Die Idee des Historizismus besagt, dass die Geschichte aus bestimmten feststehenden Gesetzen,
deren Erkennung die Voraussage der zukünftigen historischen Entwicklungen ermöglicht,
zusammengefügt sei. Der Historizismus als eine Eigenschaft der geschlossenen Gesellschaftsform
hängt eng mit dem Begriff des Auserwählten zusammen. Das Auserwähltsein, das auf dem Glauben
beruht, für eine besondere Aufgabe prädestiniert zu sein, spiegelt sich beispielsweise in der
Vorherbestimmung eines Volkes oder einer Rasse in der Ideologie des Faschismus wider. Der
Kampf um die Herrschaft und das Streben nach Niederwerfung der Nachbarstaaten steht hier im
Zentrum aller Handlungen. In der wirtschaftlich-kritischen Lehre des Marxismus wird dagegen von
einer auserwählten Klasse gesprochen, die dazu berufen sei, künftig eine klassenlose Gesellschaft
zu schaffen. Ob biologisch oder ökonomisch begründet schützt sich jede geschlossene Gesellschaft
vor äußeren und fremden Einflüssen, indem sie die eigene Bevölkerung bzw. Bevölkerungsgruppe
bevorzugt.45
Als weiteres Merkmal gilt hier der Holismus, der durch die Orientierung an eine Gemeinschaft
interpretiert wird. Nicht die Individuen, sondern die von ihnen gebildeten Gruppen werden sozial
anerkannt. Aus dem Holismus leitet sich die Bestrebung ab, alles unter einer totalen internen
Kontrolle zu halten, also das Totalitäre. Der Staat soll dementsprechend mit der Gesellschaft ein
homogenes Gebilde darstellen. Als Instrument der staatlichen Aufsicht gelten in totalitären
Systemen Repression und Gewalt, die die Vernunft und die Wahrheit zu unterdrücken versuchen.
Dies soll nach Popper zu einer völligen Vernichtung des menschlichen Elements führen. Das
Regime verlangt auch völlige Unterwerfung und erzwingt den absoluten Gehorsam dem totalitären
Staat gegenüber. Die Massenmobilisierung durch gezielte Propaganda gehört neben der totalen
Überwachung und der systematischen Terroranwendung zu der Funktionsweise dieser Form der
Herrschaft.46
Als andere Komponente ist hier der Essentialismus zu nennen, der auch als ein ‚methodischer
Essentialismus‘ oder eine ‚Wesenslehre‘47 formuliert wird. Die Wissenschaft und das Wissen sind in
der Auffassung Poppers dazu verpflichtet, die wahre, bis jetzt unerkannte Natur der Dinge zu
entdecken und charakterisieren. Es wird vorausgesetzt, dass es nur eine richtige obligatorische
Antwort auf jede Frage und eine natürliche, für ein Gebiet oder eine Gesellschaft geltende Ordnung
der Dinge gebe. Jede Veränderung oder Entwicklung wird demgemäß als ein Verstoß gegen das
sozial-politische Ideal interpretiert. Hier scheint auch eine Eventualität der Rechtfertigung und
dadurch eine Neigung zum Missbrauch und zur Menschenrechtsverletzung enthalten zu sein. Mit
Totalitarismustheoretiker. In: Aufklärung und Kritik 1/2003.
Ebd.
46
Ebd.
47
Ebd., S.114.
45
21
diesem Aspekt des geschlossenen Gesellschaftsform wird der schädliche Einfluss der
essentialistischen Idee auf die Politik festgestellt. Laut der Idee des Kollektivismus wird die
Bedeutung des Individuums der Bedeutung eines Kollektivs im Sinne einer Nation oder einer
Klasse gegenübergestellt. Der Wert und die Würde des Einzelnen ist durch seine
Gruppenzugehörigkeit bestimmt. Ob ethnisch, sozial oder staatlich gemeint muss er einem
Kollektiv angehören. Es ist den frühzeitlichen Stammesgesellschaften abzuleiten, in den die
führende Rolle dem Volksstamm zugeschrieben war und das Individuum außer dieser Sozialstruktur
als irrelevant betrachtet wurde. Der Kollektivismus zeigt sich auch durch die Unterdrückung des
Individuums, das keine persönlichen Entscheidungen fällen lassen kann und sich dem Kollektiv
unterordnen muss.48
Mit dem Utopismus, der mit dem Traditionalismus gleichgesetzt wird, wird die Entstehung einer
Idealgesellschaft postuliert. Das Streben nach Idealzustand in den geschlossenen Gesellschaften
offenbart sich einerseits als die Rückkehr zu einem Ideal, einem Urbild des Staates und die
Verteidigung der existierenden Gesellschaft (nach Platon) und andererseits als die Schaffung einer
einheitlichen klassenlosen Idealgesellschaft (nach Karl Marx). Im Rahmen des Utopismus wird aber
grundsätzlich ein gemeinsames Ziel verfolgt. Damit ist der Aufbau einer homogenen Gesellschaft
und derer Bestärkung gemeint.
Anhand dieser Merkmale lässt sich feststellen, dass die geschlossene Gesellschaftsformen homogen
und starr in ihrer Ausprägung sind. Sie richten sich gegen Demokratie, Egalitarismus und
Individualismus.49 Die Idee der geschlossenen Gesellschaft ist gut auf totalitäre: faschistische oder
kommunistische Systeme übertragbar, die nach der Entstehung einer Idealgesellschaft streben.
Neben der anti-religiösen Haltung der totalitären Gesellschaften ist in diesem Zusammenhang eine
bestimmte Einstellung zur Geschichte zu nennen. Die unbequemen Wahrheiten der Geschichte
werden verdrängt, und die Elemente, die an aktuelle Bedürfnisse anknüpfen, und die dem Aufbau
und der Fixierung der Ideologie verhelfen könnten, wieder aufgenommen und hervorgehoben. Als
ein Beispiel gilt hier die Vergangenheits- und Geschichtspolitik der DDR. Den Historikern wird
eine Aufgabe erteilt, dem Volk ein neues Geschichtsbild zu liefern und zu festigen. Die negative
Vorstellung deutscher Geschichte, die in der Nachkriegszeit mehrmalig betont wird, soll verfeinert
werden. Im Kontrast zu der Zeit des NS-Regimes wird in der DDR die Zeit von der Reformation
bis 1848 gestellt. Das neu erarbeitete Bild soll das Gefühl von Stolz auf die bedeutsamen
geschichtlichen Taten der deutschen Nation vermitteln und die Bereitschaft zur „Verteidigung der
48
49
Ebd.
Vgl. Pfahl-Traughber, Armin: Ideologische Strukturmerkmale der geschlossenen Gesellschaft. Karl R. Popper als
Totalitarismustheoretiker. In: Aufklärung und Kritik 1/2003, S.110.
22
sozialistischen Errungenschaften der Arbeiter- und Bauernmacht“50 in der DDR erzeugen. Als
nächstes Ziel wird das Konstruieren von Feindbildern gestellt, die dann propagandistisch ausgenutzt
werden. Politisch instrumentalisiert und bewusst und gezielt zur Durchsetzung spezifischer
Interesse der Partei benutzt schaffen sie dabei eine Grundlage für die sozialistische Ideologie.51
Das soziale Leben wird in den geschlossenen Gesellschaften weitgehend geregelt. In Bezug auf das
Gedächtnis und Literatur werden in den Ländern des Real-Sozialismus die Institutionen ins Leben
gerufen, die für die Ausformung des kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses Verantwortung
übernehmen. Hier sind u.a. die Verlage, der Parteiapparat und das Ministerium für Staatssicherheit
zu nennen. Der Auswahl der Inhalte, die aufgenommen und propagiert, und die abgelehnt werden,
findet im Rahmen dieser Institutionen statt. Die Auseinandersetzung mit der unbequemen
Ereignissen aus der deutschen Vergangenheit: mit dem Faschismus, den Abtransporten in die
Konzentrationslagern, mit der Flucht und Vertreibung wird aufgezwungen, der Zugang zu den
Medien des kollektiven Gedächtnisses in der DDR (Archive) eingeschränkt.52 Die Tendenz zur
geschichtlichen Vereinheitlichung führt zur Entstehung kollektiver, miteinander konkurrierenden
Gegen-Gedächtnisse, die ihre bis jetzt verschwiegene bzw. verbotene Erinnerungen zum Ausdruck
bringen wollen. Es muss dabei darauf hingewiesen werden, dass das staatlich festgelegte
Gedächtnis gegenüber den individuellen Gegen-Gedächtnissen eine Vormachtstellung innehat.
Nicht nur das politische Leben und die Gedächtnisbildung sondern auch die Literatur wird
unterdrückt und zensuriert. Die literarischen Inhalte werden begutachtet. Es wird nach
hinreichenden
Gründe
zur
Veröffentlichung
gesucht,
durch
die
die
Erhaltung
einer
Druckgenehmigung bestimmt wird. Das kollektive Gedächtnisses, primär durch ikonische
Darstellungen Parolen, Spruchbänder, Schrifttafeln gefestigt, bildet sich unter dem Einfluss des
Aufsicht führenden Ministerium für Staatssicherheit, das als Überwachungs- und Repressionsorgan
in der geschlossenen DDR-Gesellschaft gilt.53
50
Aleida Assman, Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen
Vergangenheiten nach 1945. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999. S.173
51
Vgl., Ebd.
52
Vgl., Gansel, Carsten: Zwischen offiziellem Gedächtnis und Gegen-Erinnerung- Literatur und kollektives Gedächtnis
in der DDR. In: Gansel, Carsten (Hg.): Gedächtnis und Literatur in den >geschlossenen Gesellschaften< des RealSozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen: V&R unipress 2007, S. 11.
53
Ebd., S.28-31.
23
2.3 Flucht und Vertreibung als geschichtliches Phänomen
In dem Diskurs um Flucht und Vertreibung werden die Begriffe wie: ‚Vertreibung‘,
‚Zwangsausweisung‘, ‚Deprivation‘ und ‚Bevölkerungs-Transfer‘ verschiedenartig verwendet. Die
Versuche der Erläuterung der Begriffe sind aber in den meisten Fällen politisch determiniert. Selbst
der in diesem Zusammenhang zu nennende Begriff ‚Heimat‘ wurde nach 1945 tabuisiert. Man
assoziierte den Begriff mit der NS-Zeit, in der er für ideologische u. politische Zwecke gebraucht
wurde. Man hat den Begriff, so Jürgen Reulecke, missbraucht:
Indem Heimat aus der ganz subjektiv-individuellen Erlebnissphäre des Einzelnen herausgelöst
und zu einem Schlagwort von politisch-weltanschaulichen Gruppen und schließlich des NSStaates gemacht wurde, führt sich der Heimatbegriff letztlich selbst ad absurdum […].54
Krystyna Kersten55 unternimmt den Versuch, in der uneinheitlichen Terminologie um den
‚Vertreibungskomplex‘ Ordnung zu schaffen. Sie lehnt den Begriff ‚Vertreibung‘ ab und prägt einen
neutralen Begriff des Transfers bzw. Bevölkerungs-Transfers. Der Transfer erfolgt infolge
einseitiger internationaler Entscheidungen. Als ‚Aussiedlung‘ wird hier eine vorbereitete und
erzwungene Verlagerung einer gewissen Gemeinschaft (der eigenen Bürger oder der Bürger anderer
Ländern) bezeichnet. Als charakteristisches Merkmal gilt hier die Passivität der Person, die
ausgesiedelt wird. 56
Hubert Orłowski bevorzugt hingegen den Begriff der ‚Deprivation‘. Der Begriff sei von einer
politischen bzw. ideologischen Schattierung losgelassen. Der Heimatverlust wird als ein
erzwungener Mangelzustand, als eine individuelle und einer kollektive Deprivation dargestellt.57
Sie beinhaltet die durch Auflösung von Beziehungen entstandene Mangel an Materiellem und
54
Vgl. Reulecke, Jürgen: Antimodernismus und Zivilisationskritik: Die Heimatbewegung aus historischgesellschaftlicher Perspektive. In: Regionaler Fundametalismus? Hrsg. von: Museumsdorf Cloppenburg, Kulturamt
der Stadt Oldenburg, Stadtmuseum Oldenburg. Oldenburg 1999, S.19.
55
Vgl., Zimniak, Paweł: Verlorene Heimat – zum deutschen Topos in der polnischen Erinnerungskultur nach 1945,
S.75-90. In: Gansel, Carsten (Hg.): Gedächtnis und Literatur in den >geschlossenen Gesellschaften< des RealSozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen: V&R unipress 2007, S.84.
56
Ebd., S.83-84.
57
Ebd., S.83-84.
24
Ideellem. 58
Emma Braslavsky setzt sich mit dem Phänomen der Vertreibung und Zwangsausweisung der
Sudetendeutschen aus der ehemaligen Tschechoslowakei auseinander, indem sie es zum
historischen Hintergrund ihres Romans Aus dem Sinn macht. Dabei müssen gewisse Fakten auf der
historischen Ebene betrachtet werden:
1. Im Jahr 1918 wird aus den Ländern Mähren, Böhmen und Mährisch-Schlesien ein neuer Staat,
die sog. Tschechoslowakei (CSR) gegründet.59
2. Ein Jahr später steht das Sudetenland unter der tschechoslowakischen Besatzung. Damit beginnt
für die Minderheit der Sudeten eine Periode, die durch eine Entnationalisierungspolitik60
gekennzeichnet ist. Die deutsche Sprache wird durch Tschechisch ersetzt, die Ortsnamen werden
ebenfalls umgeschrieben.61
3. Im Jahr 1938 erfolgt die Abtretung des Sudetenlandes an das Deutsche Reich. Damit glaubt man
eine Waffenintervention Hitlers verhindert und seiner Ansprüche auf die Tschechoslowakei
befriedigt zu haben. Als eine Regelung für die Annexion gilt das Münchner Abkommen.
4. Mit dem Kriegsende 1945 kommt es zur Wiedererstehung der Tschechoslowakei, die das
Sudetenland bekommt. Um der Irredenta zuvorzukommen, fällt man eine Entscheidung, die
Sudetendeutschen aus ihrer Heimat zwangsauszutreiben. Der Verlauf des ‚Transfers‘ ist durch die
Enteignung
der
Sudeten
ohne
Entschädigungen,
Gewaltanwendung
durch
tschechische
Terrorgruppen, Vergewaltigungen, Tötungen gekennzeichnet.62
5. Die Ausstoßung der Deutschen aus dem tschechoslowakischen Gebiet wird von dem
tschechoslowakischer Exil-Präsidenten (vorher Außenminister der ČSR) Edvard Benesch (Beneš)
nach seiner Rückkehr aus Exil vorbereitet und mit folgenden Worten begründet:
Das deutsche Volk hat in diesem Krieg aufgehört, menschlich zu sein, menschlich erträglich
zu sein, und erscheint uns nur noch als ein einziges großes menschliches Ungeheuer … Wir
58
59
60
61
62
Ebd., S.84.
Vgl., http://www.sudeten.de/cms/?Historie:1919_-_1945.
Ebd.
Ebd.
Ebd.
25
haben gesagt, dass wir das deutsche Problem in der Republik völlig liquidieren … müssen.63
6. Infolge der Potsdamer Konferenz erlangt man die Zustimmung der Alliierten (Großbritannien,
USA, Sowjetunion) für die Austreibung, die laut dem gut durchdachten Plan fortgesetzt wird. Die
Bevölkerung wird in den von sowjetischer Macht besetzten deutschen Staat vertrieben.64
7. Die Vertreibung und Zwangsausweisung werden von den kommunistischen Machtorgane als
Mittel zur Propaganda und zur Schaffung eines ethnisch homogenen Staatwesens gebraucht. Das
Streben nach ethnischer Homogenität scheint als Quelle der Stabilität und Sicherheit innerhalb des
sozialistischen Staates aufgefasst zu werden, die von den nationalen Minderheiten (evtl. Aufstände
oder Freiheitskämpfe) bedroht werden könnte.65
8. In der Nachkriegszeit kommt es in Deutschland zu mehreren Integrationskonflikten. Es wird
versucht, die Solidarität in der uneinheitlichen, durch die Minderheiten geprägten Gesellschaft zu
erzwingen. Die Vergangenheitsbewältigung erfolgt mittels Tabuisierung bestimmter Inhalte und
durch selektive Aufnahme von Geschichtsbildern, die dem Zusammenhalt des sozialistischen
Staates beitragen könnten. 66 Die DDR-Politik gegenüber den Aussiedlern und die Art und Weise der
Aufarbeitung der Vergangenheit werden im nächsten Kapitel genauer geschildert.
Eine besondere Dimension des Heimatverlustes zeigt durch die internationale Debatte über Flucht
und Vertreibung, die von der BdV-Präsidentin Erika Steinbach ausgelöst wurde. Sie plädiert für die
Entstehung eines sichtbaren Zeichens für Vertreibungsverbrechen, sog. ‚Zentrum gegen
Vertreibungen‘ (aus öffentlichen Mitteln finanziert) und versucht seit Jahren das Konzept
umzusetzen. Diese Art und Weise der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird häufig als
kontrovers bezeichnet. Der Gedenkort soll nämlich in der Hauptstand der Bundesrepublik
Deutschland, Berlin eingerichtet werden.
Ein wesentlicher Beitrag zu dem in Anbetracht der europäischen Einheit relevanten Diskurs stellt
die öffentliche Aufforderung mehrerer Wissenschaftler zu einem „kritischen und aufgeklärten
63
Hrabovec, Emilia: Vertreibung und Abschub. Deutsche in Mähren 1945-1947. Frankfurt 1995, S. 70.
Vgl., http://www.sudeten.de/cms/?Historie:1919_-_1945
65
Vgl., Zimniak, Paweł: Verlorene Heimat – zum deutschen Topos in der polnischen Erinnerungskultur nach 1945
S.75-90. In: Gansel, Carsten (Hg.): Gedächtnis und Literatur in den >geschlossenen Gesellschaften< des RealSozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen: V&R unipress 2007, S.82.
66
Vgl. Schwarz, Michael: Vertriebene und „Umsiedlerpolitik“. Integrationskonflikte in den deutschen NachkriegsGesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ/DDR 1945-1961. Veröffentlichungen zur SBZ-/DDRForschung im Institut für Zeitgeschichte. Oldenbourg Verlag, München 2004, S. 1117-1120.
64
26
Vergangenheitsdiskurs“67 dar. Es wird hier direkt auf das Projekt des ‚Zentrum gegen
Vertreibungen‘ Bezug genommen. Am 10. August 2003 wird in der Stadt Gerolstein (Deutschland)
der o.g. Appell unterzeichnet. Es ist dabei darauf hinzuweisen, dass man zwischen den
Erstunterzeichnern die Namen brillanter polnischer Wissenschaftler finden kann, wie z.B. Prof. Dr.
Hubert Orlowski (Germanist an der Adam-Mickiewicz-Universität Poznan), Prof. Dr. Jan Maria
Piskorski (Historiker und Verleger an der Universität Szczecin) oder Dr. Robert Traba (Historiker an
der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warszawa). Es ist zu fragen sein, ob man hier
tatsächlich Enttabuisierung und Versöhnung erreichen und ein gemeinsames Erinnerungsbild
gestalten will. Man befürchte inzwischen, dass der historische Kontext, besonders im
Zusammenhang zwischen den Vertreibungen und der NS-Politik, verändert werden könnte. Auf den
internationalen Dialog und die Integration, die ununterbrochen gestrebt wird, könnte es
destabilisierend wirken, deshalb wird hier ein „pluraler, kritischer und aufgeklärter Diskurs“ und
eine gemeinsame Diskussion auf europäischen Ebene gefordert. 68
67
68
Vgl., http://www.vertreibungszentrum.de/
Ebd.
27
3 Emma Braslavskys Aus dem Sinn in narratologischer Perspektive
3.1 Zur Erzählperspektive
3.1.1 Kindheitserinnerungen – Eduard Meißerl als autodiegetischer Erzähler
Die Geschichte von Eduard Meißerl wird in einer nicht-linearen Reihenfolge dargestellt. Die
Kindheitserinnerungen des viereinhalb jährigen Eduard wechseln sich mit den aktuellen
Geschehnissen ab.
In den kursiv markierten Erinnerungssequenzen wird man mit zu einem
Erzählstrang genommen, der zeitlich weit zurück liegt. In diesen Rückblenden wird das
Vertreibungsschicksal von Eduards Familie und der anderen Sudetendeutschen aus der ehemaligen
deutschen Stadt Tuschkau skizziert. Es wird aus der Perspektive des autodiegetischen 69 Erzählers
Eduard erinnert. Er berichtet über selbst erlebte Ereignisse, in den er sich intensiv mit seinen
Erfahrungen im Bezug auf Heimatverlust auseinandersetzt. 70
Eduards Erinnerungen an die Vergangenheit in Tuschkau gehen zwar in das Jahr 1946 zurück,
werden aber von Eduard der Ebene der Gegenwart zugeschrieben, indem er die Ereignisse aus
seiner Kindheit mit dem Jahr 1969 beschriftet. Dies ist eine Auswirkung von Elektroschocktherapie,
die bei ihm nach der Prager Demonstration in der psychiatrischen Klinik angewendet wird.
Dadurch wird seine ‚tiefe Erinnerung‘ aktiviert. 71
Eduard erinnert sich an seine Kinderspiele, besonders an die mit seiner Freundin Miri verbrachte
Zeit, u.a. in der Werkstatt von Onkel Albin, wo früher Möbel, dann aber nur Särge auf Bestellung
von der Wehrmacht angefertigt wurden. Er erinnert sich aber vor allem an seinen Vater Estor, der
als Schuhmacher Schuhe für die Wehrmacht gemacht hat, an seine Worte über die Bedeutung der
Füssen im menschlichen Leben. Der Vater erscheint in den Erinnerungen als vernünftiger Mensch,
der anständig vorgeht; der zwischen dem Gut und Böse unterscheidet und versucht, seinem Sohn
bestimmte Regeln und Verhaltensweisen beizubringen: „Wir müssen das Gute vom Bösen
69
Vgl., Fludernik, Monika: Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt: WissenschaftlicheBuchgesellschaft 2006,
S.42.
70
Vgl. Zimniak, Paweł: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip in Emma
Braslavskys Aus dem Sinn (2007), S. 7.
28
unterscheiden. “72 Estors Weltanschauung
wird im Zusammenhang mit seiner Freilassung
thematisiert: „Wir müssen nach vorn schauen, nicht zurück. Hinter uns liegt nix mehr.“
73
In der
ersten Nacht nach der Flucht soll er auch gesagt haben: „Man geht immer neue Verbindungen ein,
niemand treibt schwerelos durch den Raum. Nach einer Reise kommt man wieder irgendwo an.“74
Durch Eduards Erinnerungen lernt man auch seine Mutter kennen. Liebevoll und ununterbrochen
um ihren kleinen Sohn besorgt, stellt sie sich als Ziel, ihn vor der Welt und ihrer Grausamkeit zu
beschützen. Das Gefühl der Angst ist aber Eduards Kindheitserinnerungen inhärent. Er erinnert sich
an die Zeit, als die Häuser durch tschechische Kommandos leer geräumt werden: „[Eduards Mutter]
Sie rennt durchs Haus. Sie sucht ein Versteck. Für das Geld. […] Die Tschechien dürfen das Geld
nicht finden. Sonst ist alles weg. […] Tschechische Kommandos ziehen durch die Dörfer wie
Gorillabanden. Sogar Tschechien haben Angst vor denen.“75 Als beunruhigend scheinen für ihn
auch tschechische Männerstimmern in der Nacht, in der seine Mutter erniedrigt und vergewaltigt
wird: „ Die treten die Haustür auf. […] Ich mache mir in die Hose. […] Da sind noch mehr Männer.
Sie haben Mutter. Sie schreit. […] Sie schreit wieder. Mutter liegt halb nackt auf dem Boden. Einer
hält sie. Der andre stemmt sich zwischen ihre Beine. […] Da kriegst du einen tschechischen
Bastard, du deutsche Schlampe!“76 In Abwesenheit seines Vaters fühlt sich Eduard verpflichtet,
seine Mutter zu beschützen. Die Vergewaltigung bleibt ein Familiengeheimnis zwischen der Mutter
und ihrem kleinen Sohn. Ella Meißerl ist die Person, die Eduard erklärt, warum er den
Aufenthaltsort von dem jüdischen Mädchen Miri nicht mal seinem besten Freund Paul verraten
darf. Das Mädchen, von Familie Meißerl versteckt, ist eine Jüdin: „Miri hat schwarzes Haar und
grüne Augen. Das ist schon ein Verbrechen hier.“77 Während eines Spiels um den Stall herum wird
Miri jedoch von Paul entdeckt. In der Nacht werden Miri und ihr Vater von der SS abgeholt und
abtransportiert.
Es wird auch eine Fahrradtour Eduards zu seinem Kindheitsfreund Paul erinnert. Eduard fährt an
einem Lager der Wehrmacht vorbei, das wiederum zu einem Anreiz einer konkreten Erinnerung
wird. Eduard erinnert sich an die Worte seines Vaters, der das Lager als Propagandamuseum
bezeichnete und sich klar über die Deutschen äußerte: „Da liegen Uniformen, Fahnen, Plakate. […]
Wie Hunde die Ecken ihres Reviers markieren. Die Uniformen sind Kreuze um den Hals. […] Sie
sind die Guten. Wehe dem, der es nicht glaubt.“78
Am 27.10.1969 arbeitet Eduard weitere als wichtig eingeordnete Ereignisse aus, die er in
71
Vgl. Ebd., S. 6.
Ebd., S. 219.
73
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S. 327-328.
74
Ebd., S.99.
75
Ebd., S.272-273.
76
Ebd., S.275.
77
Ebd., S.183.
72
29
Erinnerung behalten hat: die Umstände der Verhaftung seines Vaters nach der Aufdeckung einer
illegalen Aufnahmewerkstatt. Als die Aufnahmewerkstatt in Pilsen als ein Ort, wo die gegen die
Macht gerichteten Reden aufgenommen wurden, ermittelt wird, wird Eduards Vater als einer, der
an dem „Kapitalverbrechen“79 teilgenommen hat, verhaftet. Während der Verhaftung bezeichnet
Konrad Eduards Vater als Informant. Damit wird zwar sein Leben gerettet, vor den Augen der
anderen engagierten Sudetendeutschen wird er bloßgestellt und bricht fast zusammen. Die Anderen,
die
mit
dem
tschechoslowakischen
Widerstand
gearbeitet
haben,
werden
unmittelbar
abtransportiert. Eduard, unsicher und entsetzt, wird von Pauls Vater Konrad ausgefragt. Konrad
deutet dabei daran, dass das Schweigen ein Verbrechen am Führer sei. Durch die Erinnerung an
diese Situation wird die Kraft staatlicher Kontrolle in der damaligen DDR geschildert. „Auch wenn
nur Platten mit Instrumentalmusik hergestellt werden“80 soll die Gauleitung über der Entstehung
solcher Werkstatt informiert werden.
Es wird von Eduard auch ein Sonntag ins Gedächtnis zurückgerufen, an dem er wie gewöhnlich
mit seiner Familie an einem auf Lateinisch gehaltenen Gottesdienst teilnimmt.
Seine
Überlegungen, die als ein innerer Monolog dargestellt werden, sind eine Verschmelzung von dem
Weltverständnis eines kleinen Kindes mit den Erkenntnissen des schon erwachsenen Eduards. Die
Fragmente der Liturgie, die über Gott handeln, werden von dem kleinen Jungen mit den Deutschen
assoziiert und auf ihre Verfolgungspolitik übertragen: „ Wenn man halt Gott ist. […] Wir müssen
gehorchen. Wie bei den Deutschen. Sonst geht’s ins Krematorium. Die Wege der Deutschen sind
unergründlich.“81 Eduard bewertet und beurteilt Gott; es wird auch auf die Ratlosigkeit gegenüber
den der NS-Herrschaft hingewiesen: „Wir verziehen einem, der nicht sprechen kann. […] Er macht
schon lange nix Gutes. […] Gott können wir nicht besiegen. […] Wir können nix tun“ 82
Am Dienstag, dem
04.11.1969 werden Eduards Erinnerungen an die Flucht aktiviert:
Sie haben Vater rausgelassen. Nach neun Monaten! […] Wir wollen nicht wie Vieh im
Güterwagen fahren. Wie die meisten hier. […] Der Marsch nach Pilsen ist gefährlich.
[…] Meine Füße tun weh. […] Ich schaue mir die Leute an. Blasse, traurige Gesichter.
Die Erwachsenen schauen nach unten. Oder starren geradeaus. Niemand will sich in die
Augen sehen lassen. […] Ich sehe alte Leute auf der Straße liegen […] Wir erreichen den
Bahnhof. Tschechische Soldaten treiben uns zusammen […] Die Leute haben Angst .83
Auf dem Bahnhof werden die vertriebenen Sudetendeutschen durch tschechische und russische
78
Ebd., S.221.
Ebd., S.223.
80
Ebd., S.223.
81
Ebd., S.219.
82
Ebd., S 219.
83
Ebd., S.329-330.
79
30
Soldaten schlecht behandelt. Nach dem Einstieg wird Estor Meißerl wegen einem Bankauszug
aufgerufen. Das Geld, das von Eduards Vater kurz vor der Vertreibung von der Bank geholt wurde,
muss laut Gesetz enteignet werden: „[über die russischen Soldaten] Zwei schnappen Vater. Zwei
Mutter. Zwei mich. […] Mir fassen sie direkt in die Unterhose. Ich laufe rot an. […] Vater schlagen
sie ins Gesicht. Ein Russe spuckt ihn an. Vater bleibt stark “84 Die Leute werden gedemütigt und
gefoltert. Die Fahrkarten, die durch Tuschkauer Bürgermeister gekauft wurden und den Platz in den
Sitzwaggons garantieren sollten, haben kein Wert mehr., und sie werden in die Güterwaggone
zusammengepfercht. Beim Aussteigen werden alle Habseligkeiten mit Gewalt weggenommen.
Bei der Darstellung der Ankunft in Erfurt wird von Eduard die Spannung zwischen den zwei
verschiedene aufeinander gestoßenen
Gruppen, den Vertriebenen und den Einheimischen,
geschildert: „Die Leute haben graue Gesichter. […] Manche sehen und böse an. Als ob wir Schuld
an dem ganzen Schlamasel hätten! Eine Frau rempelt Mutter an. […] “85 Was von Eduard nie
vergessen wird, sind die Worte dieser einheimischen Frau: „ Geh nach Hause zurück. Ihr Elendigen.
“ 86 Wenn kleiner Eduard nach der Ankunft in Erfurt nach dem Zuhause fragt, wird geantwortet: „Zu
Hause ist da, wo die meisten Erinnerungen sind.“, so Eduards Vater, „ Die Zeit bringt uns neue
Erinnerungen. Wir können auch hier zu Hause sein. […] Aber nur durch Erinnerungen leben wir
weiter! […] Eduard, zu Hause ist da, wo alle der zusammenkommen.“ 87
Mit der Fahrt durch eine zertrümmerte Stadt und mit der ersten Nacht an dem neuen Ort wird der
Strom Eduards Kindheitserinnerungen abgeschlossen.
Durch diese Erinnerungen wird seine
Gruppenzugehörigkeit zu der Erinnerungs- und Gedächtnisgemeinschaft88 der vertriebenen
Sudetendeutschen bezeugt.
84
Ebd., S. 331.
Ebd., S. 332.
86
Ebd., S. 332.
87
Ebd., S. 332-333.
88
Vgl., Zimniak, Paweł: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip in Emma
85
31
3.1.2 Die Position des heterodiegetischen Erzählers
Die Geschichte der sudetendeutschen Gemeinde wird überwiegend aus der auktorialen89 (nach
Stanzel) Perspektive wiedergegeben. Aus der Sicht eines Handlungsbeteiligten (in der ICH-Form)
werden nur die kursiv markierten Erinnerungen und innere Monologe der Hauptfigur Eduard
Meißerls dargestellt.
Nach der Niederschlagung der Prager Demonstration, aufgrund der Verurteilung wird Eduard in
eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Infolge der ärztlichen Behandlung greift er tief in sein
Gedächtnis zurück. Der fortlaufende Strom der Erinnerung wird heterodiegetisch90 (nach Genette)
geschildert:
Er schaute vor allem nach innen, vermaß das angestaute Bilderarchiv, zählte Erinnerungen
und ließ sich zwischen den fein säuberlich voneinander getrennten Bilderhaufen
treiben.[…] Er sortierte gute und schlechte, neue und alte, Frühling, Herbst und Winter,
schnelle und langsame, laute und leise, Vater und Mutter, […] und so weitere
Erinnerungen[…].91
Es ist hier auf die Bedeutung des Titels einzugehen. Der Titel, der leitmotivisch auf den Inhalt des
Romans verweist, kann in Verbindung mit den Erinnerungen Eduard Meißerls, die sich nicht aus
seinem
Gedächtnis
verbannen
lassen,
gebracht
werden.
Hier
sind
besonders
die
Kindheitserinnerungen an die Tuschkauer Wirklichkeit zu nennen, die - selbst wenn in einer
unvollständigen Form - sogar nach der Behandlung mit Elektroschocks immer vorhanden sind und
nicht heraus aus dem Sinn, ‚aus dem Kopf wollen‘.
Die Gegenwartsebene der Stadt Erfurt um das Jahr 1969 wird in den Kapiteln Erst ein Ende
(Prolog) und Und dann ein Anfang (Epilog) ebenfalls von einer heterodiegetischen Erzählinstanz
präsentiert. Neben der Erfurter Domuhr wird ein Mann, barfuß, ohne Papiere, Brille und Schuhe
aufgefunden, der sich nicht mal an seinen Namen erinnert. Er spricht nur beziehungslose Worte und
Satzfetzen aus. Seine Identität kann nicht mehr nachgewiesen werden, deshalb wird er von einem
89
90
91
Braslavskys Aus dem Sinn (2007), S. 8.
Vgl., Fludernik, Monika: Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006,
S.104.
Vgl., Ebd., S.113.
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008,, S.335.
32
Psychologen behandelt und ins Verhör genommen, weil es zu gleicher Zeit nach dem Täter der
Domuhrexplosion gesucht wird. Dieses Ereignis, das als eine Katastrophe für die Stadt angesehen
wird, löst Panik aus; der Pfarrer Neigefind92 wird zum Ausnüchtern ins Krankenhaus gebracht.
Die Ermittlung wird von den Abschnittsbevollmächtigte (ABV) Genossen Karlheinz Krause
durchgeführt. An die Öffentlichkeit wird folgende Meldung (Zeitungsartikel) gebracht:
Neben den Abbildungen der zerstörten Domuhr und der schweigenden Gloriosa zeigt die
Zeitung das Bild eines jungen Mannes, der im Morgengrauen auf dem Bordstein zwischen
den Ziffern und Zeigern an den Straßenbahngleisen gefunden wurde. Die Polizei bittet
hierbei um Hinweise. Seine Identität könne nicht festgestellt werden; er erinnere sich nicht
an seinen Namen.93
Noch im Prolog wird vorläufig die Identität des Unbekannten mithilfe des Stadtuhraufsehers Anton
Becker festgestellt. Seine Behauptung, auf dem Zeitungsfoto seinen Freund aus Tuschkau, Eduard
Meißerl erkannt zu haben, wird von dem ABV Krause registriert:
Er, Krause, habe auch bei ihm umgehend die Standardbefragung durchgeführt. Becker
habe auch auf das Zeitungsfoto des unbekannten Mannes gewiesen, dass er den kenne und
das er ein alter Kindheitsfreund von ihm aus Tuschkau sei. Er solle hier in Erfurt leben.
Becker habe gesagt, dass er ein Mathematiker an der Hochschule sei. Ein richtiger
Zeitforscher! Er solle… Krause blickt auf seinen Notizblock…Eduard Meißerl heißen.94
Im Epilog werden die im Prolog fehlenden Details ergänzt. Im Krauses Büro wird der Vorfall bei
der Anfertigung des Protokolls aufgeklärt, als die Beteiligten aufgefordert werden, in dieser
dringlichen Angelegenheit eine Aussage zu machen. Die Zisterziensernonne Elisabeth, bei der die
verlorene Sieben gefunden wird, bekennt sich als schuldig an der Explosion der Domuhr (der
Umgang mit dem Sprengstoff sei den Nonnen „für Verteidigungsfall“95 im Kloster beigebracht). Die
Erklärung für ihre Tat soll mit dem Aufbau von Kirchen im Zusammenhang stehen, die schließlich
zu „Touristenattraktionen aus der Vergangenheit“96 werden und keine Furcht vor Gott mehr erregen.
Gewagte Theorie für das Vaterland, das seinen ‚Gläubigern‘ nur leere Versprechungen bietet.97
Die Identität des jungen Mannes wird von seiner Mutter Ella Meißerl bestätigt, die sich am Ende
des Romans im Büro des ABV Krause erscheint.
Der Roman wird mit einer Schlussbemerkung des ABV Krause abgeschlossen, der den verwirrten
Eduard aufmunternd auf die Schultern klopft : „Mensch, Kopf hoch! Das ist doch schon ein
Anfang.“98 Den Worten ist eine Hoffnung auf das Erwachen aus der Lethargie und damit auf einen
92
93
94
95
96
97
98
Ebd., S.19.
Ebd., S.15.
Ebd., S.20.
Ebd., S.360.
Ebd., S.360.
Vgl., Ebd., S.361.
Ebd., S.361.
33
neuen Anfang für die mit den immer wieder zurückkehrenden Erinnerungen gequälten Hauptperson
enthalten.
3.2 Figurenkonstellationen
3.2.1 Paul Händl als ideologischer Wortführer der Sudetendeutschen und
Eduard Meißerls Interessenlosigkeit
Die Person Paul Händls und die Hauptperson Eduard Meißerls sind auf der Ebene der Kontraste
analysierbar.
Zwar
gehören die beiden Protagonisten der
gleichen Erinnerungs- und
Gedächtnisgruppe99 der Sudetendeutschen an, in Bezug auf das Problem der Vertreibung und auf
die Art und Weise der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte vertreten sie aber
unterschiedliche Standpunkte.
Paul Händl ist einer der jungen Sudeten, der sich sehr nach nationaler Identifikation und sozialer
Anerkennung der sudetendeutschen Gruppe in der DDR sehnt. Durch sein Engagement wird er zum
ideologischen Wortführer der Sudetendeutschen100. Er fühlt sich der Sache gewachsen und setzt sich
als Ziel die Betonung der kulturellen Besonderheit der Sudetendeutschen: „Erst, wenn wir
gewinnen, interessiert sich jemand für uns. […] Ach, dieser ganze deutsche Einheitsquatsch! Es gibt
keine Deutschen. Die Thüringer sind Thüringer. Die Sachsen sind Sachsen. Wir sind Sudeten. […]
Auf diesen Zentralismus hier hab ich keine Lust!“101 In einem Gespräch mit Schwarz schätzt er die
Lage der eigenen Bevölkerungsgruppe als ungünstig ein. Er spricht sich für eine sozialistische
Gesellschaftsform aus : „ Der Sozialismus ist aber nicht unser Problem. […] Nur, er funktioniert
nicht in jeder Kultur auf die gleiche Weise. Ich hätte nichts gegen Sozialistische Sudetische
Republik.“
Es wird auch darauf aufmerksam gemacht, dass die Sudetendeutsche als eine
Erinnerungs- und Gedächtnisgemeinschaft in der DDR unter einem kulturellen Notzustand leiden
und dass die Situation geändert werden muss: „Sozialismus heißt aber nicht Gleichmacherei, das
heißt nur Chancengleichheit. Und davon kann ich hier nichts merken. Vor allem kulturell nicht.“102
Paul verspürt ein Bedürfnis, etwas zu unternehmen und fordert die Anderen zum Handeln auf: „Wir
Vgl. Zimniak, Paweł: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip in Emma
Braslavskys Aus dem Sinn (2007), S. 6.
100
Vgl., Ebd.
101
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S. 30.
102
Ebd., S.168.
99
34
müssen der Wind sein, nicht die Gardinen!“103 Vor der Prager Kundgebung fühlt er sich wie am Ziel
seiner Träume nach Identifikation und Unabhängigkeit der Sudetendeutschen: „Mit der
Demonstration im März kommen wir aus der Defensive. Diese Kundgebung erweckt uns wieder
zum Leben. Und die neue Verfassung gibt uns doch recht![…] Wir müssen endlich wieder raus aus
diesem Einheitsbrei!“104 Gumpl, der Exgeheimrat, als Vertreter der älteren Generation schreibt in
diesem Zusammenhang die größte Bedeutung dem Boden und der Blut zu. Für ihn und für die ältere
Generation war die sudetische Kultur nur im Rahmen des Sudetenlandes vorhanden. Er versucht
Paul zu verdeutlichen, dass der Kampf nur dann einen Sinn hat, wenn die ANSen auch an den
Boden zurückkehren möchten. Diese Äußerung findet Pauls Zustimmung. Es wird betont, dass die
Sudeten in der DDR kein eigenes Stück Land für sich bekommen haben. Die Demonstration in Prag
soll demzufolge als eine Forderung nach einem eigenen Kulturraum für Sudeten angesehen werden.
Die obenerwähnte Gruppe der ANSen (selbst kreierte Abkürz. von den ‚Anständigen Sudeten‘), der
Paul angehört und die von ihm im Geiste eines Existenzkampfes der Sudetendeutschen leitet wird,
wird offiziell als ein Kulturverein dargestellt. In Wirklichkeit werden von den Mitgliedern dieses
Zirkels illegale Aktionen vorbereitet.
Im Zusammenhang mit der Person von Paul Händl wird das Vater-Sohn-Verhältnis als relevant
eingestuft. Paul wirft seinem Vater vor, dass er die Sudetendeutschen als eine vollberechtigte
Bevölkerungsgruppe nicht anerkennt will: „Für ihn sind Sudeten jetzt Deutsche. Sie existieren nicht
mehr. Sudeten sind nur noch ein Fall für die Völkerkunde.“105 Nach dem Fiasko der ersten
Demonstration in Prag wird es ihm klar, dass sein Vater die Tätigkeit der ANSen-Gruppe deckt,
solang sich ihre Angehörigen nicht politisch engagieren. Die Relation Pauls zu seinem Vater
kristallisiert sich, indem Paul ihn als Spieler bezeichnet, der keine Beziehung zu dem
Geschichtlichen verspürt. Paul charakterisiert dabei die Spieler als eine Gruppe der Menschen, die
nur vorwärts gehen: „Spieler leben nur im Moment, schauen nicht gern zurück und bloß strategisch
in die Zukunft. Dabei denken sie nur an Gewinner! Nicht an die Verlierer.“ 106 Paul will seinem
Vater
imponieren
und
durch
den
Sieg
in
Prag
seine
Anerkennung
zu
erlangen.
Die Art und Weise Pauls Wahrnehmung der Realität unterscheidet sich wesentlich von Eduard
Meißerls Perzeption der Welt: der vergangenen Jahren und der Gegenwart. Die Zurückhaltung und
ist für Mathematiker und Lehrender an Erfurter Hochschule Eduard typisch. Er ist von der Realität
distanziert und nimmt lieber Abstand von der Politik. Er will an der Demonstration in Prag nicht
103
104
105
106
Ebd., S.167.
Ebd., S.167.
Ebd., S.29.
Ebd., S.30.
35
teilnehmen, da ihn sudetendeutsche Vergangenheit nicht interessiert. Eduard fühlt sich selbst als
kein Sudete: „Ich erinnere mich ein eine Kindheit in Tuschkau. Die Stadt hat jetzt einen
tschechischen Namen; den kann ich nicht mal aussprechen! […] Der Boden ist mir egal. […] Mein
Zuhause ist hier, die Leute sind alle hier. Was soll ich dort?“107 In den Vordergrund wird Eduards
ungewöhnliche Begeisterung für die Uhrzeitforschung und die Zeitdimension gerückt. Die
Armbanduhr, der Wecker, elektrische Küchenuhr und die Quarzuhr in seinem Wohnzimmer werden
jeden Tag morgens synchronisiert, damit es zu keiner Verspätung kommt. Die übersteigerte
Darstellung seiner Vorliebe für Uhren und die Genauigkeit wirkt sogar absurd: „Er kannte jede Uhr
in der Stadt und derer sekundengenaue Abweichung. Allerdings konnte er bei größeren Havarien
schon einmal in Panik geraten […].“ In Bezug auf die vergehende Zeit leben die Menschen nach
Eduard in völliger Ahnungslosigkeit: „Die meisten Menschen wissen nicht, wie viel Zeit sie
verbrauchen, […] Sie wissen nur, dass sie ihnen fehlt, dass etwas kurz oder lange dauert wird. Sie
ticken nicht richtig.“108
Im Gespräch zwischen Eduard und Eigler, dem Bankangestellten, wird Eduards Stellung zu dem
Begriff Heimat und Wurzeln abgezeichnet: „ [Eduard] Ich glaub, man kann überall existieren, wenn
man nur will. [Eigler] Existieren ja, aber man selber sein, dessis ein feiner Unterschied.“109 Es wird
hier auf zwei verschiedenen Dimensionen des Daseins hingewiesen. Eduard verspürt keine
Verbundenheit zu dem Heimatland und zu einem Ort im Allgemeinen. Eiglers Standpunkt ist
wesentlich unterschiedlich; er geht auf den Begriff Freiheit ein, indem er erklärt, dass man zwar
überall existieren kann, aber das Gefühl der wahren Freiheit und der Zugehörigkeit ist nur an dem
Heimatsort zu erwerben.
Durch die Beschreibung Eduards Innenwelt während dem Besuch in der heimatlichen Stadt
Tuschkau wird nochmal seine Immunität gegen sudetendeutscher Vergangenheit und dem
Heimatverlust hervorgehoben: „Er fühlte sich fremd hier, […] Heimatgefühle kamen bei ihm in
Tuschkau nicht auf; obwohl vertraut, erschien ihm die Stadt wie ein verkauftes und ausrangiertes
Bett, in dem nun andere lagen […].“110 Hier trifft Eduard seine Kindheitsfreundin Miri, das kleine
jüdische Mädchen, das von Eduards Eltern versteckt und letztendlich von der SS nach Dachau
abtransportiert wurde. Erst in Tuschkau erfährt Eduard, dass Miri aus dem Konzentrationslager
geflohen ist. Die Begegnung mit der nun erwachsenen Miri führt zu einem überraschenden Abruf
der bis jetzt versteckten Gefühle. Die junge Frau scheint ihm an einer Seite fremd, an der anderen
aber vertraut zu sein: „weil sie seine Erinnerungen an einen Ort brachte, an dem er Verlorenes
107
Ebd., S.89.
Ebd., S.44.
109
Ebd., S.110.
110
Ebd., S.212.
108
36
begraben hatte und zu dem er nie wieder zurückwollte.“111 Vor seinem damaligen Haus stehend
führt Eduard ein Selbstgespräch. Er sucht und findet auch Argumente für das Betreten des Hauses,
das ihm nicht mehr angehört und jetzt eine Bäckerei ist. Die mit diesem Ort verbundenen
Erinnerungen sollen ihn dazu berechtigen: „Unser Haus? […] Eigentlich war es nie unser Haus.
Vater hat das Haus ja nicht gekauft. Trotzdem. Ich bin Eigentümer der Erinnerung. Das reicht
doch!“112
Eduard äußert sich mehrmals kritisch über die ANSen: „Die ANSen sind plemplem.“113 oder: „Die
ANSen finde ich bescheuert.“114 Paul übt aus diesem Grund eine radikale Kritik an seinen Freund,
Eduard.
Für ihn ist Eduards Gleichgültigkeit gegenüber den Initiativen der ANSen nicht zu
akzeptieren. Eduard isoliert sich und fühlt sich von Paul und Gumpl mit dem „Sudetenkramm“115
gequält. Er zeigt endgültig kein Interesse an dem Unabhängigkeitskampf, indem er seine Wahl trifft
und sich gegen die Kundgebung in Prag ausspricht. Durch Zufall landet Eduard zu der Zeit der
Demonstration im sowjetisch besetzten Prag. Der Vorfall in der tschechoslowakischen Hauptstadt
bliebt, wie von Eduards Mutter Ella vorgesehen, nicht ohne Folgen für die Demonstranten, die nach
dem Misserfolg verhaftet werden. Beide Heimatvertriebenen finden sich mit der eingetretenen
Situation verschiedenartig ab: Paul begeht im Gefängnis Selbstmord. Eduard überlebt, wird aber im
Auftrag von dem deutschen Staatssicherheitsdienst in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, wo er
infolge der Elektroschockbehandlungen letztendlich seine Erinnerungen und seine Identität verliert.
111
Ebd., S.210.
Ebd., S.208.
113
Ebd., S.34.
114
Ebd., S.25.
112
37
3.2.2 Zum Vertriebenenschicksal Ella Meißerls
Das Schicksal Ella Meißerls ähnelt dem Verhängnis anderer heimatsvertriebenen Frauen dieser Zeit.
Die Flucht und Vertreibung als Schlüsselerlebnisse, die ihr Bewusstsein und ihre künftige
Weltanschauung prägen, werden in erster Linie durch die Kindheitserinnerungen ihres Sohnes,
Eduard thematisiert. Ella, in Erfurt geboren und aufgewachsen, wird zur Plätterin ausgebildet und
heiratet Estor Meißerl, Handwerker mit einer kleinen Schuhwerkstatt. Infolge der Vertreibung aus
Tuschkau (ehemaliges Sudetenland) wird der Besitz ihrer Familie vernichtet, erspartes Geld
weggenommen. Kurz vor der Flucht wird Ella von den tschechischen Kommandos im Beisein von
ihrem kleinen Sohn Eduard sexuell missbraucht. Die brutale Vergewaltigung, die sie danach sogar
ins Scherz hinzustellen versucht, und die anderen traumatischen Erfahrungen, wie die
Grabschändung ihrer früh verstorbenen Tochter von den tschechischen Soldaten und eine Randale
auf dem Erfurter Friedhof, infolge der der Leichnam ihres Mannes verbrannt wird, wirken
wesentlich auf ihr Leben ein. Ella erinnert sich an ihre verstorbene Tochter während einem Besuch
von Pauls Freundin, Nadja Malitsch: „Emma. Sie hatte schwarzes Haar, die blauen Augen von
Estor. Wir hat en sie damals im Garten begraben. Eines Nachts hat die Bande von Tschechen den
Leichnam wieder ausgegraben und vor unsren Augen verbrannt.“116
In einem Gespräch mit Anna werden Ellas Gedanken und Emotionen, die ihr nach Eduards Geburt
begleiten, geschildert. Die Angst, gesellschaftlich wegen Anderssein verachtet zu werden, treibt sie
zur Fälschung der Geburtsurkunde: die Felder mit der Augen- und Haarfarbe ihres Kindes werden
aus dem Dokument gelöscht: „[…] als Eduard geboren wurde, hatte er ganz dunkle Augen und
schwarzes Haar. […] Stell dir vor, des hätt aus heitrem Himmel ein Neger sein können, in den
Zeiten![…] Zu Haus hab ich dann die Augenfarbe aus der Urkunde mit einem Rasiermesser
rausgekratzt und blau reingeschrieben, und bei denen Haaren hab ich blond draus gemacht.“ 117 In
ihrer Denkweise spiegelt sich das Weltbild der durch den Krieg geprägten Gemeinschaft, in die sie
verwurzelt ist, wider.
Ellas skurrile Vorliebe für Vornamen, die mit dem Buchstaben E anfangen, gehört zu denjenigen
Merkmalen, mit denen Braslavsky ihre Figuren ausstattet und ihnen damit einen komischen bzw.
grotesken Riss verleiht. Dieser Vornamentick fungiert in ihrem Verständnis als eine
115
Ebd., S.71.
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S.135.
117
Ebd., S.178.
116
38
Familientradition: „Als sie Estor heiratete, war sie nicht nur dem Wunsch ihres Herzens gefolgt,
sondern auch den Spuren der eigenen Sippe.“118 In den Kindheitserinnerungen Eduards erscheinen
ja auch die E-Geschichten, die zu den Lieblingsgutenachtgeschichten ihres Sohnes gehören. Als
Eduard der Mutter seine Freundin und künftige Ehefrau Anna vorstellt, stößt er auf Ella Misstrauen.
Ihre Zustimmung auf die Beziehung mit jemandem anderer Herkunft, mit dem Namen E, der seinen
Anfang nicht mit dem geliebten Buchstaben E nimmt, scheint problematisch zu sein und verbindet
sich
mit
dem
Aufgeben
der
E-Konvention
und
zugleich
der
Heimatidee.
In dem Zusammenhang mit der Figur Ella Meißerls muss die Person des Exgeheimrats Gumpl
genannt werden. Dank seiner Hilfe nach der Ankunft der Familie Meißerl in Erfurt gilt er als
Wohltäter der Familie und nimmt als Ellas Arbeitgeber und Geliebter einen wichtigen Platz in ihrer
Welt. Diese Beziehung erlaubt ihr nach dem Tod ihres Mannes den gewünschten Lebensstandard in
den Nachkriegsdeutschland beizubehalten. Sie lässt sich von ihm beeinflussen, in Bezug auf die
Tätigkeit der ANSen und die Idee der Demonstration in Prag vertritt sie aber andere Meinung und
ist mit der Teilnahme Eduards an der Kundgebung nicht einverstanden. Über die
Demokratensozialisten äußert sie dennoch folgendermaßen: „Am besten sperren sie doch gleich alle
weg! Dann ist es endlich Ruh. Dann können sie mit diesem depperten Laden machen, was sie
wollen! Elendiges Drecksprack!“119
Ella Meißerl scheint dem Begriff ‚Heimat‘ keine besondere Bedeutung beizumessen. Sie wünscht
keine Rückkehr ins Sudetenland, das sie als ein ‚Nimmerland‘ bezeichnet. In einem Selbstgespräch
wird die Heimat „eine vergängliche Strecke im kosmischen Kreis”120 genannt. Die Freundin ihres
Sohnes, zu ihrer Verzweiflung eine Schlesierin und Protestantin, wird dennoch schon beim ersten
Treffen nach der Herkunft, Konfession und nach dem Vertriebenenstatus121 ausgefragt. Es stellt sich
heraus, dass Anna einer aus Schlesien vertriebenen Familie entstammt, wobei es aber direkt
akzentuiert wird, dass im Annas Familienkreis an die Vertreibung nicht erinnert wird: „Die
Umgebung auf ihren wenigen frühen Kindheitsfotos war einfach irgendwo gewesen;
mittelosteuropäische Vegetation und Menschen.“ Das Familiengedächtnis ihrer Familie funktioniert
nach anderen Regeln als in Ellas Familie, wo das Individuum durch ihre Ursprünge und
Vergangenheit stark geprägt und die Familie dadurch fundamentiert wird.
In einem Gespräch zwischen Ella, Gumpl und Annas Mutter, Elfriede, werden die Prozesse des
Vergessens und Erinnerns zur Diskussion gestellt. Es wird nach Beweggründen für das Vergessen
118
Ebd., S.101.
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S.309.
120
Ebd., S.175.
121
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S.83.
119
39
gesucht. Laut Gumpl sei der Prozess des Vergessens von dem Willen abhängig. Elfriede vertritt die
Meinung, dass man vergisst, weil man es machen muss, um die unerwünschte Erinnerungen zu
bewältigen. Ellas Ansicht nach gerät in Vergessenheit das Verlorene, kommt aber auch zu einer
Feststellung, dass man häufig unfähig ist zu vergessen. Gemeint werden hier wohl ihre eigenen
Erinnerungen, die mit den unliebsamen Vorkommnissen verbunden sind und die in Bezug auf die
Vertreibung
das
Gefühl
der
Hilflosigkeit,
Verzweiflung
und
Todesangst
vermitteln.
Das Leben von Ella Meißerl bleibt einerseits von Misstrauen, Trauer und Bitterkeit gezeichnet,
andererseits scheint sie sich aber trotzdem mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben. Im Kampf
ums Überleben abgehärtet wird sie aber letztendlich als eine starke Frauengestalt, bei der Nadja und
Anna nach der Verhaftung Pauls und Eduards Zuflucht und Trostworte finden, dargestellt. Es wird
hier ein Frauenbild wird entworfen, das stark durch die Mutterschaft, den Witwenstand und die
Bindung an die verlorene Heimat geprägt wird.
40
3.3 Raumstruktur
Die Raumstruktur bilden im Roman Aus dem Sinn drei Städte: Tuschkau, Erfurt und Prag. Allen
drei Komponenten wird außer dem Status Handlungsort eine besondere Stimmung verliehen. Diese
charakteristische Atmosphäre wird einerseits durch die Menschen bzw. die Stadtbewohner und ihre
Handlungen, und andererseits durch die Umgebung (Gebäude, Gegenstände) kreiert. Sie erzeugt bei
den in das Geschehen involvierten Figuren bestimmte Emotionen und Gefühle. 122
Die ehemalige deutsche Stadt Tuschkau, die sich unmittelbar mit dem Vertreibungsschicksal
verbindet, wird zu einem Erinnerungsort des literarischen Sudetendeutschen. Die Stadt kann auch
aufgrund ihrer symbolischen Bedeutung für das Kollektiv der Vertriebenen als ‚Bedeutungsraum‘123
bezeichnet werden. Die Sorglosigkeit, Vertrautheit und das Gefühl der Heimatverbundenheit, aber
auch die Fremdheit, Verzweiflung, Angst und Panik werden zu untrennbaren Elementen dieses
Bildes, wobei es festgestellt werden muss, dass ihr Charakter von der Verarbeitung der vergangenen
Ereignissen und Bewältigung von Traumata abhängig ist. Als zweites Teil der Raumstruktur gilt die
Stadt Erfurt, das Einblick in die raue Wirklichkeit des DDR-Alltags gewährt. Hier bildet sich
aufgrund der fehlenden Akzeptanz seitens deutscher Gesellschaft aber auch infolge der bewussten
Ausgrenzung nach außen ein soziales und kulturelles Vertriebenen-Milieu heraus. In den
Vordergrund treten die Schwierigkeiten und Problemen der Beheimatung und der Integration der
ausgebürgerten Sudetendeutschen und das Phänomen der Vertreibung als ein tabuisiertes Thema. Es
ist wieder ein Raum mit einer Vielzahl emotionaler Zustände: Hoffnungslosigkeit, das Gefühl der
Ungerechtigkeit, Ärger und Wut, Unsicherheit, Frustration, Unzufriedenheit aber auch Verliebtheit
(Eduard und Anna).
Es
ist
anschließend
die
Unabhängigkeitskampfes gilt.
Stadt
Prag,
die
als
der
Schauplatz
des
sudetendeutschen
Die Aufregung und Heiterkeit, die das Vorbereiten der Prager
Kundgebung begleiten, und die Enttäuschung und Machtlosigkeit nach dem Misserfolg der
Demonstration schließen diesen Raum der Geschichte ab.
122
Vgl. ., Gansel, Carsten: Zwischen offiziellem Gedächtnis und Gegen-Erinnerung- Literatur und kollektives
Gedächtnis in der DDR. In: Gansel, Carsten (Hg.): Gedächtnis und Literatur in den >geschlossenen
Gesellschaften< des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen: V&R unipress 2007, S. 19-20.
123
Ebd.,19.
41
3.3.1
Die
tschechische
Stadt Tuschkau
als
ein
‚Erinnerungsort‘
der
Sudetendeutschen
Tuschkau ist eine historische Bezeichnung für eine Stadt und einen Bezirkshauptort im böhmischen
Kreis Pilsen an der Mies (Tschechien). Die Stadt wird bei Braslavsky zum literarischen Schauplatz
öffentlicher Vertreibung der Sudeten. Eine neue erzwungene Heimat finden die Vertriebenen in der
Deutschen Demokratischen Republik (DDR), die Stadt Tuschkau erhält aber einen besonderen
Status des Heimatsortes. Sie funktioniert im kollektiven Gedächtnis eher als ein aus den
Erinnerungen geschaffenes Gebilde, und weniger als ein rein geographisches Gebiet.
Die Erinnerungen um Tuschkau werden zum großen Teil von Eduard Meißerl inszeniert. Er erzählt
aus seiner Vergangenheit in der Stadt. Es wird u.a. ein Gespräch mit seinem Vater wiederbelebt,
während über die Bedeutung des Begriffs ‚Würde‘ diskutiert wird. Estor Meißerl zählt die Würde
zu den obersten Werten im Leben des Menschen. Seine Definition beruht auf der Idee des
moralischen Aufrecht-Gehens. Es ist auch auf die Haltung der Menschen im kommunistischen
System übertragbar, wenn man sich entscheiden musste, ob man sich selbst und seinen Grundsätzen
treu bleiben will (Estor Meißerl wird aus Gewissensgründen fast zu Tode gefoltert). Konrad Händl
avanciert in der Zeit des Nationalsozialismus zu einem NS-Funktionär. Dank gewisser Beziehungen
Händls im Staatsapparat wird zwar Eduards Vater aus der Haft entlassen, Händl bleibt aber ein
heuchlerischer, gegenüber anderen Menschen unaufrichtiger Mensch: „Er ist ein hohes Tier.[…]
Eine Würde als Mensch und eine als Funktionär. Bei ihm muss man nur wissen, welche er
dabeihat.[…] Der rettet die einen und vernichtet die anderen.“124 Während der Abtransporte
jüdischer Familien leitet er sogar die Aktion. Von Ella Meißerl wird auch auf seinen Glauben an
Führer hingewiesen. Die von Eduard projiziertes Erinnerungen beziehen sich auch auf Kinderspiele
mit Miri und Paul, Abtransport seiner Freundin Miri, Verhaftung seines Vaters, Vergewaltigung
seiner Mutter, schließlich die Vertreibung. Zu dem bekannten Tuschkauer Bild gehören auch die
Menschen, die auch aus dem Sudetenland vertrieben worden sind: Gumpl, das Ehepaar
Hoffmann125 aus Tschemin, Herr Braun, Frau Zitterbart.
Die Mehrheit der Vertriebenen wünscht sich nicht mehr, in ihre Heimat zurückzukehren. Für
Eduards Mutter ist das Sudetenland nur noch ein „Nimmerland“, Eduard selbst scheint auch keine
124
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S.40.
42
größere Bedeutung dem Boden zuzuschreiben. Es sind nur die an dem Ort gebundenen
Erinnerungen, die eine gewisse Anziehungskraft innehaben. Obwohl Eduard mehrmals andeutet,
dass er sich keineswegs als Sudete fühlt, wird er doch nach Tuschkau zurückgezogen. Er erläutert
seinen Entschluss mit der Erklärung „sich umzuschauen“. Die Stadt Tuschkau kommt auf der
Gegenwartsebene zum Vorschein, als Paul und Eduard vor der Demonstration in Prag die Gräber
ihrer Großväter besuchen. Die beiden Freunde unterschieden sich wesentlich in ihrem Verhalten:
während Paul zu sich selber spricht, verharrt Eduard in unbeweglicher Stellung, zwischen der
Gleichgültigkeit und Ratlosigkeit. Damit wird die Stadt zu einem Ort der Begegnung von
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Auf Tuschkauer Friedhof trifft Eduard Meißerl einen alten
Bekannten Josef Bayerl, der über die Verhältnisse nach der Vertreibung (u.a. über die Enteignung
der Häuser) berichtet. Die weitgreifende Veränderungen, die von Eduard bemerkt werden, sind nur
scheinbar: aus der Synagoge ist eine Post geworden, aus seinem Haus eine Bäckerei. Es herrscht
aber fortdauernd eine Atmosphäre der Feindseligkeit. Die Bewohner scheinen ihre Mentalität des
Argwohns nicht verändert zu haben. Die Deutschen, die in der Stadt geblieben sind, werden ins
Abseits gestellt, was hervorgehoben wird, während Bayerlov seine Bemerkung darüber klar
formuliert: „Nix war so schlimm wie hier bleiben.“126 Eduard erfährt auch, dass fast die ganze
jüdische Gemeinde, die sich in der Zeit seiner Kindheit dynamisch entwickelte (die Bewohner
waren meistens Kaufmänner nur aus geschäftlichen Gründen gegrüßt werden, wie es von einem der
Protagonisten
bemerkt
wird),
ausgerottet
wurde,
indem
die
Mehrheit
der
Juden
in
Konzentrationslager Dachau und Auschwitz gebracht wurde.
Die Stadt Tuschkau verkörpert das Verlorene, Vergangene, was nicht zurückzubekommen ist.
Aufgrund ihrer materiellen (die Häuser, Gräber der Familienmitglieder und Freunden), funktionalen
(Erwecken der gemeinsamen Erinnerung) und symbolischen Dimension kann die Stadt Tuschkau
als ein Erinnerungsort bezeichnet zu werden. Sie bleibt im Gedächtnis des literarischen
Sudetendeutschen präsent.
125
126
Ebd., S.53.
Ebd., S.205.
43
3.3.2 Die Erfurter Realität der ‚geschlossenen‘ Gesellschaft
Durch die im Roman Aus dem Sinn dargestellte Ereignisse, die sich in Erfurt der 1960er Jahre
abspielen, wird es auf die politische und kulturelle Abschottung, die der staatlichen Politik der
Deutschen Demokratischen Republik immanent ist, hingewiesen. Die Ausländerfeindlichkeit, u.a.
durch die Verfolgung der Sudeten abgezeichnet, ist als eine weitere Komponente der
‚geschlossenen‘ DDR-Gesellschaft anzusehen. Die Häuser der Sudetendeutschen werden mit
beleidigenden Sprüchen geschmiert: „Ihr sudetissche Faschistensäue verdreckt unsere saubere
kommunistische Heimat!“127 oder „Judenkiller go home!“128, woran die Schuld der Gruppe der
Autonomen129 zugeschrieben wird. Der Studentenkeller, ein Treffpunkt der Erfurter ANSen, wird
ebenfalls ausgeräumt und mit Hackenkreuzen und Antifa-Parolen markiert. Nach einem
Zwischenfall, als die Hauswänden der älteren engagierten Sudeten mit einem Logo zwischen
Davidstern, Sichel und Hackenkreuz in Rot gekennzeichnet werden, kommt es zu einer Reaktion
seitens des Staates. Die Entschuldigung des Bürgermeisters, die danach folgt, stiftet aber nur noch
mehr Unruhen. Die Sudetendeutschen sollen laut der Aussage von Stadtoberhaupt als sozialistische
Brüder in der Gesellschaft betrachtet werden. Die Bezeichnung ‚Sudete‘ sei demzufolge eine Form
der Diskriminierung. Die soziale Missachtung und Isolierung, denen die Sudeten gegenübergestellt
werden,
tragen dennoch zur Verstärkung des Zugehörigkeitsgefühls bei. Die soziale
Stigmatisierung dieser Gruppe scheint die Bewahrung des kulturellen Vermögens bzw. der
überkommenen Tradition und das Überleben selbst zu garantieren: „Als dann die Häuserwände von
dem Gekritzel befreit wurden, sahen einige Bewohner fast wehmütig zu, als hätte man ihnen damit
das letzte Quäntchen Identität genommen.“130
Der Prozess der Vertreibung und die gesellschaftlichen Probleme, die aus Nachbarschaft zwei
verschiedener Bevölkerungsgruppen resultieren, werden in der DDR tabuisiert. Um sich an die
Vorschriften der politischen Korrektheit zu halten, werden die Vertriebenen offiziell in ‚Umsiedler‘
umbenannt. Als kurz vor der Hochzeit Annas und Eduards telefonisch mitgeteilt wird, dass auf dem
Erfurter Friedhof zu einer Grabschändung kam, ist niemand darüber erstaunt. Die Gräber der
verstorbenen Sudeten wurden ausgehoben, die Leichnamen offengelegt, die Grabsteine beschmiert:
127
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S.166.
Ebd.
129
Die Autonomen sind Angehörige einer Gruppierung, die das Gesellschaftssystem ablehnt und mit Gewaltaktionen
bekämpft.
128
44
„Es handele sich dabei um die Gräber »Rosa Gumpl«, »Estor Meißerl« und »Gottlieb
Zitterbart«.[…] Die Knochen und Schädel der drei Leichen lagen durcheinander daneben auf einem
Haufen. Dies war die Handschrift der Autonomen.“131
Das grotesk dargestellte Konzert im Pilsner Konservatorium kann als ein Beispiel für eine
gesellschaftliche Abschottung aller fremden Bevölkerungsgruppen in der DDR gelten. Die JuryBesetzung wird gut durchdacht festgelegt und besteht aus Juroren verschiedener Herkunft: „Die
Juroren hassten sich; damit verhinderte man einstimmige Punktevergaben[…].“132 Es wird
angestrebt, mit der Kontrolle der Musikentwicklung die ganze Kultur unter staatliche Kontrolle zu
bringen. Anna wird offiziell von dem Genossen Lurch über die Nominierung für die Pilsner
Musikfestspiele
informiert.
Die
Vertretung
der
sozialistischen
Heimat,
des
deutschen
demokratischen Volkes133 sei eine Auszeichnung für ihre Gruppe. Als Anna sich weigert, das naive,
einem deutschen Volkslied ähnliches Stück vorzutragen, wird es unmittelbar darauf aufmerksam
gemacht, dass es kein Vorschlag, sondern ein endgültiger Beschluss des Ministeriums für Kultur in
der DDR sei. Der Vorfall kann als ein Zeugnis von der absoluten Politisierung der Kunst, die in der
DDR von der Partei ununterbrochen vorgeprägt wird, betrachtet werden. Im Vordergrund des
Pilsner Projekts soll die Musik „im Dienste des internationalen Friedens“ stehen. Die Bedeutung
dieses Mottos wird noch durch die in der Konzerthalle überall vorhandene Farbe Weiß verstärkt.
Die Situation in dem Konzertsaal gerät für längere Zeit außer Kontrolle, wenn die einzelnen
Musikgruppen ihre Stücke zu vortragen beginnen. Die Gruppe aus Ungarn spielt Volksmusik, „was
an sich ja schon verdächtig war.“134 Es werden aber auch Tonaufnahmen sowjetischer Panzer und
Rufe sowjetischer Soldaten eingespielt. Von der polnischen Band, deren Mitglieder als weiße Adler
mit Stalin-Schnurrbärten verkleidet sind, wird ein Jodelsang vorgetragen. Die Franzosen singen ein
Lied über Gleichheit, die Italiener ein kämpferisches Partisanenlied; die englische Gruppe ein Lied
über soziale Gerechtigkeit, die Israelis über die Lebensfreude im Kibbuz. Alle Texte vorher
übersetzt und vor den Auftritten an das Publikum und an Jurymitglieder verteilt. Die
Fernsehsendung, die unter staatlicher Kontrolle bleibt, wird sofort aufgrund eines Verbots
unterbrochen. Alle Gruppen sollen sich rechtfertigen. Anna mit ihrer Gruppe wird wegen
Vaterlandsverrat verhaftet und muss eine Schweigeverpflichtungserklärung135 unterzeichnen.
130
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008.
Ebd., S.171.
132
Ebd., S.247.
133
Ebd., S.163.
134
Ebd., S.250.
131
45
In einer Aussage von Frau Zitterbart wird das Problem der Diskriminierung noch mal thematisiert.
Es wird hier eine Vermutung ausgedrückt, welche Maßnahmen der Regierung nach einem
eventuellen Misserfolg der Prager Kundgebung den Sudetendeutschen gegenüber getroffen werden:
„Zu den Negern oder den Schlitzaugen bringen die uns noch.[…] Da hätt man ja überhaupt keine
kulturellen Gemeinsamkeiten!“136 Dadurch wird auch ein weiteres soziales Problem thematisiert,
dass die Erlebnisse der Intoleranz gegenüber eigener Bevölkerungsgruppe in einer geschlossenen
Gesellschaft die Intoleranz gegenüber anderen Gruppen mit anderer Hautfarbe oder Konfession
nicht ausschließen.
Schwarz, Mitarbeiter der Kulturabteilung der Erfurter Stadtverwaltung, sieht für die
Sudetendeutschen, die andauernd beschuldigt und ins schlechte Licht gerückt werden, keine
Zukunft in der ‚geschlossenen‘ DDR-Wirklichkeit: „Tausend Jahre bloß ein Bastard zu sein! […]
Und kein Ende in Sicht. Und immer wenn mir glauben, heimgefunden zu haben, simmer schuldig
an irgendetwas. Als hätten wir damals den Hitler erfunden.“137 Es wird auch auf ein aus dem
geringen nationalen Selbstvertrauen resultierendes Bedürfnis nach Anpassung und Akzeptanz
hingewiesen. Die Betonung nationaler Besonderheit und der Wunsch nach Identifizierung wird mit
der Angst, immer als fremd angesehen zu werden, konfrontiert: „Protestanten, Katholiken, alles
Einheitsbrei. Und hier sowieso von letzter Brisanz. Wenn die da oben des net zu sehr an die Nazis
erinnern würd, täten die uns hier alle in Uniformen rumrennen lassen. Des hammer nun von unsrem
Deutschseinwollen. Hier simmer doch viel weiter weg von uns selber als bei denen Tschechen
drüben.“138 Er äußert sich auch weiter kritisch über die Verhältnisse und die Politiker in der DDR:
„Die lamentieren noch herum, dass sie uns für den Verlust was zahlen sollen. Hier kriegt man ja net
mal eine Entschädigung! Haltet doch endlich das Maul oder so, muss man sich von denen Politikern
auch noch gefallen lassen!“139
Während des Besuchs in Tuschkau trifft Eduard Josef Bayerl, einen Deutschen, der nach der
Vertreibung eine Tschechin geheiratet hat, um die Akzeptanz und Geltung der Einheimischen zu
erlangen. Im Gespräch mit Bayerl, jetzt in Bayerlov umbenannt, erweist sich, dass der
Integrationsprozess auf dem Gebiet des damaligen Sudetenlandes auch nicht vollzogen ist: „Ich bin
jetzt Tscheche.[…] Besser Tscheche! Als Deutscher hältst du es hier net aus. Hackenkreuze nennen
135
Ebd., S.284.
Ebd., S.155.
137
Ebd., S.167.
138
Ebd., S.109-110.
139
Ebd., S.156.
136
46
die uns bis heut noch.“140
Es muss noch dabei hingewiesen werden, dass nicht nur die DDR-Gesellschaft sondern auch
teilweise die Gemeinschaft der ausgewiesenen Sudetendeutschen als ein geschlossenes Kollektiv zu
fungieren scheint. Für Pauls Freundin Nadja [eine Russin, die aus Sibirien geflohen ist- K.B.], ist
das Sudetenviertel einem Getto ähnlich, was einerseits durch die Missbilligung der einheimischen
Bevölkerung, andererseits aber durch bewusstes und zielgerichtetes Abgrenzung seitens der
Vertriebenen bedingt wird.
3.3.3 Prag als Symbol des Unabhängigkeitskampfes
Die Stadt Prag wird immer wieder für großangelegte Kampagnen mit sozial-politischem
Hintergrund (am meisten gegen die Machtstrukturen gerichtet) auserwählt. Es kommt in Prag zu
einem Studentenaufruhr, an der Eduards Eltern, Ella und Estor Meißerl zufälligerweise teilnehmen.
Der Wenzelsplatz wird wieder zu einem Artikulationsforum der Unzufriedenheit für unterdrückte
Nationen. Als Auslöser der Unruhen gilt ein jüdischer Jurastudent, der: „sein Leben und seine
Arbeit dem Kampf um einen demokratischen Neuaufbau des Landes gewidmet [hatte – K.B.], in
dem »Tschechien, Deutschen, Slowaken, Ungarn, Ruthenen, Juden und Polen gleichberechtigt und
selbstbestimmt zusammenleben« könnten.“141 Die Revolte, gegen die bereits einmarschierten
Deutschen und damit gegen Hitlers gewaltsame Machtübernahme gerichtet, wird schnell von den
Staatsmächten unterdrückt. Nach der gewaltsamen Niederschlagung gelingt es Ella und Estor, durch
eine Nebenstraße zu fliehen, viele Demonstranten werden aber verhaftet; es gibt auch viele
Todesopfer.
1967 wird Eduard von seinem Freund Paul hinterhältig auf den Wenzelsplatz gebracht, wo er
ungewollt an einer Demonstration teilnimmt. Unter einer kleiner Gruppe der sudetischen
Landsmänner, von tschechischen Reformisten, die gegen die russischen Panzer aufmarschieren,
140
141
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S.203.
Ebd., S.103.
47
umgeben, werden sie Zeugen den nächsten Misserfolg im Streben nach Unabhängigkeit. Die
Demonstration in Prag nimmt auch ein gewalttätiges Ende. Die Teilnehmern werden von den
deutschen Panzer überrollt. Paul, Eduard und andere ANSen fliehen aus de CSSR, werden aber
einen Monat darauf schon in der DDR verhaftet und der Staatspolizei übergeben.
Das von den Russen besetzte Prag wird absichtlich aufgrund seiner symbolischen Bedeutung für die
Aktion der ANSen ausgewählt. Die große Kundgebung findet am Tag des Eishockeyspiels zwischen
der CSSR und der Sowjetunion auf dem Prager Wenzelsplatz statt. Es soll dabei auf das Schicksal
der aus der Heimat vertriebenen sudetendeutschen Bevölkerung aufmerksam gemacht werden. Als
tschechische Hauptstadt soll Prag in der Zukunft zu einem Symbol für Freiheit und Demokratie der
in der DDR-Wirklichkeit sozial und kulturell abgesonderten Sudetendeutschen erhoben werden.
Die Gruppe der ANSen, nach finanzieller Unterstützung strebend, findet Zustimmung bei
Exgeheimrat Gumpl, der als Mäzen und geistiger Vater der Gruppe genannt wird. Er entscheidet
sich, die Mittel für Vorbereitung der Manifestation aufzubringen. Gumpl äußert gerne seine
politische Ansichten. In einem Gespräch mit Eduard weist er auf einen wesentlichen Unterschied
zwischen der Vertreibung der Schlesier und der Sudeten hin. Die Schlesier hätten sich, so Gumpl,
mit der Vertreibung abgefunden. Die Sudetendeutschen sollen aus der Opferrolle heraustreten und
sich ein Fundament für eine neue Zukunft schaffen. Er bezeichnet die Sudetendeutschen als
„kulturresistent“142 aber auch als schlagkräftig: „Es zählt vor allem des Bewusstsein, dass wir
Sudeten sind. Jeder Teller Sauerbraten mit Semmelknödeln ist ein grundlegender Beitrag zur
Erhaltung unsrer Bräuche und Sitten.[…] Die Kultur, die mir bewahren müssen, sitzt in unsren
Herzen und in unsren Köpfen.“ 143 In der Aussage wird ein Wunsch nach einer „identifikatorischen
sozialen Einbettung in eine Herkunfts-, Schicksals- und Gedächtnisgemeinschaft“144 geäußert.
Durch die in der indirekten Rede dargestellte Ansicht von Gumpl wird es auf die kollektive
gruppenkonstruierende Bedeutung der öffentlichen Manifestation hingewiesen: „dass jedes Mittel
ein heiliges sei, dass ein paar Nachrichten schon eine gute Ausbeute wären. Wichtig wäre nur, dass
es eine große Demonstration werde.“145 Die Initiative der ANSen wird auch von
dem
Bankangestellten Eigler unterstützt: „Die jungen Leute müssen ihre Zukunft fest in die Hand
nehmen.“146 Während der letzten Versammlung der ANSen in Erfurt entscheidet sich die Mehrheit
letztendlich gegen die Demonstration in Prag. Der Beschluss ist für Paul, der sich nicht
unterkriegen lassen will, nicht zu akzeptieren. Eine Voraussetzung für eine gelungene Aktion ist für
142
Ebd., S.141.
Ebd., S.141.
144
Zimniak, Paweł: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip in Emma
Braslavskys Aus dem Sinn (2007), S. 11.
145
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S.169.
143
48
ihn die Beteiligung aller Vertriebenen an dem Protestmarsch in Prag: „ Es dreht sich wieder um uns!
Sudeten aller Länder, vereinigt euch!“147 Ein Kollektiv, aus allen Sudetendeutschen geformt, soll
ein gemeinsames Ziel verfolgen, wodurch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und der
Kollektivverantwortung entwickelt werden soll. Pauls Ziel, soziale und politische Anerkennung zu
erlangen, die Autonomie für seine Erinnerungs- und Gedächtnisgruppe zu fordern, findet jedoch
wenig Gehör im Kreise Erfurter Sudeten.
1969 landet Eduard wieder wider seinen Willen in Prag. Nach der Ankunft in Prag besuchen Paul,
Eduard und Nadja einen Studentenklub, der eine Zentrale ist, wo die Aktion vorbereitet und
gesteuert wird. Die Liveübertragung des Eishockeyspiels aus Stockholm wird im Fernsehen und im
Radio verfolgt. Die CSSR schlägt die Sowjetunion. Der Sieg der tschechoslowakischen
Eishockeymannschaft über die Sowjetunion wird als ein besonderes Zeichen verstanden. Die
Gruppe der Sudetendeutschen wird „zu einer politischen ‚Kampfgemeinschaft.‘“148 Hunderte
Menschen strömen auf dem Wenzelsplatz zusammen. Die Vertreter anderer Nationalitäten:
Rumänen, Bulgaren, Polen, Ostdeutsche schließen sich der Demonstration an, die zu einem
allgemeinen Protest gegen sowjetische Besatzung und gegen das kommunistische Regime wird.
Viersprachige Transparenten mit den Parolen auf Deutsch und auf Tschechisch, auf Englisch für die
Welt und auf Russisch für die andere Welt sind unter den Demonstranten zu sehen: „Russen raus, do
swidanja!“149 oder Sudetenland ist deutsches Land!“ Während Paul nach seinen Verbindungsleuten
sucht, bleibt Eduard passiv: „[Eduard] Er ertrug es kaum, wusste auch nicht, was er rufen sollte.“
Durch das Gedränge vorangetrieben landet Eduard in der ersten Reihe, neben Paul, der mit einem
Spruchband mit der Aufschrift: „Die Sudeten fordern historische Gerechtigkeit und territoriale
Unabhängigkeit!“
150
schwingt. In der ersten Aufnahme erscheint Eduard mit dem verstörten
Gesicht voll Zweifel und Angst und Paul leidenschaftlich in die Kamera schreiend, dass die Sudeten
endlich Autonomie und eine neue Verfassung wollen, die ihnen als einer Minderheit ein
Selbstbestimmungsrecht garantiert: „Es lebe eine Tschechoslowakosudetische Sozialistische
Republik! Es lebe die CSSSR!“151 Der Sprecher der Tageschau kommentiert: „Unter den
aufgewühlten Massen befänden sich einige radikale sudetendeutsche Splittergruppen aus beiden
deutschen Staaten.[…] Nach einer ersten Äußerung der Bundesregierung sollte auf Ebene beider
deutscher Staaten gemeinsam beraten werden, wie man mit den radikalen Kräften hart ins Gericht
146
Ebd., S.111.
Ebd., S.188.
148
Zimniak, Paweł: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip in Emma Braslavskys
Aus dem Sinn (2007), S. 12.
149
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S.233.
150
Ebd., S. 233.
151
Ebd., S. 234.
147
49
gehen könne.“152 Die Protestkundgebung weitet sich unerwartet zu einer Randale aus. Die
betrunkenen Hockeyfans werden aggressiv und beginnen zu randalieren. Die Demonstrierenden
werden von den Sicherheitskräften angegriffen. Die von der NS-Polizei abgegebene Schüsse führen
zur allgemeinen Bewusstlosigkeit. Hunderte Demonstranten werden auf Armeelaster geladen und
abgeführt. Nach der Ausnüchterung und Verwarnung werden die Hockeyfans freigelassen. Deutsche
Landsmänner werden in Ost- und Westdeutsche eingeteilt: die Westdeutschen gehen unbestraft
davon, die ostdeutschen Landsmänner werden dagegen den ostdeutschen Behörden übergeben. Paul
und Eduard werden verhaftet und einem Verhör unterzogen.
Nach der Unterdrückung der Kundgebung äußert sich Ella Meißerl dazu folgendermaßen:
„Versteht‘s doch endlich. Sudetenland ist Nimmerland. Nimmer erreichbar. Kommt‘s doch an,
kommt‘s endlich hier an!“153 Sie wird als die Mutter eines Verbrechers ebenfalls ins Verhör
genommen. Die Niederlage der Demonstration wird durch die Worte des NS-Funktionärs und Pauls
Vaters, Konrad hervorgehoben: „Es gibt keine Sudeten mehr! Das ist Schnee von gestern. […] Ein
dreifaches Heil auf unsere Aktuelle Kamera, die diese Kompromittierung gar nicht erst
ausstrahlt.“154
152
Ebd., S. 238.
Ebd., S. 239.
154
Ebd., S. 240.
153
50
4
Fazit
-
Literarische
Sudetendeutsche
als
Medium
des
kollektiven
Gedächtnisses
Braslavksys Sudetendeutsche erfüllen zwar eine wichtige Rolle der Trägerschaft des kollektiven
Gedächtnisses, sind aber in Bezug auf ihre Position in der Sozialstruktur der DDR schwach und
unbedeutend. Die erinnerungsbezogene Vermittlungsleistung der Romanfiguren gilt in der
literarischen Inszenierung eher als Element der Kontrastierung zu ihrer Unfähigkeit, ein beständiges
Bild der eigenen Gemeinschaft zu verleihen. Als eine Determinante kann hier die
Generationalität155 genannt werden. Der Generationsunterschied offenbart sich bei der Vorbereitung
der Prager Kundgebung. Zwischen den jungen Sudeten, die einerseits in den Prozess der neuen
Sozialisation und andererseits durch die fragmentarische Kindheitserinnerungen und die
Erinnerungen ihrer Eltern in das gemeinsame Vetreibungsschicksal eingebettet sind, und den Alten,
die für sich keine Möglichkeit des Neuanfangs sehen, weil sie allzu sehr mit dem Heimatsland
gebunden sind, besteht eine Dissonanz. Auch der Aufruf der ANSen zur Teilnahme an der
Demonstration in Prag führt zu weiteren Konflikten: „Indes rückten beide Generationen nicht von
ihren Standpunkten ab. Ella war auf der Seite der Alten, die das Ganze lieber ruhen lassen wollten
[…]. Die ANSen verstanden nicht, warum sie sich auf einmal zurückzogen […]. Die Meinungen
verhärteten sich.“156 Von Gumpl werden die Älteren als „traurige Ignoranten“ und „rückgratlose
Halbherzige“157 bezeichnet, wenn sie der Stellung Ella Meißerls gegen die politische Einmischung
im Sinne von einem öffentlichen Protest folgen.
Als weiteres Problem kann hier die Diskrepanz zwischen der Verwurzelung im Sudetenland und der
Realität der neuen Heimat (DDR) angesehen werden. Auf die Schwierigkeiten der Identifikation
und des Nationalbewusstseins weist auch ein innerer Monolog Eduard Meißerls hin: „Und selbst
wenn Paul damit recht hat, dass ich zu gleichgültig bin, was bedeutet mit schon dieser verloren
gegangene Boden auf diesem Planeten im Universum? Warum soll ich mein Leben damit
verbringen müssen, ihn zurückzubekommen.“158 und seine Aussage im Gespräch mit Paul: „Aber
wir sind hier keine Sudeten, wir sind deutsche Umsiedler. Über uns will niemand reden. Auch
Vgl. Zimniak, Paweł: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip in Emma
Braslavskys Aus dem Sinn (2007), S. 13.
156
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S.170.
157
Ebd., S.171.
155
51
drüber nicht. Und die Tschechien erst recht nicht. Wohnen will ich dort nicht mehr.“159 Es wurde
hier neben der Fiktionalität der dargestellten Welt auf Elemente einer realen Konstruktion von
DDR-Vergangenheit und auf die Thematisierung des Gedächtnisraumes Vertreibung hingewiesen.
Ziel der vorliegenden Magisterarbeit war es, das Verhältnis zwischen individueller und kollektiver
Erinnerung aufzuzeigen. Es muss darauf aufmerksam gemacht werden, das die Erinnerungen an die
vergangenen Ereignisse immer in gewisser Korrespondenz mit der Gegenwart stehen und die
Orientierung in der Zukunft erlauben. Sie haben auch eine Identifikations- und Ordnungsfunktion:
„innerer und äußerer Elemente des Lebens, die in der menschlichen Wahrnehmung
aufeinandertreffen.”160 Von Bedeutung war hier nicht nur der Begriff Heimat und die Darstellung
der Opferperspektive, sondern die Relevanz der Erinnerung. Als die Hauptperson Eduard Meißerl
das Gedächtnis verloren hat, wurde er zugleich seiner Identität beraubt. Der Gedächtnisschwund
hatte geistige Entwicklungsstörungen zu Folge. Durch die Unfähigkeit zum Sprechen, psychische
Isolation und völlige Antriebslosigkeit Eduards wurde (wenn auch in einer übertriebenen
Darstellungsweise) die Stellung des persönlichen und sozialen Gedächtnisses hervorgehoben. Damit
wird ihm zugleich die Möglichkeit der persönlichen Integration in die Gruppe vorübergehen
gelassen.
Braslavskys Sudetendeutsche sind grundsätzlich auf die Vergangenheit fixiert. Die Herausbildung
des
WIR-Gefühls
soll
dementsprechend
in
Bezug
auf
die
gleiche
Herkunfts-
und
Gedächtnisgemeinschaft erfolgen. Die Gruppe der Sudetendeutschen fungiert also als ein
Gedächtnismedium, innerhalb dessen die gemeinsame Erinnerung als Medium der kollektiven
Identitätsbildung gilt. Es wird an den Verlust von der ganzen Habe, von Heimat und Eigentum an
Grund und Boden erinnert. Der Exgeheimrat Gumpl reflektiert zwar über die Geschichte
folgendermaßen: „[…] die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der Verbannungen und
Verirrungen“161, findet sich jedoch mit den vergangenen Ereignissen nicht ab.
Die geschlossene Gesellschaftsform der DDR mit der Ausgrenzung und Klassifikation von
Menschen (die Sudeten werden als Menschen zweiter Klasse betrachtet) wirkt letztendlich auf die
Gruppe schwächend und destabilisierend. Der Gruppenzusammenhalt wird eigentlich nur durch den
Aufbau von Feindbildern gefördert. Selbst die Existenz mehrerer miteinander konkurrierender
158
159
Ebd., S.90.
Ebd., S.89.
160
Patzel-Mattern, Katja: Geschichte im Zeichen der Einnerung. Subjektivität und kulturwissenschaftliche
Theoriebildung. Studien zur Geschichte des Alltags 19, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002, S.255.
52
Gruppen ist nicht ausreichend, um den Zusammenhalt der Gruppe zu stärken. Es ist aber darauf
aufmerksam zu machen, dass die soziale Abschottung der Flüchtlinge zur Milieubildung beiträgt.162
Das Bewusstsein von Einheit und Eigenart bewirkt die Bindung an eine Gruppe. Die
Notwendigkeit, das kulturelle Erbe der Sudetendeutschen, durch die neue dominierende Kultur der
DDR gefährdet, zu stiften und zu pflegen, wird immer stärker. Die Vermittlung vom kulturellen
Erbe und seine Aufbewahrung wirkt an der Konstruktion einer nationalen Identität mit.
Die Erwartungen dieser diffamierten Gruppe verbinden sich mit der Verbesserung ihres sozialen
Status, Erhaltung der Stabilität, Steigerung der Leistungsbereitschaft innerhalb der Gruppe und
Befriedigung der Bedürfnisse nach Anerkennung und nationaler Unabhängigkeit. Auf dieser
Grundlage entstand ein Kollektivbedürfnis dieser Gruppe, ihre Anliegen in der Öffentlichkeit zu
artikulieren (die informelle Gruppe der ANSen). Die Veröffentlichung gruppenbezogenes Interesses
intendiert den Wunsch der Teilnahme am Prozess der Gesellschaftsgestaltung. Es dient auch de
Anerkennung, die ihnen eine geschichtliche Kontinuität gewährleisten könnten.
Darüber hinaus wurde der Integrationsprozess, der unter dem Einfluss der sowjetischen
Besatzungsmacht rasch vollzogen werden sollte, durch viele Probleme unterbrochen.163 Der Zwang,
sich in eine fremde Gesellschaft neu integrieren zu müssen, rief genau das Gegenteil an Reaktionen
hervor. Das Gefühl der Unzufriedenheit und die Spannungen zwischen den Heimatsvertriebenen
und der einheimischen Bevölkerung wurden durch zahlreiche Verbote (u.a. Vereinsgründung)
gesteigert. Eine Basis für langfristige Stärkung der Gruppe scheint für ihre Mitglieder die
Überwindung
der
einheimischen
Ignoranz
und
die Aktivierung
bzw.
Erhöhung
des
Gruppenpotenzials zu sein. Nach der Prager Demonstration kommt es definitiv zu dem Zerfall der
literarischen Gemeinschaft der Sudetendeutschen. Pauls Selbstmord und Beerdigung, Eduards
Unzurechnungsfähigkeit und Gedächtnisschwund, Distanziertheit der anderen verhafteten ANSen
tragen dazu bei. Die Gruppenkohäsion ist demzufolge nicht nur auf die Selbstwahrnehmung und
Motivation, sondern auch auf das reale Potenzial der Gruppe zurückzuführen.
161
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S.132.
Vgl., Zimniak, Paweł: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip in Emma
Braslavskys Aus dem Sinn (2007), S. 13-15.
163
Es muss aber darauf verwiesen werden, dass es sich bei der Minderheit der Sudeten, nicht um eine Integration
sondern eher um eine notwendige und unvermeidliche Assimilation an gegenwärtige Verhältnisse der
162
53
5 Anhang – Biographische Angaben zu Emma Braslavsky
164
Emma Braslavsky165 wird 1971 in Erfurt in einer sudetisch-katholisch (väterlicherseits)und
schlesisch-protestantisch (mütterlicherseits) Vertriebenenfamilie geboren. Die Ausbildung und die
Vorlieben ihrer Eltern prägen ihre Kindheit und Jugend: naturwissenschaftlich von ihrem Vater,
Mathematiker und künstlerisch von ihrer Mutter, Kauffrau und Sängerin. Aufgrund politischen
Engagements bricht sie im Jahr 1989 das Abitur ab und flieht über Ungarn aus der DDR. Erst 1992
kehrt sie für ein Jahr nach Erfurt zurück und beendet das Abitur am Gutenberg-Gymnasium. Nach
einem Jahr zieht sie nach Berlin, wo sie an der Humbolt-Universität die Fächer Russistik,
Italianistik und Südostasienwissenschaften studiert. 1995 fängt sie das Studium an der Lomonossov
Universität in Moskau (Russland), 1997 das Studium an der Nationaluniversität Vietnams in Ho Chi
Minh Stadt an. 1998 verreist sie für sechs Monate nach Israel und halten in der Stadt Tel Aviv auf.
1999 erhält sie den Grad des Magister Artium. Ihre Dyplomarbeit umfasst mediale und stilistische
Entwicklungsgeschichte des sowjetischen Buchdesigns 1917-1945.
2001 heiratete sie den israelischen Künstler Noam Braslavsky. Ein Jahr später begründet sie
gemeinsam mit der amerikanischen Autorin und Übersetzerin Isabel Fargo Cole das papirossanetzmuseum für sprache. 2003 gründet sie mit ihrem Mann den interdisziplinären Kunstverein Gdk
Galerie der Künste e.V. in Berlin. Im Jahr 2003 wird die ihre Tochter Lail Anna geboren.
Seit 2004 arbeitet sie als freie Dozentin für Medienwissenschaft an der Mediadesign Hochschule in
Berlin. 2005 wird sie Stipendiatin des Werkstattstipendium des Literarischen Colloquiums Berlin
und 2006 des Grenzgänger-Stipendiums der Robert Bosch Stiftung für Das Blaue vom Himmel über
164
vorherrschenden deutschen Gesellschaft handelt.
www.emmabraslavsky.de
54
dem Atlantik.166
2007 wird sie für das Buch Aus dem Sinn mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis (mit 2.500 Euro
dotierter Auszeichnung) und Franz-Tumler- Literaturpreis für den besten deutschsprachigen
Debütroman ausgezeichnet. Von Paweł Zimniak, einem der Jurymitglieder, wird diese Entscheidung
mit dem folgenden Kommentar argumentiert:
Der Roman erfüllt eine gedächtnismediale Funktion, weil er einen unverwechselbaren
Zugang zu historischen Vorgängen darstellt. Auf diese Weise wird eine fiktionale Welt
„erzeugt“, die für verschiedene Erinnerungs- und Gedächtnisgemeinschaften relevant sein
kann, indem sie aufzeigt, wie sich die Individuen im Zeitfluss verorten.167
Der Roman Aus dem Sinn sei eine Auseinandersetzung mit der sudetischen Vergangenheit ihres
Vaters und wird ihrem verstorbenen Vater gewidmet.
Im Jahr 2008 erhält Emma Braslavsky auch das Literaturstipendium des Deutschen
Studienzentrums Venedig. Sie arbeitet bis heute als Autorin, Kuratorin und Übersetzerin für
Filmproduktionen und Ausstellungsprojekte in Berlin.168
165
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S.2.
www.emmabraslavsky.de
167
Paweł Zimniak, Germanist an der Universität Zielona Góra, Polen. In: nordkurier.de am 14.05.2009.
166
55
6 Literatur
Primärliteratur
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008.
Sekundärliteratur
Assmann, Aleida/Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit Geschichtsversessenheit. Vom Umgang
mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999. S.173-188.
ASSMANN, JAN: Das kulturelle Gedächtnis. 5.Aufl., C.H.Beck 1999.
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Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Nünning, Ansgar/ Erll, Astrid: Medien des kollektiven
Gedächtnisses. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2004.
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B.Metzler 2005.
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Bevölkerungsverschiebungen – ein Typologierungsversuch], S. 13-19. In: Vgl.Orłowski,
Hubert/Sakson, Andrzej (Hrsg.): Utracona ojczyzna. Przymusowe wysiedlenia, deportacje i
przesiedlenia jako wspólne doświadczenie [Die verlorene Heimat. Zwangsaussiedlungen,
168
www.emmabraslavsky.de
56
Deportationen und Umsiedlungen als gemeinsame Efahrung]. Poznań 1997.
Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt: Fischer 2001.
Patzel-Mattern, Katja: Geschichte im Zeichen der Einnerung. Subjektivität und
kulturwissenschaftliche Theoriebildung. Studien zur Geschichte des Alltags 19, Stuttgart: Franz
Steiner Verlag 2002.
Pfahl-Traughber, Armin: Ideologische Strukturmerkmale der geschlossenen Gesellschaft. Karl R.
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Reulecke, Jürgen: Antimodernismus und Zivilisationskritik: Die Heimatbewegung aus historischgesellschaftlicher Perspektive. In: Regionaler Fundametalismus? Hrsg. von: Museumsdorf
Cloppenburg, Kulturamt der Stadt Oldenburg, Stadtmuseum Oldenburg. Oldenburg 1999.
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Veröffentlichungen zur SBZ-/DDR-Forschung im Institut für Zeitgeschichte. Oldenbourg Verlag,
München 2004.
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Erinnerung. Flucht und Vertreibung aus deutscher, polnischer und tschechischer
Sicht. Frankfurt (M.) 2001.
Zimniak, Paweł: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip in
Emma Braslavskys Aus dem Sinn (2007).
Zimniak, Paweł: Verlorene Heimat – zum deutschen Topos in der polnischen Erinnerungskultur
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Aufl., Akademie Verlag 2001.
http://www.emmabraslavsky.de
http://www.sudeten.de
http://www.vertreibungszentrum.de/
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