Gruppe als Gedächtnismedium zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip in Emma Braslavskys Aus dem Sinn (2007) Inhaltsverzeichnis Seite 1 Zielsetzung …………………………………………………………….…….. 3 2 Methodologischer Ansatz und Forschungsstand …………………….….... 5 2.1 Zum aktuellen Gedächtnisdiskurs (Literatur und Gedächtnis) …………………….. 5 2.1.1 Begriff ‚Memoire collective‘ von Maurice Halbwachs …………….……. 6 2.1.2 Das ‚kulturelle Gedächtnis‘ von Aleida und Jan Assmann ………….....… 10 2.1.3 ‚Lieux de memoire‘ von Pierre Nora ……………………………………... 15 2.1.4 Erinnerungskulturen ……………………………………………………..... 17 2.2 Strukturmerkmale einer ‚geschlossenen Gesellschaft‘ …………………………….. 20 2.3 Flucht und Vertreibung als geschichtliches Phänomen ……………………………. 24 3 Emma Braslavskys Aus dem Sinn in narratologischer Perspektive …….. 28 3.1 Zur Erzählperspektive …….…………………..…………………………………….. 28 3.1.1 Kindheitserinnerungen - Eduard Meißerl als autodiegetischer Erzähler .… 28 3.1.2 Die Position des heterodiegetischen Erzählers ………………………...….. 32 3.2 Figurenkonstellationen …..…………………………………………………………. 34 3.2.1 Paul Händl als ideologischer Wortführer der Sudetendeutschen und Eduard Meißerls Interessenlosigkeit ……………………………………………... 34 3.2.2 Zum Vertriebenenschicksal Ella Meißerls ………………………………. 38 3.3 Raumstruktur …………….….…………………………………………………….. 41 3.3.1 Die tschechische Stadt Tuschkau als ein ‚Erinnerungsort‘ der Sudetendeutschen ……………………………………………………… 42 3.3.2 Die Erfurter Realität der 'geschlossenen' Gesellschaft …………………….. 44 3.3.3 Prag als Symbol des Unabhängigkeitskampfes …………………………. 1 47 4 Fazit - Literarische Sudetendeutsche als Medium des kollektiven Gedächtnisses ……………………………………………………………… 51 5 Anhang – Biographische Angaben zu Emma Braslavsky ………………… 54 6 Literatur …………………………………………………………………..…. 56 6.1 Primärliteratur …………………………………………………….……………… 56 6.2 Sekundärliteratur ………………………………………………………….……... 56 2 1 Zielsetzung Bereits seit der Mitte des letzten Jahrhunderts beschäftigt sich die Wissenschaft mit dem Phänomen des kollektiven Gedächtnisses und der kulturellen Bedingtheit individueller Erinnerung. Die Aufgabe der vorliegenden Arbeit ist es, an einem konkreten Beispiel des Romans einer deutschen debütierenden Autorin Emma Braslavsky Aus dem Sinn, aufzuzeigen, in wie weit das individuelle Gedächtnis von dem kollektiven Gedächtnis determiniert wird. Im Mittelpunkt des Interesses soll hierbei auch der übergreifende Themenkomplex Flucht und Vertreibung stehen, zusätzlich eingeschränkt auf die Gruppe der sudetendeutschen Zwangsaussiedler. Im zweiten Kapitel wird der theoretische Bezugsrahmen für die Diplomarbeit festgelegt. Zunächst werden die Grundbegriffe Erinnerung und Gedächtnis angeführt. In den folgenden Kapiteln werden die weiteren Termini charakterisiert: das ‚kollektive Gedächtnis‘ von Maurice Halbwachs, die sog. ‚Erinnerungsorte‘ Pierre Noras und das von Aleida und Jan Assmann erarbeitete ‚kulturelle‘ und ‚kommunikative Gedächtnis‘. Relevant ist dabei auch der aktuelle Gedächtnisdiskurs, der im Rahmen des Projekts Sonderforschungsbereich 434 Erinnerungskulturen erörtert wird. Es ist hier auf die Beteiligung der autobiographischen Erinnerung an der Konstruktion vom subjektiven und kollektiven Gedächtnis hinzuweisen. Der inhaltlich sachlichen Auseinandersetzung folgt die Erörterung von Strukturmerkmalen der ‚geschlossenen Gesellschaft‘. Anhand des vorliegenden Textes wird zugleich die DDR-Gesellschaft als Beispiel für diese Form des sozialen Lebens dargestellt. Im weiteren Teil des Kapitels werden die Phänomene Flucht und Vertreibung dargelegt. Es ist auch auf die Art und Weise, wie der o.g. Ausschnitt aus der Geschichte im Rahmen der geschlossenen DDR-Wirklichkeit behandelt wird, hinzuweisen. Mit den sog. erzählten Welten in der narratologischen Perspektive befasst sich das letzte Unterkapitel des theoretischen Ansatzes. Der dargestellte Forschungsstand gilt als eine Basis für die Analyse des Romans Aus dem Sinn, der im narratologischen Kontext untersucht wird. Das dritte Kapitel behandelt die Erzählperspektiven, Figurenkonstellationen und die Raumstruktur des Romans. Hier wird das Leben einer kleinen Gemeinde vertriebener Sudetendeutscher in der DDR-Gesellschaft der Nachkriegsjahre dargestellt. Es ist zu fragen, wie diese durch Missbrauch und Verfolgung gekennzeichnete Bevölkerungsgruppe 3 in einer neuen Gesellschaft fundiert wird. Die an gemeinsames Schicksal gebundenen Erinnerungen, die im Rahmen des kollektiven sudetendeutschen Gedächtnisses funktionieren und über die Zukunftsperspektiven der von Braslavsky erschaffenen Figuren entscheiden, werden einer genaueren Betrachtung unterzogen. Im Anschluss daran wird auf die Notwendigkeit von Erinnerung in Bezug auf ihre sinnstiftende Funktion eingegangen. Im letzten Unterkapitel soll auch die Einflussnahme eines totalitären Herrschaftssystems auf die Gestaltung von Geschichtsbildern erläutert werden. Das Kapitel 4 fasst abschließend die wichtigsten Erkenntnisse zusammen und gibt Antwort auf die zentrale Frage dieser Arbeit. Es wird zu bestimmen sein, welcher Zusammenhang zwischen der individuellen und der kollektiven Erinnerung besteht und warum die Gruppe der heimatvertriebenen Sudetendeutschen als ein Gedächtnismedium gelten kann. Besonderes Augenmerk ist auf die Begriffe des Eigenen und des Fremden zu richten. Das Reflektieren über Identität, Fremdheit und über die daraus resultierenden gesellschaftlichen Abgrenzung und Stereotypisierung, die mit der vorurteilsbeladenen Wahrnehmung des ‚Anderen‘ einhergeht, werden zum Fokus dieser Diplomarbeit. Im Anhang werden einige biographische Bemerkungen zu dem Leben der Autorin präsentiert. 4 2 Methodologischer Ansatz und Forschungsstand 2.1 Zum aktuellen Gedächtnisdiskurs Die Themenbereiche des Gedächtnisdiskurses, das im 20.Jahrhundert mit den Werken Maurice Halbwachs seinen Anfang genommen hat und im 21.Jahrhundert mit intensiven Auseinandersetzungen anderer Wissenschaftler Anklang findet, sind sehr gegenwartsbezogen. Mit dem Forschungsschwerpunkt Gedächtnis, Erinnerung und Identitätsbildung wird ein breites Feld für die Gedächtnisforschung, Sozialpsychologie, Literaturwissenschaft und andere wissenschaftlichen Disziplinen eröffnet. Die Frage, die in den Vordergrund tritt, ist die Frage nach dem Wesen und der Bedingtheit der Erinnerung. Es muss in erster Linie darauf hingewiesen werden, dass die Erinnerungen keine Abbilder der vergangenen Realität sind. Die Bilder, die mittels Erinnerung vermittelt werden, sollen demzufolge nicht als ein festes Konstrukt sondern als eine unvollständige und, so Carsten Gansel, deformierte Re-Konstruktion der Vergangenheit betrachtet werden. Über die Gestalt der gegebenen Reminiszenzen entscheidet die Situation, in der erinnert wird. Die Art und Weise der Wahrnehmung und der Bewertung bzw. Interpretation hängt jeweils von der Perspektive der Gegenwart ab. Dieser Feststellung liegt das Prinzip zugrunde, dass der zeitliche Abstand zwischen der Vergangenheit und dem Zeitpunkt, an dem die vergangenen Inhalte erinnert werden, zu den Verformungen der Erinnerungen beiträgt.1 Darüber hinaus wird einerseits die Einwirkung der gesellschaftlichen Deutungsmuster auf die Verarbeitung der Vergangenheit des Subjekts und andererseits die psychische Befindlichkeit des erinnernden Individuum2 akzentuiert. Es ist in diesem Zusammenhang zwischen den Erinnerungen, die über keine besondere emotionale Qualität verfügen, und den traumatischen Erinnerungen zu differenzieren. 3 Sowohl das Verhältnis zwischen den individuellen Erinnerungen, dem kollektiven Gedächtnis und der Kultur als auch die Prozesse des Überganges von dem Individuellen in das Soziale und deren 1 Vgl., Gansel, Carsten: Zwischen offiziellem Gedächtnis und Gegen-Erinnerung- Literatur und kollektives Gedächtnis in der DDR. In: Gansel, Carsten (Hg.): Gedächtnis und Literatur in den >geschlossenen Gesellschaften< des RealSozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen: V&R unipress 2007, S.7-9. 2 Ebd., S.9. 3 Ebd., S.7-10. 5 Neustrukturierung werden in nachfolgenden Kapiteln dargelegt. 2.1.1 Der Begriff ‚memoire collective‘ von Maurice Halbwachs Der französische Soziologe Maurice Halbwachs nimmt einen wichtigen Platz in dem Gedächtnisdiskurs ein. Er hat als einer der Ersten das Phänomen ‚kollektives Gedächtnis‘ im Rahmen einer modernen Kulturtheorie untersucht. Der Begriff ‚memoire collective‘ ist auf Halbwachs zurückzuführen. Der von ihm entwickelte Begriff besagt, dass die Vergangenheit sozial konstruiert ist. Seine Interpretation des Gedächtnisses als ein soziales Phänomen hat sich aufgrund des Studiums bei H.Bergson und E.Durkheim herausgebildet. Henry Bergson, ein französischer Philosoph und Nobelpreisträger für Literatur 1927, befasste sich mit dem Begriff Gedächtnis. Emile Durkheim, ein französischer Soziologe und Ethnologe, entfaltete den Begriff des Kollektivbewusstseins. Einen zentralen Platz in seinen Werken nimmt die soziale Bedingtheit des Gedächtnisses ein. Ein Individuum hätte nach Halbwach kein Gedächtnis. Es wird erst im Prozess seiner Sozialisation als solches erworben. Der Einzelne verfügt demnach über ein individuelles Gedächtnis, das aber kollektiv geprägt wird. Halbwachs hebt hervor, dass auch die persönlichen Erinnerungen lediglich durch Kommunikation und Interaktion im Rahmen sozialer Gruppen entstehen. Kollektives Gedächtnis ist organisch und bildet sich im Horizont eines soziokulturellen Umfeldes heraus. Es ist ein infolge der Interaktion, Kommunikation, Institutionen und Medien resultierte Bezug auf das Vergangene.4 Halbwachs definiert 3 Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses. Mit der ersten Dimension hängt der von dem Soziologen eingeführte Begriff ‚cadres socieux‘ (soziale Bezugsrahmen) zusammen. Cadres socieux ist eine unbedingt notwendige Voraussetzung für jede individuelle Erinnerung. Damit hat er die These von sozialer Bedingtheit der Erinnerung aufgestellt. Jeder Mensch ist ein soziales Wesen und gehört mehreren sozialen Gruppen an: der Familie, der Religionsgemeinschaft, der Belegschaft am Arbeitsplatz, der Studentengruppe an der Universität usw. und er wird innerhalb dieser Gruppen geprägt, weil er zu kommunizieren und zu interagieren braucht. Der einzelne Mensch braucht demnach andere Menschen, sonst hätte er keinen Zugang zu den sozialen Phänomenen wie Sprache oder Sitten. Seine persönliche Erinnerung wird, so Halbwachs, durch die Überlieferung von Fakten, Daten und Vorstellungen durch andere Menschen organisiert. Durch diese ständige Vermittlung nehmen die Menschen an einer symbolischen Ordnung teil. Sie 4 Vgl., Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B.Metzler 2005, S.14-15. 6 partizipieren am kollektiven Gedächtnis. Im Rahmen einer Gruppe bzw. Gemeinschaft werden Erfahrungen ausgetauscht und bestimmte Denk- und Erfahrungsströmungen vermittelt. Die daraus abgeleiteten sozialen Rahmen im metaphorischen Sinne, sog. Denkschemata, leiten die menschliche Wahrnehmung und Erinnerung in bestimmte Bahnen. Durch cadres socieux wird ein umfassender Horizont gebildet, der aus der mentalen, materiellen und sozialen Sphäre kultureller Formationen zusammengesetzt ist. In diesen Horizont ist die Wahrnehmung und Erinnerung der Einzelnen eingebettet. Die Erinnerung wird nach Halbwachs durch ‚cadres‘ konstituiert und stabilisiert. 5 Das kollektive Gedächtnis ist nach Halbwachs keine „überindividuelle, von organischen Gedächtnissen losgelöste Instanz“.6 Der Soziologe liegt einen besonderen Akzent auf die Beziehung zwischen dem kollektiven und individuellen Gedächtnis, die sich durch wechselseitige Abhängigkeit gekennzeichnet, so dass „das Individuum sich erinnert, indem es sich auf den Standpunkt der Gruppe stellt, und das Gedächtnis der Gruppe sich verwirklicht und offenbart in den individuellen Gedächtnissen“.7 Das wirklich Individuelle resultiert erst aus der Kombination der Gruppenzugehörigkeiten. „Individuell ist es im Sinne einer je einzigartigen Verbindung von Kollektivgedächtnissen als Ort der verschieden gruppenbezogenen Kollektivgedächtnisse und ihrer je spezifischen Verbindung.“8 Von dem Individuum aus gesehen stellt sich das Gedächtnis als eine Ansammlung dar, die sich aus mehreren verschiedenartigen Gruppengedächtnissen ergibt. Die zweite Dimension bezieht sich auf das sog. Generationengedächtnis; ein Familiengedächtnis, das intergenerationell ist, weil verschiedene Generationen in einer Familie die Erfahrungen austauschen können. Die Familie wird als eine Gruppe bzw. Gemeinschaft betrachtet, in der nicht nur eine, sondern mehrere Generationen an dem Gedächtnis beteiligt sind. Es wird dabei darauf hingewiesen, dass im Rahmen einer Familie durch den andauernden Austausch der Erinnerungen die individuellen Gedächtnisse aller Familienmitglieder geprägt werden. Das Familiengedächtnis wird einerseits durch soziale Interaktion wie gemeinschaftliche Handlungen oder geteilte Erfahrungen uns andererseits durch die Kommunikation konstituiert. Die Kommunikation innerhalb einer Familie zeigt sich dadurch, dass die Vergangenheit durch gemeinsames Wiederholen vergegenwärtigt wird. Halbwachs grenzt dabei das Generationengedächtnis von der Zeitgeschichte ab. Die Begriffe ‚Geschichte‘ und ‚Gedächtnis‘ schließen sich einander aus. Die Geschichte ist universal d.h. sie bildet eine unparteiische gleichrangige Reihenfolge von allen vergangenen Ereignissen, die nur auf 5 Vgl., Ebd. Ebd., S.16. 7 Ebd., S.16. 8 Assmann Jan Das kulturelle Gedächtnis: 5.Aufl., C.H.Beck 1999, S. 35. 6 7 Gegensätze und Brüche fokussiert ist. Das kollektive Gedächtnis ist hingegen partikular. Seine Träger sind, so Halbwachs, zeitlich und räumlich begrenzte Gruppen. Die Erinnerung innerhalb dieser Gruppen wird hierarchisiert und bewertet. Dadurch ergibt sich die zentrale Funktion dieses Vergangenheitsbezugs, die Identitätsbildung. Die Bewahrung der Identität erfolgt durch die Erinnerungen, die den Interessen der Gruppe entsprechen. Erinnert werden die Ähnlichkeiten und Kontinuitäten, durch die die Gruppe konstant bleibt. Das Generationengedächtnis steht in fester Verbindung mit dem aus der englischer Sprache stammenden Begriff ‚Oral History‘. Dadurch wird die Eigenart dieses Gedächtnisses charakterisiert, weil die Erfahrungen unter Familienmitglieder als Träger im größten Teil mündlich überliefert und ausgetauscht werden. Die dritte Dimension wird durch das kulturelle Gedächtnis konstruiert, wobei es betont werden muss, dass diese Theorie des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ von einem deutschen Kulturwissenschaftler, Religionswissenschaftler und Ägyptologen Jan Assmann entwickelt wurde. Halbwachs weitet dabei den Begriff der memoire collective auf den Bereich kultureller Überlieferung und Traditionsbildung aus.9 Das kulturelle Wissen wird im Rahmen des kulturellen Gedächtnisses tradiert, gestiftet und gepflegt. Das Kollektivgedächtnis muss auf der Konzeption der Konkretheit beruhen. Ein Begriff und eine Erfahrung müssen eine konkrete zusammengefügte Form darstellen, um sich in der Erinnerung einer Gruppe durchzusetzen. Die Form offenbart sich als ein Ereignis, eine Person, ein Gegenstand, ein Ort. Um sich der Begrifflichkeit nach Halbwachs zu bedienen, sind es die sog. ‚Erinnerungsbilder‘. Bei Assmann wird der Begriff ‚Erinnerungsfiguren‘ eingeführt. Der Begriff des ‚Bildes‘ wird durch den Begriff der ‚Figur‘ ersetzt, weil es sich hier nicht nur um „ikonische, sondern auch narrative Formung“10 handelt. Die Erinnerungsfiguren lassen sich durch drei Hauptmerkmale bestimmen: durch den konkreten Bezug auf Zeit und Raum, durch den konkreten Bezug auf eine Gruppe und durch die Rekonstruktivität. Zu dem Raum gehört auch die ganze Welt der Dinge, die das Ich umgibt, sog. ‚entourage matériel‘. Diesen Raum bilden Geräte, Möbel, Räume aber auch ihre bestimmte Anordnung. Durch diese konkrete Orientierung des kollektiven Gedächtnisses kristallisieren sich seine Bezugsrahmen. Der Raum wird auch sozial geprägt, weil seine Bestandteile ihr Wert und ihr Preis haben. Die Neigung, sich Orte zu gestalten und zu sichern, entspricht dem Bedürfnis zur Verräumlichung innerhalb der Gemeinschaften. Es wird dabei auf die Symbole ihrer Identität hingewiesen. Die Räume werden zugleich auch zu den Anhaltspunkten ihrer Erinnerung. Mit den Raum- und Zeitbegriffen des kollektiven Gedächtnisses hängen die 9 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B.Metzler 2005, S.14-15. Vgl. Assmann Jan Das kulturelle Gedächtnis: 5.Aufl., C.H.Beck 1999, S. 38. 10 8 Kommunikationsformen der entsprechenden Gruppe zusammen. Dies besagt, dass das Kollektivgedächtniss nicht beliebig übertragbar ist und nimmt immer auf eine konkrete existierende Gruppe Bezug. Die Rekonstruktivität ist das nächste Merkmal des kollektiven Gedächtnisses. Das Erinnern im Rahmen des kollektiven Gedächtnisses erfolgt selektiv. Das Gedächtnis liefern kein Abbild sondern eine Rekonstruktion der Vergangenheit, die auf den Bedürfnissen und Belangen einer Gruppe basiert. Es muss dabei darauf aufmerksam gemacht werden, dass das Gedächtnis eine andere relevante Funktion erfüllt; es bezieht sich und hat Einfluss nicht nur auf das Vergangene, sondern veranstaltet auch die Erfahrung der Gegenwart und Zukunft. Ein soziales Phänomen ist nach Halbwachs nicht nur das Erinnern sondern auch das Vergessen. Den Prozess des Vergessens konkretisiert er als Verschwinden des sozialen Rahmens oder seines Teiles. Der Grund des Vergessens liegt in unserer Aufmerksamkeit, die entweder nicht imstande ist, sich auf die Rahmen zu richten oder weil sie anders worauf fixiert ist. Es muss dabei bedacht werden, dass die Rahmen auch von einem Zeitabschnitt zu dem anderen variieren, wodurch etwas vergessen oder die Erinnerung an sich deformiert werden kann.11 11 Vgl., Ebd., S. 35. 9 2.1.2 Das ‚kulturelle Gedächtnis‘ von Aleida und Jan Assmann Die Gedächtniskonzepte von Aleida und Jan Assmann nehmen den zentralen Platz in dem Gedächtnisdiskurs ein. Dank der Begrifflichkeit, die von ihnen eingeführt wurde, haben sie einen interdisziplinären Anschluss ermöglicht, so dass auch die Vertreter anderer Disziplinen ihre Konzepte aneignen können: Durch den in vielen Sammelbänden demonstrierten hohen Grad der Anschließbarkeit an etablierte Disziplinen, Forschungsgegenstände und Methoden wird mit dem Begriff des kulturellen Gedächtnisses ein gemeinsames Forschungsfeld eröffnet, dass so unterschiedliche akademische Fächer wie Geschichtswissenschaft, Altertumswissenschaft, Religionswissenschaft, Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft oder Soziologie unter einem Dach zu vereinen vermag.12 Es besteht ein fester Zusammenhang zwischen der kulturellen Erinnerung, der kollektiven Identitätsbildung und den politischen Machtstrukturen. Die politische Legitimierung hat einen starken Einfluss auf die kollektive Identitätsbildung und auf die Identitätsbildung des Individuums. Die politische Gesellschaftsordnung entscheidet u.a. über den Festkalender und dadurch prägt sie das nationale kollektive Gedächtnis, das sich durch das Zelebrieren der kulturellen Feierlichkeiten entwickelt und fixiert. Zugleich werden durch die politischen Mächte andere Feste glorifiziert und damit wird das kollektive Gedächtnis beeinflusst.13 Bei Jan und Aleida Assmann werden innerhalb des Halbwachs'schen Kollektivgedächtnisses zwei sich wesentlich voneinander unterscheidende Gedächtnisse herausgesondert. Diese Unterteilung erfolgt mit der Berücksichtigung der Inhalte, Formen, Medien, Zeitstrukturen und Träger des kollektiven Gedächtnisses. Das Gedächtnis, das sich auf die Alltagskommunikation stützt, wird ‚kommunikatives Gedächtnis‘ genannt; das Gedächtnis, das Vergegenständlichung Bezug nimmt, hingegen auf symboltragende kulturelle ‚kulturelles Gedächtnis‘. Im weiteren Schritt werden die beiden Typen des kollektiven Gedächtnisses erläutert. Im Rahmen des kommunikativen Gedächtnisses werden die Geschichtserfahrungen der Zeitgenossen zirkuliert. Es muss dabei vermerkt werden, dass sich die Inhalte immer nur auf einen begrenzten Zeitraum von ca. 80 bis 100 Jahren beziehen und - was als relevant erscheint 12 13 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2005, S. 27. Vgl., Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2005, S.27-28. 10 veränderlich sind. Jeder Träger des kommunikativen Gedächtnisses ist dazu berechtigt, die gemeinsame Vergangenheit zu erinnern und sie auf seine individuelle Art und Weise auszulegen. Die Trägerschaft des kommunikativen Gedächtnisses ist als unspezifisch zu bezeichnen. Als Medium gelten hier die Erinnerungen, die in den organischen Gedächtnissen, Erfahrungen und Hörensagen als lebendig funktionieren. Das kommunikative Gedächtnis gehört, so Jan Assmann, zum Gegenstandsbereich der Oral History; sie entsteht durch die Interaktion zwischen seinen Trägern, ist informell und weniger geformt als das kulturelle Gedächtnis. Das ‚kulturelle Gedächtnis‘ beinhaltet hingegen mythische Ereignisse, die in einer absoluten Vergangenheit zurückliegen und zugleich die Gruppe bzw. die Gemeinschaft fundamentieren. Das kulturelle Gedächtnis ist an feste Objektivationen gebunden. In Bezug auf die Formen ist es als Festtagsgedächtnis zu bezeichnen, weil es gestiftet und durch symbolische Inszenierungen (in Wort, Bild und Tanz) zeremonialisiert wird. Nicht jeder Träger gilt als kompetent, die Inhalte und Sinnstiftungen im Rahmen des kulturellen Gedächtnisses zu deuten. Über ihre Konstituierung und Interpretation entscheiden die dazu Ausgebildeten, wie Priester, Schamanen, Pastoren oder Archivare, was einen bedeutenden Unterschied zu dem kommunikativen Gedächtnis ausmacht. 14 Das kulturelle Gedächtnis wird von Jan Assmann wie folgt definiert: Unter dem Begriff kulturelles Gedächtnis lassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten zusammen, in deren >Pflege< sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt.15 Das kulturelle Gedächtnis ist ein mit Wiedergebrauchstexten, Bildern und Riten aufgefüllter Fundus. Durch die Pflege der oben genannten Medien wird das Selbstbild einer Gemeinschaft ausgedrückt und stabilisiert. Die Funktion vom kulturellen Gedächtnis beruht darauf, einer Gemeinschaft Bewusstsein und Einheit zu vermitteln. Das kulturelle Gedächtnis lässt sich durch bestimmte Merkmale festlegen: Identitätskonkretheit, Rekonstruktivität, Geformtheit, Organisiertheit, Verbindlichkeit und Reflexivität. Die Identitätskonkretheit besagt, dass die Menschen ohne kollektives Gedächtnis nicht imstande wären, eine kollektive Identität herauszubilden. Aus diesem Gedächtnis wird die Identität sozialer Gruppen abgeleitet. Das kulturelle Gedächtnis ist ein „retrospektives Konstrukt“16, das die Inhalte von der Ebene der Gegenwart rekonstruiert und selektiv aufnimmt. Es ist nur mit Hilfe fester Ausdrucksformen und 14 Ebd., S. 28. Ebd. 16 Ebd. 15 11 Ausdrucksmedien zu vermitteln. In Bezug auf historische Veranstaltungen muss das kulturelle Gedächtnis organisiert, systematisiert und verwaltet werden. Diese Eigenschaft ist unzertrennlich mit der Institutionalisierung des kulturellen Gedächtnisses und mit der Spezialisierung seiner Trägerschaft verbunden. Die Lebenswelt einer Gruppe unterliegt einem bestimmten Rhythmus und wird durch eine bestimmte Form ausgedrückt. Das kulturelle Gedächtnis reflektiert diese Lebenswelt und das Selbstbild jeder Gruppe. Bemerkenswert ist eine von Assmann vorgenommene Gegenüberstellungen von jeweils zwei Genres der Kulturen: einerseits der ‚oralen‘ und ‚scriptualen Kulturen‘ und andererseits der ‚heißen‘ und ‚kalten Kulturen‘. Aufgezeigt wird, wie verschiedene Gesellschaften ihre Selbstbilder überliefern und konstituieren. Als Kriterium dieses Vergleichs gelten Medien des kulturellen Gedächtnisses: die Mündlichkeit und die Schriftlichkeit. Es wird festgestellt, dass die oralen Kulturen auf der Mündlichkeit in der Überlieferung der Inhalte beruhen. Die scriptualen Kulturen stützen sich dagegen auf das Prinzip der Schriftlichkeit, auf das geschriebene Wort. In diesem Zusammenhang wird zwischen der rituellen Kohärenz oraler Kulturen und der textuellen Kohärenz scriptualer Kulturen unterschieden. Das kulturelle Gedächtnis wird in den oralen Kulturen ausschließlich in den organischen Gedächtnissen der „Spezialisten“ (Schamanen od. Sänger) beschützt. Infolgedessen kann der Zusammenhang der Überlieferung sogar beim genauen Wiederholen durch eventuelle Abweichungen gefährdet sein. In den scriptualen Kulturen wird der kulturelle Sinn in das Medium der Schrift verlagert, dank dem diese Kulturen dauerhafter wirken. Im Rahmen einer ‚zerdehnten Situation‘17 kann eine Mitteilung in Form eines Textes später wiederaufgenommen werden. Es erfolgt eine Zerdehnung einer kommunikativen Situation. Der Außenbereich von der oralen in die schriftliche Form wird transformiert. 18 In den schreibkundigen Gemeinschaften kann auch wesentlich mehr an Inhalten überliefert und behalten werden, mehr als bei dem Gedächtnis einer Person wie bei den oralen Kulturen. Es trägt dazu bei, dass die dabei entstehende Sammlung der Inhalte umfangreicher ist. Im weiteren Schritt sind auch die ‚heißen ‘ und ‚kalten Kulturen‘ zu nennen. Von den heißen Kulturen ist bei den Gesellschaften zu sprechen, die Erinnerung zum Motor ihrer Entwicklung machen. Ihr Gedächtnis basiert auf Mythen im Sinne von Geschichten, die gemeinsame Vergangenheit beinhalten; die einerseits erlauben, sich in der gegenwärtigen Welt zu orientieren, und die andererseits die Hoffnung für die Zukunft liefern. Die kalten Kulturen tendieren hingegen dazu, den geschichtlichen Wandel durch Erinnerung an das ewig Gleiche >einzufrieren< ”.19 Für den Begriff einer ‚zerdehnten Situation‘ ist Konrad Ehlich zuständig. Vgl., Assmann Jan Das kulturelle Gedächtnis: 5.Aufl., C.H.Beck 1999, S. 21-22. 18 Vgl., Assmann Jan Das kulturelle Gedächtnis: 5.Aufl., C.H.Beck 1999, S. 21-22. 19 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B.Metzler 2005, S. 30. 17 12 Dadurch bleibt die Kultur konstant, unveränderlich. In dem Buch Erinnerungsräume von Aleida Assmann hat die Wissenschaftlerin den Begriff des kulturellen Gedächtnisses weiter differenziert und zwei weitere Begriffe eingeführt: Gedächtnis als ‚ars‘ im Sinne von Kunst oder Technik, und Gedächtnis als ‚vis‘ im Sinne von Kraft. Assmann greift dabei auf ein Modell der in der Antike entwickelten Mnemotechnik zurück. Die antiken Griechen haben ihr Gedächtnis ununterbrochen geschult, um seine Kapazität und Leistungsfähigkeit zu erweitern. Der römische Philosoph Cicero äußert sich zu der Mnemotechnik aus folgende Weise: Wer diese Fähigkeit (des Gedächtnisses) trainieren will, muss deshalb bestimmte Orte auswählen und von den Dingen, die er im Gedächtnis behalten will, geistige Bilder herstellen und sie an die bewussten Orte heften. So wird die Reihenfolge dieser Orte die Anordnung des Stoffs bewahren, das Bild der Dinge aber die Dinge selbst bezeichnen, und wir können die Orte anstelle der Wachstafel, die Bilder statt der Buchstaben benützen.20 Es wurde festgestellt, dass das Assoziieren dabei eine entscheidende Rolle spielt. Durch das Anknüpfen des Stoffes an bestimmte Orte oder das Aneignen mittels anschaulicher Bilder werden die Informationen mühelos abgerufen. Das Gedächtnis als ars wird bei Aleida Assmann als ein Wissensspeicher angesehen. In dem Speicher werden Informationen magaziniert, um später in gleicher Form abgerufen werden zu können. Unter dem Begriff des Gedächtnisses als vis wird die Dimension der Zeit verstanden, die einen direkten Einfluss auf das Variieren die Gedächtnisinhalte hat.21 Das Gedächtnis als vis schließt auch das Vergessen ein. Es funktioniert letzten Endes nach dem Auswahlprinzip, wo nur bestimmte Elemente des zu erinnernden Stoffes ausgesiebt werden können. Zum Gegenstand der Untersuchungen werden hier zwei Eigenschaften des Gedächtnisses: seine Prozesshaftigkeit und Rekonstruktivität. Das Gedächtnis wird weiter differenziert: in das sog. ‚Funktionsgedächtnis‘ und ‚Speichergedächtnis‘. Das Funktionsgedächtnis wird bei Assmann mit der Bezeichnung ‚bewohntes Gedächtnis‘ versehen. Es ist aus „bedeutungsgeladenen Elementen“22 zusammengesetzt, die zu einer zusammenhängenden Geschichte verknüpft werden können. Das bewohnte Gedächtnis bezieht sich immer auf eine Gruppe, erinnert selektiv; bewertet und ist auf die Zukunft fokussiert. Das Speichergedächtnis wird dagegen das ‚unbewohntes Gedächtnis‘ genannt. Es besteht aus 20 Yates A. Frances Gedächtnis und Erinnern. Mnemotechnik von Aristoteles bis Shakespeare: 6. Aufl., Akademie Verlag 2001, S.11. 21 Vgl., Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2005, S. 31. 22 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2005, S.32. 13 „ungebundenen bedeutungsneutralen Elementen“23, die keinen Bezug auf die Gegenwart nehmen. Die Relation zwischen diesen zwei Gedächtnisarten ist als perspektivisch vorzustellen. Das Funktionsgedächtnis und das Speichergedächtnis funktionieren im Rahmen des kollektiven Gedächtnisses, wobei Aleida Assmann darauf hinweist, dass dem Speichergedächtnis die Rolle des Hintergrundes zugewiesen wird. Das Funktionsgedächtnis ist hingegen als Vordergrund zu bezeichnen. Das Speichergedächtnis ist dem Funktionsgedächtnis gleichrangig, hat aber einen anderen Charakter. Das Speichergedächtnis erfüllt die Funktion eines „Reservoirs zukünftiger Funktionsgedächtnisse“.24 Es ist ein Mittel, womit das kulturelle Wissen erneuert werden kann. Es ermöglicht auch den kulturellen Wandel. Seine Elemente können in das Funktionsgedächtnis übergehen. Sie müssen aber für eine Gesellschaft eine bestimmte zusätzliche Sinndimension gewinnen. Es wird dabei auf den Grad der Durchlässigkeit hingewiesen, der wichtiger als die Inhalte selbst ist und über eventuelle Veränderungen und Erneuerung der Gedächtnisse entscheidet.25 Angesichts der Medien und Institutionen wird das Funktionsgedächtnis durch die Literatur, Kunst, Museum und Wissenschaft zum Ausdruck gebracht. Als Träger sind hier Individuen zu nennen, die in der Gemeinschaft tätig sind. Das Speichergedächtnis erscheint dagegen in Form von Festen und anderen medial inszenierten Riten bzw. Aktionen, während deren kollektiv gehandelt wird. Diese Formen der Überlieferung und der Vergegenwärtigung des kulturellen Sinnes implizieren die Verkettung der Vergangenheit an die Gegenwart. Es geschieht anders als beim Speichergedächtnis, wo die Inhalte anachron präsentiert werden: das Vergangene neben dem Gegenwärtigen. 26 Anschließend muss hervorgehoben werden, dass sich das Funktionsgedächtnis und das Speichergedächtnis nicht mit dem Begriff ‚Tradition‘ gleichsetzten lassen. In diesem Zusammenhang weist Aleida Assmann auf zwei Modi: Potentialität und Aktualität der zu erinnernden Inhalten. Das aus den zwei oben genannten Bestandteile zusammengesetzte kulturelle Gedächtnis umfasst die beiden Modi: im Sinne der Potentialität ist das kulturelle Gedächtnis als ein Archiv zu verstehen; im Sinne von Aktualität als das heute Kultivierte. Der Traditionsbegriff besteht bloß aus dem Funktionsbereich, die die Dimension der Aktualität berücksichtigt. Das kulturelle Gedächtnis erlaubt, so Assmann, die Traditionen mit ihren Mechanismen und Trieben zu analysieren, sich die Frage zu beantworten, wie die Prozesse der Aneignung und des Vergessens 23 Ebd. Vgl., Ebd. 25 Ebd. 26 Ebd. 24 14 der Inhalte im Rahmen der Tradition verlaufen.27 2.1.3 ‚Lieux de mémoire‘ von Pierre Nora Eines der bedeutendsten Konzepte im Rahmen des Gedächtnisdiskurses ist Pierre Nora, einem französischen Historiker, zu verdanken. Er studierte Geschichte, Ethnologie, Literatur und Philosophie. Er arbeitete als Gymnasiallehrer in Algerien. Seit 1977 ist er als Studienleiter an der Hochschule École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris tätig. Er hat eine der wichtigsten intellektuellen Zeitschriften im französischen Raum, die Zeitschrift Le Débat begründet. Seit dem Jahr 2001 ist er auch Mitglied der sog. Académie française. Nora setzt sich in seiner Arbeit mit der Geschichte und nationaler Identität Frankreichs auseinander. Berühmt wurde er durch sein 7bändiges Werk Les lieux de mémoire (1984-1992).28 Einerseits bezieht sich Nora bei seinen Überlegungen auf die von Halbwachs vorgenommene Trennung zwischen Geschichte und Gedächtnis, und verleiht der Gegenüberstellung einen neuen Sinn; andererseits entwickelt er einen neuen Begriff ‚lieux de mémoire‘ (‚Erinnerungsorte‘). Während sich das Gedächtnis nach Halbwachs in dem Begriff des kollektiven Gedächtnisses kristallisiert, findet man bei Nora den Bezug nur auf das Gegenwärtige: „Es gibt lieux de mémoire, weil es keine milieux de mémoire mehr gibt.“29 Es ist zugleich eine Erklärung, warum sich Nora nur der Untersuchung von Gedächtnisorten widmet. Seine Theorie bleibt bis an den heutigen Tag sehr aktuell und wird oft aufgegriffen und diskutiert. Zwar bezieht sich Nora überwiegend auf Frankreich, sind seine Konzepte leicht auf andere Länder übertragbar. In dem Aufsatz Zwischen Geschichte und Gedächtnis seines Hauptwerks Les lieux de mémoire trennt Nora die im Titel enthaltenen Begriffe: „Gedächtnis, Geschichte: keineswegs sind dies Synonyme, sondern, wie uns heute bewusst wird, in jeder Hinsicht Gegensätze.“30 Das Gedächtnis sollte nach Nora als das Leben verstanden werden. Seine Träger sind Angehörige lebendiger Gruppen und dadurch weist das Gedächtnis eine Tendenz zur ständigen Entwicklung auf. Es gibt auch keine festen Grenzen des Erinnerns und des Vergessens. Das Gedächtnis konzentriert sich auf Einzelheiten und „nährt sich von unscharfen, vermischten, globalen oder unsteten Erinnerungen, besonderen oder symbolischen, ist zu allen Übertragungen, Ausblendungen, Schnitten oder 27 Ebd. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 23. 29 Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt: Fischer 2001, S.11. 28 15 Projektionen fähig.“31 Im Rahmen der Geschichte wird das Nicht-mehr-vorhandene rekonstruiert. Das Vergangene wird hier nur repräsentiert, während das Gedächtnis immer gegenwartsnah bleibt. Die Erinnerungen erhalten innerhalb des Gedächtnisses einen besonderen „sakralen“ Status. Die Geschichte ist dagegen in ihrer Vorgehensweise stets analytisch und kritisch. Das Gedächtnis verbindet sich immer mit einer Gruppe; ist zugleich das Kollektive und das Individualisierte. Es ist ein „Absolutes“. Die Geschichte ist eher als universal und relativ zu bezeichnen. Zum Gegenstand der wissenschaftlichen Arbeit Noras wurden auch sog. Erinnerungsorte, die als ‚loci‘ (Von dem lateinischen Wort ‚locus‘ abgeleitet; bedeutet ‚Ort‘ , ‚Platz‘) erklärt werden. Nora greift bei dieser Auslegung auf die antike Mnemotechnik (der Begriff wurde in einem der früheren Kapiteln erläutert) zurück. Die Erinnerungsorte, sowohl im materiellen als auch im metaphorischen Sinne, gelten dementsprechend dem Aufruf der Erinnerungsbildern einer Nation. Als Beispiele dienen hier: geographische Orte, Architektur (Bauten, Denkmäler), Kunstwerke aber auch historische Persönlichkeiten, nationale Feiertage, wissenschaftliche Texte, Redeweisen, soziale Umgangsformen oder Handlungen symbolischer Art. Die Erinnerungsorte thematisieren wichtige Inhalte bzw. Themen aus der Vergangenheit. Sie konstituieren aber das kollektive Gedächtnis nicht. Sie fungieren, so Nora, als eine Art “künstlicher Platzhalter für das nicht mehr vorhandene, natürliche kollektive Gedächtnis.“32 Sie stellen nur eine Aufsammlung von Elementen der französischer Kultur dar. Sie sind weder zusammenhängend noch hierarchisch geordnet. Das kollektive Gedächtnis ist nach Nora nicht mehr vorhanden, weil sich die Bedingungen geändert haben. Das 19. Jahrhundert als die Zeit der III. Republik Frankreichs stand noch für den Nationalgedanken und ist damit die Quelle der französischen Erinnerungsorte. Das die kollektive Identität stiftende Gedächtnis zerfällt im 20. Jahrhundert. Das trifft bei Nora auf Frankreich zu, ist aber auch in anderen europäischen Ländern spürbar. Die Tendenz, die besonders in der 2.Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Tage trat, führt weg von der Nationalhaftigkeit überhaupt. Mit der Begründung der Europäischen Union (gemeinsame Währung und Verfassung) auf der einen Seite und dem Prozess der Migration auf der anderen Seite erleidet das kollektive Gedächtnis heutzutage eine Niederlage. Nora definiert drei Voraussetzungen, die ein Ereignis oder ein Gegenstand erfüllen muss, um als Erinnerungsort benannt zu werden. Eine kulturelle Objektivation muss über eine materielle, funktionale und symbolische Dimension verfügen. Alle der Aspekte müssen miteinander existieren. 30 Ebd., S.13. Ebd., S.13. 32 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 23. 31 16 Die Erinnerungsorte, die materielle Dimension aufweisen, müssen materiell existent, aber nicht unbedingt „fassbar“ sein. Es sind hier Bücher oder Gemälde, aber auch Ereignisse aus der Vergangenheit oder Schweigeminuten zu nennen, die als ein „materieller Ausschnitt einer Zeiteinheit“33 auftreten. Jede Objektivation muss auch in der Gesellschaft eine Funktion erfüllen. Nimmt man die Schweigeminute als Beispiel, so ist es zu betonen, dass sie das regelmäßig wiederkehrende Erwecken der Erinnerung zum Zweck hat. Entscheidend ist auch eine symbolische Bedeutung, die eine Objektivation haben muss, um als ein Erinnerungsort betrachtet zu werden. Hierzu werden ritualisierte Handlungen oder Orte mit einer symbolischen Ausstrahlung einbezogen. Es wird auch auf ein Unterschied zwischen einem Erinnerungsort und der anderen kulturellen Objektivationen hingewiesen: „Am Anfang muß es einen Willen geben, etwas im Gedächtnis festzuhalten. Gäbe man das Prinzip dieser Vorgängigkeit auf, würde man schnell von einer enggefaßten Definition […] zu einer möglichen, aber unscharfen Definition abgleiten, die theoretisch jedes einer Erinnerung würdige Objekt einschlösse.“ 34 Resümierend können alle Phänomene aus dem Bereich der Kultur als Erinnerungsorte gelten, die bezüglich der Vergangenheit und kollektiver Identität einer Nation kohärent sind. 35 2.1.4 Erinnerungskulturen 1997 wurde an der Justus-Liebig Universität Gießen mit dem Ziel der Rekonstruktion der Geschichte des Erinnerns der Sonderforschungsbereich 434 Erinnerungskulturen gegründet. Dieses interdisziplinäre Unterfangen, das nicht nur Literaturwissenschaftler, sondern auch Historiker, Germanisten, Latinisten, Orientalisten, Politologen und Soziologen zusammenschließt, untersucht die Inhalte und Formen der kulturellen Erinnerung von der Antike bis ins 21. Jahrhundert. Die Erkenntnisse dieses Forschungsbereichs liefern ein neues Bild der Erinnerung und zeigen komplexe Mechanismen des Erinnerns und zugleich des Vergessens auf. 36 33 Ebd., S. 24. Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt: Fischer 2001, S.32. 35 Vgl., Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S. 23-26. 34 17 Es wurde festgestellt, dass die Erinnerung kein statisches, sondern ein prozesshaftes Gebilde ist, das einem fortlaufenden Wandel unterliegt. Die Erinnerung ist von einer Dynamik gekennzeichnet. Diese Eigenschaft der Prozesshaftigkeit betrifft dabei sowohl das individuelle als auch das kollektive Gedächtnis. Als relevant erscheint, dass es nicht nur eine einzige Erinnerungskultur, sondern mehrere Erinnerungskulturen gibt, deshalb wird bei dem Gedächtnisdiskurs auf die Pluralität der Erinnerung hingewiesen. Man unterscheidet auch zwischen einer Pluralität von Erinnerungskulturen und einer Pluralität von Vergangenheitsbezügen. Wenn bedacht wird, dass die Erinnerungskulturen pluralistisch sind, so muss man eine Einteilung vornehmen: in die Erinnerungskulturen, die 1) sich einander ergänzen, die komplementär zueinander stehen, 2) sich einander ausschließen, 3) universal sind, 4) partikular sind. 37 Im Rahmen des Sonderforschungsbereich 434 wurde ein Modell entworfen, das der Beschreibung von kulturellen Erinnerungsprozessen verhelfen soll. Dem Modell nach unterscheidet man drei Ebenen: die Rahmenbedingungen der Erinnerns, die Ausformung spezifischer Erinnerungskulturen und zuletzt das konkrete Erinnerungsgeschehen.38 Es wird hervorgehoben, dass der Mensch nicht in einem Vakuum oder einem luftleeren Raum lebt, sondern in Gruppen, Gesellschaften, Gemeinschaften und Vereinen mit konkreter Gestalt und Struktur funktioniert. Deshalb wird hier zwischen sog. ‚offenen‘ und ‚geschlossenen‘ Gesellschaftsformationen 39 differenziert. Eine Gesellschaftsformation ist ein bestimmter Typus der Gesellschaft, in der erinnert wird. Die Rahmenbedingungen werden durch vier Faktoren bestimmt: 1) Gesellschaftsformation, 2) Wissensordnung, 3) Zeitbewusstsein und 4) Herausforderungslage. Der Begriff der Herausforderungslage bezieht sich auf die Krisen und gesellschaftliche Umbrüche. Das Zeitbewusstsein ist mit der Modernisierung und Beschleunigung des Lebenstempo verbunden. Das prominente Beispiel für das 21. Jahrhundert ist das jüngste Massenmedium, das Internet. Die Popularität des Internets wächst. Es ermöglicht die Nutzung der Dienste wie E-Mail, die Nutzung der WWW-Seiten, die Datenübertragung, und zunehmend auch Telefonverbindung, Radio und Fernsehen. Mit Hilfe vom Internet, das aus vielen Rechnernetzwerken besteht, erfolgt der weltweite Datenaustausch schneller denn je. Der Umlauf der Informationen in solchem Ausmaß war dabei vor 20 Jahren unvorstellbar. Wenn bedacht wird, dass die Erinnerungskulturen über spezifische Ausformungen verfügen, kann man hier vier Aspekte heraussondern. Die Erinnerungshoheit, im Rahmen deren über Relevanz und 36 Vgl., Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S.34. Ebd., S.34. 38 Ebd., S.34-35. 39 Ebd., S.34-35. 37 18 über dem Charakter der jeweiligen Erinnerung entschieden wird, ist der erste zu nennende Aspekt. Die großen Gruppen können sich auch durch Akzentsetzung d.h. durch sog. Erinnerungsinteressen und -Bedürfnisse voneinander unterscheiden. Die Erinnerungsinteressen können dazu beitragen, dass verschiedene gesellschaftliche Gruppen entweder miteinander rivalisieren oder eine neben der anderen funktionieren und sich gegenseitig beeinflussen. Es gibt bestimmte Erinnerungsgattungen, die bei diesem Thema vom zentralen Interesse sind und über die man sich an etwas erinnert. Sie dienen ebenfalls als Medium des kollektiven Gedächtnisses. Historienbild, Geschichtsfilm, historischer Roman aber auch Historiographie als eine Wissenschaft, die sich mir der Darstellung von geschichtlichen Ereignissen befassen, und Architektur als direkter materieller Bezug auf das Vergangene. Dieser besonderen Form werden viele spezifische Funktionen wie die Funktion eines „Kommunikationsintrumentes“ zugewiesen. Architektur wird als „steinerne Sprache“ angesehen werden. Sie ist eine Art Code, die die Inhalte durch bestimmte symbolische Zeichen weitergibt. Nicht nur bauliche Formen wie Räume oder Denkmäler, nicht nur Bilder, sondern auch Gerüche sind damit verbunden.40 Wenn man die Konstituierung des kollektiven Gedächtnisses analysiert, muss auch das Erinnerungsgeschehen berücksichtigt werden. Es wird dabei darauf verwiesen, dass sich das Erinnerungsgeschehen in zwei Formen: individuelle Lebenserfahrung („erfahrene Vergangenheit“) und eine Aneignung einer Erinnerungsraums („nicht-erfahrene Vergangenheit“), einteilen lässt. Die individuelle Erfahrung bezieht sich nur auf das selbst Erlebte. Bei der Aneignung einer Erinnerungsraums wird eine Erinnerung, die nur vom Hören bekannt ist, in den Fokus gestellt. Bei dieser Form ist der Erinnerungsvermittelnde nicht in das Geschehen, in das Vergangene involviert. Davon hängen die Intensität der Erinnerung und die Strategien, mittels deren es erinnert wird, ab. 41 In diesem Zusammenhang muss noch auf das Phänomen des ‚kulturellen Erbes‘ verwiesen werden, das im Gedächtnisdiskurs oftmals erörtert wird. Ist die Kultur die Gesamtheit der geistigen und kulturellen Errungenschaften der Gesellschaften, so ist unter dem Begriff ‚kulturelles Erbe‘ die Grundlage dieser Kultur bzw. Kulturen zu verstehen. Das kulturelle Erbe ist eine Sinnwelt, die durch die Menschen konstruiert wird, indem sie manche Inhalte aufnehmen, andere aber parallel außer Acht lassen. Es ist eine „anthropologische Grundausstattung des Menschen“. 42 Diese Sinnwelten funktionieren selektiv und werden über sog. Auswahlmechanismen gesteuert. 40 Vgl. Burkhardt, Benjamin: Der Triefels und die nationalistische Erinnerungskultur: Architektur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Nünning, Ansgar/ Erll, Astrid: Medien des kollektiven Gedächtnisses. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2004. 41 Vgl. Ebd. 42 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S.35. 19 Das kulturelle Erbe hat eine identitätsstiftende Funktion, deshalb soll durch die Menschen nicht nur gestiftet und gepflegt werden. Über diese Inhalte soll auch reflektiert werden. Die menschliche Existenz ist ohne kollektives Gedächtnis nicht denkbar. Die Menschen brauchen Identität und Angehörigkeitsgefühl, die durch die Beteiligung an sozialen Gruppen gewonnen werden. Im Rahmen des Sonderforschungsbereich 434 wird demzufolge die Erhaltung und Schutz des kulturellen Erbes postuliert. 43 2.2 Strukturmerkmale einer ‚geschlossenen‘ Gesellschaft Eine klare Eingrenzung von Begriffen der ‚offenen‘ und der ‚geschlossenen‘ Gesellschaft wird von Karl Popper vorgeschlagen, der sich dabei für das Modell einer ‚offenen‘ Gesellschaft ausspricht. Die offene Gesellschaft bildet ein Konstrukt, der sich durch Dynamik und Pluralismus gekennzeichnet. Im Rahmen einer Gesellschaft koexistieren nach Popper verschiedene Interessen und Lebensstile, die einem ständigen Prozess des Variierens unterliegen. Als Voraussetzungen für die Entstehung und Aufrechterhaltung einer offenen Gesellschaft werden die Möglichkeit des Einzelnen, individuelle Entscheidungen zu treffen und dessen kritische Weltbetrachtung angesehen. Das soll einen direkten Einfluss auf die Gestaltung von Werten und Normen haben. Das Modell der offenen Gesellschaft wird im Zusammenhang mit den demokratischen Herrschaftsformen, die dem Individuum die weitgehende Freiheit, Gleichheit und politische Partizipation gewährleisten, in Betracht genommen. Eine geschlossene Gesellschaft kann hingegen, so Popper, mit einem Organismus verglichen werden. In Bezug auf die sogenannte organische bzw. biologische Theorie des Staates ist die geschlossene Gesellschaftsordnung immer einer Herde oder einem Stamm ähnlich. Der Zusammenhalt dieser halborganischen Einheit ist durch die Teilnahme ihrer Mitglieder an gemeinsamen Anstrengungen, Gefahren, Freuden und Unglück bedingt. Mit den von Popper erarbeiteten Strukturmerkmalen der geschlossenen Gesellschaften und deren genauer Beschreibung ergibt sich eine ausführliche Definition dieser besonderen sozialen Ordnung, die durch 1) Historizismus, 2) Holismus, 3) Essentialismus, 4) Kollektivismus und 5) mit dem Traditionalismus vereinten Utopismus bestimmt wird.44 43 44 Vgl., Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S.35. Vgl. Pfahl-Traughber, Armin: Ideologische Strukturmerkmale der geschlossenen Gesellschaft. Karl R. Popper als 20 Die Idee des Historizismus besagt, dass die Geschichte aus bestimmten feststehenden Gesetzen, deren Erkennung die Voraussage der zukünftigen historischen Entwicklungen ermöglicht, zusammengefügt sei. Der Historizismus als eine Eigenschaft der geschlossenen Gesellschaftsform hängt eng mit dem Begriff des Auserwählten zusammen. Das Auserwähltsein, das auf dem Glauben beruht, für eine besondere Aufgabe prädestiniert zu sein, spiegelt sich beispielsweise in der Vorherbestimmung eines Volkes oder einer Rasse in der Ideologie des Faschismus wider. Der Kampf um die Herrschaft und das Streben nach Niederwerfung der Nachbarstaaten steht hier im Zentrum aller Handlungen. In der wirtschaftlich-kritischen Lehre des Marxismus wird dagegen von einer auserwählten Klasse gesprochen, die dazu berufen sei, künftig eine klassenlose Gesellschaft zu schaffen. Ob biologisch oder ökonomisch begründet schützt sich jede geschlossene Gesellschaft vor äußeren und fremden Einflüssen, indem sie die eigene Bevölkerung bzw. Bevölkerungsgruppe bevorzugt.45 Als weiteres Merkmal gilt hier der Holismus, der durch die Orientierung an eine Gemeinschaft interpretiert wird. Nicht die Individuen, sondern die von ihnen gebildeten Gruppen werden sozial anerkannt. Aus dem Holismus leitet sich die Bestrebung ab, alles unter einer totalen internen Kontrolle zu halten, also das Totalitäre. Der Staat soll dementsprechend mit der Gesellschaft ein homogenes Gebilde darstellen. Als Instrument der staatlichen Aufsicht gelten in totalitären Systemen Repression und Gewalt, die die Vernunft und die Wahrheit zu unterdrücken versuchen. Dies soll nach Popper zu einer völligen Vernichtung des menschlichen Elements führen. Das Regime verlangt auch völlige Unterwerfung und erzwingt den absoluten Gehorsam dem totalitären Staat gegenüber. Die Massenmobilisierung durch gezielte Propaganda gehört neben der totalen Überwachung und der systematischen Terroranwendung zu der Funktionsweise dieser Form der Herrschaft.46 Als andere Komponente ist hier der Essentialismus zu nennen, der auch als ein ‚methodischer Essentialismus‘ oder eine ‚Wesenslehre‘47 formuliert wird. Die Wissenschaft und das Wissen sind in der Auffassung Poppers dazu verpflichtet, die wahre, bis jetzt unerkannte Natur der Dinge zu entdecken und charakterisieren. Es wird vorausgesetzt, dass es nur eine richtige obligatorische Antwort auf jede Frage und eine natürliche, für ein Gebiet oder eine Gesellschaft geltende Ordnung der Dinge gebe. Jede Veränderung oder Entwicklung wird demgemäß als ein Verstoß gegen das sozial-politische Ideal interpretiert. Hier scheint auch eine Eventualität der Rechtfertigung und dadurch eine Neigung zum Missbrauch und zur Menschenrechtsverletzung enthalten zu sein. Mit Totalitarismustheoretiker. In: Aufklärung und Kritik 1/2003. Ebd. 46 Ebd. 47 Ebd., S.114. 45 21 diesem Aspekt des geschlossenen Gesellschaftsform wird der schädliche Einfluss der essentialistischen Idee auf die Politik festgestellt. Laut der Idee des Kollektivismus wird die Bedeutung des Individuums der Bedeutung eines Kollektivs im Sinne einer Nation oder einer Klasse gegenübergestellt. Der Wert und die Würde des Einzelnen ist durch seine Gruppenzugehörigkeit bestimmt. Ob ethnisch, sozial oder staatlich gemeint muss er einem Kollektiv angehören. Es ist den frühzeitlichen Stammesgesellschaften abzuleiten, in den die führende Rolle dem Volksstamm zugeschrieben war und das Individuum außer dieser Sozialstruktur als irrelevant betrachtet wurde. Der Kollektivismus zeigt sich auch durch die Unterdrückung des Individuums, das keine persönlichen Entscheidungen fällen lassen kann und sich dem Kollektiv unterordnen muss.48 Mit dem Utopismus, der mit dem Traditionalismus gleichgesetzt wird, wird die Entstehung einer Idealgesellschaft postuliert. Das Streben nach Idealzustand in den geschlossenen Gesellschaften offenbart sich einerseits als die Rückkehr zu einem Ideal, einem Urbild des Staates und die Verteidigung der existierenden Gesellschaft (nach Platon) und andererseits als die Schaffung einer einheitlichen klassenlosen Idealgesellschaft (nach Karl Marx). Im Rahmen des Utopismus wird aber grundsätzlich ein gemeinsames Ziel verfolgt. Damit ist der Aufbau einer homogenen Gesellschaft und derer Bestärkung gemeint. Anhand dieser Merkmale lässt sich feststellen, dass die geschlossene Gesellschaftsformen homogen und starr in ihrer Ausprägung sind. Sie richten sich gegen Demokratie, Egalitarismus und Individualismus.49 Die Idee der geschlossenen Gesellschaft ist gut auf totalitäre: faschistische oder kommunistische Systeme übertragbar, die nach der Entstehung einer Idealgesellschaft streben. Neben der anti-religiösen Haltung der totalitären Gesellschaften ist in diesem Zusammenhang eine bestimmte Einstellung zur Geschichte zu nennen. Die unbequemen Wahrheiten der Geschichte werden verdrängt, und die Elemente, die an aktuelle Bedürfnisse anknüpfen, und die dem Aufbau und der Fixierung der Ideologie verhelfen könnten, wieder aufgenommen und hervorgehoben. Als ein Beispiel gilt hier die Vergangenheits- und Geschichtspolitik der DDR. Den Historikern wird eine Aufgabe erteilt, dem Volk ein neues Geschichtsbild zu liefern und zu festigen. Die negative Vorstellung deutscher Geschichte, die in der Nachkriegszeit mehrmalig betont wird, soll verfeinert werden. Im Kontrast zu der Zeit des NS-Regimes wird in der DDR die Zeit von der Reformation bis 1848 gestellt. Das neu erarbeitete Bild soll das Gefühl von Stolz auf die bedeutsamen geschichtlichen Taten der deutschen Nation vermitteln und die Bereitschaft zur „Verteidigung der 48 49 Ebd. Vgl. Pfahl-Traughber, Armin: Ideologische Strukturmerkmale der geschlossenen Gesellschaft. Karl R. Popper als Totalitarismustheoretiker. In: Aufklärung und Kritik 1/2003, S.110. 22 sozialistischen Errungenschaften der Arbeiter- und Bauernmacht“50 in der DDR erzeugen. Als nächstes Ziel wird das Konstruieren von Feindbildern gestellt, die dann propagandistisch ausgenutzt werden. Politisch instrumentalisiert und bewusst und gezielt zur Durchsetzung spezifischer Interesse der Partei benutzt schaffen sie dabei eine Grundlage für die sozialistische Ideologie.51 Das soziale Leben wird in den geschlossenen Gesellschaften weitgehend geregelt. In Bezug auf das Gedächtnis und Literatur werden in den Ländern des Real-Sozialismus die Institutionen ins Leben gerufen, die für die Ausformung des kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses Verantwortung übernehmen. Hier sind u.a. die Verlage, der Parteiapparat und das Ministerium für Staatssicherheit zu nennen. Der Auswahl der Inhalte, die aufgenommen und propagiert, und die abgelehnt werden, findet im Rahmen dieser Institutionen statt. Die Auseinandersetzung mit der unbequemen Ereignissen aus der deutschen Vergangenheit: mit dem Faschismus, den Abtransporten in die Konzentrationslagern, mit der Flucht und Vertreibung wird aufgezwungen, der Zugang zu den Medien des kollektiven Gedächtnisses in der DDR (Archive) eingeschränkt.52 Die Tendenz zur geschichtlichen Vereinheitlichung führt zur Entstehung kollektiver, miteinander konkurrierenden Gegen-Gedächtnisse, die ihre bis jetzt verschwiegene bzw. verbotene Erinnerungen zum Ausdruck bringen wollen. Es muss dabei darauf hingewiesen werden, dass das staatlich festgelegte Gedächtnis gegenüber den individuellen Gegen-Gedächtnissen eine Vormachtstellung innehat. Nicht nur das politische Leben und die Gedächtnisbildung sondern auch die Literatur wird unterdrückt und zensuriert. Die literarischen Inhalte werden begutachtet. Es wird nach hinreichenden Gründe zur Veröffentlichung gesucht, durch die die Erhaltung einer Druckgenehmigung bestimmt wird. Das kollektive Gedächtnisses, primär durch ikonische Darstellungen Parolen, Spruchbänder, Schrifttafeln gefestigt, bildet sich unter dem Einfluss des Aufsicht führenden Ministerium für Staatssicherheit, das als Überwachungs- und Repressionsorgan in der geschlossenen DDR-Gesellschaft gilt.53 50 Aleida Assman, Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999. S.173 51 Vgl., Ebd. 52 Vgl., Gansel, Carsten: Zwischen offiziellem Gedächtnis und Gegen-Erinnerung- Literatur und kollektives Gedächtnis in der DDR. In: Gansel, Carsten (Hg.): Gedächtnis und Literatur in den >geschlossenen Gesellschaften< des RealSozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen: V&R unipress 2007, S. 11. 53 Ebd., S.28-31. 23 2.3 Flucht und Vertreibung als geschichtliches Phänomen In dem Diskurs um Flucht und Vertreibung werden die Begriffe wie: ‚Vertreibung‘, ‚Zwangsausweisung‘, ‚Deprivation‘ und ‚Bevölkerungs-Transfer‘ verschiedenartig verwendet. Die Versuche der Erläuterung der Begriffe sind aber in den meisten Fällen politisch determiniert. Selbst der in diesem Zusammenhang zu nennende Begriff ‚Heimat‘ wurde nach 1945 tabuisiert. Man assoziierte den Begriff mit der NS-Zeit, in der er für ideologische u. politische Zwecke gebraucht wurde. Man hat den Begriff, so Jürgen Reulecke, missbraucht: Indem Heimat aus der ganz subjektiv-individuellen Erlebnissphäre des Einzelnen herausgelöst und zu einem Schlagwort von politisch-weltanschaulichen Gruppen und schließlich des NSStaates gemacht wurde, führt sich der Heimatbegriff letztlich selbst ad absurdum […].54 Krystyna Kersten55 unternimmt den Versuch, in der uneinheitlichen Terminologie um den ‚Vertreibungskomplex‘ Ordnung zu schaffen. Sie lehnt den Begriff ‚Vertreibung‘ ab und prägt einen neutralen Begriff des Transfers bzw. Bevölkerungs-Transfers. Der Transfer erfolgt infolge einseitiger internationaler Entscheidungen. Als ‚Aussiedlung‘ wird hier eine vorbereitete und erzwungene Verlagerung einer gewissen Gemeinschaft (der eigenen Bürger oder der Bürger anderer Ländern) bezeichnet. Als charakteristisches Merkmal gilt hier die Passivität der Person, die ausgesiedelt wird. 56 Hubert Orłowski bevorzugt hingegen den Begriff der ‚Deprivation‘. Der Begriff sei von einer politischen bzw. ideologischen Schattierung losgelassen. Der Heimatverlust wird als ein erzwungener Mangelzustand, als eine individuelle und einer kollektive Deprivation dargestellt.57 Sie beinhaltet die durch Auflösung von Beziehungen entstandene Mangel an Materiellem und 54 Vgl. Reulecke, Jürgen: Antimodernismus und Zivilisationskritik: Die Heimatbewegung aus historischgesellschaftlicher Perspektive. In: Regionaler Fundametalismus? Hrsg. von: Museumsdorf Cloppenburg, Kulturamt der Stadt Oldenburg, Stadtmuseum Oldenburg. Oldenburg 1999, S.19. 55 Vgl., Zimniak, Paweł: Verlorene Heimat – zum deutschen Topos in der polnischen Erinnerungskultur nach 1945, S.75-90. In: Gansel, Carsten (Hg.): Gedächtnis und Literatur in den >geschlossenen Gesellschaften< des RealSozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen: V&R unipress 2007, S.84. 56 Ebd., S.83-84. 57 Ebd., S.83-84. 24 Ideellem. 58 Emma Braslavsky setzt sich mit dem Phänomen der Vertreibung und Zwangsausweisung der Sudetendeutschen aus der ehemaligen Tschechoslowakei auseinander, indem sie es zum historischen Hintergrund ihres Romans Aus dem Sinn macht. Dabei müssen gewisse Fakten auf der historischen Ebene betrachtet werden: 1. Im Jahr 1918 wird aus den Ländern Mähren, Böhmen und Mährisch-Schlesien ein neuer Staat, die sog. Tschechoslowakei (CSR) gegründet.59 2. Ein Jahr später steht das Sudetenland unter der tschechoslowakischen Besatzung. Damit beginnt für die Minderheit der Sudeten eine Periode, die durch eine Entnationalisierungspolitik60 gekennzeichnet ist. Die deutsche Sprache wird durch Tschechisch ersetzt, die Ortsnamen werden ebenfalls umgeschrieben.61 3. Im Jahr 1938 erfolgt die Abtretung des Sudetenlandes an das Deutsche Reich. Damit glaubt man eine Waffenintervention Hitlers verhindert und seiner Ansprüche auf die Tschechoslowakei befriedigt zu haben. Als eine Regelung für die Annexion gilt das Münchner Abkommen. 4. Mit dem Kriegsende 1945 kommt es zur Wiedererstehung der Tschechoslowakei, die das Sudetenland bekommt. Um der Irredenta zuvorzukommen, fällt man eine Entscheidung, die Sudetendeutschen aus ihrer Heimat zwangsauszutreiben. Der Verlauf des ‚Transfers‘ ist durch die Enteignung der Sudeten ohne Entschädigungen, Gewaltanwendung durch tschechische Terrorgruppen, Vergewaltigungen, Tötungen gekennzeichnet.62 5. Die Ausstoßung der Deutschen aus dem tschechoslowakischen Gebiet wird von dem tschechoslowakischer Exil-Präsidenten (vorher Außenminister der ČSR) Edvard Benesch (Beneš) nach seiner Rückkehr aus Exil vorbereitet und mit folgenden Worten begründet: Das deutsche Volk hat in diesem Krieg aufgehört, menschlich zu sein, menschlich erträglich zu sein, und erscheint uns nur noch als ein einziges großes menschliches Ungeheuer … Wir 58 59 60 61 62 Ebd., S.84. Vgl., http://www.sudeten.de/cms/?Historie:1919_-_1945. Ebd. Ebd. Ebd. 25 haben gesagt, dass wir das deutsche Problem in der Republik völlig liquidieren … müssen.63 6. Infolge der Potsdamer Konferenz erlangt man die Zustimmung der Alliierten (Großbritannien, USA, Sowjetunion) für die Austreibung, die laut dem gut durchdachten Plan fortgesetzt wird. Die Bevölkerung wird in den von sowjetischer Macht besetzten deutschen Staat vertrieben.64 7. Die Vertreibung und Zwangsausweisung werden von den kommunistischen Machtorgane als Mittel zur Propaganda und zur Schaffung eines ethnisch homogenen Staatwesens gebraucht. Das Streben nach ethnischer Homogenität scheint als Quelle der Stabilität und Sicherheit innerhalb des sozialistischen Staates aufgefasst zu werden, die von den nationalen Minderheiten (evtl. Aufstände oder Freiheitskämpfe) bedroht werden könnte.65 8. In der Nachkriegszeit kommt es in Deutschland zu mehreren Integrationskonflikten. Es wird versucht, die Solidarität in der uneinheitlichen, durch die Minderheiten geprägten Gesellschaft zu erzwingen. Die Vergangenheitsbewältigung erfolgt mittels Tabuisierung bestimmter Inhalte und durch selektive Aufnahme von Geschichtsbildern, die dem Zusammenhalt des sozialistischen Staates beitragen könnten. 66 Die DDR-Politik gegenüber den Aussiedlern und die Art und Weise der Aufarbeitung der Vergangenheit werden im nächsten Kapitel genauer geschildert. Eine besondere Dimension des Heimatverlustes zeigt durch die internationale Debatte über Flucht und Vertreibung, die von der BdV-Präsidentin Erika Steinbach ausgelöst wurde. Sie plädiert für die Entstehung eines sichtbaren Zeichens für Vertreibungsverbrechen, sog. ‚Zentrum gegen Vertreibungen‘ (aus öffentlichen Mitteln finanziert) und versucht seit Jahren das Konzept umzusetzen. Diese Art und Weise der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird häufig als kontrovers bezeichnet. Der Gedenkort soll nämlich in der Hauptstand der Bundesrepublik Deutschland, Berlin eingerichtet werden. Ein wesentlicher Beitrag zu dem in Anbetracht der europäischen Einheit relevanten Diskurs stellt die öffentliche Aufforderung mehrerer Wissenschaftler zu einem „kritischen und aufgeklärten 63 Hrabovec, Emilia: Vertreibung und Abschub. Deutsche in Mähren 1945-1947. Frankfurt 1995, S. 70. Vgl., http://www.sudeten.de/cms/?Historie:1919_-_1945 65 Vgl., Zimniak, Paweł: Verlorene Heimat – zum deutschen Topos in der polnischen Erinnerungskultur nach 1945 S.75-90. In: Gansel, Carsten (Hg.): Gedächtnis und Literatur in den >geschlossenen Gesellschaften< des RealSozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen: V&R unipress 2007, S.82. 66 Vgl. Schwarz, Michael: Vertriebene und „Umsiedlerpolitik“. Integrationskonflikte in den deutschen NachkriegsGesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ/DDR 1945-1961. Veröffentlichungen zur SBZ-/DDRForschung im Institut für Zeitgeschichte. Oldenbourg Verlag, München 2004, S. 1117-1120. 64 26 Vergangenheitsdiskurs“67 dar. Es wird hier direkt auf das Projekt des ‚Zentrum gegen Vertreibungen‘ Bezug genommen. Am 10. August 2003 wird in der Stadt Gerolstein (Deutschland) der o.g. Appell unterzeichnet. Es ist dabei darauf hinzuweisen, dass man zwischen den Erstunterzeichnern die Namen brillanter polnischer Wissenschaftler finden kann, wie z.B. Prof. Dr. Hubert Orlowski (Germanist an der Adam-Mickiewicz-Universität Poznan), Prof. Dr. Jan Maria Piskorski (Historiker und Verleger an der Universität Szczecin) oder Dr. Robert Traba (Historiker an der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warszawa). Es ist zu fragen sein, ob man hier tatsächlich Enttabuisierung und Versöhnung erreichen und ein gemeinsames Erinnerungsbild gestalten will. Man befürchte inzwischen, dass der historische Kontext, besonders im Zusammenhang zwischen den Vertreibungen und der NS-Politik, verändert werden könnte. Auf den internationalen Dialog und die Integration, die ununterbrochen gestrebt wird, könnte es destabilisierend wirken, deshalb wird hier ein „pluraler, kritischer und aufgeklärter Diskurs“ und eine gemeinsame Diskussion auf europäischen Ebene gefordert. 68 67 68 Vgl., http://www.vertreibungszentrum.de/ Ebd. 27 3 Emma Braslavskys Aus dem Sinn in narratologischer Perspektive 3.1 Zur Erzählperspektive 3.1.1 Kindheitserinnerungen – Eduard Meißerl als autodiegetischer Erzähler Die Geschichte von Eduard Meißerl wird in einer nicht-linearen Reihenfolge dargestellt. Die Kindheitserinnerungen des viereinhalb jährigen Eduard wechseln sich mit den aktuellen Geschehnissen ab. In den kursiv markierten Erinnerungssequenzen wird man mit zu einem Erzählstrang genommen, der zeitlich weit zurück liegt. In diesen Rückblenden wird das Vertreibungsschicksal von Eduards Familie und der anderen Sudetendeutschen aus der ehemaligen deutschen Stadt Tuschkau skizziert. Es wird aus der Perspektive des autodiegetischen 69 Erzählers Eduard erinnert. Er berichtet über selbst erlebte Ereignisse, in den er sich intensiv mit seinen Erfahrungen im Bezug auf Heimatverlust auseinandersetzt. 70 Eduards Erinnerungen an die Vergangenheit in Tuschkau gehen zwar in das Jahr 1946 zurück, werden aber von Eduard der Ebene der Gegenwart zugeschrieben, indem er die Ereignisse aus seiner Kindheit mit dem Jahr 1969 beschriftet. Dies ist eine Auswirkung von Elektroschocktherapie, die bei ihm nach der Prager Demonstration in der psychiatrischen Klinik angewendet wird. Dadurch wird seine ‚tiefe Erinnerung‘ aktiviert. 71 Eduard erinnert sich an seine Kinderspiele, besonders an die mit seiner Freundin Miri verbrachte Zeit, u.a. in der Werkstatt von Onkel Albin, wo früher Möbel, dann aber nur Särge auf Bestellung von der Wehrmacht angefertigt wurden. Er erinnert sich aber vor allem an seinen Vater Estor, der als Schuhmacher Schuhe für die Wehrmacht gemacht hat, an seine Worte über die Bedeutung der Füssen im menschlichen Leben. Der Vater erscheint in den Erinnerungen als vernünftiger Mensch, der anständig vorgeht; der zwischen dem Gut und Böse unterscheidet und versucht, seinem Sohn bestimmte Regeln und Verhaltensweisen beizubringen: „Wir müssen das Gute vom Bösen 69 Vgl., Fludernik, Monika: Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt: WissenschaftlicheBuchgesellschaft 2006, S.42. 70 Vgl. Zimniak, Paweł: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip in Emma Braslavskys Aus dem Sinn (2007), S. 7. 28 unterscheiden. “72 Estors Weltanschauung wird im Zusammenhang mit seiner Freilassung thematisiert: „Wir müssen nach vorn schauen, nicht zurück. Hinter uns liegt nix mehr.“ 73 In der ersten Nacht nach der Flucht soll er auch gesagt haben: „Man geht immer neue Verbindungen ein, niemand treibt schwerelos durch den Raum. Nach einer Reise kommt man wieder irgendwo an.“74 Durch Eduards Erinnerungen lernt man auch seine Mutter kennen. Liebevoll und ununterbrochen um ihren kleinen Sohn besorgt, stellt sie sich als Ziel, ihn vor der Welt und ihrer Grausamkeit zu beschützen. Das Gefühl der Angst ist aber Eduards Kindheitserinnerungen inhärent. Er erinnert sich an die Zeit, als die Häuser durch tschechische Kommandos leer geräumt werden: „[Eduards Mutter] Sie rennt durchs Haus. Sie sucht ein Versteck. Für das Geld. […] Die Tschechien dürfen das Geld nicht finden. Sonst ist alles weg. […] Tschechische Kommandos ziehen durch die Dörfer wie Gorillabanden. Sogar Tschechien haben Angst vor denen.“75 Als beunruhigend scheinen für ihn auch tschechische Männerstimmern in der Nacht, in der seine Mutter erniedrigt und vergewaltigt wird: „ Die treten die Haustür auf. […] Ich mache mir in die Hose. […] Da sind noch mehr Männer. Sie haben Mutter. Sie schreit. […] Sie schreit wieder. Mutter liegt halb nackt auf dem Boden. Einer hält sie. Der andre stemmt sich zwischen ihre Beine. […] Da kriegst du einen tschechischen Bastard, du deutsche Schlampe!“76 In Abwesenheit seines Vaters fühlt sich Eduard verpflichtet, seine Mutter zu beschützen. Die Vergewaltigung bleibt ein Familiengeheimnis zwischen der Mutter und ihrem kleinen Sohn. Ella Meißerl ist die Person, die Eduard erklärt, warum er den Aufenthaltsort von dem jüdischen Mädchen Miri nicht mal seinem besten Freund Paul verraten darf. Das Mädchen, von Familie Meißerl versteckt, ist eine Jüdin: „Miri hat schwarzes Haar und grüne Augen. Das ist schon ein Verbrechen hier.“77 Während eines Spiels um den Stall herum wird Miri jedoch von Paul entdeckt. In der Nacht werden Miri und ihr Vater von der SS abgeholt und abtransportiert. Es wird auch eine Fahrradtour Eduards zu seinem Kindheitsfreund Paul erinnert. Eduard fährt an einem Lager der Wehrmacht vorbei, das wiederum zu einem Anreiz einer konkreten Erinnerung wird. Eduard erinnert sich an die Worte seines Vaters, der das Lager als Propagandamuseum bezeichnete und sich klar über die Deutschen äußerte: „Da liegen Uniformen, Fahnen, Plakate. […] Wie Hunde die Ecken ihres Reviers markieren. Die Uniformen sind Kreuze um den Hals. […] Sie sind die Guten. Wehe dem, der es nicht glaubt.“78 Am 27.10.1969 arbeitet Eduard weitere als wichtig eingeordnete Ereignisse aus, die er in 71 Vgl. Ebd., S. 6. Ebd., S. 219. 73 Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S. 327-328. 74 Ebd., S.99. 75 Ebd., S.272-273. 76 Ebd., S.275. 77 Ebd., S.183. 72 29 Erinnerung behalten hat: die Umstände der Verhaftung seines Vaters nach der Aufdeckung einer illegalen Aufnahmewerkstatt. Als die Aufnahmewerkstatt in Pilsen als ein Ort, wo die gegen die Macht gerichteten Reden aufgenommen wurden, ermittelt wird, wird Eduards Vater als einer, der an dem „Kapitalverbrechen“79 teilgenommen hat, verhaftet. Während der Verhaftung bezeichnet Konrad Eduards Vater als Informant. Damit wird zwar sein Leben gerettet, vor den Augen der anderen engagierten Sudetendeutschen wird er bloßgestellt und bricht fast zusammen. Die Anderen, die mit dem tschechoslowakischen Widerstand gearbeitet haben, werden unmittelbar abtransportiert. Eduard, unsicher und entsetzt, wird von Pauls Vater Konrad ausgefragt. Konrad deutet dabei daran, dass das Schweigen ein Verbrechen am Führer sei. Durch die Erinnerung an diese Situation wird die Kraft staatlicher Kontrolle in der damaligen DDR geschildert. „Auch wenn nur Platten mit Instrumentalmusik hergestellt werden“80 soll die Gauleitung über der Entstehung solcher Werkstatt informiert werden. Es wird von Eduard auch ein Sonntag ins Gedächtnis zurückgerufen, an dem er wie gewöhnlich mit seiner Familie an einem auf Lateinisch gehaltenen Gottesdienst teilnimmt. Seine Überlegungen, die als ein innerer Monolog dargestellt werden, sind eine Verschmelzung von dem Weltverständnis eines kleinen Kindes mit den Erkenntnissen des schon erwachsenen Eduards. Die Fragmente der Liturgie, die über Gott handeln, werden von dem kleinen Jungen mit den Deutschen assoziiert und auf ihre Verfolgungspolitik übertragen: „ Wenn man halt Gott ist. […] Wir müssen gehorchen. Wie bei den Deutschen. Sonst geht’s ins Krematorium. Die Wege der Deutschen sind unergründlich.“81 Eduard bewertet und beurteilt Gott; es wird auch auf die Ratlosigkeit gegenüber den der NS-Herrschaft hingewiesen: „Wir verziehen einem, der nicht sprechen kann. […] Er macht schon lange nix Gutes. […] Gott können wir nicht besiegen. […] Wir können nix tun“ 82 Am Dienstag, dem 04.11.1969 werden Eduards Erinnerungen an die Flucht aktiviert: Sie haben Vater rausgelassen. Nach neun Monaten! […] Wir wollen nicht wie Vieh im Güterwagen fahren. Wie die meisten hier. […] Der Marsch nach Pilsen ist gefährlich. […] Meine Füße tun weh. […] Ich schaue mir die Leute an. Blasse, traurige Gesichter. Die Erwachsenen schauen nach unten. Oder starren geradeaus. Niemand will sich in die Augen sehen lassen. […] Ich sehe alte Leute auf der Straße liegen […] Wir erreichen den Bahnhof. Tschechische Soldaten treiben uns zusammen […] Die Leute haben Angst .83 Auf dem Bahnhof werden die vertriebenen Sudetendeutschen durch tschechische und russische 78 Ebd., S.221. Ebd., S.223. 80 Ebd., S.223. 81 Ebd., S.219. 82 Ebd., S 219. 83 Ebd., S.329-330. 79 30 Soldaten schlecht behandelt. Nach dem Einstieg wird Estor Meißerl wegen einem Bankauszug aufgerufen. Das Geld, das von Eduards Vater kurz vor der Vertreibung von der Bank geholt wurde, muss laut Gesetz enteignet werden: „[über die russischen Soldaten] Zwei schnappen Vater. Zwei Mutter. Zwei mich. […] Mir fassen sie direkt in die Unterhose. Ich laufe rot an. […] Vater schlagen sie ins Gesicht. Ein Russe spuckt ihn an. Vater bleibt stark “84 Die Leute werden gedemütigt und gefoltert. Die Fahrkarten, die durch Tuschkauer Bürgermeister gekauft wurden und den Platz in den Sitzwaggons garantieren sollten, haben kein Wert mehr., und sie werden in die Güterwaggone zusammengepfercht. Beim Aussteigen werden alle Habseligkeiten mit Gewalt weggenommen. Bei der Darstellung der Ankunft in Erfurt wird von Eduard die Spannung zwischen den zwei verschiedene aufeinander gestoßenen Gruppen, den Vertriebenen und den Einheimischen, geschildert: „Die Leute haben graue Gesichter. […] Manche sehen und böse an. Als ob wir Schuld an dem ganzen Schlamasel hätten! Eine Frau rempelt Mutter an. […] “85 Was von Eduard nie vergessen wird, sind die Worte dieser einheimischen Frau: „ Geh nach Hause zurück. Ihr Elendigen. “ 86 Wenn kleiner Eduard nach der Ankunft in Erfurt nach dem Zuhause fragt, wird geantwortet: „Zu Hause ist da, wo die meisten Erinnerungen sind.“, so Eduards Vater, „ Die Zeit bringt uns neue Erinnerungen. Wir können auch hier zu Hause sein. […] Aber nur durch Erinnerungen leben wir weiter! […] Eduard, zu Hause ist da, wo alle der zusammenkommen.“ 87 Mit der Fahrt durch eine zertrümmerte Stadt und mit der ersten Nacht an dem neuen Ort wird der Strom Eduards Kindheitserinnerungen abgeschlossen. Durch diese Erinnerungen wird seine Gruppenzugehörigkeit zu der Erinnerungs- und Gedächtnisgemeinschaft88 der vertriebenen Sudetendeutschen bezeugt. 84 Ebd., S. 331. Ebd., S. 332. 86 Ebd., S. 332. 87 Ebd., S. 332-333. 88 Vgl., Zimniak, Paweł: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip in Emma 85 31 3.1.2 Die Position des heterodiegetischen Erzählers Die Geschichte der sudetendeutschen Gemeinde wird überwiegend aus der auktorialen89 (nach Stanzel) Perspektive wiedergegeben. Aus der Sicht eines Handlungsbeteiligten (in der ICH-Form) werden nur die kursiv markierten Erinnerungen und innere Monologe der Hauptfigur Eduard Meißerls dargestellt. Nach der Niederschlagung der Prager Demonstration, aufgrund der Verurteilung wird Eduard in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Infolge der ärztlichen Behandlung greift er tief in sein Gedächtnis zurück. Der fortlaufende Strom der Erinnerung wird heterodiegetisch90 (nach Genette) geschildert: Er schaute vor allem nach innen, vermaß das angestaute Bilderarchiv, zählte Erinnerungen und ließ sich zwischen den fein säuberlich voneinander getrennten Bilderhaufen treiben.[…] Er sortierte gute und schlechte, neue und alte, Frühling, Herbst und Winter, schnelle und langsame, laute und leise, Vater und Mutter, […] und so weitere Erinnerungen[…].91 Es ist hier auf die Bedeutung des Titels einzugehen. Der Titel, der leitmotivisch auf den Inhalt des Romans verweist, kann in Verbindung mit den Erinnerungen Eduard Meißerls, die sich nicht aus seinem Gedächtnis verbannen lassen, gebracht werden. Hier sind besonders die Kindheitserinnerungen an die Tuschkauer Wirklichkeit zu nennen, die - selbst wenn in einer unvollständigen Form - sogar nach der Behandlung mit Elektroschocks immer vorhanden sind und nicht heraus aus dem Sinn, ‚aus dem Kopf wollen‘. Die Gegenwartsebene der Stadt Erfurt um das Jahr 1969 wird in den Kapiteln Erst ein Ende (Prolog) und Und dann ein Anfang (Epilog) ebenfalls von einer heterodiegetischen Erzählinstanz präsentiert. Neben der Erfurter Domuhr wird ein Mann, barfuß, ohne Papiere, Brille und Schuhe aufgefunden, der sich nicht mal an seinen Namen erinnert. Er spricht nur beziehungslose Worte und Satzfetzen aus. Seine Identität kann nicht mehr nachgewiesen werden, deshalb wird er von einem 89 90 91 Braslavskys Aus dem Sinn (2007), S. 8. Vgl., Fludernik, Monika: Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, S.104. Vgl., Ebd., S.113. Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008,, S.335. 32 Psychologen behandelt und ins Verhör genommen, weil es zu gleicher Zeit nach dem Täter der Domuhrexplosion gesucht wird. Dieses Ereignis, das als eine Katastrophe für die Stadt angesehen wird, löst Panik aus; der Pfarrer Neigefind92 wird zum Ausnüchtern ins Krankenhaus gebracht. Die Ermittlung wird von den Abschnittsbevollmächtigte (ABV) Genossen Karlheinz Krause durchgeführt. An die Öffentlichkeit wird folgende Meldung (Zeitungsartikel) gebracht: Neben den Abbildungen der zerstörten Domuhr und der schweigenden Gloriosa zeigt die Zeitung das Bild eines jungen Mannes, der im Morgengrauen auf dem Bordstein zwischen den Ziffern und Zeigern an den Straßenbahngleisen gefunden wurde. Die Polizei bittet hierbei um Hinweise. Seine Identität könne nicht festgestellt werden; er erinnere sich nicht an seinen Namen.93 Noch im Prolog wird vorläufig die Identität des Unbekannten mithilfe des Stadtuhraufsehers Anton Becker festgestellt. Seine Behauptung, auf dem Zeitungsfoto seinen Freund aus Tuschkau, Eduard Meißerl erkannt zu haben, wird von dem ABV Krause registriert: Er, Krause, habe auch bei ihm umgehend die Standardbefragung durchgeführt. Becker habe auch auf das Zeitungsfoto des unbekannten Mannes gewiesen, dass er den kenne und das er ein alter Kindheitsfreund von ihm aus Tuschkau sei. Er solle hier in Erfurt leben. Becker habe gesagt, dass er ein Mathematiker an der Hochschule sei. Ein richtiger Zeitforscher! Er solle… Krause blickt auf seinen Notizblock…Eduard Meißerl heißen.94 Im Epilog werden die im Prolog fehlenden Details ergänzt. Im Krauses Büro wird der Vorfall bei der Anfertigung des Protokolls aufgeklärt, als die Beteiligten aufgefordert werden, in dieser dringlichen Angelegenheit eine Aussage zu machen. Die Zisterziensernonne Elisabeth, bei der die verlorene Sieben gefunden wird, bekennt sich als schuldig an der Explosion der Domuhr (der Umgang mit dem Sprengstoff sei den Nonnen „für Verteidigungsfall“95 im Kloster beigebracht). Die Erklärung für ihre Tat soll mit dem Aufbau von Kirchen im Zusammenhang stehen, die schließlich zu „Touristenattraktionen aus der Vergangenheit“96 werden und keine Furcht vor Gott mehr erregen. Gewagte Theorie für das Vaterland, das seinen ‚Gläubigern‘ nur leere Versprechungen bietet.97 Die Identität des jungen Mannes wird von seiner Mutter Ella Meißerl bestätigt, die sich am Ende des Romans im Büro des ABV Krause erscheint. Der Roman wird mit einer Schlussbemerkung des ABV Krause abgeschlossen, der den verwirrten Eduard aufmunternd auf die Schultern klopft : „Mensch, Kopf hoch! Das ist doch schon ein Anfang.“98 Den Worten ist eine Hoffnung auf das Erwachen aus der Lethargie und damit auf einen 92 93 94 95 96 97 98 Ebd., S.19. Ebd., S.15. Ebd., S.20. Ebd., S.360. Ebd., S.360. Vgl., Ebd., S.361. Ebd., S.361. 33 neuen Anfang für die mit den immer wieder zurückkehrenden Erinnerungen gequälten Hauptperson enthalten. 3.2 Figurenkonstellationen 3.2.1 Paul Händl als ideologischer Wortführer der Sudetendeutschen und Eduard Meißerls Interessenlosigkeit Die Person Paul Händls und die Hauptperson Eduard Meißerls sind auf der Ebene der Kontraste analysierbar. Zwar gehören die beiden Protagonisten der gleichen Erinnerungs- und Gedächtnisgruppe99 der Sudetendeutschen an, in Bezug auf das Problem der Vertreibung und auf die Art und Weise der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte vertreten sie aber unterschiedliche Standpunkte. Paul Händl ist einer der jungen Sudeten, der sich sehr nach nationaler Identifikation und sozialer Anerkennung der sudetendeutschen Gruppe in der DDR sehnt. Durch sein Engagement wird er zum ideologischen Wortführer der Sudetendeutschen100. Er fühlt sich der Sache gewachsen und setzt sich als Ziel die Betonung der kulturellen Besonderheit der Sudetendeutschen: „Erst, wenn wir gewinnen, interessiert sich jemand für uns. […] Ach, dieser ganze deutsche Einheitsquatsch! Es gibt keine Deutschen. Die Thüringer sind Thüringer. Die Sachsen sind Sachsen. Wir sind Sudeten. […] Auf diesen Zentralismus hier hab ich keine Lust!“101 In einem Gespräch mit Schwarz schätzt er die Lage der eigenen Bevölkerungsgruppe als ungünstig ein. Er spricht sich für eine sozialistische Gesellschaftsform aus : „ Der Sozialismus ist aber nicht unser Problem. […] Nur, er funktioniert nicht in jeder Kultur auf die gleiche Weise. Ich hätte nichts gegen Sozialistische Sudetische Republik.“ Es wird auch darauf aufmerksam gemacht, dass die Sudetendeutsche als eine Erinnerungs- und Gedächtnisgemeinschaft in der DDR unter einem kulturellen Notzustand leiden und dass die Situation geändert werden muss: „Sozialismus heißt aber nicht Gleichmacherei, das heißt nur Chancengleichheit. Und davon kann ich hier nichts merken. Vor allem kulturell nicht.“102 Paul verspürt ein Bedürfnis, etwas zu unternehmen und fordert die Anderen zum Handeln auf: „Wir Vgl. Zimniak, Paweł: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip in Emma Braslavskys Aus dem Sinn (2007), S. 6. 100 Vgl., Ebd. 101 Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S. 30. 102 Ebd., S.168. 99 34 müssen der Wind sein, nicht die Gardinen!“103 Vor der Prager Kundgebung fühlt er sich wie am Ziel seiner Träume nach Identifikation und Unabhängigkeit der Sudetendeutschen: „Mit der Demonstration im März kommen wir aus der Defensive. Diese Kundgebung erweckt uns wieder zum Leben. Und die neue Verfassung gibt uns doch recht![…] Wir müssen endlich wieder raus aus diesem Einheitsbrei!“104 Gumpl, der Exgeheimrat, als Vertreter der älteren Generation schreibt in diesem Zusammenhang die größte Bedeutung dem Boden und der Blut zu. Für ihn und für die ältere Generation war die sudetische Kultur nur im Rahmen des Sudetenlandes vorhanden. Er versucht Paul zu verdeutlichen, dass der Kampf nur dann einen Sinn hat, wenn die ANSen auch an den Boden zurückkehren möchten. Diese Äußerung findet Pauls Zustimmung. Es wird betont, dass die Sudeten in der DDR kein eigenes Stück Land für sich bekommen haben. Die Demonstration in Prag soll demzufolge als eine Forderung nach einem eigenen Kulturraum für Sudeten angesehen werden. Die obenerwähnte Gruppe der ANSen (selbst kreierte Abkürz. von den ‚Anständigen Sudeten‘), der Paul angehört und die von ihm im Geiste eines Existenzkampfes der Sudetendeutschen leitet wird, wird offiziell als ein Kulturverein dargestellt. In Wirklichkeit werden von den Mitgliedern dieses Zirkels illegale Aktionen vorbereitet. Im Zusammenhang mit der Person von Paul Händl wird das Vater-Sohn-Verhältnis als relevant eingestuft. Paul wirft seinem Vater vor, dass er die Sudetendeutschen als eine vollberechtigte Bevölkerungsgruppe nicht anerkennt will: „Für ihn sind Sudeten jetzt Deutsche. Sie existieren nicht mehr. Sudeten sind nur noch ein Fall für die Völkerkunde.“105 Nach dem Fiasko der ersten Demonstration in Prag wird es ihm klar, dass sein Vater die Tätigkeit der ANSen-Gruppe deckt, solang sich ihre Angehörigen nicht politisch engagieren. Die Relation Pauls zu seinem Vater kristallisiert sich, indem Paul ihn als Spieler bezeichnet, der keine Beziehung zu dem Geschichtlichen verspürt. Paul charakterisiert dabei die Spieler als eine Gruppe der Menschen, die nur vorwärts gehen: „Spieler leben nur im Moment, schauen nicht gern zurück und bloß strategisch in die Zukunft. Dabei denken sie nur an Gewinner! Nicht an die Verlierer.“ 106 Paul will seinem Vater imponieren und durch den Sieg in Prag seine Anerkennung zu erlangen. Die Art und Weise Pauls Wahrnehmung der Realität unterscheidet sich wesentlich von Eduard Meißerls Perzeption der Welt: der vergangenen Jahren und der Gegenwart. Die Zurückhaltung und ist für Mathematiker und Lehrender an Erfurter Hochschule Eduard typisch. Er ist von der Realität distanziert und nimmt lieber Abstand von der Politik. Er will an der Demonstration in Prag nicht 103 104 105 106 Ebd., S.167. Ebd., S.167. Ebd., S.29. Ebd., S.30. 35 teilnehmen, da ihn sudetendeutsche Vergangenheit nicht interessiert. Eduard fühlt sich selbst als kein Sudete: „Ich erinnere mich ein eine Kindheit in Tuschkau. Die Stadt hat jetzt einen tschechischen Namen; den kann ich nicht mal aussprechen! […] Der Boden ist mir egal. […] Mein Zuhause ist hier, die Leute sind alle hier. Was soll ich dort?“107 In den Vordergrund wird Eduards ungewöhnliche Begeisterung für die Uhrzeitforschung und die Zeitdimension gerückt. Die Armbanduhr, der Wecker, elektrische Küchenuhr und die Quarzuhr in seinem Wohnzimmer werden jeden Tag morgens synchronisiert, damit es zu keiner Verspätung kommt. Die übersteigerte Darstellung seiner Vorliebe für Uhren und die Genauigkeit wirkt sogar absurd: „Er kannte jede Uhr in der Stadt und derer sekundengenaue Abweichung. Allerdings konnte er bei größeren Havarien schon einmal in Panik geraten […].“ In Bezug auf die vergehende Zeit leben die Menschen nach Eduard in völliger Ahnungslosigkeit: „Die meisten Menschen wissen nicht, wie viel Zeit sie verbrauchen, […] Sie wissen nur, dass sie ihnen fehlt, dass etwas kurz oder lange dauert wird. Sie ticken nicht richtig.“108 Im Gespräch zwischen Eduard und Eigler, dem Bankangestellten, wird Eduards Stellung zu dem Begriff Heimat und Wurzeln abgezeichnet: „ [Eduard] Ich glaub, man kann überall existieren, wenn man nur will. [Eigler] Existieren ja, aber man selber sein, dessis ein feiner Unterschied.“109 Es wird hier auf zwei verschiedenen Dimensionen des Daseins hingewiesen. Eduard verspürt keine Verbundenheit zu dem Heimatland und zu einem Ort im Allgemeinen. Eiglers Standpunkt ist wesentlich unterschiedlich; er geht auf den Begriff Freiheit ein, indem er erklärt, dass man zwar überall existieren kann, aber das Gefühl der wahren Freiheit und der Zugehörigkeit ist nur an dem Heimatsort zu erwerben. Durch die Beschreibung Eduards Innenwelt während dem Besuch in der heimatlichen Stadt Tuschkau wird nochmal seine Immunität gegen sudetendeutscher Vergangenheit und dem Heimatverlust hervorgehoben: „Er fühlte sich fremd hier, […] Heimatgefühle kamen bei ihm in Tuschkau nicht auf; obwohl vertraut, erschien ihm die Stadt wie ein verkauftes und ausrangiertes Bett, in dem nun andere lagen […].“110 Hier trifft Eduard seine Kindheitsfreundin Miri, das kleine jüdische Mädchen, das von Eduards Eltern versteckt und letztendlich von der SS nach Dachau abtransportiert wurde. Erst in Tuschkau erfährt Eduard, dass Miri aus dem Konzentrationslager geflohen ist. Die Begegnung mit der nun erwachsenen Miri führt zu einem überraschenden Abruf der bis jetzt versteckten Gefühle. Die junge Frau scheint ihm an einer Seite fremd, an der anderen aber vertraut zu sein: „weil sie seine Erinnerungen an einen Ort brachte, an dem er Verlorenes 107 Ebd., S.89. Ebd., S.44. 109 Ebd., S.110. 110 Ebd., S.212. 108 36 begraben hatte und zu dem er nie wieder zurückwollte.“111 Vor seinem damaligen Haus stehend führt Eduard ein Selbstgespräch. Er sucht und findet auch Argumente für das Betreten des Hauses, das ihm nicht mehr angehört und jetzt eine Bäckerei ist. Die mit diesem Ort verbundenen Erinnerungen sollen ihn dazu berechtigen: „Unser Haus? […] Eigentlich war es nie unser Haus. Vater hat das Haus ja nicht gekauft. Trotzdem. Ich bin Eigentümer der Erinnerung. Das reicht doch!“112 Eduard äußert sich mehrmals kritisch über die ANSen: „Die ANSen sind plemplem.“113 oder: „Die ANSen finde ich bescheuert.“114 Paul übt aus diesem Grund eine radikale Kritik an seinen Freund, Eduard. Für ihn ist Eduards Gleichgültigkeit gegenüber den Initiativen der ANSen nicht zu akzeptieren. Eduard isoliert sich und fühlt sich von Paul und Gumpl mit dem „Sudetenkramm“115 gequält. Er zeigt endgültig kein Interesse an dem Unabhängigkeitskampf, indem er seine Wahl trifft und sich gegen die Kundgebung in Prag ausspricht. Durch Zufall landet Eduard zu der Zeit der Demonstration im sowjetisch besetzten Prag. Der Vorfall in der tschechoslowakischen Hauptstadt bliebt, wie von Eduards Mutter Ella vorgesehen, nicht ohne Folgen für die Demonstranten, die nach dem Misserfolg verhaftet werden. Beide Heimatvertriebenen finden sich mit der eingetretenen Situation verschiedenartig ab: Paul begeht im Gefängnis Selbstmord. Eduard überlebt, wird aber im Auftrag von dem deutschen Staatssicherheitsdienst in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, wo er infolge der Elektroschockbehandlungen letztendlich seine Erinnerungen und seine Identität verliert. 111 Ebd., S.210. Ebd., S.208. 113 Ebd., S.34. 114 Ebd., S.25. 112 37 3.2.2 Zum Vertriebenenschicksal Ella Meißerls Das Schicksal Ella Meißerls ähnelt dem Verhängnis anderer heimatsvertriebenen Frauen dieser Zeit. Die Flucht und Vertreibung als Schlüsselerlebnisse, die ihr Bewusstsein und ihre künftige Weltanschauung prägen, werden in erster Linie durch die Kindheitserinnerungen ihres Sohnes, Eduard thematisiert. Ella, in Erfurt geboren und aufgewachsen, wird zur Plätterin ausgebildet und heiratet Estor Meißerl, Handwerker mit einer kleinen Schuhwerkstatt. Infolge der Vertreibung aus Tuschkau (ehemaliges Sudetenland) wird der Besitz ihrer Familie vernichtet, erspartes Geld weggenommen. Kurz vor der Flucht wird Ella von den tschechischen Kommandos im Beisein von ihrem kleinen Sohn Eduard sexuell missbraucht. Die brutale Vergewaltigung, die sie danach sogar ins Scherz hinzustellen versucht, und die anderen traumatischen Erfahrungen, wie die Grabschändung ihrer früh verstorbenen Tochter von den tschechischen Soldaten und eine Randale auf dem Erfurter Friedhof, infolge der der Leichnam ihres Mannes verbrannt wird, wirken wesentlich auf ihr Leben ein. Ella erinnert sich an ihre verstorbene Tochter während einem Besuch von Pauls Freundin, Nadja Malitsch: „Emma. Sie hatte schwarzes Haar, die blauen Augen von Estor. Wir hat en sie damals im Garten begraben. Eines Nachts hat die Bande von Tschechen den Leichnam wieder ausgegraben und vor unsren Augen verbrannt.“116 In einem Gespräch mit Anna werden Ellas Gedanken und Emotionen, die ihr nach Eduards Geburt begleiten, geschildert. Die Angst, gesellschaftlich wegen Anderssein verachtet zu werden, treibt sie zur Fälschung der Geburtsurkunde: die Felder mit der Augen- und Haarfarbe ihres Kindes werden aus dem Dokument gelöscht: „[…] als Eduard geboren wurde, hatte er ganz dunkle Augen und schwarzes Haar. […] Stell dir vor, des hätt aus heitrem Himmel ein Neger sein können, in den Zeiten![…] Zu Haus hab ich dann die Augenfarbe aus der Urkunde mit einem Rasiermesser rausgekratzt und blau reingeschrieben, und bei denen Haaren hab ich blond draus gemacht.“ 117 In ihrer Denkweise spiegelt sich das Weltbild der durch den Krieg geprägten Gemeinschaft, in die sie verwurzelt ist, wider. Ellas skurrile Vorliebe für Vornamen, die mit dem Buchstaben E anfangen, gehört zu denjenigen Merkmalen, mit denen Braslavsky ihre Figuren ausstattet und ihnen damit einen komischen bzw. grotesken Riss verleiht. Dieser Vornamentick fungiert in ihrem Verständnis als eine 115 Ebd., S.71. Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S.135. 117 Ebd., S.178. 116 38 Familientradition: „Als sie Estor heiratete, war sie nicht nur dem Wunsch ihres Herzens gefolgt, sondern auch den Spuren der eigenen Sippe.“118 In den Kindheitserinnerungen Eduards erscheinen ja auch die E-Geschichten, die zu den Lieblingsgutenachtgeschichten ihres Sohnes gehören. Als Eduard der Mutter seine Freundin und künftige Ehefrau Anna vorstellt, stößt er auf Ella Misstrauen. Ihre Zustimmung auf die Beziehung mit jemandem anderer Herkunft, mit dem Namen E, der seinen Anfang nicht mit dem geliebten Buchstaben E nimmt, scheint problematisch zu sein und verbindet sich mit dem Aufgeben der E-Konvention und zugleich der Heimatidee. In dem Zusammenhang mit der Figur Ella Meißerls muss die Person des Exgeheimrats Gumpl genannt werden. Dank seiner Hilfe nach der Ankunft der Familie Meißerl in Erfurt gilt er als Wohltäter der Familie und nimmt als Ellas Arbeitgeber und Geliebter einen wichtigen Platz in ihrer Welt. Diese Beziehung erlaubt ihr nach dem Tod ihres Mannes den gewünschten Lebensstandard in den Nachkriegsdeutschland beizubehalten. Sie lässt sich von ihm beeinflussen, in Bezug auf die Tätigkeit der ANSen und die Idee der Demonstration in Prag vertritt sie aber andere Meinung und ist mit der Teilnahme Eduards an der Kundgebung nicht einverstanden. Über die Demokratensozialisten äußert sie dennoch folgendermaßen: „Am besten sperren sie doch gleich alle weg! Dann ist es endlich Ruh. Dann können sie mit diesem depperten Laden machen, was sie wollen! Elendiges Drecksprack!“119 Ella Meißerl scheint dem Begriff ‚Heimat‘ keine besondere Bedeutung beizumessen. Sie wünscht keine Rückkehr ins Sudetenland, das sie als ein ‚Nimmerland‘ bezeichnet. In einem Selbstgespräch wird die Heimat „eine vergängliche Strecke im kosmischen Kreis”120 genannt. Die Freundin ihres Sohnes, zu ihrer Verzweiflung eine Schlesierin und Protestantin, wird dennoch schon beim ersten Treffen nach der Herkunft, Konfession und nach dem Vertriebenenstatus121 ausgefragt. Es stellt sich heraus, dass Anna einer aus Schlesien vertriebenen Familie entstammt, wobei es aber direkt akzentuiert wird, dass im Annas Familienkreis an die Vertreibung nicht erinnert wird: „Die Umgebung auf ihren wenigen frühen Kindheitsfotos war einfach irgendwo gewesen; mittelosteuropäische Vegetation und Menschen.“ Das Familiengedächtnis ihrer Familie funktioniert nach anderen Regeln als in Ellas Familie, wo das Individuum durch ihre Ursprünge und Vergangenheit stark geprägt und die Familie dadurch fundamentiert wird. In einem Gespräch zwischen Ella, Gumpl und Annas Mutter, Elfriede, werden die Prozesse des Vergessens und Erinnerns zur Diskussion gestellt. Es wird nach Beweggründen für das Vergessen 118 Ebd., S.101. Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S.309. 120 Ebd., S.175. 121 Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S.83. 119 39 gesucht. Laut Gumpl sei der Prozess des Vergessens von dem Willen abhängig. Elfriede vertritt die Meinung, dass man vergisst, weil man es machen muss, um die unerwünschte Erinnerungen zu bewältigen. Ellas Ansicht nach gerät in Vergessenheit das Verlorene, kommt aber auch zu einer Feststellung, dass man häufig unfähig ist zu vergessen. Gemeint werden hier wohl ihre eigenen Erinnerungen, die mit den unliebsamen Vorkommnissen verbunden sind und die in Bezug auf die Vertreibung das Gefühl der Hilflosigkeit, Verzweiflung und Todesangst vermitteln. Das Leben von Ella Meißerl bleibt einerseits von Misstrauen, Trauer und Bitterkeit gezeichnet, andererseits scheint sie sich aber trotzdem mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben. Im Kampf ums Überleben abgehärtet wird sie aber letztendlich als eine starke Frauengestalt, bei der Nadja und Anna nach der Verhaftung Pauls und Eduards Zuflucht und Trostworte finden, dargestellt. Es wird hier ein Frauenbild wird entworfen, das stark durch die Mutterschaft, den Witwenstand und die Bindung an die verlorene Heimat geprägt wird. 40 3.3 Raumstruktur Die Raumstruktur bilden im Roman Aus dem Sinn drei Städte: Tuschkau, Erfurt und Prag. Allen drei Komponenten wird außer dem Status Handlungsort eine besondere Stimmung verliehen. Diese charakteristische Atmosphäre wird einerseits durch die Menschen bzw. die Stadtbewohner und ihre Handlungen, und andererseits durch die Umgebung (Gebäude, Gegenstände) kreiert. Sie erzeugt bei den in das Geschehen involvierten Figuren bestimmte Emotionen und Gefühle. 122 Die ehemalige deutsche Stadt Tuschkau, die sich unmittelbar mit dem Vertreibungsschicksal verbindet, wird zu einem Erinnerungsort des literarischen Sudetendeutschen. Die Stadt kann auch aufgrund ihrer symbolischen Bedeutung für das Kollektiv der Vertriebenen als ‚Bedeutungsraum‘123 bezeichnet werden. Die Sorglosigkeit, Vertrautheit und das Gefühl der Heimatverbundenheit, aber auch die Fremdheit, Verzweiflung, Angst und Panik werden zu untrennbaren Elementen dieses Bildes, wobei es festgestellt werden muss, dass ihr Charakter von der Verarbeitung der vergangenen Ereignissen und Bewältigung von Traumata abhängig ist. Als zweites Teil der Raumstruktur gilt die Stadt Erfurt, das Einblick in die raue Wirklichkeit des DDR-Alltags gewährt. Hier bildet sich aufgrund der fehlenden Akzeptanz seitens deutscher Gesellschaft aber auch infolge der bewussten Ausgrenzung nach außen ein soziales und kulturelles Vertriebenen-Milieu heraus. In den Vordergrund treten die Schwierigkeiten und Problemen der Beheimatung und der Integration der ausgebürgerten Sudetendeutschen und das Phänomen der Vertreibung als ein tabuisiertes Thema. Es ist wieder ein Raum mit einer Vielzahl emotionaler Zustände: Hoffnungslosigkeit, das Gefühl der Ungerechtigkeit, Ärger und Wut, Unsicherheit, Frustration, Unzufriedenheit aber auch Verliebtheit (Eduard und Anna). Es ist anschließend die Unabhängigkeitskampfes gilt. Stadt Prag, die als der Schauplatz des sudetendeutschen Die Aufregung und Heiterkeit, die das Vorbereiten der Prager Kundgebung begleiten, und die Enttäuschung und Machtlosigkeit nach dem Misserfolg der Demonstration schließen diesen Raum der Geschichte ab. 122 Vgl. ., Gansel, Carsten: Zwischen offiziellem Gedächtnis und Gegen-Erinnerung- Literatur und kollektives Gedächtnis in der DDR. In: Gansel, Carsten (Hg.): Gedächtnis und Literatur in den >geschlossenen Gesellschaften< des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen: V&R unipress 2007, S. 19-20. 123 Ebd.,19. 41 3.3.1 Die tschechische Stadt Tuschkau als ein ‚Erinnerungsort‘ der Sudetendeutschen Tuschkau ist eine historische Bezeichnung für eine Stadt und einen Bezirkshauptort im böhmischen Kreis Pilsen an der Mies (Tschechien). Die Stadt wird bei Braslavsky zum literarischen Schauplatz öffentlicher Vertreibung der Sudeten. Eine neue erzwungene Heimat finden die Vertriebenen in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), die Stadt Tuschkau erhält aber einen besonderen Status des Heimatsortes. Sie funktioniert im kollektiven Gedächtnis eher als ein aus den Erinnerungen geschaffenes Gebilde, und weniger als ein rein geographisches Gebiet. Die Erinnerungen um Tuschkau werden zum großen Teil von Eduard Meißerl inszeniert. Er erzählt aus seiner Vergangenheit in der Stadt. Es wird u.a. ein Gespräch mit seinem Vater wiederbelebt, während über die Bedeutung des Begriffs ‚Würde‘ diskutiert wird. Estor Meißerl zählt die Würde zu den obersten Werten im Leben des Menschen. Seine Definition beruht auf der Idee des moralischen Aufrecht-Gehens. Es ist auch auf die Haltung der Menschen im kommunistischen System übertragbar, wenn man sich entscheiden musste, ob man sich selbst und seinen Grundsätzen treu bleiben will (Estor Meißerl wird aus Gewissensgründen fast zu Tode gefoltert). Konrad Händl avanciert in der Zeit des Nationalsozialismus zu einem NS-Funktionär. Dank gewisser Beziehungen Händls im Staatsapparat wird zwar Eduards Vater aus der Haft entlassen, Händl bleibt aber ein heuchlerischer, gegenüber anderen Menschen unaufrichtiger Mensch: „Er ist ein hohes Tier.[…] Eine Würde als Mensch und eine als Funktionär. Bei ihm muss man nur wissen, welche er dabeihat.[…] Der rettet die einen und vernichtet die anderen.“124 Während der Abtransporte jüdischer Familien leitet er sogar die Aktion. Von Ella Meißerl wird auch auf seinen Glauben an Führer hingewiesen. Die von Eduard projiziertes Erinnerungen beziehen sich auch auf Kinderspiele mit Miri und Paul, Abtransport seiner Freundin Miri, Verhaftung seines Vaters, Vergewaltigung seiner Mutter, schließlich die Vertreibung. Zu dem bekannten Tuschkauer Bild gehören auch die Menschen, die auch aus dem Sudetenland vertrieben worden sind: Gumpl, das Ehepaar Hoffmann125 aus Tschemin, Herr Braun, Frau Zitterbart. Die Mehrheit der Vertriebenen wünscht sich nicht mehr, in ihre Heimat zurückzukehren. Für Eduards Mutter ist das Sudetenland nur noch ein „Nimmerland“, Eduard selbst scheint auch keine 124 Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S.40. 42 größere Bedeutung dem Boden zuzuschreiben. Es sind nur die an dem Ort gebundenen Erinnerungen, die eine gewisse Anziehungskraft innehaben. Obwohl Eduard mehrmals andeutet, dass er sich keineswegs als Sudete fühlt, wird er doch nach Tuschkau zurückgezogen. Er erläutert seinen Entschluss mit der Erklärung „sich umzuschauen“. Die Stadt Tuschkau kommt auf der Gegenwartsebene zum Vorschein, als Paul und Eduard vor der Demonstration in Prag die Gräber ihrer Großväter besuchen. Die beiden Freunde unterschieden sich wesentlich in ihrem Verhalten: während Paul zu sich selber spricht, verharrt Eduard in unbeweglicher Stellung, zwischen der Gleichgültigkeit und Ratlosigkeit. Damit wird die Stadt zu einem Ort der Begegnung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Auf Tuschkauer Friedhof trifft Eduard Meißerl einen alten Bekannten Josef Bayerl, der über die Verhältnisse nach der Vertreibung (u.a. über die Enteignung der Häuser) berichtet. Die weitgreifende Veränderungen, die von Eduard bemerkt werden, sind nur scheinbar: aus der Synagoge ist eine Post geworden, aus seinem Haus eine Bäckerei. Es herrscht aber fortdauernd eine Atmosphäre der Feindseligkeit. Die Bewohner scheinen ihre Mentalität des Argwohns nicht verändert zu haben. Die Deutschen, die in der Stadt geblieben sind, werden ins Abseits gestellt, was hervorgehoben wird, während Bayerlov seine Bemerkung darüber klar formuliert: „Nix war so schlimm wie hier bleiben.“126 Eduard erfährt auch, dass fast die ganze jüdische Gemeinde, die sich in der Zeit seiner Kindheit dynamisch entwickelte (die Bewohner waren meistens Kaufmänner nur aus geschäftlichen Gründen gegrüßt werden, wie es von einem der Protagonisten bemerkt wird), ausgerottet wurde, indem die Mehrheit der Juden in Konzentrationslager Dachau und Auschwitz gebracht wurde. Die Stadt Tuschkau verkörpert das Verlorene, Vergangene, was nicht zurückzubekommen ist. Aufgrund ihrer materiellen (die Häuser, Gräber der Familienmitglieder und Freunden), funktionalen (Erwecken der gemeinsamen Erinnerung) und symbolischen Dimension kann die Stadt Tuschkau als ein Erinnerungsort bezeichnet zu werden. Sie bleibt im Gedächtnis des literarischen Sudetendeutschen präsent. 125 126 Ebd., S.53. Ebd., S.205. 43 3.3.2 Die Erfurter Realität der ‚geschlossenen‘ Gesellschaft Durch die im Roman Aus dem Sinn dargestellte Ereignisse, die sich in Erfurt der 1960er Jahre abspielen, wird es auf die politische und kulturelle Abschottung, die der staatlichen Politik der Deutschen Demokratischen Republik immanent ist, hingewiesen. Die Ausländerfeindlichkeit, u.a. durch die Verfolgung der Sudeten abgezeichnet, ist als eine weitere Komponente der ‚geschlossenen‘ DDR-Gesellschaft anzusehen. Die Häuser der Sudetendeutschen werden mit beleidigenden Sprüchen geschmiert: „Ihr sudetissche Faschistensäue verdreckt unsere saubere kommunistische Heimat!“127 oder „Judenkiller go home!“128, woran die Schuld der Gruppe der Autonomen129 zugeschrieben wird. Der Studentenkeller, ein Treffpunkt der Erfurter ANSen, wird ebenfalls ausgeräumt und mit Hackenkreuzen und Antifa-Parolen markiert. Nach einem Zwischenfall, als die Hauswänden der älteren engagierten Sudeten mit einem Logo zwischen Davidstern, Sichel und Hackenkreuz in Rot gekennzeichnet werden, kommt es zu einer Reaktion seitens des Staates. Die Entschuldigung des Bürgermeisters, die danach folgt, stiftet aber nur noch mehr Unruhen. Die Sudetendeutschen sollen laut der Aussage von Stadtoberhaupt als sozialistische Brüder in der Gesellschaft betrachtet werden. Die Bezeichnung ‚Sudete‘ sei demzufolge eine Form der Diskriminierung. Die soziale Missachtung und Isolierung, denen die Sudeten gegenübergestellt werden, tragen dennoch zur Verstärkung des Zugehörigkeitsgefühls bei. Die soziale Stigmatisierung dieser Gruppe scheint die Bewahrung des kulturellen Vermögens bzw. der überkommenen Tradition und das Überleben selbst zu garantieren: „Als dann die Häuserwände von dem Gekritzel befreit wurden, sahen einige Bewohner fast wehmütig zu, als hätte man ihnen damit das letzte Quäntchen Identität genommen.“130 Der Prozess der Vertreibung und die gesellschaftlichen Probleme, die aus Nachbarschaft zwei verschiedener Bevölkerungsgruppen resultieren, werden in der DDR tabuisiert. Um sich an die Vorschriften der politischen Korrektheit zu halten, werden die Vertriebenen offiziell in ‚Umsiedler‘ umbenannt. Als kurz vor der Hochzeit Annas und Eduards telefonisch mitgeteilt wird, dass auf dem Erfurter Friedhof zu einer Grabschändung kam, ist niemand darüber erstaunt. Die Gräber der verstorbenen Sudeten wurden ausgehoben, die Leichnamen offengelegt, die Grabsteine beschmiert: 127 Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S.166. Ebd. 129 Die Autonomen sind Angehörige einer Gruppierung, die das Gesellschaftssystem ablehnt und mit Gewaltaktionen bekämpft. 128 44 „Es handele sich dabei um die Gräber »Rosa Gumpl«, »Estor Meißerl« und »Gottlieb Zitterbart«.[…] Die Knochen und Schädel der drei Leichen lagen durcheinander daneben auf einem Haufen. Dies war die Handschrift der Autonomen.“131 Das grotesk dargestellte Konzert im Pilsner Konservatorium kann als ein Beispiel für eine gesellschaftliche Abschottung aller fremden Bevölkerungsgruppen in der DDR gelten. Die JuryBesetzung wird gut durchdacht festgelegt und besteht aus Juroren verschiedener Herkunft: „Die Juroren hassten sich; damit verhinderte man einstimmige Punktevergaben[…].“132 Es wird angestrebt, mit der Kontrolle der Musikentwicklung die ganze Kultur unter staatliche Kontrolle zu bringen. Anna wird offiziell von dem Genossen Lurch über die Nominierung für die Pilsner Musikfestspiele informiert. Die Vertretung der sozialistischen Heimat, des deutschen demokratischen Volkes133 sei eine Auszeichnung für ihre Gruppe. Als Anna sich weigert, das naive, einem deutschen Volkslied ähnliches Stück vorzutragen, wird es unmittelbar darauf aufmerksam gemacht, dass es kein Vorschlag, sondern ein endgültiger Beschluss des Ministeriums für Kultur in der DDR sei. Der Vorfall kann als ein Zeugnis von der absoluten Politisierung der Kunst, die in der DDR von der Partei ununterbrochen vorgeprägt wird, betrachtet werden. Im Vordergrund des Pilsner Projekts soll die Musik „im Dienste des internationalen Friedens“ stehen. Die Bedeutung dieses Mottos wird noch durch die in der Konzerthalle überall vorhandene Farbe Weiß verstärkt. Die Situation in dem Konzertsaal gerät für längere Zeit außer Kontrolle, wenn die einzelnen Musikgruppen ihre Stücke zu vortragen beginnen. Die Gruppe aus Ungarn spielt Volksmusik, „was an sich ja schon verdächtig war.“134 Es werden aber auch Tonaufnahmen sowjetischer Panzer und Rufe sowjetischer Soldaten eingespielt. Von der polnischen Band, deren Mitglieder als weiße Adler mit Stalin-Schnurrbärten verkleidet sind, wird ein Jodelsang vorgetragen. Die Franzosen singen ein Lied über Gleichheit, die Italiener ein kämpferisches Partisanenlied; die englische Gruppe ein Lied über soziale Gerechtigkeit, die Israelis über die Lebensfreude im Kibbuz. Alle Texte vorher übersetzt und vor den Auftritten an das Publikum und an Jurymitglieder verteilt. Die Fernsehsendung, die unter staatlicher Kontrolle bleibt, wird sofort aufgrund eines Verbots unterbrochen. Alle Gruppen sollen sich rechtfertigen. Anna mit ihrer Gruppe wird wegen Vaterlandsverrat verhaftet und muss eine Schweigeverpflichtungserklärung135 unterzeichnen. 130 Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008. Ebd., S.171. 132 Ebd., S.247. 133 Ebd., S.163. 134 Ebd., S.250. 131 45 In einer Aussage von Frau Zitterbart wird das Problem der Diskriminierung noch mal thematisiert. Es wird hier eine Vermutung ausgedrückt, welche Maßnahmen der Regierung nach einem eventuellen Misserfolg der Prager Kundgebung den Sudetendeutschen gegenüber getroffen werden: „Zu den Negern oder den Schlitzaugen bringen die uns noch.[…] Da hätt man ja überhaupt keine kulturellen Gemeinsamkeiten!“136 Dadurch wird auch ein weiteres soziales Problem thematisiert, dass die Erlebnisse der Intoleranz gegenüber eigener Bevölkerungsgruppe in einer geschlossenen Gesellschaft die Intoleranz gegenüber anderen Gruppen mit anderer Hautfarbe oder Konfession nicht ausschließen. Schwarz, Mitarbeiter der Kulturabteilung der Erfurter Stadtverwaltung, sieht für die Sudetendeutschen, die andauernd beschuldigt und ins schlechte Licht gerückt werden, keine Zukunft in der ‚geschlossenen‘ DDR-Wirklichkeit: „Tausend Jahre bloß ein Bastard zu sein! […] Und kein Ende in Sicht. Und immer wenn mir glauben, heimgefunden zu haben, simmer schuldig an irgendetwas. Als hätten wir damals den Hitler erfunden.“137 Es wird auch auf ein aus dem geringen nationalen Selbstvertrauen resultierendes Bedürfnis nach Anpassung und Akzeptanz hingewiesen. Die Betonung nationaler Besonderheit und der Wunsch nach Identifizierung wird mit der Angst, immer als fremd angesehen zu werden, konfrontiert: „Protestanten, Katholiken, alles Einheitsbrei. Und hier sowieso von letzter Brisanz. Wenn die da oben des net zu sehr an die Nazis erinnern würd, täten die uns hier alle in Uniformen rumrennen lassen. Des hammer nun von unsrem Deutschseinwollen. Hier simmer doch viel weiter weg von uns selber als bei denen Tschechen drüben.“138 Er äußert sich auch weiter kritisch über die Verhältnisse und die Politiker in der DDR: „Die lamentieren noch herum, dass sie uns für den Verlust was zahlen sollen. Hier kriegt man ja net mal eine Entschädigung! Haltet doch endlich das Maul oder so, muss man sich von denen Politikern auch noch gefallen lassen!“139 Während des Besuchs in Tuschkau trifft Eduard Josef Bayerl, einen Deutschen, der nach der Vertreibung eine Tschechin geheiratet hat, um die Akzeptanz und Geltung der Einheimischen zu erlangen. Im Gespräch mit Bayerl, jetzt in Bayerlov umbenannt, erweist sich, dass der Integrationsprozess auf dem Gebiet des damaligen Sudetenlandes auch nicht vollzogen ist: „Ich bin jetzt Tscheche.[…] Besser Tscheche! Als Deutscher hältst du es hier net aus. Hackenkreuze nennen 135 Ebd., S.284. Ebd., S.155. 137 Ebd., S.167. 138 Ebd., S.109-110. 139 Ebd., S.156. 136 46 die uns bis heut noch.“140 Es muss noch dabei hingewiesen werden, dass nicht nur die DDR-Gesellschaft sondern auch teilweise die Gemeinschaft der ausgewiesenen Sudetendeutschen als ein geschlossenes Kollektiv zu fungieren scheint. Für Pauls Freundin Nadja [eine Russin, die aus Sibirien geflohen ist- K.B.], ist das Sudetenviertel einem Getto ähnlich, was einerseits durch die Missbilligung der einheimischen Bevölkerung, andererseits aber durch bewusstes und zielgerichtetes Abgrenzung seitens der Vertriebenen bedingt wird. 3.3.3 Prag als Symbol des Unabhängigkeitskampfes Die Stadt Prag wird immer wieder für großangelegte Kampagnen mit sozial-politischem Hintergrund (am meisten gegen die Machtstrukturen gerichtet) auserwählt. Es kommt in Prag zu einem Studentenaufruhr, an der Eduards Eltern, Ella und Estor Meißerl zufälligerweise teilnehmen. Der Wenzelsplatz wird wieder zu einem Artikulationsforum der Unzufriedenheit für unterdrückte Nationen. Als Auslöser der Unruhen gilt ein jüdischer Jurastudent, der: „sein Leben und seine Arbeit dem Kampf um einen demokratischen Neuaufbau des Landes gewidmet [hatte – K.B.], in dem »Tschechien, Deutschen, Slowaken, Ungarn, Ruthenen, Juden und Polen gleichberechtigt und selbstbestimmt zusammenleben« könnten.“141 Die Revolte, gegen die bereits einmarschierten Deutschen und damit gegen Hitlers gewaltsame Machtübernahme gerichtet, wird schnell von den Staatsmächten unterdrückt. Nach der gewaltsamen Niederschlagung gelingt es Ella und Estor, durch eine Nebenstraße zu fliehen, viele Demonstranten werden aber verhaftet; es gibt auch viele Todesopfer. 1967 wird Eduard von seinem Freund Paul hinterhältig auf den Wenzelsplatz gebracht, wo er ungewollt an einer Demonstration teilnimmt. Unter einer kleiner Gruppe der sudetischen Landsmänner, von tschechischen Reformisten, die gegen die russischen Panzer aufmarschieren, 140 141 Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S.203. Ebd., S.103. 47 umgeben, werden sie Zeugen den nächsten Misserfolg im Streben nach Unabhängigkeit. Die Demonstration in Prag nimmt auch ein gewalttätiges Ende. Die Teilnehmern werden von den deutschen Panzer überrollt. Paul, Eduard und andere ANSen fliehen aus de CSSR, werden aber einen Monat darauf schon in der DDR verhaftet und der Staatspolizei übergeben. Das von den Russen besetzte Prag wird absichtlich aufgrund seiner symbolischen Bedeutung für die Aktion der ANSen ausgewählt. Die große Kundgebung findet am Tag des Eishockeyspiels zwischen der CSSR und der Sowjetunion auf dem Prager Wenzelsplatz statt. Es soll dabei auf das Schicksal der aus der Heimat vertriebenen sudetendeutschen Bevölkerung aufmerksam gemacht werden. Als tschechische Hauptstadt soll Prag in der Zukunft zu einem Symbol für Freiheit und Demokratie der in der DDR-Wirklichkeit sozial und kulturell abgesonderten Sudetendeutschen erhoben werden. Die Gruppe der ANSen, nach finanzieller Unterstützung strebend, findet Zustimmung bei Exgeheimrat Gumpl, der als Mäzen und geistiger Vater der Gruppe genannt wird. Er entscheidet sich, die Mittel für Vorbereitung der Manifestation aufzubringen. Gumpl äußert gerne seine politische Ansichten. In einem Gespräch mit Eduard weist er auf einen wesentlichen Unterschied zwischen der Vertreibung der Schlesier und der Sudeten hin. Die Schlesier hätten sich, so Gumpl, mit der Vertreibung abgefunden. Die Sudetendeutschen sollen aus der Opferrolle heraustreten und sich ein Fundament für eine neue Zukunft schaffen. Er bezeichnet die Sudetendeutschen als „kulturresistent“142 aber auch als schlagkräftig: „Es zählt vor allem des Bewusstsein, dass wir Sudeten sind. Jeder Teller Sauerbraten mit Semmelknödeln ist ein grundlegender Beitrag zur Erhaltung unsrer Bräuche und Sitten.[…] Die Kultur, die mir bewahren müssen, sitzt in unsren Herzen und in unsren Köpfen.“ 143 In der Aussage wird ein Wunsch nach einer „identifikatorischen sozialen Einbettung in eine Herkunfts-, Schicksals- und Gedächtnisgemeinschaft“144 geäußert. Durch die in der indirekten Rede dargestellte Ansicht von Gumpl wird es auf die kollektive gruppenkonstruierende Bedeutung der öffentlichen Manifestation hingewiesen: „dass jedes Mittel ein heiliges sei, dass ein paar Nachrichten schon eine gute Ausbeute wären. Wichtig wäre nur, dass es eine große Demonstration werde.“145 Die Initiative der ANSen wird auch von dem Bankangestellten Eigler unterstützt: „Die jungen Leute müssen ihre Zukunft fest in die Hand nehmen.“146 Während der letzten Versammlung der ANSen in Erfurt entscheidet sich die Mehrheit letztendlich gegen die Demonstration in Prag. Der Beschluss ist für Paul, der sich nicht unterkriegen lassen will, nicht zu akzeptieren. Eine Voraussetzung für eine gelungene Aktion ist für 142 Ebd., S.141. Ebd., S.141. 144 Zimniak, Paweł: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip in Emma Braslavskys Aus dem Sinn (2007), S. 11. 145 Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S.169. 143 48 ihn die Beteiligung aller Vertriebenen an dem Protestmarsch in Prag: „ Es dreht sich wieder um uns! Sudeten aller Länder, vereinigt euch!“147 Ein Kollektiv, aus allen Sudetendeutschen geformt, soll ein gemeinsames Ziel verfolgen, wodurch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Kollektivverantwortung entwickelt werden soll. Pauls Ziel, soziale und politische Anerkennung zu erlangen, die Autonomie für seine Erinnerungs- und Gedächtnisgruppe zu fordern, findet jedoch wenig Gehör im Kreise Erfurter Sudeten. 1969 landet Eduard wieder wider seinen Willen in Prag. Nach der Ankunft in Prag besuchen Paul, Eduard und Nadja einen Studentenklub, der eine Zentrale ist, wo die Aktion vorbereitet und gesteuert wird. Die Liveübertragung des Eishockeyspiels aus Stockholm wird im Fernsehen und im Radio verfolgt. Die CSSR schlägt die Sowjetunion. Der Sieg der tschechoslowakischen Eishockeymannschaft über die Sowjetunion wird als ein besonderes Zeichen verstanden. Die Gruppe der Sudetendeutschen wird „zu einer politischen ‚Kampfgemeinschaft.‘“148 Hunderte Menschen strömen auf dem Wenzelsplatz zusammen. Die Vertreter anderer Nationalitäten: Rumänen, Bulgaren, Polen, Ostdeutsche schließen sich der Demonstration an, die zu einem allgemeinen Protest gegen sowjetische Besatzung und gegen das kommunistische Regime wird. Viersprachige Transparenten mit den Parolen auf Deutsch und auf Tschechisch, auf Englisch für die Welt und auf Russisch für die andere Welt sind unter den Demonstranten zu sehen: „Russen raus, do swidanja!“149 oder Sudetenland ist deutsches Land!“ Während Paul nach seinen Verbindungsleuten sucht, bleibt Eduard passiv: „[Eduard] Er ertrug es kaum, wusste auch nicht, was er rufen sollte.“ Durch das Gedränge vorangetrieben landet Eduard in der ersten Reihe, neben Paul, der mit einem Spruchband mit der Aufschrift: „Die Sudeten fordern historische Gerechtigkeit und territoriale Unabhängigkeit!“ 150 schwingt. In der ersten Aufnahme erscheint Eduard mit dem verstörten Gesicht voll Zweifel und Angst und Paul leidenschaftlich in die Kamera schreiend, dass die Sudeten endlich Autonomie und eine neue Verfassung wollen, die ihnen als einer Minderheit ein Selbstbestimmungsrecht garantiert: „Es lebe eine Tschechoslowakosudetische Sozialistische Republik! Es lebe die CSSSR!“151 Der Sprecher der Tageschau kommentiert: „Unter den aufgewühlten Massen befänden sich einige radikale sudetendeutsche Splittergruppen aus beiden deutschen Staaten.[…] Nach einer ersten Äußerung der Bundesregierung sollte auf Ebene beider deutscher Staaten gemeinsam beraten werden, wie man mit den radikalen Kräften hart ins Gericht 146 Ebd., S.111. Ebd., S.188. 148 Zimniak, Paweł: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip in Emma Braslavskys Aus dem Sinn (2007), S. 12. 149 Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S.233. 150 Ebd., S. 233. 151 Ebd., S. 234. 147 49 gehen könne.“152 Die Protestkundgebung weitet sich unerwartet zu einer Randale aus. Die betrunkenen Hockeyfans werden aggressiv und beginnen zu randalieren. Die Demonstrierenden werden von den Sicherheitskräften angegriffen. Die von der NS-Polizei abgegebene Schüsse führen zur allgemeinen Bewusstlosigkeit. Hunderte Demonstranten werden auf Armeelaster geladen und abgeführt. Nach der Ausnüchterung und Verwarnung werden die Hockeyfans freigelassen. Deutsche Landsmänner werden in Ost- und Westdeutsche eingeteilt: die Westdeutschen gehen unbestraft davon, die ostdeutschen Landsmänner werden dagegen den ostdeutschen Behörden übergeben. Paul und Eduard werden verhaftet und einem Verhör unterzogen. Nach der Unterdrückung der Kundgebung äußert sich Ella Meißerl dazu folgendermaßen: „Versteht‘s doch endlich. Sudetenland ist Nimmerland. Nimmer erreichbar. Kommt‘s doch an, kommt‘s endlich hier an!“153 Sie wird als die Mutter eines Verbrechers ebenfalls ins Verhör genommen. Die Niederlage der Demonstration wird durch die Worte des NS-Funktionärs und Pauls Vaters, Konrad hervorgehoben: „Es gibt keine Sudeten mehr! Das ist Schnee von gestern. […] Ein dreifaches Heil auf unsere Aktuelle Kamera, die diese Kompromittierung gar nicht erst ausstrahlt.“154 152 Ebd., S. 238. Ebd., S. 239. 154 Ebd., S. 240. 153 50 4 Fazit - Literarische Sudetendeutsche als Medium des kollektiven Gedächtnisses Braslavksys Sudetendeutsche erfüllen zwar eine wichtige Rolle der Trägerschaft des kollektiven Gedächtnisses, sind aber in Bezug auf ihre Position in der Sozialstruktur der DDR schwach und unbedeutend. Die erinnerungsbezogene Vermittlungsleistung der Romanfiguren gilt in der literarischen Inszenierung eher als Element der Kontrastierung zu ihrer Unfähigkeit, ein beständiges Bild der eigenen Gemeinschaft zu verleihen. Als eine Determinante kann hier die Generationalität155 genannt werden. Der Generationsunterschied offenbart sich bei der Vorbereitung der Prager Kundgebung. Zwischen den jungen Sudeten, die einerseits in den Prozess der neuen Sozialisation und andererseits durch die fragmentarische Kindheitserinnerungen und die Erinnerungen ihrer Eltern in das gemeinsame Vetreibungsschicksal eingebettet sind, und den Alten, die für sich keine Möglichkeit des Neuanfangs sehen, weil sie allzu sehr mit dem Heimatsland gebunden sind, besteht eine Dissonanz. Auch der Aufruf der ANSen zur Teilnahme an der Demonstration in Prag führt zu weiteren Konflikten: „Indes rückten beide Generationen nicht von ihren Standpunkten ab. Ella war auf der Seite der Alten, die das Ganze lieber ruhen lassen wollten […]. Die ANSen verstanden nicht, warum sie sich auf einmal zurückzogen […]. Die Meinungen verhärteten sich.“156 Von Gumpl werden die Älteren als „traurige Ignoranten“ und „rückgratlose Halbherzige“157 bezeichnet, wenn sie der Stellung Ella Meißerls gegen die politische Einmischung im Sinne von einem öffentlichen Protest folgen. Als weiteres Problem kann hier die Diskrepanz zwischen der Verwurzelung im Sudetenland und der Realität der neuen Heimat (DDR) angesehen werden. Auf die Schwierigkeiten der Identifikation und des Nationalbewusstseins weist auch ein innerer Monolog Eduard Meißerls hin: „Und selbst wenn Paul damit recht hat, dass ich zu gleichgültig bin, was bedeutet mit schon dieser verloren gegangene Boden auf diesem Planeten im Universum? Warum soll ich mein Leben damit verbringen müssen, ihn zurückzubekommen.“158 und seine Aussage im Gespräch mit Paul: „Aber wir sind hier keine Sudeten, wir sind deutsche Umsiedler. Über uns will niemand reden. Auch Vgl. Zimniak, Paweł: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip in Emma Braslavskys Aus dem Sinn (2007), S. 13. 156 Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S.170. 157 Ebd., S.171. 155 51 drüber nicht. Und die Tschechien erst recht nicht. Wohnen will ich dort nicht mehr.“159 Es wurde hier neben der Fiktionalität der dargestellten Welt auf Elemente einer realen Konstruktion von DDR-Vergangenheit und auf die Thematisierung des Gedächtnisraumes Vertreibung hingewiesen. Ziel der vorliegenden Magisterarbeit war es, das Verhältnis zwischen individueller und kollektiver Erinnerung aufzuzeigen. Es muss darauf aufmerksam gemacht werden, das die Erinnerungen an die vergangenen Ereignisse immer in gewisser Korrespondenz mit der Gegenwart stehen und die Orientierung in der Zukunft erlauben. Sie haben auch eine Identifikations- und Ordnungsfunktion: „innerer und äußerer Elemente des Lebens, die in der menschlichen Wahrnehmung aufeinandertreffen.”160 Von Bedeutung war hier nicht nur der Begriff Heimat und die Darstellung der Opferperspektive, sondern die Relevanz der Erinnerung. Als die Hauptperson Eduard Meißerl das Gedächtnis verloren hat, wurde er zugleich seiner Identität beraubt. Der Gedächtnisschwund hatte geistige Entwicklungsstörungen zu Folge. Durch die Unfähigkeit zum Sprechen, psychische Isolation und völlige Antriebslosigkeit Eduards wurde (wenn auch in einer übertriebenen Darstellungsweise) die Stellung des persönlichen und sozialen Gedächtnisses hervorgehoben. Damit wird ihm zugleich die Möglichkeit der persönlichen Integration in die Gruppe vorübergehen gelassen. Braslavskys Sudetendeutsche sind grundsätzlich auf die Vergangenheit fixiert. Die Herausbildung des WIR-Gefühls soll dementsprechend in Bezug auf die gleiche Herkunfts- und Gedächtnisgemeinschaft erfolgen. Die Gruppe der Sudetendeutschen fungiert also als ein Gedächtnismedium, innerhalb dessen die gemeinsame Erinnerung als Medium der kollektiven Identitätsbildung gilt. Es wird an den Verlust von der ganzen Habe, von Heimat und Eigentum an Grund und Boden erinnert. Der Exgeheimrat Gumpl reflektiert zwar über die Geschichte folgendermaßen: „[…] die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der Verbannungen und Verirrungen“161, findet sich jedoch mit den vergangenen Ereignissen nicht ab. Die geschlossene Gesellschaftsform der DDR mit der Ausgrenzung und Klassifikation von Menschen (die Sudeten werden als Menschen zweiter Klasse betrachtet) wirkt letztendlich auf die Gruppe schwächend und destabilisierend. Der Gruppenzusammenhalt wird eigentlich nur durch den Aufbau von Feindbildern gefördert. Selbst die Existenz mehrerer miteinander konkurrierender 158 159 Ebd., S.90. Ebd., S.89. 160 Patzel-Mattern, Katja: Geschichte im Zeichen der Einnerung. Subjektivität und kulturwissenschaftliche Theoriebildung. Studien zur Geschichte des Alltags 19, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002, S.255. 52 Gruppen ist nicht ausreichend, um den Zusammenhalt der Gruppe zu stärken. Es ist aber darauf aufmerksam zu machen, dass die soziale Abschottung der Flüchtlinge zur Milieubildung beiträgt.162 Das Bewusstsein von Einheit und Eigenart bewirkt die Bindung an eine Gruppe. Die Notwendigkeit, das kulturelle Erbe der Sudetendeutschen, durch die neue dominierende Kultur der DDR gefährdet, zu stiften und zu pflegen, wird immer stärker. Die Vermittlung vom kulturellen Erbe und seine Aufbewahrung wirkt an der Konstruktion einer nationalen Identität mit. Die Erwartungen dieser diffamierten Gruppe verbinden sich mit der Verbesserung ihres sozialen Status, Erhaltung der Stabilität, Steigerung der Leistungsbereitschaft innerhalb der Gruppe und Befriedigung der Bedürfnisse nach Anerkennung und nationaler Unabhängigkeit. Auf dieser Grundlage entstand ein Kollektivbedürfnis dieser Gruppe, ihre Anliegen in der Öffentlichkeit zu artikulieren (die informelle Gruppe der ANSen). Die Veröffentlichung gruppenbezogenes Interesses intendiert den Wunsch der Teilnahme am Prozess der Gesellschaftsgestaltung. Es dient auch de Anerkennung, die ihnen eine geschichtliche Kontinuität gewährleisten könnten. Darüber hinaus wurde der Integrationsprozess, der unter dem Einfluss der sowjetischen Besatzungsmacht rasch vollzogen werden sollte, durch viele Probleme unterbrochen.163 Der Zwang, sich in eine fremde Gesellschaft neu integrieren zu müssen, rief genau das Gegenteil an Reaktionen hervor. Das Gefühl der Unzufriedenheit und die Spannungen zwischen den Heimatsvertriebenen und der einheimischen Bevölkerung wurden durch zahlreiche Verbote (u.a. Vereinsgründung) gesteigert. Eine Basis für langfristige Stärkung der Gruppe scheint für ihre Mitglieder die Überwindung der einheimischen Ignoranz und die Aktivierung bzw. Erhöhung des Gruppenpotenzials zu sein. Nach der Prager Demonstration kommt es definitiv zu dem Zerfall der literarischen Gemeinschaft der Sudetendeutschen. Pauls Selbstmord und Beerdigung, Eduards Unzurechnungsfähigkeit und Gedächtnisschwund, Distanziertheit der anderen verhafteten ANSen tragen dazu bei. Die Gruppenkohäsion ist demzufolge nicht nur auf die Selbstwahrnehmung und Motivation, sondern auch auf das reale Potenzial der Gruppe zurückzuführen. 161 Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S.132. Vgl., Zimniak, Paweł: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip in Emma Braslavskys Aus dem Sinn (2007), S. 13-15. 163 Es muss aber darauf verwiesen werden, dass es sich bei der Minderheit der Sudeten, nicht um eine Integration sondern eher um eine notwendige und unvermeidliche Assimilation an gegenwärtige Verhältnisse der 162 53 5 Anhang – Biographische Angaben zu Emma Braslavsky 164 Emma Braslavsky165 wird 1971 in Erfurt in einer sudetisch-katholisch (väterlicherseits)und schlesisch-protestantisch (mütterlicherseits) Vertriebenenfamilie geboren. Die Ausbildung und die Vorlieben ihrer Eltern prägen ihre Kindheit und Jugend: naturwissenschaftlich von ihrem Vater, Mathematiker und künstlerisch von ihrer Mutter, Kauffrau und Sängerin. Aufgrund politischen Engagements bricht sie im Jahr 1989 das Abitur ab und flieht über Ungarn aus der DDR. Erst 1992 kehrt sie für ein Jahr nach Erfurt zurück und beendet das Abitur am Gutenberg-Gymnasium. Nach einem Jahr zieht sie nach Berlin, wo sie an der Humbolt-Universität die Fächer Russistik, Italianistik und Südostasienwissenschaften studiert. 1995 fängt sie das Studium an der Lomonossov Universität in Moskau (Russland), 1997 das Studium an der Nationaluniversität Vietnams in Ho Chi Minh Stadt an. 1998 verreist sie für sechs Monate nach Israel und halten in der Stadt Tel Aviv auf. 1999 erhält sie den Grad des Magister Artium. Ihre Dyplomarbeit umfasst mediale und stilistische Entwicklungsgeschichte des sowjetischen Buchdesigns 1917-1945. 2001 heiratete sie den israelischen Künstler Noam Braslavsky. Ein Jahr später begründet sie gemeinsam mit der amerikanischen Autorin und Übersetzerin Isabel Fargo Cole das papirossanetzmuseum für sprache. 2003 gründet sie mit ihrem Mann den interdisziplinären Kunstverein Gdk Galerie der Künste e.V. in Berlin. Im Jahr 2003 wird die ihre Tochter Lail Anna geboren. Seit 2004 arbeitet sie als freie Dozentin für Medienwissenschaft an der Mediadesign Hochschule in Berlin. 2005 wird sie Stipendiatin des Werkstattstipendium des Literarischen Colloquiums Berlin und 2006 des Grenzgänger-Stipendiums der Robert Bosch Stiftung für Das Blaue vom Himmel über 164 vorherrschenden deutschen Gesellschaft handelt. www.emmabraslavsky.de 54 dem Atlantik.166 2007 wird sie für das Buch Aus dem Sinn mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis (mit 2.500 Euro dotierter Auszeichnung) und Franz-Tumler- Literaturpreis für den besten deutschsprachigen Debütroman ausgezeichnet. Von Paweł Zimniak, einem der Jurymitglieder, wird diese Entscheidung mit dem folgenden Kommentar argumentiert: Der Roman erfüllt eine gedächtnismediale Funktion, weil er einen unverwechselbaren Zugang zu historischen Vorgängen darstellt. Auf diese Weise wird eine fiktionale Welt „erzeugt“, die für verschiedene Erinnerungs- und Gedächtnisgemeinschaften relevant sein kann, indem sie aufzeigt, wie sich die Individuen im Zeitfluss verorten.167 Der Roman Aus dem Sinn sei eine Auseinandersetzung mit der sudetischen Vergangenheit ihres Vaters und wird ihrem verstorbenen Vater gewidmet. Im Jahr 2008 erhält Emma Braslavsky auch das Literaturstipendium des Deutschen Studienzentrums Venedig. Sie arbeitet bis heute als Autorin, Kuratorin und Übersetzerin für Filmproduktionen und Ausstellungsprojekte in Berlin.168 165 Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008, S.2. www.emmabraslavsky.de 167 Paweł Zimniak, Germanist an der Universität Zielona Góra, Polen. In: nordkurier.de am 14.05.2009. 166 55 6 Literatur Primärliteratur Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH 2008. Sekundärliteratur Assmann, Aleida/Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999. S.173-188. ASSMANN, JAN: Das kulturelle Gedächtnis. 5.Aufl., C.H.Beck 1999. Burkhardt, Benjamin: Der Triefels und die nationalistische Erinnerungskultur: Architektur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Nünning, Ansgar/ Erll, Astrid: Medien des kollektiven Gedächtnisses. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2004. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B.Metzler 2005. Fludernik, Monika: Einführung in die Erzähltheorie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006. Gansel, Carsten: Zwischen offiziellem Gedächtnis und Gegen-Erinnerung- Literatur und kollektives Gedächtnis in der DDR. In: Gansel, Carsten (Hg.): Gedächtnis und Literatur in den >geschlossenen Gesellschaften< des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen: V&R unipress 2007. Hrabovec, Emilia: Vertreibung und Abschub. Deutsche in Mähren 1945-1947. Frankfurt 1995. 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