2.2 Zum Gedächtnisdiskurs - Maurice Halbwachs, Aby Warburgs

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Erinnerungsraum DDR Zur Inszenierung der Erinnerung in Thomas
Brussig Helden wie wir
Inhaltsverzeichnis
Seite
1 Literatur und Gedächtnis- Zur Zielbestimmung..............................
4
2 Methodologischer Ansatz und Forschungsstand...............................
5
2.1 Gedächtnis und Erinnerungskulturen.........................................................
5
2.2 Zum Gedächtnisdiskurs - Maurice Halbwachs, Aby Warburgs,
Jan und Aleida Assmanns Konzepte...........................................................
7
2.3 Pierre Nora: Lieux de mémoire...................................................................
18
2.3.1 Erinnerungsphänomen im Rahmen des Gieβener
Sonderforschungsbereiches 434..............................................
22
2.4 Gedächtnis und Erinnerungskturen in geschlossenen Gesellschaften
des Realsozialismus.....................................................................................
24
3 Literatur in narratologischer Perspektive......................................... 26
3.1 Das Erzählen und das Erzählte......................................................................
26
3.2 Stanzels Grundformen des Erzählens............................................................
28
3.2.1 Erzählinstanzen und Einstellung zur erzählten Welt in
literaturwissenschaftlicher Perspektive.........................................
29
3.3 Raumsemantik im Bereich der Literatur.......................................................
31
4 Analytischer Teil – zum Roman Helden wie wir.................................. 33
4.1 Figuren und Figurenkonstellation.................................................................
33
4.1.1 Figurales Denken, Handeln, Fühlen – Zur Charakteristik der
Hauptfigur........................................................................................ 35
4.2 Hauptfigur und ihr soziales Umfeld – Zur Figurenkonstellation.................... 39
4.2.1 Vater – Sohn – Konstellation zwischen Bewunderung und Hass.... 40
2
4.2.2 Mutter – Sohn – Konstellation zwischen Faszination und Liebe...... 42
4.2.3 Klaus – Frauen – Konstellation zwischen Objekt der Begierde
und Liebe........................................................................................... 45
4.3 Erzählinstanzen.................................................................................... 48
4.4 Raumentwurf........................................................................................ 52
4.5 Zeitlicher Ereignisrahmen................................................................... 54
5 Fazit.......................................................................................................... 60
6 Didaktisierungsvorschläge..................................................................... 62
7 Zusammenfassung................................................................................... 70
8 Streszczenie.............................................................................................. 72
9 Literaturverzeichnis................................................................................ 74
3
1 Literatur und Gedächtnis – zur Zielbestimmung
Jedes interdisziplinär aufgegriffene Thema, das relevante Geschichtserfahrungen von
Individuen und Kollektiven darstellt, muss zugleich analysiert und in entsprechenden Kontext
eingebettet werden. Es wird daher in der Gegenwart ein wachsendes Interesse der nicht nur
wissenschaftlich orientierten Öffentlichkeit an der Erinnerungs- und Geschichtskultur
konstatiert, zu denen ohne Zweifel auch der Erinnerungsraum DDR gehört. In den letzten
Jahren sind es vor allem Kinofilme, sowie literarische Texte gewesen, die medienwirksam an
die vergangene DDR erinnern. Beim Lesen des Romans Helden wie wir von Thomas Brussig,
dessen Analyse im analytischen Teil vorgenommen wird, „[...] kann man teilhaben an einem
>>Verlachen<< und einer >>Komödisierung<< der DDR [...]“.1 Im Falle der Autorengruppe
besteht der Druck der persöhnlichen Betroffenheit, die mit einer Generation und einem für
einen bestimmten Zeitpunkt typischen Menschenschicksal verbunden ist und eine bestimmte
Gedächtnisgemeinschaft entstehen lässt. Deshalb ist es wichtig, dass Themen, die innerhalb
der Literatur aufgegriffen werden und auf die Geschichte rekurrieren, an den Leser
weitergegeben werden. Denn durch die Textanalysen wird „[...] ein Erinnerungshorizont
abgesteckt, der in die Relation zwischen historischen Wirklichkeiten und (historisch)
akzeptierbaren literarischen Möglichkeiten eingreift“.2 Seitdem die ersten Menschen bereits in
der Antike literarische Texte zu schreiben begannen, hat man schon damals der Literatur eine
operative Funktion zugeschrieben. Bis zum heutigen Tag sieht sich selbst die Literatur in
Gansel, Carsten: Gedächtnis und Literatur in „ geschlossenen Gesellschaften“ des Real-Sozialismus zwischen
1945 und 1989. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S.12.
2
Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. Wrocław – Dresden: Neiβe Verlag 2007,
S.31.
1
4
dieser Rolle. Autoren sahen und sehen immer noch für sich selbst einen Auftrag,
politische/gesellschaftliche Verhältnisse nicht nur zu analysieren, sondern auch Anstöβe zu
geben, Bestehendes zu verändern. Aus diesem Grunde eignen sich literarische Texte so
hervorragend als Gedächtnismedium. Die Frage, ob und inwieweit der Dichter sein eigenes
Erleben in literarisches Gewand kleidet, mag dabei unberücksichtig bleiben, denn die in
fiktionalen Texten geschriebenen Sätze sind zum Einen nicht als Behauptungen des Autors
anzusehen und zum Anderen gehört die Erfindung fiktionaler Welten zur Arbeit der Dichter.
Daher muss zugleich der Begriff der Fingiertheit für literarische Texte ausgespart werden.
Viel wichtiger ist es, inwiefern die im Rahmen dichterischer Rede verfassten Texte das
Bewusstsein kleinerer und gröβerer Gesellschaftsgruppen über nationale Grenzen hinaus zu
beeinflussen und zu verändern vermögen. Damit nimmt die vorliegende Diplomarbeit erstens
Bezug auf Fragestellung des Sonderforschungsbereiches Erinnerungskulturen3 an der Justus –
Liebig
–
Universität
Gießen,
der
ein
mehrdimensionales
Modell
für
die
kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung entworfen hat. In dem Modell werden vor allem
Dynamik,
Kreativität,
Prozesshaftigkeit
und
Pluralität
der
kulturellen
Erinnerung
hervorgehoben. Zweitens wird theoretisch auf den Begriff des Gedächtnisses und dessen
Formen der kollektiven Bezugnahme auf die Vergangenheit eingegangen. In diesem
Zusammenhang werden auch hiermit aktuelle Gedächtniskonzeptionen von Jan und Aleida
Assmann, Maurice Halbwachs, Aby Warburg, Pierre Nora rekapituliert. In dem
narratologischem Teil wiederum wird vor allen Dingen auf das Abhängigkeitsverhältnis
zwischen dem erzählerischen Medium mitsamt den jeweils verwendeten erzähltechnischen
Verfahren der Präsentation auf der einen Seite und dem Erzählten (die Geschichte, die im
Text dargestellte Welt) auf der anderen Seite hingewiesen. Im Anschluss daran wird in
Anlehnung an Stanzels Unterscheidung von drei typischen Erzählinstanzen auf die Frage nach
der Intensität der Involviertheit des Erzählers in die erzählte Geschichte eingegangen. Zum
Schluss des theoretischen Teiles wird der Aspekt der Einstellung des Lesers zur erzählten
Welt, sowie die Bedeutung der Raumgestaltung innerhalb narrativer Texte aufgegriffen. Den
weiteren Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit macht die Analyse des Entwicklungsromans
Helden wie wir von Thomas Brussig aus, bei der allerdings an die oben angeführten
theoretischen Komponenten angeknüpft bzw. auf die Begrifflichkeit bezüglich der Handlung
eingegangen wird, die für diese Analyse unabdingbar ist.
3
Bauer, Heinz / Lottes, Günther / Martini, Wolfram: Erinnerungskulturen. Antrag auf Einrichtung eines
Sonderforschungsberichts (1637). Forschungsphase 01.01.1997-31.12.1999. Justus – Liebig – Universität
Gießen 1996, S.9-31.
5
2 Methodologischer Ansatz und Forschungsstand
2.1 Gedächtnis und Erinnerungskulturen
Jedes
Phänomen, das zur wissenschaftlichen Diskussion wird bzw. geworden ist, hat eine
mehr oder minder lange Forschungsgeschichte hinter sich. Obwohl Stiftung, Pflege und
Reflexion des kulturellen Erbes, darauf verweist vermutend Astrid Erll4 – zur
anthropologischen Grundausstattung des Menschen gehören und die Entwicklung des
kollektiven Gedächtnisses bis in die Antike zurückzuverfolgen ist, setzte erst mit dem Beginn
des 20. Jahrhunderts
Diesbezüglich wurden
eine wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen Phänomenen ein.
Formen der kollektiven Bezugnahme auf die Vergangenheit
sorgfälltig herangezoomt und zum Gegenstand kulturwissenschaftlicher Theoriebildung
gemacht.
Die
kulturwissenschaftliche
Grundannahme
von
dem
Konstruktcharakter
menschlicher Sinnwelten und Erinnerungen bezieht sich dabei allerdings auch auf die Ebene
der Theoriebildung. In diesem Zusammenhang notiert Astrid Erll folgendes:
Jede theoretische Annahme über Inhalte oder Funktionsweisen
des kollektiven Gedächtnisses ist selbst ein Konstrukt und hat mehr
von einer wissenschaftlichen >Erfindung< von einem Auffinden
kultureller Gegebenheiten.5
Die heutige Forschung zum kollektiven Gedächtnis, teilt sich auf zwei Zweige, welche nach
verschiedenen
Richtungen hin ausgebreitet werden. Das sind zum einen Maurice
Halbwachs’ soziologische Studien zur mémoire collektive und zum anderen Aby Warburgs
kulturhistorische Beschäftigung mit einem europäischen Bildgedächtnis. Beide wurzeln in
den 1920er Jahren. Halbwachs und Warburg waren die Allerersten, die das Phänomen
>kollektives Gedächtnis< beim Namen genannt und dessen systematische Analyse
vorgenommen haben. Doch erst in den 1980er Jahren wurde das Gedächtnis-Thema in der
kulturhistorischen Forschung
wieder aufgegriffen.
Zum stärksten Einfluss auf der
internationalen Bühne gelangte diesbezüglich das Pierre Noras Konzept lieux de mémoire.
Einige Jahre darauf haben Aleida und Jan Assmann mit dem > kulturellen Gedächtnis < ein
4
5
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S.13.
Ebd., S.13.
6
Konzept
der
wissenschaftlich
orientierten
Öffentlichkeit
vorgewiesen,
das
im
deutschsprachigen Raum als das wirkungsvollste und auf der internationalen Ebene als das
bestausgearbeitete gilt.
Mit dem Begriff >Erinnerungskulturen< hat der Gieβener Sonderforschungsbereich 434 (seit
1997)
schlieβlich
ein
mehrdimensionales
Modell
für
die
kulturwissenschaftliche
Gedächtnisforschung entworfen. In dem Modell werden vor allem Dynamik, Kreativität,
Prozesshaftigkeit und Pluralität der kulturellen Erinnerung hervorgehoben.
2.2 Zum Gedächtnisdiskurs - Maurice Halbwachs, Aby Warburgs, Jan und
Aleida Assmanns Konzepte
Vor allem aus zwei Traditionssträngen speist sich die heutige Forschung zum kollektiven
Gedächtnis. Beide haben ihren Ausgangpunkt in den 1920er Jahren. Es handelt sich um die
bereits erwähnten Maurice Halbwachs soziologischen Studien zur mémoire collektive und
Aby Warburgs kulturhistorische Beschäftigung mit dem europäischen Bildgedächtnis. Alle
beide haben bestimmte Thesen zu dem Gedächtnisdiskurs aufgestellt, deren Entstehung
hiermit zu rekapitulieren ist.
Der französische Soziologe Maurice Halbwachs (1887-1945), ein Schüler Henri Bergsons
und Emile Durkheims, hat drei Schriften verfasst, in denen er seinen Begriff der mémoire
collektive entwickelt hat und die heute eine zentrale Stellung bei der Beschäftigung mit dem
kollektiven Gedächtnis einnehmen. In seiner 1925 veröffentlichten Studie Les cadres sociaux
de la mémoire (Das kollektive Gedächtnis, 1991), versucht er, das Abhängigheitsverhältnis
zwischen der Ebene der Erinnerung und der sozialen Ebene nachzuweisen. Damit legt er
einen Widerspruch gegen die zeitgenössischen Gedächtnistheorien von Henri Bergson und
Sigmund Freund, welche die Erinnerung als einen individuellen Vorgang auslegen.
Halbwachs Theorie wiederum war darauf hinausgelaufen, dass jede persöhnliche Erinnerung
ein kollektives Phänomen ist. Demzufolge stieβ er auf eine heftige Kritik, die von seinen
Kollegen aus der Universität Straβburg formuliert wurde. Marc Bloch zum Beispiel warf
Halbwachs „[...] eine unzulässige Kollektivisierung indvidualpsychologischer Phänomene
[...]“ vor.6
Diese Kritik demotivierte ihn gar nicht, sondern im Gegenteil regte ihn zur Ausführung seines
Konzeptes des kollektiven Gedächtnisses an. Es mussten jedoch 15 Jahre vergehen, bis
6
Ebd., S.14.
7
Halbwachs sein Werk geschrieben hatte, das allerdings erst 1950, unvollständig und posthum
erscheinen sollte. Zuvor schrieb Halbwachs ein drittes Buch fertig, das an einem Fallbeispiel
die Formen und Funktionsweisen des kollektiven Gedächtnisses aufzeigt, La Topaographie
légendaire des Évangiles en Terre Sainte (1941; Stätten der Verkündigung im Heiligen Land,
2003). Im August 1944 fiel Maurice Halbwachs den Nazis anheim und wurde nach
Buchenwald deportiert, wo man ihn dann auch ermordete. Nach dem Zweiten Weltkrieg
geriet die Beschäftigung mit dem Gedächtnis- und Erinnerungsthema in Vergessenheit.
Heutzutage erfolgt aber keine schriftliche Festlegung des kollektiven Gedächtnisses ohne
Bezugnahme auf den Soziologen. Aus den Halbwachs Studien heraus lassen sich drei
maβgebliche Untersuchungsbereiche bestimmen:
1) Halbwachs Theorie zur sozialbedingten individuellen Erinnerung
2)
seine Analyse der Bildung generationsbedingten Gedächtnisses
3) seine Ausweitung des Begriffs der mémoire collektive auf den Bereich kultureller
Überlieferung und Traditionsbildung, also auf das, was heute mit der Terminologie
Aleida und Jan Assmanns als kulturelles Gedächtnis in Zusammenhang gebracht wird
Daraus führt Halbwachs zwei grundlegende Konzepte von kollektivem Gedächtnis
zusammen:
1) kollektives Gedächtnis als organisches Gedächtnis des Individuums, das sich im
Horizont eines soziokulturellen Umfeldes herausbildet
2) kollektives Gedächtnis als der durch Interaktion, Kommunikation, Medien und
Institutionen innerhalb von sozialen Gruppen und Kulturgemeinschaften erfolgende
Bezug auf Vergangenes bezeichnet wird.
Die These von der sozialen Bedingtheit individueller Erinnerung beruht auf dem Konzept der
cadres soziaux, das den Ausgangpunkt der Halbwachs’schen Theorie des kollektiven
Gedächtnisses darstellt. Im ersten Teil von Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen
veranschaulicht Halbwachs mit Details „die kollektiven Anteile des autobiographischen
Gedächtnisses“.7
Er kommt dabei zu dem Schluss dass „der Rückgriff auf cadrus sociaux,
soziale Bezugsrahmen, unabdingbare Voraussetzung für jede individuelle Erinnerung ist“.
Für seine Begriffe bilden die sozialen Rahmen schlechthin die Menschen, die uns umgeben.
Jedes Individuum ist , ein soziales Wesen ` , dem ohne das Kollektiv nicht nur die Sprache
und Sitten vorenthalten bleiben, sondern, so Halbwachs, auch der Zugang zum eigenen
Gedächtnis verwehrt bleibt.8 Das geht darauf zurück, dass wir Erfahrungen meist im Kreis
anderer Menschen machen, die dann uns behilflich sein können, vergangene Ereignisse aus
7
8
Ebd., S.15.
Ebd., S.15.
8
der Erinnerung zu holen. In seiner These betont er auch, dass wir durch Interaktionen mit
anderen Menschen „[...] Wissen über Daten und Fakten, kollektive Zeit- und Raumvorstellung
sowie Denk- und Erfahrungsströmung“ vermittelt übernehmen.9 Diese Überlegung wird von
Astrid Erll erweitert, wenn sie feststellt: „Weil wir an einer kollektiven symbolischen
Ordnung teilhaben, können wir vergangene Ereignisse verorten, deuten und erinnern.“10 Dies
ist so zu verstehen, dass die sozialen Rahmen in wörtlichen Sinne als soziales Feld und die
sozialen Rahmen in metaphorischer Sinne, das heiβt Denkmuster, die unsere Wahrnehmung
und Erinnerung beeinflussen, als Zwillingspaar zu definieren sind und sich miteinander
ergänzen. Von zentraler Bedeutung ist für Halbwachs also die soziale Gruppe, denn ihre
Existenz ist die Voraussetzung für die Entstehung von Sinnwelten und deren Weitergabe.
Hinzu kommt es noch, dass das Gedächtnis jedes Individuums sich an bestimmte soziale
Gepflogenheiten angleicht, auf welche
bei der Erinnerung immer wieder ein Bezug
genommen wird. Halbwachs notiert in seinem Werk dazu Folgendes:
Es würde in diesem Sinne ein kollektives Gedächtnis und einen Rahmen des
Gedächtnisses geben, und unser individuelles Denken wäre in dem Maβe fähig
sich zu erinnern, wie es sich innerhalb dieses Bezugsrahmens hält und an diesem
Gedächtnis partizipiert.11
Vor dem Hintergrund dieser Überlegung muss folgende Schlussfolgerung gezogen werden:
Unsere Wahrnehmung kann als typisch einer Gruppe zugeordnet werden, was wiederum
deutlich macht, dass unsere individuellen Erinnerungen sozial bedingt sind, und „beide
Formen der Weltzuwendung und Sinnstiftung sind undenkbar ohne das Vorhandensein eines
kollektiven Gedächtnisses.“12 Man kann aber nicht davon ausgehen, dass es sich bei dem
kollektiven Gedächtnis um eine „[...] von organischen Gedächtnissen losgelöste,
überindividuelle Instanz“ handelt.13 Kollektives und individuelles Gedächtnis stehen vielmehr
9
Ebd., S.15.
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.15.
11
Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt a.M.: Shurkamp
1985, S.23.
12
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.16.
13
Ebd., S.16.
14
Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt a.M.: Shurkamp
1985, S.23.
15
Halbwachs 1991, S.31.
16
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.16.
17
Ebd., S.16.
10
9
in einer engen Beziehung zueinander, so dass „[...]das Individuum sich erinnert, indem es sich
auf den Standpunkt der Gruppe stellt, und das Gedächtnis der Gruppe sich verwirklicht und
offenbart in den individuellen Gedächtnissen.“14
Der Beobachtungsprozess des kollektiven Gedächtnisses wird also erst durch individuelle
Erinnerungsvorgänge ermöglicht, denn „[...] jedes individuelle Gedächtnis ist ein
Ausblickspunkt auf das kollektive Gedächtnis.“15 Dieser Ausblickspunkt ist als
Orientierungspunkt zu verstehen, den Menschen infolge ihrer Sozialisation und kulturellen
Prägungen einnehmen. Und dass jeder Mensch mehreren sozialen Gruppen wie der Familie,
der Religionsgemeinschaft, Belegschaft am
Arbeitsplatz angehört, ist wohl eine
Binsenweiβheit. Doch
er auf Grund der
die Tatsache, dass
Kombination
der
Gruppenzugehörigkeiten über ein eigentümliches Erfahrungsmodus und Denksystem verfügt,
geht eher über die menschliche Denkroutine hinaus. Von dem Hintergrund dieser Überlegung
kann
man
folgendes
schlussfolgern:
Der
auslösende
„Erinnerungsformen und –inhalte“, wodurch nicht zuletzt
Faktor
unterschiedlicher
eine Unterscheidung der
Gedächtnisse einzelner Menschen vorgenommen werden kann, ist nicht die Erinnerung selbst,
sondern auch die Verknüpfung unterschiedlicher Gruppenzugehörigkeiten.16 Ein anderer
Aspekt des Halbwachs’schen Konzeptes sind das Generationsgedächtnis, religiöse
Topographie und zwei daraus resultierende Formen der kollektiven Vergangenheitsbildung.
Halbwachs unterscheidet verschiedene Ausprägungen kollektiver Gedächtnisse und führt im
zweiten Teil von Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen einige soziologische
Fallbeispiele an – Familie, Religionsgemeinschaft, soziale Klassen. Das Familiengedächtnis
ist ein Sonderfall und stellt eine Option für ein intergenerationelles Gedächtnis17 dar. Seine
Träger sind all jene Familienmitglieder, die einen Platz an dem Gesichtskreis der Erfahrung
des Familienlebens haben. Ein derartiges kollektives Gedächtnis wird dadurch entworfen,
dass man innerhalb des Familienkreises gemeinschaftliche Handlungen ausführt, geteilte
Erfahrungen macht und gemeinsam die Vergangenheit vergegenwärtigt. Eine Abweichung
von der Regel kommt zum Vorschein etwa bei mündlichen Erzählungen bei Familienfest, wo
auch diejenigen am Gedächtnis teilhaben, die das Erinnerte nicht selbst miterlebt haben. Auf
diese Art und Weise wird „[...] ein Austausch lebendiger Erinnerung zwischen Zeitzeugen
und Nachkommen [...]“ vollzogen.18 Das Generationengedächtnis reicht also so weit zurück,
18
Ebd., S.16.
10
wie sich die ältesten Familienmitglieder zurückerinnern können. Es scheint, dass die
Zeitgeschichte und das Generationengedächtnis den einen und denselben Bezug nehmen. Für
Halbwachs sind aber die zwei Aspekte unvereinbar. Deswegen trennt er grundlegend das
Generationsgedächtnis und die Zeitgeschichte voneinander. Von ihm aus handelt es sich um
zwei Formen des Vergangenheitsbezugs, die einander ausschlieβen.
Deshalb formuliert er in seinem Das kollektive Gedächtnis eine Vergleichsthese zwischen
erlebter und geschriebener Geschichte, in der er betont, dass „[...] die Geschichte im
allgemeinen an dem Punkt beginnt, an dem die Tradition aufhört – in einem Augenblick, an
dem das soziale Gedächtnis erlischt und sich zersetzt [...].“19 Deshalb spricht er von der
Unvereinbarkeit der Geschichte und des Gedächtnisses, weil die Geschichte eine Option für
„[...] eine unparteiische Gleichordnung aller vergangenen Ereignisse [...]“ darstellt, in deren
Interessenzentrum Gegensätze und Brüche stehen.20 Das kollektive Gedächtnis wiederum,
dessen Träger zeitlich und räumlich begrenzte Gruppen sind, betrifft nur einen Teil der
Erinnerung, die stark wertend und einer Hierarchie anzuordnen ist. Im Bereich kollektiver
Gedächtnisse fungiert also der Vergangenheitsbezug als Identitätsbildung. Es werden nur
solche Ereignisse erinnert, die den Interessen der Gruppe entsprechen. An jedem dem
Selbstbild nicht angenehmen Event wird mehr oder minder unbewusst oder aber bewusst
versucht, es aus der Erinnerung auszulöschen.
Akzentuiert werden dabei vor allem
Beständigkeiten und Ähnlichkeiten innerhalb der Gemeinschaft, welche ein Zeugnis davon
ablegen, dass die Gruppe/Gemeinschaft dieselbe geblieben ist. Die Gruppenzugehörigkeit
wird durch die Anteilhabe an dem kollektiven Gedächtnis markiert. Die Geschichte greift
logischerweise auf die Vergangenheit zurück. Für Halbwachs ist das kollektive Gedächtnis
kein gutes Spiegelbild der Vorzeit. Seine Argumentationsweise läuft darauf hinaus, dass das
kollektive Gedächtnis sich an den Bedürfnissen und Belangen der Gruppe in der Gegenwart
orientiert und rekonstruiert daher die Geschichte nur selektiv. Es kommen dabei
Halbwahrheiten bis zu Unwahrheiten ins Spiel. Die Erinnerung hingegen ist ein Abbild der
Vergangenheit. In diesem Sinne notiert Halbwachs folgendes:
19
Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Fischer 1991 (orig.:La mémoire collektive.
Paris: Presse universitaires de France 1950), S.31.
20
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.16.
21
Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Fischer 1991 (orig.:La mémoire collektive.
Paris: Presse universitaires de France 1950), S.55.
11
Die Erinnerung ist in sehr weitem Maβe eine Rekonstruktion der Vergangenheit
mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten und wird im Übrigen
durch andere, zu früheren Zeiten unternommene Rekonstruktionen, vorbereitet.21
Im Bezug auf Generationsgedächtnisse nennt Halbwachs als deren Medium die alltägliche
Kommunikation und als deren Inhalte in erster Linie individuelle Erinnerungen. Diese
Unterscheidung wird von ihm in Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen schon in
den Kapiteln zum Adeln und zu religiösen Gruppengedächtnissen und erst recht in seiner
späteren Studie zur christlichen Gedächtnis- Topographie Palästinas miteinbezogen. In La
topographie légendaire wendet er sich stärker geformten kollektiven Gedächtnissen zu, deren
Zeithorizonte über Tausende von Jahren hinwegreichen und die daher der Gegenstände und
Gedächtnisorte zur Rahmenbildung bedürfen. Materielle Phänomene – Architektur,
Pilgerwege, Gräber etc.- werden dabei vordergründig betrachtet. Er geht damit über den
Untersuchungsbereich der kollektiv geprägten Erinnerung an gelebte Geschichte hinaus und
tritt in den Bereich des kollektiv konstruierten Wissens über eine ferne Vergangenheit und
seiner Überlieferung durch Traditionsbildung.
Durch den universalen Charakter des Halbwachs’schen Begriffes des kollektiven
Gedächtnisses werden einzelne Elemente seiner Begriffsbildung in verschiedenen Disziplinen
adoptiert. Halbwachs selbst wurde dadurch zum Vorvater Unterschiedlicher Theorieentwürfe.
Im Bereich der Psychologie ging man immer wieder der Halbwachs’ Theoretisierung der
kollektiven Bedingtheit individueller Erinnerung nach und begriff die cadres sociaux als
(kulturspezifische) Schemata.22 Im Rahmen der Oral History bezog man sich auf seine
Untersuchungen zum Generationen- und Alltagsgedächtnis. Im Bezug auf seine Theorie der
Gebundenheit des kollektiven Gedächtnisses an Raum und Gegenstände erscheint er als
richtungsweisend für kulturwissenschaftliche Ansätze, die sich mit der Überlieferung
kulturellen Wissens befassen. Drei Dimensionen von Halbwachs’ Konzept der mémoire
collektive und einige Zweige ihrer wissenschaftlichen Weiterführung.23
Der zweite bedeutende Entwurf einer Konzeption des kollektiven Gedächtnisses geht
ebenfalls auf einen Wissenschaftler der 19020er Jahre zurück. Abraham Moritz Warburg
genannt Aby Warburg (1886-1929) war Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler und der
22
Vgl. Bartlett, Frederic C.: Remembering. A Study in Experimental and Social Psychology. Cambridge:
Cambridge UP 1932
23
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.18.
12
Begründer der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg in Hamburg. Gegenstand
seiner Forschung war das Nachleben der Antike in den unterschiedlichsten Bereichen der
abendländischen Kultur bis in die Renaissance. Dank seiner Forschung und langjähriger
Arbeit etablierte sich Ikonologie (Symbolkunde) als eigenständige Disziplin. Mit Warburgs
Bibliothek war ein Kreis von so bedeutenden Forschern wie Ernst Cassirer, Erwin Panofsky
und Hellmut Ritter verbunden. Angesichts der Gefahr seitens der Nazis musste die Bibliothek
im Jahre 1933 nach London gerettet werden. Seit 1944 ist das Warburg Institute ein Teil der
University of London. Die Hamburger Warburg-Stiftung gibt in Zusammenarbeit mit dem
Berliner Akademie Verlag den Nachlass Aby Warburgs heraus.
Doch erst Mitte der 1920er Jahre versuchte er seine kulturwissenschaftliche Forschung mit
einer Theorie des kollektiven Gedächtnisses in Zusammenhang zu bringen. Von seiner
Beobachtung der Wiederkehr künstlerischer Formen (z.B. bewegte Gewandmotive antiker
Fresken in Renaissancegemälden Boticellis und Ghirnlandaios oder gar auf Briefmarken der
1920er Jahre ) heraus formulierte er die These, dass das Phänomen der Aneignung der Antike
durch Künstler späterer Epochen auf die „erinnerungsauslösende Kraft kultureller Symbole“
zurückzuführen ist.24 Eine besondere Bedeutung kommt dabei den so genannten
Pathosformeln zu. Solche Symbole, in denen sich das antike Pathos niedergeschlagen hatte,
bezeichnete Warburg als Pathosformeln. Als gutes Beispiel dafür gilt der Versuch der
Renaissancekünstler, Höchststufe des menschlichen Ausdrucks -leidenschaftliche Erregung in
Gebärde oder Physiognomie – darzustellen, bei dem sie einen Bezug auf die Symbolik antiker
Vorbilder genommen haben. Bei der Erklärung des den Symbolen innenwohnenden
Affektgehalts stützte er sich auf das Modell des Gedächtnispsychologen Richard Semon. Bei
Pathosformeln, so Warburg, handelt es sich „[...] um kulturelle Engramme oder
Dynmogramme, die mnemische Energie speichern und unter veränderten historischen
Umständen oder an weit entfernten Orten wieder zu entladen vermögen [...].“25 Kultur basiert
auf dem Gedächtnis der Symbole, die wiederum als Energiekonserve26 aufzufassen sind.
Ausgerüstet mit diesen Vorüberlegungen machte sich Warburg an den Entwurf des Konzeptes
des kollektiven Bildgedächtnisses heran, das er unter anderen auch als soziales Gedächtnis
24
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.19.
Ebd., S.19.
26
Ebd.,S.19.
27
Vgl. Gombrich,Ernst H..: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biorgaphie. Hamburg: Europäische VerlagsAnstalt 1992 (orig.: Aby Warburg. An Intellectual Biography. London: Warburg Institute 1970)
25
13
bestimmte. Für Warburg sind mit dem sozialen Gedächtnis zutiefst moralische Fragen
verbunden, denn das antike Pathos als Erinnerung ist zugleich eine Herausforderung an den
Künstler, sich Warburg betont, dass das soziale Gedächtnis jederzeit aktualisiert und auch
verändert werden kann. So spricht er auf Grund der
Untersuchung des spezifischen
Zusammenspiels von Kontinuität und Umdeutung kultureller Symbolik in Kunstwerken von
Rückschlüssen auf die mentale Dimension der Kultur. In diesem Sinne notiert erweiternd ein
anderer Denker Gombrich Folgendes:
Die Abweichungen der Widergabe, im Spiegel der Zeit erschaut, geben die
bewusst oder unbewusst auswählende Tendenz des Zeitalters wieder und damit
kommt die wunschbildende, idealsetzende Gesamtseele an das Tageslicht.27
Es wird hiermit darauf hingedeutet, dass die Erinnerung an die Vergangenheit sich in
Abhängigkeit von dem Zeitalter, in dem es erinnert wird, und den Idealvorstellungen des in
der Vorzeit Geschehenen, vollzieht.
Wie immens wichtig der Gedächtnisbegriff für Warburgs Denken war, zeigt sein letztes
Ausstellungsprojekt, das den Namen Mnemosyne(1924 - 1929) trägt- den Namen derjenigen
Muse, die für Erinnerung steht und Mutter der übrigen Musen ist. Es geht um einen Atlas, der
„[...] ein epochen- und länderübergreifendes Bildgedächtnis [...]“ darstellt.
28
Daraus treten
„Erinnerungsgemeinschaften“ hervor, die scheinbar Europa und Asien miteinander verbinden.
Wie immens wichtig der Gedächtnisbegriff für Warburgs Denken war, zeigt sein letztes
Ausstellungsprojekt, das den Namen Mnemosyne (1924 - 1929) trägt- den Namen derjenigen
Muse, die für Erinnerung steht und Mutter der übrigen Musen ist. Es geht um einen Atlas, der
„[...] ein epochen- und länderübergreifendes Bildgedächtnis [...]“ darstellt. Daraus treten
„Erinnerungsgemeinschaften“ hervor, die scheinbar Europa und Asien miteinander
verbinden.29 Indem Warburg für seinen Gedächtnisbegriff mitsamt des Ausdruckes >soziales
Gedächtnis< auch den des europäischen Kulturgedächtnisses herangezogen hat, weitete er
die Trägerschaft enorm aus. Dies kommt in Frage, weil Warburg als das ausschlaggebende
Zeug des Kollektivgedächtnisses nicht die mündliche Rede, sondern das Kunstwerk annimmt,
das über lange Zeiten und weite Räume hinweg reicht. Man kann also schlussfolgern, dass der
Warburgs Gedächtnisbegriff auch seinen Ausdruck in „[...] historisch variablen und gruppenoder nationenspezifischen Ausprägungen kultureller Erinnerung [...]“ findet.30 Dieser Begriff
28
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.20.
Ebd., S.20.
30
Ebd., S.21.
29
14
trägt auch dazu bei, dass man die Ausprägungen kultureller Erinnerung und deren Einreihung
in die europäisch-asiatische Erinnerungsgemeinschaft nicht aus dem Blickfeld verliert.
Jan und Aleida Assmann sind diejenigen, die Ende der 1980er Jahre den Begriff des
kulturellen Gedächtnisses geprägt haben. Damit setzte im deutschsprachigen Raum eine
intensive Diskussion im Rahmen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung ein. Dank
der Theorie des kulturellen Gedächtnisses wurde das Abhängigkeitsverhältnis zwischen
Kultur und Gedächtnis aufgezeigt, begrifflich differenziert und theoretisch begründet. Vor
allen Dingen durch die Assmann’sche Hervorhebung des Zusammenhangs von kultureller
Erinnerung, kollektiver Identitätsbildung und politischer Legitimierung werden Phänomene
beschreibbar, auf welche der kulturwissenschaftliche Fokus seit 1980er Jahren gerichtet wird.
Hinzu kommt noch die Vereinbarung bislang angeblich nicht zueinanderpassender
wissenschaftlicher
Zweige,
wodurch
ein
gemeinsames
Forschungsfeld
für
etwa
Geschichtswissenschaft, Altertumswissenschaft, Religionswissenschaft, Kunstgeschichte,
Literaturwissenschaft oder Soziologie geöffnet wurde. Die Autoren des Konzeptes des
kulturellen Gedächtnisses griffen auch die Halbwachs’ Theorie
des kollektiven
Gedächtnisses auf. Sie nahmen dabei begriffliche Trennung zweier Register des kollektiven
Gedächtnisses vor. Sie gehen davon aus, dass zwischen einem kollektiven Gedächtnis, das
auf mit Symbolen beladenen Objektivationen basiert und einem kollektiven Gedächtnis, das
auf
Alltagskommunikation
fuβt,
ein
qualitativer
Unterschied
besteht.31
Deswegen unterscheiden sie zwischen zwei „Gedächtnisrahmen“, dem
>kulturellen
Gedächtnis< auf der einen Seite und dem >kommunikativen Gedächtnis< auf der anderen
Seite.32 Zum Zweck des Vergleichs und um aufzuzeigen, wie grundlegend sich Inhalte,
Formen, Medien, Zeitstruktur und Träger dieser beiden Gedächtnis-Rahmen voneinander
unterscheiden, hält Jan Assmann Merkmale des
kulturellen Gedächtnisses und des
kommunikativen auseinander. Wenn man also die Merkmale der beiden Gedächtnisrahmen
komparatistisch heranzoomt, dann können folgende Schlussfolgerungen gezogen werden: 1)
Das kommunikative Gedächtnis entsteht durch alltägliche Wechselbeziehungen zwischen
Menschen. Das kulturelle Gedächtnis hingegen ergibt sich aus einer hochgradig gestifteten
und zeremonialisierten, zum Beispiel während eines Festes, vergegenwärtigten Erinnerung. 2)
Das kommunikative Gedächtnis bezieht sich stets auf einen „begrenzten, mitwandernden
Zeithorizont“ von ca. 80 bis 100 Jahren. und das kulturelle wiederum auf eine ferne
31
32
Vgl. ebd., S.27.
Ebd., S.27.
15
Vergangenheit bis hin an die Antike.33 3) Während die Inhalte des kommunikativen
Gedächtnisses sich verändern und wird ihnen keine besondere Bedeutung zugeschrieben
(nicht zuletzt deswegen, weil jeder berechtigt ist, die gemeinsame Vergangenheit zu erinnern)
gilt das kulturelle als „Transporter“ eines festen Bestands an Inhalten und Sinngebungen, die
mit Hilfe ausgebildeter Spezialisten fortgesetzt und interpretiert werden (z.B. Priester,
Schamanen,Archivare).
Der eigentliche Fokus der Assmann’schen Forschung fällt auf das kulturelle Gedächtnis. Nun
scheint es erforderlich zu sein, den Begriff des kulturellen Gedächtnisses noch näher zu
präzisieren. In dem 1988 erschienen Aufsatz
>>Kollektives
Gedächtnis und kulturelle
Identität<< formte Jan Assmann den Begriff >kulturelles Gedächtnis< und definierte ihn wie
folgt:
Unter dem Begriff kulturelles Gedächtnis fassen wir den jeder Gesellschaft und
jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, Bildern und –
Riten zusammen, in derer >Pflege< sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein
kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschlieβlich) über die
Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart
stützt.34
Inwieweit der Begriff >kulturelles Gedächtnis< hineingespielt werden kann, lässt sich auf
Grund einiger Termini veranschaulichen, die zugleich als zentrale Merkmale des kulturellen
Gedächtnisses gelten: 1) „Identitätskorrektheit“ – damit ist die Bildung des kulturellen
Gedächtnisses innerhalb einer sozialen Gruppe gemeint, aus dem sie ihre Identität ableiten;35
2) „Rekonstuktivität“ – es wird stets von der Gegenwartsperspektive her erinnert, was
wiederum auf den retrospektiven Charakter des kulturellen Gedächtnisses hindeutet; 36 3)
„Geformtheit“ – ist ein signifikantes Merkmal des kulturellen Gedächtnisses, mit Hilfe
dessen die Unterscheidung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnisrahmen
vorgenommen werden kann. Hiermit ist die Tatsache gemeint, dass das kulturelle Gedächtnis
nur mittels fester Ausdruckformen und Medien fortgesetzt werde kann ;37 4)
„Organisiertheit“ – weist auf den institutionellen Charakter des kulturellen Gedächtnisses
und auf die Spezialisierung dessen Trägerschaft;38 5) „Verbindlichkeit“ des kulturellen
33
Ebd., S.28.
Assmann, Jan &Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988.
35
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.28.
36
Ebd., S.28.
37
Ebd., S.28.
38
Ebd., S.29.
34
16
Gedächtnisses – aus der sich eine
>klare
Wertperspektive und ein Relevanzgefälle< ergibt; 39
6) „Reflexivität“ – das Merkmal verweist auf den Umstand, dass das kulturelle Gedächtnis
die Lebenswelt und das Selbstbild der Gruppe, innerhalb deren erinnert wird, und ja auch
sich selbst reflektiert.40
Jan Assmanns Das kulturelle Gedächtnis (1992) gilt trotzt neuer Forschungen zum
Gedächtnis im deutschsprachigen Raum als die immer noch einflussreichste, worauf im
Rahmen wissenschaftlicher Arbeiten bezüglich des Gedächtnisdiskurses immer wieder Bezug
genommen wird. Dies veranschaulicht die Verbindung von Erinnerung, kollektiver
Identitätsbildung und politischer Machtausübung. Darüber hinaus werden darin Unterschiede
und Gemeinsamkeiten oraler und skripturaler Kulturen herausgestellt. Mündlichkeit und
Schriftlichkeit haben als zentrale Medien des kulturellen Gedächtnisses grundsätzlich die
gleiche Funktion. Sie fungieren also als „Herrsteller kultureller Kohärenz.“41 Hinzu kommt es
noch, dass sowohl mündliche als auch schriftliche Ausdrücke von Kultur(en) die
Vergegenwärtigung kultureller Vorzeit ist. In diesem Sinne betont Erll Folgendes:
Orale Kulturen sind auf die genaue Wiederholung ihrer Mythen, auf Repetition,
angewiesen, denn das kulturelle Gedächtnis wird in den organischen
Gedächtnissen der Sänger und Schamanen bewahrt und jede Variation könnte den
Überlieferungszusammenhang gefährden.42
Das menschliche Gedächtnis kann wie jedes andere menschliche Organ Verluste erfahren.
Auf Grund der organichen Ausprägung menschlichen Gedächtnisses besteht die Gefahr, dass
das Vergangene fälschlicherweise oder aber infolge des Gedächtnisverlustes überhaupt nicht
wiedergegeben wird. Textuelle Kohärenz wiederum ist schriftlich fixiert. Die Schrift als
Medium ist hiermit eine Art Schütz des kulturellen Sinns. Sie kann aufbewahrt und gepflegt
werden. Die Flanken für eine spätere Wiederaufnahme sind aber nicht immer ganz
abgesichert. Die Schrift innerhalb eines Buches oder Dokumente, die als eine besondere
Kulturerbe gelten, kann z.B. in Kriegsverhältnissen zerstört werden. Abgesehen davon
werden die „[...] verbindlichen, kanonischen Texte des kulturellen Gedächtnisses [...]“ immer
von Gegenwartsperspektive her reflektiert kommentiert, bzw. kritisiert.43 Die Fallstudien die
im Rahmen des zweiten Teiles von Das kulturelle Gedächtnis gemacht wurden, belegten
39
40
41
Ebd., S.29.
Ebd., S.29.
Vgl. Ebd., S.30.
Ebd., S.30.
43
Ebd., S.30.
42
17
engste Verschränkung der Schrift, des kulturellen Gedächtnisses, politischer Identität
miteinander.
In seinem 1999 veröffentlichten Buch Erinnerungsräume unterscheidet Aleida Assmann
zwischen Gedächtnis, das als Kunst oder Technik aufzufassen ist und Gedächtnis, das als ein
Wissensaufbewahrer, in den „Informationen eingelagert und in gleicher Form abgerufen
werden können“.44 Um Vorgänge der Wiederabrufung und des Vergessens von Inhalten des
kulturellen Gedächtnisses beschreibbar zu machen, geht Aleida noch einen Schritt weiter und
unterscheidet zwischen Funktions- und Speichergedächtnis. Das Funktionsgedächtnis
bezeichnet Assmann als das „bewohnte Gedächtnis.“45 Es besteht aus vielen Elementen,
welche zu einem zusammenhängenden Ganzen verknüpft werden können und somit die
Gegenwart auf einer bestimmten Vergangenheit fundieren. Das Speichergedächtnis wiederum
ist ein „unbewohntes Gedächtnis“, dessen einzelne Elemente für Gruppenbezug, Wertbindung
und Zukunftsorientierung nicht von Belang sind, weil sie keine Referenz auf die Gegenwart
aufweisen. Dazu äuβert sich Jan Assmann folgendermaβen:
Auf kollektiver Ebene enthält das Speichergedächtnis das unbrauchbar, obsolet
und fremd Gewordene, das neutrale, identitäts-abstrakte Sachwissen, aber auch
das Repertoire verpasster Möglichkeiten, alternativer Optionen und ungenutzter
Chancen. Beim Funktionsgedächtnis dagegen handelt es sich um ein angeeignetes
Gedächtnis, das aus einem Prozeβ der Auswahl, der Verknüpfung, der
Sinnkostitution [...] hervorgeht. Die strukturlosen, unzusammenhängenden
Elemente treten ins Funktionsgedächtnis als komponiert, konstruiert, verbunden
ein. Aus diesem konstruktiven Akt geht Sinn hervor, eine Qualität, die dem
Speichergedächtnis grundsätzlich abgeht.46
Das ist darauf zurückzuführen, dass im Bereich des Funktionsgedächtnisses nur strategisch,
perspektivisch (mit Anteilnahme kollektivistischer Handlungssubjekte während Festen
öffentlicher Rituale, Gedächtnisfeier in der Liturgie) erinnert wird. Und als Medien des
Speichergedächtnisses gelten Literatur, Kunst, Wissenschaft, die nur von Individuen, bzw.
innerhalb der Kulturgemeinschaft aufgenommen werden. Aleida Assmann spricht noch von
einer perspektivischen Beziehung der beiden Formen der Erinnerung. Das Speichergedächtnis
wird dabei hintergründig betrachtet, was noch nicht lange bedeutet, dass ihm keine Bedeutung
zukommt. Es dient als „Reservoir“ zukünftigen Funktionsgedächtnisses, das zweckgemäβ
44
Ebd, S.31.
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.31.
46
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen
Hochkulturen. München: Beck 1992, S.137.
45
18
angelegt wird. Man unterscheidet daher zwischen Vergangenheit, in die man als
Handlungsbeteiligter verstrickt war und vergangenem Erlebnis.
2.3 Pierre Nora: Lieux de mémoire
Halbwachs’ und Warburgs Schriften gelten heutzutage als zentrale Grundlegungen der
Theoriebildung
zum
kollektiven
Gedächtnis.
Bevor
sie
aber
ein
breites
Echo fanden, hatte sich der Zweite Weltkrieg beenden müssen. Ungefähr erst ein Jahrzehnt
vor dem Fall des Eisernen Vorhangs in Ostmitteleuropa, also in den 1980er Jahren, wurden
die Konzepte auf einer interdisziplinär – kulturwissenschaftlichen Ebene wieder
aufgenommen. Aufgegriffen und erweitert hat sie der französische Geschichtswissenschaftler
Pierre Noras in seinen lieux de mémoire. Als Ausgangpunkt für seine Überlegungen
übernahm er die Halbwachs’sche Trennung zwischen Geschichte und Gedächtnis. Ebenfalls
wie Halbwachs findet Nora die Geschichte und Gedächtnis keineswegs als Synonyme,
sondern vielmehr als Gegensätze. Anders als Halbwachs, der von der Existenz kollektiver
Gedächtnis ausgeht, geht Nora im Hinblick auf unsere Zeit vom fehlenden Bestand des
Gedächtnisses aus. Daraus resultiert nach Position von Nora die intensive Beschäftigung mit
dem Gedächtnis, wenn es heiβt: „ Nur deshalb spricht man so viel vom Gedächtnis, weil es
keines mehr gibt.“47 Nora zufolge neigt sich die Zeit der Erinnerungsgesellschaften und
Erinnerungsideologien dem Ende zu. Einen Einfluss darauf nehmen die Erinnerungskulturen
der Emigranten aus den französischen Kolonien, sowie moderne Mediengesellschaft, die mit
wachsender Demoktratisierung einhergeht. Diese Faktoren bringen offensichtlich die
französische Nationalerinnerung ins Wanken. Deshalb zum Gegenstand seiner Reflexion
werden „Erinnerungstorte“, die Erinnerungsbilder einer Nation aufrufen.48 Sie können auf
der einen Seite geographische Orte, Denkmäler, Gebäude und Kunstwerke umfassen ebenso
wie historische Persönlichkeiten, Gedankentage, philosophische und wissenschaftliche Texte
oder symbolische Handlungen. Auf der anderen Seite sind sie nicht im Stande, ein kollektives
Gedächtnis im Halbwachs’schen Sinne zu konstituieren.
Nach Nora wurzeln die
französischen Erinnerungsorte, wie zum Beispiel Paris, Versailles oder Eiffelturm, in dem 19.
Jahrhundert, also in der Zeit der III. Republik. Zu damaliger Zeit war das kollektive
Gedächtnis noch in der Lage, kollektive Identität zu fördern. Für Nora leben wir heute in einer
47
48
Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Fischer 1998 [1990], S.11.
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.23.
19
Übergangszeit, in der man
immer weniger auf die „ [...] lebendige, gruppen- und
nationenspezifische, indentitätsbildende Vergangenheit [...]“ zurückgreift.49 Deshalb spielen
Erinnerungsorte eine Ersatzfunktion für das nicht mehr vorhandene, natürliche kollektive
Gedächtnis.
Les lieux de mémoire sind eine Sammlung von Aufsätzen, in denen Nora Elemente der
französischen Kultur beschreibt. Zwar veranschaulichen sie Aspekte einer gemeinsamen
Vergangenheit. Doch auf Grund ihrer verschiedenen Formen und Arten ergeben sie „kein
verbindliches Gesamtbild der Erinnerung“ .50 Jedes Individuum wird selbständig entscheiden,
an welchen Ort es sich erinnern wird. Zudem ist die Trennung der Vergangenheit von der
Gegenwart
zu groβ, sodass Erinnerungsorte, welche vom heutigen Standpunkt heraus
betrachtet werden, nur sentimentalische Reaktionen bewirken können. Darum sind
Erinnerungsorte Zeichen, die nicht nur auf zu erinnernde Aspekte der Vergangenheit, sondern
auch auf das „abwesende lebendige Gedächtnis“ hinweisen.51
In seinen mehr von theoretischer Seite vorgetragenen Vorüberlegungen erläutert Nora
ausführlich, welche Voraussetzungen ein Ereignis oder Gegenstand erfüllen muss, um als
Erinnerungsort
bezeichnet
werden
zu
können.
Ihm
zufolge
scheiden
sich
die
Erinnerungsorte in drei Dimensionen: eine materielle, eine funktionale und eine
symbolische:
1) Materielle Dimension: Es geht hiermit um kulturelle Objektivationen im weitesten
Sinne. Es werden hierzu nicht nur Gegenstände gerechnet, die man anfassen kann(z.B.
Gemälde, Bücher), sondern auch vergangene Ereignisse sowie Schweigeminuten.
Nora sieht die Tatsache darin begründet, dass sie auch „ein materieller Ausschnitt
einer Zeiteinheit“ sind.52
2) Funktionale Dimension: Es handelt sich dabei um eine bestimmte Funktion der
Objektivationen innerhalb der Gesellschaft: Berühmte Bücher beispielsweise, wie die
Historie de France von Ernest Lavisse, werden zuerst mal zu einem bestimmten
Zweck angefertigt. Erst dann avancieren sie zum Erinnerungsort. Dahingehend
fungierte die Historie de France als Schulbuch, nach dessen Aufbau der Unterricht in
49
Ebd., S.23.
Ebd., S.23.
51
Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Fischer 1998 [1990], S.32.
52
Ebd., S. 32.
53
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.24.
50
20
Frankreich ablief. Die bereits erwähnte Schweigeminute hat die Funktion, „periodisch
eine Erinnerung wachzurufen.“53
3) Symbolische Dimension: Als letzter Schritt auf dem Weg, Erinnerungsort zu werden,
muss der Objektivation neben ihrer Funktionalität noch eine Bedeutung beigemessen
werden. Dies gilt zumal für solchen Fall, wenn Handlungen zum Ritual werden oder
Orte sagen- und auraumwoben sind. Erst durch intentionale symbolische
Hervorhebung
wird
ein
Gegendstand
der
Kultur
zum
Erinnerungsort.
Diese Würdigung der Objektivation kann sich dabei zum Zeitpunkt ihrer Entstehung
oder aber nachträglich vollziehen.
Die zwei letzten Merkmale, Symbolik und Intentionalität, welche die symbolische Dimension
ausmachen, unterscheiden Erinnerungsorte von anderen kulturellen Objektivationen. In
diesem Zusammenhang notiert Nora Folgendes:
Am Anfang muss es einen Willen geben, etwas im Gedächtnis festzuhalten. Gäbe
man das Prinzip dieser Vorgängigkeit auf, würde man schnell von einer
enggefassten Definition [...] zu einer möglichen, aber unscharfen Definition
abgleiten, die theoretisch jedes einer Erinnerung würdige Objekt einschlösse.54
Mit anderen Worten – damit ein Objekt als Erinnerungsort bezeichnet werden kann, muss es
bestimmter Voraussetzungen gerecht werden. Es muss mit seiner Funktion und Intention den
Menschen dazu bewegen, dass er es im Gedächtnis behält, sodass es für ihn eine Art Quelle
symbolischer Kraft bedeutet. Im Rahmen der drei Bände- La République, La Nation und Les
France wird aber das „Gesicht“ der Erinnerungsorte noch dekonstruiert. Als lieux de mémoire
kommen zum Schwerpunkt erinnerungswissenschaftlicher Studien neue Komponenten hinzu.
Dazu gehören Redeweise (>Streben für das Vaterland<), Denkfiguren
(>Guallisten
und
Kommunisten<) oder soziale Umgangsformen (>Galanterie<). So macht viele Kritiker stutzig,
was als Erinnerungsort verstanden werden kann. Als Beantwortung dieser Frage scheinen alle
kulturellen Phänomene zu sein, die auf kollektiver Ebene bewusst oder unbewusst eine
Beziehung mit Vergangenheit oder nationaler Identität aufweisen. Im weiteren Sinne handelt
es sich bei den Erinnerungsorten um einen Objektbereich, der von unterschiedlichsten
Disziplinen als Anregung zu Untersuchungen genommen werden kann. Kaum verwunderlich
also, dass Noras Projekt auch in anderen Ländern Anklang fand. Noras Methode hat den
54
Ebd., S. 32.
21
Anstoβ zu dem Projekt Deutsche Erinnerungsorte von Etienne François und Hagen Schulze
(2001) gegeben, das im Gegensatz zu französischen Vorbild stark europäisch orientiert ist.
Darüber hinaus werden auch Nationen und Regionen nach dem Muster von Noras Lieux de
mémoire betrachtet. Ein prägnantes Beispiel dafür sind amerikanische sites of
memory
(Kammen 1991; Hebel 2003) italienische luoghi della memoira (Isnenghi 1987)
Gedächtnisorte in Quebec (Koloom/Grzonka 2002) und transnationale Gedächtnisorte in
Zentraleuropa (Le Rider et al.2002).56
2.3.1 Erinnerungsphänomen im Rahmen des Gieβener
Sonderforschungsbereiches 434
Mit Hilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft wurde 1997 an der Justus – LiebigUniversität Gieβen der Sonderforschungsbereich (SFB) Erinnerungskulturen gegründet.
Der SFB befasst sich mit Inhalten und Formen kultureller Erinnerung von der Antike bis ins
21. Jahrhundert. Mit vereinten Kräften untersuchen das Erinnerungsphänomen samt
Germanisten und Historikern auch Latinisten, Gräzisten,
Kunsthistoriker, Romanisten,
Anglisten, Orientalisten, Philosophen, Politologen und Soziologen. Ziel der SFB
Erinnerungskulturen ist „eine konsequente Historisierung der Kategorie der historischen
Erinnerung“.57 Es wird damit dem Assmann’schen Modell des kulturellen Gedächtnisses ein
Konzept gegenübergestellt, das vor allem die Pluralität der kulturellen Erinnerung in den
Mittelpunkt stellt. Es kommt zum Vorschein in der Bevorzugung des Erinnerung – Begriffs
vor dem Gedächtnis – Begriff. Darüber hinaus lässt die Verwendung des Plurals –
Erinnerungskulturen
–
die
Vielfalt
und
historisch-
kulturelle
Variabilität
von
Erinnerungspraktiken und – konzepten zu.
Im Rahmen des SFB Erinnerungskulturen wurde ein Modell zur Beschreibung von kulturellen
Erinnerungsprozessen entworfen, das 3 strukturelle
Ebenen darstellt. Auf einer ersten
Intergrationsstufe werden Rahmenbedingungen des Erinnerns
untersucht, die durch vier
Faktoren bestimmt sind:
56
57
Vgl. Ebd., S.26.
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.34.
22
1) die Gesellschaftsformation58 - innerhalb der erinnert wird ( Adelsgesellschaft,
bürgerliche Gesellschaft, funktional differenzierte Gesellschaft der Postmoderne),
2) ihre von einer bestimmten Epoche bedingte Wissensordnung59,
3) ihr Zeitbewusstsein60 das von dem historischen Wandel geprägt wird
4) ihre Lage angesichts gesellschaftlicher Umbrüche, welche die Zahl der
Interpretationsmuster der Vergangenheit in groβem Maβe intensivieren
Auf einer zweiten Ebene findet eine Formierung spezifischer Erinnerungskulturen statt. Auch
hier können 4 Aspekte herausgesondert werden, die sich im Fokus des Interesses befinden:
a) Erinnerungshohheit61,
deren
gesellschaftliche
Ausprägung
auch
die
Vormachtstellung innerhalb anderer Erinnerungskulturen bedeuten kann,
b) die Erinnerungsinteressen62 verschiedener gesellschaftlicher Gruppen; sie
können in Opposition zueinander stehen, oder aber einander ergänzen,
c) die
Erinnerungsstrategien63,
die
sowohl
auf
die
Steigerung
der
Gedächtnisleistung als auch auf Gedächtnismedientechnologien hinausläuft,
d) die
Erinnerungsgattungen64
(wie
etwa
Historienbild,
Gedächtnisfilm,
historischer Roman oder Historiographie)
Die dritte Ebene stellt die Äuβerungsformen und Arten der Wiedergabe des auf die
Vergangenheit
bezogen
Sinns
dar
und
beinhaltet
zugleich
das
konkrete
Erinnerungsgeschehen65. Auf dieser ebene wird zwischen Erinnerung und Gedächtnis
differenziert. Die Erinnerung ist hierbei ein abrufbarer Prozess von Vergangenheit, der aber
einem Wandel unterworfen ist. Kulturelles Gedächtnis wiederum wird als eine Komponente
verstanden, die diskursiv aufzugreifen ist. Der Typus der Erinnerungsarbeit reicht dabei von
wissenschaftlich-diskursiven bis zu rein imaginativ-fiktiven Strategien. Darüber hinaus wird
eine Unterscheidung zwischen erfahrener und nicht-erfahrener Vergangenheit vorgenommen.
Man unterscheidet daher zwischen Vergangenheit, in die man als Handlungsbeteiligter
verstickt war und vergangenem Erlebnis jenseits der „Erfahrungsschwelle“.66 Ein weiterer
58
Ebd., S.34.
Ebd., S.35.
60
Ebd., S.35.
61
Ebd., S.35.
62
Ebd., S.35.
63
Ebd., S.35.
64
Ebd., S.35.
65
Ebd., S.35.
66
Ebd., S.35.
59
23
wichtiger Aspekt ist die Weise, auf welche man die Gegenstände und Medien (
Objektivationen ) des kulturellen Gedächtnisses aufgenommen hat. Es ist dabei zu
unterscheiden zwischen dem Zweck der Botschaft Gedächtnismedium und dessen
tatsächlichen Aufnahme durch historische Erinnerungskulturen. Der Erinnerungswert
kultureller Objektivationen ist geschichtlich, sozial und kulturellbedingt. Den Mittelpunkt der
Forschung und Publikationen des SFB Erinnerungskulturen macht vor allen Dingen die
zweite Ebene des obigen Models ( Formierung spezifischer Erinnerungskulturen ) aus,
wodurch
ein
nicht
zu
unterschätzender
Beitrag
zu
einer
kulturhistorischen
Gedächtnisforschung geleistet wird.
2.4 Gedächtnis und Erinnerungskturen in geschlossenen Gesellschaften des
Realsozialismus
Das Gedächtnis ist einem ständigem Wandel unterworfen. Ausschlaggebend für jeweilige
Erinnerung ist der Zeitpunkt, aus dessen Perspektive heraus erinnert wird. Darüber hinaus
scheint
dabei
erforderlich
zu
sein,
auf
das
Funktionieren
eines
natürlichen
Ausscheidungsmechanismus hinzuweisen. Denn die Menschen werden älter, und im Laufe
der Zeit ändert sich der Blick auf die Vergangenheit, was nicht zuletzt mit der Veränderung
vom Selbst- und Fremdbild einhergeht. Doch zur Veränderung des Erinnerungsbildes
innerhalb kollektiver Gemeinschaftsgruppen tragen besonders politische Machtstrukturen bei,
welche die praktizierte
spezifischen
Fällen
zur
Erinnerungspolitik67 stark beeinflussen. Daher kann es in
Verdrängung
unangenehmer
Erinnerungen
sowie
zur
Beeinträchtigung bestimmter Erinnerungsformationen68 kommen. In diesem Zusammenhang
notiert Paweł Zimniak in seinem Beitrag Verlorene Heimat – zum deutschen Topos in der
polnischen Erinnerungskultur nach 1945 Folgendes:
Das Gedächtnis hat einen prozesshaften Charakter, der von dauernden Erinnern
und Vergessen – das Vergessen ist dabei kein Löschen, sondern eine Art
semiotische Ruhepause – sowie ständiger (Neu)Erzeugung von Vergangenheit
bestimmt wird. Die jeweils praktizierte Erinnerungspolitik muss deshalb mit der
Vergessens- und Verdrängenspolitik im Zusammenhang gedacht werden. In der
wissenschaftlichen Praxis wie bei der Kreierung von Identitätsbildern ist jedoch
Zimniak, Paweł: Verlorene Heimat – Zum deutschen Topos in der polnischen Erinnerungskultur nach 1945.
In: Gansel, Carsten (Hg.): Gedächtnis und Literatur in geschlossenen Gesellschaften des Real – Sozialismus
zwischen 1945 und 1985, S.75.
68
Ebd., S.76.
69
Ebd., S.75.
70
Ebd., S.76.
67
24
die Allianz von Herrschaft und Gedächtnis als retrospektive Entdeckung und
prospektive Legitimierung der Geschichte eine bessere Lösung als die Allianz von
Herrschaft und Vergessen zwecks der Verhinderung bestimmter
Erinnerungsformationen.69
Vor dem Hintergrund dieser Überlegung muss betont werden, dass in Geschichtsbüchern
eines Landes die Erinnerungen an die Vergangenheit festgehalten sein sollten, welche auch
womöglich auf das jeweilige Land negatives Licht werfen. Peter Burke untermauert dies,
indem er von einer öffentlich-privaten Zensur unangenehmer und peinlicher Erinnerungen
spricht, wodurch zugleich die Geschichte nach dem Muster der Sowjet – Enzyklopädie70
umgeschrieben oder neu geschrieben wird.71 Burke hebt in seinen Überlegungen diesen
Aspekt der Erinnerungsbildung deshalb hervor, weil es kollektiv und individuell vertretbar ist,
nicht nur „[...] ein Gedächtnis rühmenswerter Taten zu stabilisieren.“72
Ausgehend von der kulturwissenschaftlichen Unterscheidung in kommunikatives, kollektives,
kulturelles Gedächtnis scheint es erforderlich zu sein, der Frage nach der Funktion des
Gedächtnisses der Literatur in der DDR, sowie anderen Ländern des Real – Sozialismus
nachzugehen. Es müssen also hierbei die Besonderheiten der Ausprägung des kulturellen
Gedächtnisses in totalitären, bzw. autoritären politischen Systemen in Kürze herausgestellt
werden. Wichtig ist die Formierung des kulturellen Gedächtnisses in den sich als „[...]
Diktatur des Ploretariats verstehenden Gesellschaften [...].“73 Der Umgang der Polen mit dem
Thema des Flucht- und Vertreibungskomplexes der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg
aus den Ostgebieten, bzw. der durch die Geschichte legitimierten und gerechten Rückkehr der
Westgebiete zum polnischen Mutterland, worauf man zugleich mit Skepsis und Kritik
eingehen sollte, gibt exemplarisch ein Zeugnis davon, wie
ein spezifisches kulturelles
Gedächtnis in einem Land des realexistierenden Sozialismus ausgeformt wurde. In diesem
Kontext notiert Carsten Gansel Folgendes:
Der Umgang mit dem Gründungsmythos Antifaschismus, dem Lagerdiskurs, dem
Kriegserlebnis, dem Holocaust [...] gibt exemplarisch Auskunft darüber, wie ein
spezifisches kulturelles Gedächtnis in den Ländern des Real – Sozialismus
ausgeformt wurde und mit welcher Absicht welche Gründungsmythos Über
71
Vgl. ebd., S.76.
72
Ebd., S.76.
Gansel, Carsten : Gedächtnis und Literatur in geschlossenen Gesellschaften der Real – Sozialismus
zwischen 1945 und 1985. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S.11.
73
25
narrative Texte, ikonische wie rituelle Formen in das kollektive Gedächtnis
>transportiert< wurden. Dieser Umstand erfordert es, neben dem >Symbolsystem<
auch das >Handlungs- bzw. Sozialsystem Literatur< in den Blick zu bekommen
Denn letztendlich sind es die sehr verschiedenen Handlungen, also
Handlungsrollen und die entsprechenden Institutionen, die entscheidend für die
Ausformung des kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses in den Ländern des
Real – Sozialismus waren (u. a. Verlage, Parteiapparat, Ministerium für
Staatsicherheit, Schule). In diesem Zusammenhang spielt auch der Aspekt von
Kanonisierung bzw. Kanonbildung für die Ausbildung des kulturellen
Gedächtnisses eine gewichtige Rolle.74
Von dieser Überlegung heraus muss darauf hingewiesen werden, dass der Staatsapparat der
kommunistischen Macht, die auf eine sorgfältige Unterdrückung mit beständiger Einübung in
Verrat und die Überwachung aller sowohl staatlicher als auch privater Institutionen abzielte,
eine ausschlaggebende Rolle für die Bildung des kulturellen und kollektiven Gedächtnisses
spielte.
3 Literatur in narratologischer Perspektive
3.1 Das Erzählen und das Erzählte
Wer sich mit literarischen Texten befasst, der muss sich zugleich auf die Ebenen des Was und
des Wie einlassen, denn es besteht ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Gehalt einer
Erzählung und seiner Darstellungsform. Wenn man aber sich mit den Ebenen des Was und
des Wie auseinandersetzt, dann scheint es erforderlich zu sein, auf den russischen
Formalismus zurückzugreifen, der zwei Begriffe auseinanderhält: fabula und sjužet, welche
mit den Ebenen des Was und des Wie in Zusammenhang gebracht werden können. Boris
Tomaševskij bezeichnete in seiner Theorie der Literatur (1925) fabula als „die Gesamtheit
der Motive in ihrer logischen kausaltemporalen Verknüpfung“.75 Unter sjužet verstand er die
Gesamtheit derselben Motive, aber in der literarischen Reihenfolge und Verknüpfung. In den
60-er Jahren griff der strukturalistische Erzähltheoretiker Tzvetan Todorov das Begriffspaar
des Formalisten auf und übersetzte es mit histoire vs. discours. Unter dem Begriff histoire
versteht Todorov nicht nur das Geschehen selbst, sondern das ganze erzählerische Medium,
innerhalb dessen das Geschehen stattfindet. Damit geht er über Tomaševskijs fabula hinaus,
Gansel, Carsten : Gedächtnis und Literatur in geschlossenen Gesellschaften der Real – Sozialismus
zwischen 1945 und 1985. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S.11.
75
Tomaševskij, Boris: Theorie der Literatur. Poetik. Hg. V. Klaus-Dieter Seemann. Wiesbaden 1985, S. S.218.
74
26
welche nur „[...] die handlungsrelevanten Teile der erzählten Welt [...]“ umfasst.76 Mit dem
Begriff discours bezeichnet Todorov nicht nur die Anordnung der Ereignisse im Werk,
sondern auch den gesamten Bereich der literarischen Vermittlung eines Geschehens. Damit
geht er wieder über Tomaševskijs Begriffspaar hinaus, diesmal aber über sjužet, der nur die
Reihenfolge der Ereignisse in ihrer literarischen Darstellung betrifft. Die Gegenüberstellung
von fabula/histoire und sjužet/discours nahm der französische Erzähltheoretiker Gérard
Genette als Anregung zu einer Dreiteilung. Er hält dabei an Todorovs histoire fest, die er als
den narrativen Inhalt auslegt. Für den Begriff discours benutzt er zwei Termini: Erzählung
und Narration. Mit Erzählung meint er den narrativen Text im Sinne eines materiellen
Lautbildes und mit
Narration den narrativen produzierenden Akt, mit dessen Hilfe die
Erzählung erfolgt. Ausgerüstet mit dieser Begrifflichkeit von Tomaševskij, Todorov und
Genette
nehmen Michael
Scheffel und Martin Martinez in ihrer Einführung in die
Erzahltheorie eine Unterscheidung zwischen der erzählten Welt und der Handlung als
Gesamtheit der handlungsfunktionalen Elemente des Erzählten, vor. Im Bereich der
Handlung unterscheiden sie vier Elemente, die in einer Wechselbeziehung zueinander stehen:
1) Ereignis (Motiv)77: als die elemantare Einheit eines narrativen Textes.
2) Geschehen78, das Scheffel und Martinez als chronologische Aneinanderreihung von
Ereignissen bezeichnen, die aufeinander folgen.
3) Geschichte79: auf der dritten Intergationsstufe nennen sie Geschichte, falls die
Ereigniskette nicht nur einen temporalen, sondern auch einen kausalen Charakter
aufweist, sodass „[...] die Ereignisse nicht nur aufeinander, sonder auch auseinander
folgen [...]“.80
4) Handlungsschema81: als ein „[...] aus der Gesamtheit der erzählten Ereignisse
abstrahiertes globales Schema der Geschichte [...]“ , dessen typisches Muster nicht nur
einem einzelnen Text, sondern einer ganzen Textgruppe zugeordnet werden kann.
Die andere Seite der Opposition macht ihnen zufolge der Begriff der Darstellung aus. Im
Rahmen der Darstellung unterscheiden sie noch zwischen zwei Aspekten:
1) Erzählung82: als die erzählten Ereignisse in ihrer literarischen Reihenfolge, also wie
sie im Werk vorliegen.
2) Erzählen83: als die Darstellungsverfahren der Erzählung und die Weise der
Präsentation in bestimmten Sprachen, Medien (z.B. rein sprachliche oder audiovisuelle).
76
Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2005, S.23.
Ebd., S.25.
78
Ebd., S.25.
79
Ebd., S.25.
80
Ebd., S.25.
81
Ebd., S.25.
82
Ebd., S.25.
83
Ebd., S.25.
77
27
3.2 Stanzels Grundformen des Erzählens
Franz Stanzel spricht in seinem Werk Typische Formen des Romans von zwei Formen des
Erzählens. Das sind die berichtende (panoramatische) Erzählung und die szenische
(mimetische) Darstellung. Um die Differenzen zwischen den beiden Formen des Erzählens zu
veranschaulichen, bietet Stanzel zwei Texte dar, welche zwar von dem gleichen Sachverhalt
handeln, doch aber einige signifikante Unterschiede auf der Vermittlungsebene aufweisen.
Seine Beispielsgeschichte spielt in einer Stadt (deren Name nicht erwähnt wird), die unter
Kriegsverhältnissen von feindlichen Truppen angegriffen wird. „Der Einwohner der Stadt,
meist Frauen, Kinder und Greise, bemächtigte sich eine Panik.“84 Die reichen Tempelschätze
der Stadt werden von den Angreifern völlig ausgeplündert. Die meisten Einwohner werden
als Kriegsgefangene gefesselt und fortgeführt. Was die Unterschiede anbelangt: der erste
Unterschied kommt in dem Sprachstil zum Vorschein. Während die erste Version im epischen
Modus erzählt wird, wird die zweite Version im dramatischen dargestellt. Was die Erzählfigur
betrifft, dann lässt sich feststellen, dass der Erzähler in der ersten panoramatischen Version
extra-heterodiegetisch ist. Das bedeutet zugleich, dass er nicht an dem Geschehen beteiligt
war. Er muss die Informationen über die Begebenheiten aus zweiter Hand bekommen haben,
weil es mitten in der ersten Version heiβt:
Es wird berichtet, dass die Eroberer in erster Linie auf Beute bedacht waren.
Vermutlich sind damals auch die reichen Tempelschätze der Stadt völlig
ausgeplündert worden. Von den Augenzeugen wird erzählt, die plündernden
Soldaten seien bei der Verteilung dieser reichen Beute untereinander in Streit
geraten.85
Durch das Wort „vermutlich“ oder den Ausdruck „Von den Augenzeugen wird erzählt“
scheint der Erzähler sich in zeitlich – räumlicher Ferne von Ereignissen im Einzelnen und
vom epischen Vorgang im Ganzen zu befinden. In der zweiten mimetischen Version
wiederum ist die Erzählfigur intra - homodiegetisch. Es heiβt aber nicht gleich, dass er aus der
Sicht eines Handelnden erzählt, sondern aus der Erlebnisperpektive. Einiges an Belegen für
die Tatsache liefert bereits der erste Satz, wenn es heiβt:
84
85
Stanzel, Franz K.: Typische Formen des Romans. Göttingen 1987, S.12.
Ebd., S.12.
28
Vom Dach seines Hauses in einiger Entfernung von der östlichen Stadtmauer
konnte er jetzt ganz deutlich hören, dass es den Belagern gelungen sei musste, in
die Stadt einzudringen.86
Der Erzähler wird zum Augenzeugen der Ereignisse, womit sich die Erzähldistanz zugleich
wesentlich verkürzt. Der nächste Faktor, der den Unterschied zwischen der berichtenden
Erzählung und der szenischen Darstellung noch zusätzlich prägt, ist der Grad der
Schilderungsgenauigkeit der Begebenheiten. Während in der ersten (berichtenden) Version
die wichtigsten Begebenheiten in einer knappen Zusammenfassung dargestellt werden, sodass
der Text einigermaβen trocken auf den Leser wirkt, ist die zweite Version (szenische
Darstellung) in emotionaler Hinsicht aussagekräftiger. Ein prägnantes Beispiel dafür ist die
Beschreibung der Panik, die sich der Stadteinwohner bemächtigte, wenn es in der
panoramatischen Erzählung diesbezüglich in einem einzigen Satz heiβt: „Der Einwohner der
Stadt, meist Frauen, Kinder und Greise, bemächtigte sich eine Panik“.87 In der zweiten
Version wiederum wird dieser Zustand folgendermaβen geschildert:
Überall in den Gassen begannen Menschen zu laufen, hierhin und dorthin,
angstvoll und ratlos, wo in diesem Augenblick der höchsten Not Hilfe zu finden
wäre. Direkt von vor seinem Haus hatte sich eine Gruppe Menschen angesammelt,
weinende Frauen und Kinder und hilflose Greise, denen die Angst ins Gesicht
geschrieben stand.88
Hier werden hingegen mehrere bis ins Detail gehende Beschreibungen, attributiv gebrauchte
Adjektive wie „weinende Frauen, Kinder und hilflose Greise“ zum Ausdruck gebracht. Dieses
ganze sprachliche Kostüm trägt nicht zuletzt dazu bei, dass die szenische Darstellung ein
kräftigeres Wirkungspotenzial entwickelt. Anhand dessen sieht man auch, dass eine und
dieselbe Geschichte auf unzählige verschiedene Weisen präsentiert werden kann.
3.2.1 Erzählinstanzen und Einstellung zur erzählten Welt in
literaturwissenschaftlicher Perspektive
86
Ebd., S.12.
Ebd., S.12.
88
Ebd., S.12.
87
29
In narrativen Texten ist eine Vielfalt unterschiedlichster Erzählstrukturen anzutreffen, was
offensichtlich den Alltagserzählungen abgeht. Ein komplexes Zusammenspiel der
Erzählstrukturen in literarischen Erzählungen trägt zuglich dazu bei, dass sie nicht nur auf ein
erlebendes oder reales Ich reduziert werden können. In den letzen Jahrzehnten ging man
oftmals diesem Zusammenspiel analytisch auf den Grund. Diese Analyse ist vor allen Dingen
durch Stanzels Unterscheidung von drei typischen Erzählsituationen bestimmt worden: der
ich-bezogenen,
der
auktorialen
und
der
personalen
Erzählsituation.
Von
dieser
Unterscheidung ausgehend lassen sich vier Erzählpositionen heraussondern, die auf zwei
Dimensionen beruhen:
1) Die eine Dimension bildet der Grad der Involviertheit des Erzählers in die erzählte
Geschichte. Hiermit müssen folgende Fragen gestellt werden:89
a) Wird die Geschichte aus der Sicht eines Handlungsbeteiligten erzählt, der einen
privilegierten aber nicht notwendigerweise vollständigen Überblick über das
Geschehen hat?
b) Wird die Geschichte aus einer mehr oder minder groβen Distanz berichtet?
2) Als die andere Dimension gilt der Erfahrungsmodus des Erzählers von dem Erzählten.
Hiermit müssen solche Fragen gestellt werden:
a) Wird die Geschichte vom Erzähler reflektiert wahrgenommen und begrifflich
und logisch in einem Zusammenhang wiedergegeben?
b) Oder wird die Geschichte aus der Sicht einer Person widergegeben, die ihre
Erlebnisse nicht reflektiert, bzw. nicht bewusst wahrnimmt?
Mit solcherlei Fragen hängt auch die Einstellung des Lesers fiktionaler, bzw. literarischer
Werke zu dem erzählten Gehalt zusammen. Im Groβen und Ganzen kann man sagen, dass
man beim Lesen narrativer Texte von der Art und Weise der Vermittlung der Geschichte
absieht, wenn es dem Autor gelungen sein sollte, den Leser gedanklich und gefühlsmäβig in
seine Geschichte zu involvieren. In dieser Einstellung identifiziert sich der Leser mit den
Figuren, die innerhalb der Geschichte dargestellt werden, nimmt Anteil an ihrem Schicksal
und beurteilt ihr Verhalten nach Maβstäben seiner eigenen lebensweltlichen Praxis. 90 Man
könnte daher behaupten, dass der Leser fiktionaler Texte sich für die Dauer der Lektüre der
89
Vgl. Brackert, Helmut/Stückrath, Jörn: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt
1996, S.66.
90
Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2005, S.21.
30
Täuschung unterwirft, im Sinne, dass das Erzählte tatsächlich geschehen sei.91 Diesbezüglich
haben sich im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Theorien herausgebildet, die sich in
Beschreibung des Phänomens weit voneinander unterscheiden. So war man der Ansicht:
[...] der Leser müsse sich imaginativ in die erzählte Geschichte hineinversetzen
und das Erzählte vorübergehend für real annehmen, um den Text überhaupt zu
verstehen.92
In diesem Sinne erklärt der Franzose Nicolas Boileau in seinem L’Art Poétique, dass den
Verstand nur das beschäftigt, was er glaubt. Die zweite Theorie läuft darauf hinaus, dass „[...]
der Leser sich des fiktiven Status der erzählten Welt stets bewusst sei.“93 Diese Auffassung
findet sich bereits bei Aristoteles, der das Vergnügen der Dichtkunst in Nachahmungen von
Dingen und Sachen sieht, denen wir im Alltag aber nicht begegnen. Der dritten Theorie nach
werden die beiden ersten Einstellungen zur erzählten Welt verbunden, indem man das
vorübergehende Hineinversetzen in die fiktionale Welt und das Bewusstsein von dem
Fiktionscharakter des Dargestellten/Erzählten als eine Art Zwillingspaar versteht. Diese
Auffassung vertreten etwa Roman Ingarden und Wolfgang Iser. Wie dem auch sei: Einerseits
muss darauf hingedeutet werden, dass fiktionale Behauptungssätze auf Tatsachen der durch
sie erzählten Welt referieren, unabhängig davon, ob der Leser diese für die Dauer der Lesens
für Begebenheiten hält oder nicht.94 Andererseits muss betont werden, dass innerhalb der
Literatur immer eine Realität der erzählten Welt geschaffen wird – ganz zu schweigen davon,
ob der Leser glaubt, dass diesem Inhalt Tatsachen in der Wirlichkeit entsprechen. Daher kann
der Begriff der Lüge bzw. Fingiertheit für die Literatur ausgespart werden, denn fiktionale
Sätze sind nicht als Behauptungen des Autors aufzufassen.
3.3 Raumsemantik im Bereich der Literatur
Der Raum einer Geschichte, ihr Schauplatz ist ein wichtiges Element von literarischen
Texten, das oftmals unterschätzt wird. Die Gestaltung vom Raum innerhalb eines literarischen
Textes zielt allerdings nicht nur auf die Gabe eines entsprechenden Handlungsortes für die
Figuren ab. Die jeweilige Raumkonstruktion teilt weitgehend einem bestimmten Text einige
91
Vgl. edb., S.21.
Ebd., S.21.
93
Ebd., S.22.
94
Vgl. edb., S.22.
92
31
Funktionen zu, wodurch Unterschiede zwischen einzelnen Texten feststellbar sind.95 So trägt
das Entwerfen eines bestimmten Raumes zur Entfaltung einer besonderen Stimmung oder
einer Atmosphäre bei. Wenn man die in literarischen Texten entworfenen Räume einer
genaueren Analyse unterzieht, so stellt sich recht bald heraus, in welchem Maβe sie nach
unterschiedlichsten Mustern gebaut sind. Dies könnte fälschlicherweise den Eindruck
erwecken, „[...] es herrsche eine gewisse Beliebigkeit im Entwurf der literarischen Räume
[...]“.96 Eine derartige Reduktion im Rahmen der Narration hat der estnische Literatur – und
Kulturwissenschaftler Jurij M. Lotman einer Kritik unterworfen und „[...] eine räumliche
Ordnung narrativer Texte [...]“ vorgeschlagen. Den Ausgangspunkt dafür bildet der von ihm
geprägte Begriff sujet, den Lotman als die Grundstruktur eines narrativen Textes versteht.
Lotman zufolge setzt sich ein sujet aus drei notwendigen Komponenten zusammen:
I. ein semantisches Feld [i.e. eine erzählte Welt], das in zwei komplementäre
Untermengen aufgeteilt ist; 2. eine Grenze zwischen diesen Untermengen, die
unter normalen Bedingungen impermeabel ist, im vorliegenden Fall jedoch (der
sujethaftige Text spricht immer von einem vorliegendem Fall) sich für den die
Handlung tragenden Helden als permeabel erweist; 3. der die Handlung tragende
Held.97
Die zwei Untermengen, welche mit einer klassifikatorischen Grenze voneinander getrennt
sind, können als verschiedene Weltmodelle verstanden werden. Lotmans Meinung bezüglich
des Raumentwurfes innerhalb eines literarischen Textes läuft darauf hinaus, dass der
künstlerische Raum „[...] zum formalen System für die Konstruktion unterschiedlicher,
darunter auch ethischer Modelle [...]“ wird.98 So entfaltet sich Lotman zufolge der
komplementäre Gegensatz der Teilräume auf drei Ebenen:
a) Topologisch ist der Raum der erzählten Welt durch Gegenüberstellungen wie
hoch vs. tief, links vs. recht oder innen vs. auβen bestimmt.
b) Zu den topologischen Unterschieden kommen noch meist wertende
Gegensatzpaare wie z.B. gut vs. böse, vertraut vs. fremd, natürlich vs. künstlich.
c) Schlieβlich wird die Bedeutung der toplogischen Ordnung durch „[...]
topographische Gegensatzpaare der dargestellten Welt konkretisiert [...]“ , z.B.
Land vs. See, Berg vs. Tal, Himmel vs. Hölle.99
Lotman geht davon aus, dass die räumliche Ordnung der erzählten Welt „[...] zum
organisierenden Element wird, um das herum auch die nichträumlichen Charakteristika
Vgl. Gansel, Carsten : Gedächtnis und Literatur in geschlossenen Gesellschaften der Real – Sozialismus
zwischen 1945 und 1985. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2007, S.20.
96
Ebd., S.20.
97
Lotman, Jurij M.: Die Struktur des künstlerischen Textes. Frankfurt/M. 1973, S. S360.
98
Lotman, Jurij M.: Die Struktur des künstlerischen Textes. Frankfurt/M. 1973, S.205.
99
Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2005, S.141.
95
32
aufgebaut werden.“100 In diesem Sinne ist beispielsweise der Raum in Dante Alighieris
Göttlicher Komödie topologisch durch die Gegenüberstellung von oben vs. unten, semantisch
durch den Gegensatz von gut vs. böse und topographisch durch die Achse zwischen den
beiden in gröβter Entfernung gelegenen Punkten des Universums gestalltet.101 Das eine Ende
macht der Mittelpunkt der Erde mit der Hölle und dem Sitz des Widersacher Gottes Luzifers
aus. An dem anderen Ende hingegen ist die zehnte und zugleich oberste Himmelssphäre, wo
sich Gottes Sitz befindet. Als Handlung der Commedia gilt die Reise, auf welche sich der IchErzähler Dante durch den Kosmos begibt. Er gelangt durch die verschiedenen Kreise der
Hölle hindurch bis zum mittleren Punkt der Erde, indem er zuerst immer tiefer in die
Erdkugel hineinsteigt. Darauf hin steigt er durch die andere Seite des kugelförmigen Planets
und das Fegefeuer wieder hinauf und durchquert fliegend den Himmel bis an den höchsten
Punkt des Weltraums. Die drei Bereiche, welche Dante durchquert – Hölle, Läuterungsberg,
Himmel sind durch gewöhnlichehrweise undurchlässige(impermeable) Abschlusslinien, im
Sinne von Grenzen, voneinander getrennt, welche sich aber für den die Handlung tragenden
Helden als permeabel (durchlässig) erweisen. Diese Abschlusslinien sind topographisch durch
Tore markiert. Die Überschreitung der Grenzen ist Lotman zufolge eine Voraussetzung für
sujethaltige, d.h. narrative Texte. Als Beispiele für sujetlose Texte nennt er Kalender,
Telephonbücher und lyrische Gedichte.102
Im Hinblick auf die Grenzüberschreitung differenziert Lotman noch weiter narrative Texte:
1) Texte, in denen die klassifikatorische Grenze überschritten wird – von Martinez und
Scheffel in ihrer Einführung in die Erzähltheorie als „revolutionär“ bezeichnet.103
2) Texte, in denen die Grenzüberschreitung entweder versucht wird und scheitert oder
vollzogen wird aber dann z.B. durch den Tod des Protagonisten aufgehoben wird –
auch von den beiden Literaturwissenschaftlern als „restitutiv“ genannt.104
4 Analytischer Teil – zum Roman Helden wie wir
4.1 Figuren und Figurenkonstellation
100
Lotman, Jurij M.: Die Struktur des künstlerischen Textes. Frankfurt/M. 1973, S.332.
Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2005, S.141.
102
Vgl. ebd., S.142.
103
Ebd., S.142.
104
Ebd., S.142.
102
Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2005, S.134.
101
33
Das Vergnügen am Lesen fiktionaler Erzählungen besteht darin, dass man sich mit den
dargestellten Figuren identifiziert, Anteil an ihrem Schicksal nimmt und ihr Verhalten nach
Maβstäben eigener lebensweltlicher Erfahrung und Praxis beurteilt. Damit hängen folgende
Fragen zusammen: 1) Sind diese dargestellten Personen, ihre Handlungen und ihr Umfeld
über ihre Individualität hinaus eigentlich von Belang? 2) Somit scheint es erforderlich zu sein,
eine weitere Frage zu stellen: hat jeder literarische Text eine Tiefenstruktur102 oder aber nur
eine Oberflächestruktur? Mit anderen Worten: weisen wirklich alle narrativen Texte eine
invariante Struktur, ein bestimmtes Grundmuster, sodass konkrete Textgruppen/Gattungen
herausgesondert werden könnten? Trotzt der Tatsache, dass diese Frage nie zufriedenstellend
geklärt wurde, kann man die Existenz einer Tiefenstruktur in narrativen Texten bejahen.
Einiges an Belegen für die Tatsache liefert uns der Entwicklungsroman Helden wie wir von
Thomas Brussig, in dem die Lebensentwicklung der Zentralfigur namens Klaus Ultzscht
beschrieben wird. Dieser Roman schildert eine ganze Reihe von Einzelheiten über
Erfahrungen und Erlebnisse des Protagonisten und deren psychologische Verarbeitung bzw.
Integration in seine eigene Persöhnlichkeit. Es kann auch eine ganze Menge narrativer Texte
angeführt werden, deren Inhalt eine derartige Rekonstruktion der Lebensgeschichte einer
Hauptfigur darstellt. Das sind beispielsweise Die Blechtrommel von Günter Grass, Der
Zauberberg von Thomas Mann sowie Parzival von Wolfram von Eschenbach.
Darüber hinaus muss auf die Tatsache hingewiesen werden, dass der Entwicklungsroman mit
seinen Wurzeln in dem Schelmen - bzw. Pikaroroman reicht. Der Schelmenroman stammt aus
dem Spanien des 16. Jahrhunderts. Der erste Vertreter dieser Gattung ist der anonym
erschienene Lazarillo de Tormes. Der Held ist hierbei ein picaro. Dieses spanische Lexem
steht für einen gemeinen Kerl von einem üblem Lebenswandel. Die frühesten deutschen
Schelmenromane bezeichneten die Hauptfigur picaro als Landstörtzer, was in dem heutigen
Sprachgebrauch soviel wie Landstreicher bedeutet. Erst im 18. Jahrhundert etablierte sich die
Bezeichnung Schelm, nachdem sie die anfänglich negative Konnotation verloren hatte. Ein
weiterer Aspekt des Entwicklungsromans ist die opportunistische Einstellung des Helden zu
seiner Umwelt und seinen Mitmenschen. Während seiner naiven und mit Idealen erfüllten
Kindheit und Jugend wird er mit einer Welt voller Gegensätze konfrontiert, in der er sich
zugleich anderen Menschen gegenüber überlegen fühlt. Er kann dabei viele Dinge nicht
begreifen und begegnet Personen, die seine Vorstellungen von der realen Welt noch
zusätzlich in Unsicherheit bzw. Widersprüchlichkeit bringen. Jacobs spricht von einem „[...]
34
Bruch zwischen idealerfüllter Seele und widerständiger Realität [...].“103 Es begleiten ihn bei
alldem zugleich Angst- und Bedrohungsgefühle, die auf seine Unerfahrenheit zurückgehen.
Die Figur des Klaus Uhltzschts eignet sich dafür hervorragend. Denn einerseits fällt er aus
dem Rahmen, weil er nicht nur mit Widerstand auf die etablierte Erwachsenenwelt reagiert,
sondern auch mit Übererfüllung der Normen. Das ist ganz untypisch und somit aufregend. All
die Informationen sind insoweit relevant, als dass sie einen situativen Rahmen abgeben und
ein soziales Milieu darstellen, in dem sich die Figuren bewegen und das einen Einfluss auf ihr
Denken, Fühlen und Handeln hat.104 Daher wird in dem vorliegenden Teil der Diplomarbeit
die Charakteristik der Hauptfigur Klaus Ultzscht vorgenommen, sowie auf Beziehungen
dieses Protagonisten mit anderen Figuren des Romans Helden wie wir eingegangen, die einen
direkten Einfluss auf die Formung seiner Persöhnlichkeit ausüben.
4.1 Figurales Denken, Handeln, Fühlen – Zur Charakteristik der
Hauptfigur
Dass die Zentralfigur Klaus Uhltzscht seine Umwelt nicht verstehen kann, zeigt sich bereits in
seiner Kindheit, in der er von seinem Vater missachtet wird, worauf noch eingehender in
Vater – Sohn – Konstellation Beug genommen wird. Ein prägnantes Beispiel dafür gibt selbst
sein Vater, indem er zum Feierabend nach Hause kommt und sich keine Zeit für seinen Sohn
Klaus nimmt, sodass es im Text heiβt:
Ich musste nicht in den Kindergarten, sondern saβ glücklich zu Hause, hantierte
mit meinen Buntstiften und malte Bilder, über die meine Mutter immer wieder in
Verzückung geriet – sie strahlte, sie lachte, sie lobte, und wenn mein Vater zum
Feierabend kam präsentierte sie ihm überschwänglich meine Mutter meine
>>Malbilder<<. Er allerdings interessierte sich nicht für meine >>Malbilder<<., und
ich hatte immer das Gefühl, dass es nicht ist, was er von mir erwartet.105
Hier sieht man auch eine wichtige Rolle der Mutter, auf die erst bei der Konstellation Mutter
– Sohn eingegangen wird. Sein aufkommendes Gefühl der Unsicherheit und der Bedrohung
wird deutlich, wenn er von seinen Eltern zum ersten Mal ins Ferienlager geschickt wird und
sich vorher Gedanken über den bevorstehenden Ausflug macht, sodass es heiβt:
103
Jürgen Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman. München
1972.
104
Vgl. Jannidis, Fotis: Figur und Person, a.a.O., S. 130.
105
Brussig, Thomas: Helden wie wir. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1988, S.20.
35
[...] vermutlich war Ferienlager eine ernste Sache. Daβ ich getrimmt wurde wie
einer, der sich für drei Wochen unter Diebe und Schurken begeben muss,
wunderte mich keineswegs, die Welt war schlieβlich voller Gefahren, wobei
Einbrecher, Tätowierte und Schokoladenvergifter bestimmt nur die Spitze des
Eisbergs darstellten.106
Auf Grund dessen kommt ein anderes Charaktermerkmal der Hauptfigur Klaus zum
Vorschein, der mit ziemlicher Sicherheit von der Schlechtigkeit anderer Menschen überzeugt
ist. Dies bedeutet für ihn zugleich eine Gefahr, die er an diesem Zeitpunkt seines Lebens noch
nicht so richtig einschätzen kann. In diesem Kontext wird eine Schwäche des Protagonisten
von ihm selbst genannt – das Sachenverlieren. Er macht sich dabei weiterhin Gedanken über
seine Ferien, die er zum ersten Mal ohne Eltern zu verbringen hat. In diesem Zusammenhang
steht Folgendes geschrieben:
Wenn mir nur die Hälfte meiner Sachen geklaut wird, könnte ich die andere
Hälfte immer noch selbst verlieren. Ich hatte nämlich den Ruf, ein sagenhafter
Sachenverlierer zu sein. [...] Ich verlor sogar Dinge, die bis dahin als unverlierbar
galten. Ich verlor meine Sandalen, obwohl ich sie anhatte.107
Während des Aufenthalts im Ferienlager erfährt der Leser von dem nächsten Komplex, an
dem die Hauptfigur Klaus leidet. Diesen Komplex redet sich der Protagonist eigentlich selber
ein, was bei der Bettenbelegung deutlich wird. Die Zentralfigur hält sich nähmlich für den
Schlechtinformiertesten. Dessen Bestätigung erhält Klaus, indem er in Streit mit seinem
Kollegen aus dem Ferienlager gerät, welcher ihm, während Klaus Abwesenheit, sein Bett
besetzt. Es kommt dabei zu keinem Handgemenge. Die zwei Jungs erledigen die
Angelegenheit auf eine nicht ganz profane Weise, die Klaus Kollege vorschlägt und was
wiederum Kindern in Klaus Alter zuzutrauen ist. Die beiden Jungs lassen sich also auf einen
Wettbewerb im Weitpinkeln ein, den der Protagonist zum ersten Mal macht und stellt fest:
Ich wunderte mich nur: Werden auf diese Weise im Ferienlager alle Fragen
geklärt? [...] Wenn das so ist, dachte ich, muss ich mich dem wohl stellen [...]. [...]
Und auβerdem sah es so aus, dass ich der einzige war, der das Spiel nicht
kannte.108
Im Ferienlager wird Klaus mehrmals in Unsicherheit bzw. Widersprüchlichkeit gegenüber der
Welt gebracht, sodass die von ihm aufgestellte These „Ich bin der schlechtinformierteste
106
107
10
Ebd., S.47.
Ebd., S.48.
Ebd., S.50.
36
Mensch“ bekräftigt wird.109 Einiges an Belegen für die Tatsache liefert uns die Szene aus dem
Ferienlager, in der Klaus von anderen Kindern beigebracht wird, wie sich Menschen
vermehren, sodass es im Text heiβt:
So wurde ich aufgeklärt: Bumsen ist Kindermachen, erklärte mir einer, um dann
ungerührt fortzufahren: >>Der Vater muss seinen Pisser in die Muschie der
Mutter stecken<<. So eine Sauerei würden meine Eltern niemals tun! Niemals!
Nie und nimmer! Welches kranke Gehirn konnte sich bloβ solche
Ungeheuerlichkeiten ausdenken?110
Die Tatsache, dass Menschen geschlechtlich verkehren, um Kinder zu bekommen, geht weit
über Klaus Vorstellungen von den Naturgesetzen hinaus. Es tritt hierbei ein Faktum hervor,
das den Bruch in Klaus zwischen idealerfüllter Seele und widerständiger Realität belegt.
Seinen kräftigen Widerspruch erhebt er mit Worten „So eine Sauerei würden meine Eltern
niemals tun! Niemals! Nie und nimmer!.“ Es besteht aber bei ihm immer wieder ein Funken
Unsicherheit, die ihn auf Gedanken wie etwa „Aber wenn es stimmt? Wenn die Kinder wieder
mal recht haben?“ bringen.111
Das Gefühl der Angst begleitet den Protagonisten Klaus ununterbrochen in der Schule. Das
Bewusstsein, gleich an die Tafel gerufen oder mit einer mündlichen Aufgabe betraut zu
werden, lässt bei ihm Bedrohungsgefühle aufkommen, die zusätzlich von der Angst, im
Sportunterricht am Reck hängen und als der letzte Flachschwimmer dastehen zu müssen,
bestärkt werden. Als er älter wird, versucht er nicht nur gesellschaftlicher Normen gerecht zu
werden, sondern unterwirft sich
restlos deren Hauptprinzipien. Dies zeigt sich an der
Tatsache, dass Klaus, angestachelt von seiner Eitelkeit als zukünftiger Preisträger, wie er
selbst behauptet, sich die marxistische Ideologie der Arbeiterklasse zu eigen macht. In
diesem Zusammenhang heiβt es im Text:
Ich glaube, mich kriegten sie auch mit der historischen Mission. Mission!
Historisch! Das es so etwas gab! Das war’s, was ich brauchte! Aha, Karl Max (der
vom Hundertmarkstein) und Friederich Engels (Fünfzigmarkschein) hatten die
historische Mission der Arbeiterklasse entdeckt. [...] Wie hilfsbereit, dass wir die
Arbeiterklasse nicht allein mit ihrer schweren historischen Mission auf dem
Buckel durch die Weltgeschichte waten lassen. Nur die Edelmütigsten unter den
Menschen – ich fühle mich immer angesprochen, wenn an Ritterlichkeit appelliert
wird – verfechten die Sache des Fortschritts. Überzeugt kann schlieβlich jeder
sein, aber wer ist bereit, Opfer zu bringen. Ich zum Beispiel mit meinen
109
Ebd., S.92.
Ebd., S.63.
111
Ebd., S.63.
110
37
Eitelkeiten als zukünftiger Preisträger. Nobelpreisträger kann im Grunde jeder
sein, vorausgesetzt, er ist so genial wie ich [...].112
In diesem Kontext tritt zugleich die Überzeugung des Protagonisten von seiner Überlegenheit
gegenüber anderen Menschen hervor, ja er hält sich für den Bestgeeigneten, der auf alles
gefasst ist, um die Erfüllung der angeblich historischen Mission der Arbeiterklasse
voranzutreiben. Er möchte gerne sich selbst als das Musterbeispiel gelten lassen. Doch selbst
die Überzeugung der Hauptfigur von seiner Überlegenheit anderen Menschen gegenüber,
lässt ihn seine Angstgefühle nicht loswerden. Er behauptet bei der Sache nicht nur mit dem
Verstand zu sein, sondern auch mit dem Gefühl, die wie er selber sagt:
Ich weiβ nämlich, dass die Gefühle, die mich da reinzogen, Gefühle waren, über
die ich nicht gerne rede: meine Ängste, mein Scham, mein Wunsch nach Gröβe,
mein Wunsch zu den Siegern im Ausdauerlauf zu gehören, mein Wunsch, es
>>richtig<< zu machen, und meine Angst zu versagen.113
Auf Grund dessen wird deutlich, dass Klaus durch die Übernahme der marxistischen
Ideologie in seine eigene Persöhnlichkeit zugleich sein Ansehen und Selbstbewusstsein
aufzupolieren versucht. Im Hinblick darauf gibt es viele identische Textstellen, an denen die
Hauptfigur seiner Ungeschicklichkeit mit einer Reihe von Fragen auf den Grund geht, sodass
es im Text heiβt:
Warum kann ich nicht mal an den Fick glauben, den ich selbst vollbracht habe?
[...]Weil ich das Kind dieser Eltern bin? Weil ich den kleinsten Pimmel habe?
Weil ich Klaus heiβe, letzter Flachschwimmer war, verschwitzt bin und nie
durchsehe? Weil ich das Gefühl habe, immer etwas falsch zu machen, selbst wenn
ich mal nichts falsch gemacht habe?114
Der Entwicklungsroman wurzelt, worauf schon hingewiesen wurde, in dem Schelmen - bzw.
Pikaroroman. Der Held ist ein picaro, also ein gemeiner Kerl von einem üblem
Lebenswandel. Hinsichtlich der Hauptfigur dieses Romans findet diese Bezeichnung ihre
Bestätigung. Klaus Uhltzscht ist eben der Multiperverse in aller Gestallt. Nachdem er die
Masturbation von anderen Jungen abgeguckt hat, führt er diese Tätigkeit auf Schritt und Tritt
aus. Er als der Ich-Erzähler versucht dies dem Leser mit den Erektionen erklären, von denen
er am laufendem Band heimgesucht wird. Seine perverse Tätigkeit begründet er, indem er
112
Ebd., S.103-104.
Ebd., S.137-138.
114
Ebd., S.137.
113
38
eine Verbindungslinie zwischen seinen Perversionen und dem System des realexistierenden
Sozialismus herstellt, sodass es im Text heiβt:
Mr. Kitzelstein, ich lege Wert auf die Feststellung, dass ich pervers wurde, um
dem Sozialismus zum Sieg zu verhelfen. Mein Forschungsgebiet war heikel; das
Verhältnis von Sozialismus und Perversion nirgends erklärt. Wie gefällt ihnen die
dialektische Einheit Sozialismus braucht Perversion, Perversion braucht
Sozialismus!115
Seine triebtäterischen Perversionen kennen keine Grenzen. Klaus Uhltzscht nimmt nähmlich
die Fluchtwelle im Jahre 1989 zum Anlass für seine perverse Tätigkeit und verkehrt
„geschlechtlich“ mit Larven des Lurchs. In diesem Kontext ist Folgendes notiert:
Dennoch erprobte ich eine neue Perversion. Ich schlich jeden Tag im Sommer 89
zu einem stillen Tümpel in der Nähe der Hochschule und fischte mit einem
feinmaschigen Käscher nach Kaulquappen, die zu Tausenden in Ufernähe lebten.
Entsprechend der täglichen Flüchtlingsquote zählte ich die Kaulquappen ab und
stopfte ich sie in einen Kondom, den ich überzog. [...] Die jeweilige Anzahl der
vergewaltigten Kaulquappen wuchs kontinuierlich. Je gröβer die Fluchtwelle,
desto wohliger wurde der Gezappel an der Trompete.116
Vor dem Hintergrund dieser Charakteristik kann schlussgefolgert werden, dass der
Protagonist Klaus Ultzscht eine komische Hauptfigur darstellt, die durchaus mit Forrest
Gump vergleichbar ist. Sie wirkt schon allein deshalb komisch, weil ihr verbissener Wunsch
zukünftig Träger des Nobelpreises zu werden und richtiger zu sein als richtig, einfach aus
dem Rahmen fällt. Ihre Komplexe, an denen sie leidet, Ängste, mit welchen sie sich
herumschlägt und Perversionen, die sie treibt, bekräftigen zusätzlich die Vorstellung bei dem
Leser von der wahnwitzigen Gründlichkeit und Sonderlichkeit des Protagonisten.
4.2 Hauptfigur und ihr soziales Umfeld – Zur Figurenkonstellation
Die Hauptfigur Klaus Ultzscht und deren soziales Umfeld stehen in einem engen
Zusammenhang zueinander. Ein prägendes Merkmal für den Entwicklungsroman Helden wie
wir ist, wie bereits angedeutet, die opportunistische Einstellung des Helden zu seiner Umwelt
und seinen Mitmenschen. Während seiner naiven und mit Idealen erfüllten Kindheit und
115
116
Ebd., S.247.
Ebd., S.255-256.
39
Jugend wird er mit einer Welt voller Gegensätze konfrontiert, in der er sich zugleich anderen
Menschen gegenüber überlegen bzw. unterlegen fühlt. Er kann dabei viele Dinge nicht
begreifen und begegnet Personen, die seine Vorstellungen von der realen Welt noch
zusätzlich in Unsicherheit bzw. Widersprüchlichkeit bringen. Es wird nun auf die
Beziehungen des Protagonisten mit anderen Figuren des Romans eingegangen, denen Klaus
innerhalb der Gesamthandlung begegnet bzw. mit denen er in einem direkten Kontakt steht.
4.2.1 Vater – Sohn – Konstellation zwischen Bewunderung und Hass
Vielleicht kann er sich nicht so richtig zeigen?
Was für eine Tragödie muss sich in seinem
Herzen abspielen: Er, der Ernährer und
Beschützer, wird von seinem einzigen Sohn
verkannt. Egal, wie unangenehm er mir war – in
seinem Innersten war er gut. Ein erdrückender
Konflikt. Ich liebte ihn, aber ich konnte ihn nicht
leiden.117
Mit diesen Worten bringt Klaus, noch als Kleinkind, sein Gefühl gegenüber seinem Vater
zum Ausdruck. Es zeigt sich hiermit der Zwiespalt in Klaus Gefühlswelt. Auf der einen Seite
bringt er viel Ehrfurcht seinem Vater gegenüber auf. Der heranwachsende Protagonist weist
auch auf die Tatsache hin, von der er in der Kindheitsphase noch fest überzeugt ist, dass sein
Vater im Innersten gut ist, ja er gilt als Klaus bewunderndes Vorbild. Doch auf der anderen
Seite kommt er mit ihm irgendwie nicht gut aus, sodass er feststellt: „Ich liebte ihn, aber ich
konnte ihn nicht leiden.“113 Seine Bewunderung des Vaters kann aber zuglich auf seine
Unerfahrenheit zurückgeführt werden. In Klaus naiver Kindervorstellung wächst sein Vater
unmittelbar zu einem Zauberer, der geradezu Wunder vollbringt. In diesem Zusammenhang
heiβt es im Text:
Der Mann wurde jeden Tag bedeutender. Wenn ich so groβ bin wie er, werde ich
auch so schnell die Wohnung aufschlieβen? Oder an Fuβgeruch laborieren? Und
wie macht er es mit den Bartstoppeln – obwohl er sich täglich rasiert, kommt er
immer wieder zu neuen. Oder Auto fahren: Ganz abgesehen davon, dass es für ihn
offensichtlich kein Problem war, mit den Füβen an die Pedale zu gelangen – er
117
113
Ebd., S.37.
Ebd., S.37.
40
schien sich sogar darin auszukennen, wann welches Pedal getreten werden
muss.118
Die Beziehung des Protagonisten zu seinem Vater unterliegt ständigen und wertenden
Verschiebungen und gilt als Ergebnis stattfindender Interaktionen. In Klaus weiteren
Lebensverlauf kristallisiert sich jedoch sein Empfinden dem Vater gegenüber heraus. Es
entwickelt sich aber nicht zum Guten, sondern zum Schlechten hin. Klaus Interaktion mit dem
Vater lässt bei dem Protagonisten Hassgefühle aufkommen.
Wir saβen am Tisch, meine Mutter zog ein Gesicht, als hätte ihr jemand den Stuhl
auf die Zehen gestellt, mein Vater reckte sich, verschränkte die Arme hinter dem
Nacken, grinste mich an – und für dieses Grinsen hasse ich ihn wirklich – und
sagte: Na endlich hast du’s rausgekriegt. Dieser Scheiβkerl, der mein Vater
war, hielt mich für einen Versager, weil ich ihm seinen Auβenhandelsjob
abgekauft habe.119
Mit vierzehn Jahren kommt der adoleszente Klaus nämlich an die Wahrheit von seinem
Vater, der als Stasiagent arbeitet. Klaus als kleinem Kind wurde jedoch eingeflüstert, dass
sein Vater im Ministerium vom Auβenhandel beschäftigt ist. Das Negative in der VaterSohn-Beziehung – und diese Beziehung gehört zu einem der tragenden Gerüste der
Figurenkonzeption im Brussigs Entwicklungsroman – speist sich auch aus Ängsten seitens
des Protagonisten. Er fühlt sich dabei ihm unterlegen und vollkommend bedeutungslos,
sodass er sogar Angstgefühle zu spüren bekommt. Im Zusammenhang damit malt sich die
Hauptfigur berufliche Umgebung seines Vaters und Aktivitäten, welche er da ausführt, aus.
Klaus nimmt an, dass sein Vater wahrscheinlich als Vernehmer fungiert, der „immer die
Lampe anknipst und ins Gesicht hält“ und bei dem man sich das Glas Wasser verdienen
muss.120 Der Abscheu vor dem ursprünglich als Bewunderungsobjekt geltenden Mann wird
bei Klaus durch die Tatsache erregt, dass sein Vater nie mit ihm spricht und falls er Klaus
meint, redet er immer auf seine Frau, also Klaus Mutter, ein. Klaus Hassgefühle dem
anfänglich als sein Vorbild geltendem Hausmann
gegenüber gelangen auf die Höchststufe
des Abscheus, als sich die Lebenszeit des Vaters dem Ende zuneigt. „Ich war in letzen
stunden an seinem Bett, bei dem Monster, der mein Vater war“ – eben mit diesen Worten
drückt die Zentralfigur sein Empfinden
gegenüber dem Vater aus. Der Zauberer, der
geradezu Wunder vollbracht hat, wird nun zum Ungeheuer, der in Klaus Augen lediglich
118
Ebd., S.38.
Ebd., S.84.
120
Ebd., S.88.
119
41
Verachtung findet. Jedoch auch in diesem Moment, in dem der nur noch bei dem
Protagonisten Abneigung erregende Mann, kurz vor dem Tode ist, wartet Klaus auf ein
Zeichen von ihm, welches ein letztes Beleg an das Gute in seinem Inneren liefern würde bzw.
welches das Gefühl der Hauptfigur ihrer ewigen Unterlegenheit und ihrer Bedeutungslosigkeit
zu verdrängen vermag. Doch auch diese Annährungsversuche, die vonseiten Klaus initiiert
werden, scheitern am Tode des Vaters, sodass es im Text heiβt:
Ich hatte noch immer Angst vor ihm. Und ich wartete immer auf ein Zeichen Vor
ihm, daβ ich sein Sohn bin und daβ er mir vertraut oder daβ er mich annimmt oder
was auch immer. Und obwohl er nur dalag und nichts tat, als vor sich hin zu
krepieren, wurde ich das Gefühl meiner ewigen Unterlegenheit, meiner unfertigen
Existenz und meiner Bedeutungslosigkeit nicht los. [...] Er schloss die Augen, und
sein Herz hörte auf zu schlagen. Nie wieder Vater, dachte ich erleichtert und
wollte singen, aber dann konnte ich es doch nicht.121
Vor dem Hintergrund dieser Konstellation Vater – Sohn lässt sich schlussfolgern, dass die
Beziehung zwischen den beiden innerhalb der Lektüre einem Wandel unterläuft, der die
gemeinsamen Relationen zwischen Klaus und seinem Vater zum Schlechten hinsteuert.
Dieses Verhältnis ist also von einem Wechsel von der Bewunderung bis hin zu den Hass- und
Abneigungsgefühlen gekennzeichnet. Eine völlig andere und mit positiven Emotionen
aufgeladene Beziehung entwickelt sich wiederum zwischen dem Protagonisten und seiner
Mutter, worauf nunmehr eingegangen wird.
4.2.2 Mutter – Sohn – Konstellation zwischen Faszination und Liebe
Wenn man Vater schon ein Stinkstiefel war und
meine Mutter das Gegenteil, dann, so sagt meine
Logik und mein Gefühl, müsste sie doch gut
sein! Verstehen Sie: GUT! Ich ahne, dass ich
jetzt den Tatsachen ins Auge sehen muβ und eine
Geschichte zu erzählen habe, die davon handelt,
wie ich das kleinere Übel vergötterte. Was blieb
mir übrig als meine Mutter zum ganzen
Gegenteil meines Vaters aufzubauen?122
Derartige Vergleich zwischen dem Vater und der Mutter des Protagonisten wird von dem IchErzähler Klaus angestellt. Schon der erste Satz dieses Textabschnitts liefert einen relevanten
121
122
Ebd., S.267.
Ebd., S.26.
42
Anhaltspunkt für die Diskrepanz zwischen dem guten Verhältnis der Hauptfigur Klaus mit
deren Mutter und dem Missverhältnis mit dessen Vater. Während der Vater als missgelaunter
und unhöfflicher Mann bezeichnet wird, wird der Mutter zwei Mal das positiv aufgeladene
Adjektiv „gut“, ein Mal sogar mit einem Ausrufezeichen, zugeschrieben.123 Somit wird die
Mutter zum Gegenteil ihres Mannes gemacht, das sich an anderen Textstellen noch mehr
herauskristallisiert. Wie bereits im Titel dieses Unterkapitels ergibt sich der Protagonist der
Faszination seiner Mutter. Ihre bezaubernde Ausstrahlung und Anziehungskraft wird von der
Hauptfigur bei der Gelegenheit hervorgehoben, als sie als Hygieneinspektorin zu einer
ärztlichen Untersuchung bezüglich des Läusebefalls zur Klaus Lernergruppe gekommen ist.
Alle beneideten mich um meine gütige, freundliche, kluge und bedeutende Mutter,
die Herrin der Geheimrezepte und schmerzloseste Ärztin weit und breit. Ich
beneidete mich ja selbst um meine Mutter!124
Der letzte Satz „Ich beneidete mich ja selbst um meine Mutter!“, der mit einem
Ausrufezeichen am Ende formuliert wird, weist auf die grenzlose Klaus Faszination von
dessen Mutter hin.125 Dass diese Faszination eine besondere und eigenartige ist, belegt die
Tatsache, dass für Klaus sogar die Art des Betretens von Räumen, die für seine Mutter
charakteristisch ist,
eine fesselnde Wirkung auf den Protagonisten hat. Im Text wird
Folgendes notiert: „Eine weitere wirklich zu würdigende Eigenschaft meiner Mutter war ihre
Kunst des Betretens von Räumen. Ohne Übertreibung: Darin war sie königlich.“126 Ihre
Leistung, die Klaus zufolge schier königlich ist, war aber schon in der Vergangenheit
exzellent, wenn es rückblickend heiβt:
Es begann, indem sie sanft die Klinke hereindrückte und die Tür weich in den
Rahmen zog. Dann öffnete sie die Tür einen Spaltweit und steckte ihren Kopf
hindurch, neugierig und selig, als trete sie vor den Gabentisch. [...] Auf diese Art
betrat sie jeden Morgen mein Zimmer, um mich zu wecken.127
Anhand dieses Zitats wird zugleich deutlich, dass die Mutter von seinem Sohn nahezu
vergöttert wird, was wiederum einen Hinweis auf eine enge Beziehung zwischen den beiden
Figuren bietet. Klaus Mutter steht von dessen Kindheit an in seiner Nähe. Sie unterbricht
nähmlich ihre Facharztausbildung, um sich um ihr neugeborenes Kind mit aller Hingabe
123
Ebd., S.26.
Ebd., S.28.
125
Ebd., S.28.
126
Ebd., S.28.
127
Ebd., S.28.
124
43
kümmern zu können. Auch anstatt ihren Sohn Klaus in den Kindergarten zu schicken, bleibt
sie zu Hause und verbringt die meiste Zeit mit ihrem Sohn. Es wird notiert:
Ich musste nicht in den Kindergarten, sondern saβ glücklich zu Hause, hantierte
mit meinen Buntstiften und malte Bilder, über die meine Mutter immer wieder in
Verzückung geriet – sie strahlte, sie lachte, sie lobte, und wenn mein Vater zum
Feierabend kam präsentierte sie ihm überschwänglich meine Mutter meine
>>Malbilder<<.128
Dieser Textabschnitt veranschaulicht auf eine explizite Weise dieses besondere Verhältnis
zwischen
Mutter
und
Sohn,
das
von
Faszination
und
Liebe beiderseits gekennzeichnet ist. Dass diese Relation der beiden Figuren von der Liebe
und Nähe geprägt ist, zeigt sich auch bei dem Anlass, als Klaus zum ersten Mal in das
Ferienlager geschickt wurde. Bei dem Abschied der Mutter von seinem Sohn kommt es zu
Zärtlichkeiten, welche dann jedoch auch ins Geschrei und Abschiedstränen seitens Klaus
übergehen. Im Zusammenhang mit dem Abschied stellt sich der Ich-Erzähler Klaus eine
Reihe von Fragen, die auf die Mutter bezogen sind:
Wie kann ich existieren ohne sie, die mich leitet und lobt und stützt und tröstet?
Was bin ich ohne sie? Wer wird vor nichts zurückschrecken, wenn es darum geht,
dass ich aufs Rettungsamt gefahren werden muβ? Sie, die alles über mich weiβ,
die immer für mich da ist, die alles alles alles für mich tut, getan hat und tun wird,
sie sollte ich hergeben für eine Fremde?129
Klaus Anhänglichkeit an der Mutter setzt nicht einmal in seiner Pubertätsphase aus, was
allerdings mit mütterlicherseits überspannter Fürsorglichkeit einhergeht. Selbst wenn Klaus
sechzehn Jahre alt wird, wird sie nicht müde zu betonen, dass er ihr Kind ist und zu tun, als er
immer noch ein Kind wäre. Es hat demzufolge, als Klaus in Folge eines Unfalls körperlich
verstümmelt ist, eine ziemlich demütigende Auswirkung auf den Protagonisten. Im
Zusammenhang wird Folgendes notiert:
Ich war hilflos wie ein Baby! Selbst auf der Toilette kam ich nicht zurecht. Wie
sollte ich ohne sie die Hose hochziehen? Wie alt war ich, als ich zuletzt vom Klo
rief: >>Mama, ich bin fertig!<< Vier, Fünf? Jetzt war ich neuzehn, und als meine
Mutter auf meinen Ruf kam, zog sie die Hose hoch, nein, sie eilte herbei, in der
Hand das Babypuder, das in unserem Haus griffbereit herumstand wie anderswo
vielleicht Aschenbecher oder Kugelschreiber, und inspizierte meinen Pinsel,
indem sie ihn mit spitzen Fingern hin und her wendete.130
128
Ebd., S.20.
Ebd., S.48-49.
130
Ebd., S.202.
129
44
Resümierend kommt aus dieser Konstellation hervor, dass die Mutter im Klaus Leben eine
immense Rolle spielt. Im Gegensatz zu dessen Vater ist sie bis zum Ende das nahezu
vergötterte Vorbild für Klaus. Ohne ein längeres Nachdenken lässt sich leicht erahnen, dass
der Protagonist in der Lage ist, alles seiner Mutter anzuvertrauen, was auf eine enge
Beziehung zwischen den beiden Figuren hinausläuft.
4.2.3 Klaus – Frauen – Konstellation zwischen Objekt der Begierde und
Liebe
Es sind auch Frauen, abgesehen von der Mutter, die einen direkten Einfluss auf die Formung
der (emotionalen/sexuellen) Persöhnlichkeit der Hauptfigur Klaus Uhltzscht ausüben.
Innerhalb der Gesamthandlung treten drei Frauen auf, die ausschlaggebend eine Spur in Klaus
Erinnerung hinterlassen. Auf die erste Frau stöβt der Protagonist noch als männliche Jungfrau
in einer Kneipe, die mit Tanzfläche versehen ist. Marina, so heiβt das Mädchen, kommt
zufällig an Klaus vorbei, um sich am Buffet Zigaretten zu kaufen. Dem Protagonist fällt sie
überhaupt nicht auf. Doch durch Anstoβen seines Begleiters Raymund mit Worten „>>Die
Figur!<<“ wird Klaus Aufmerksamkeit auf sie gelenkt.131 Es wird notiert: „Sieh an, dachte
ich, Frauen haben also eine Figur, über die man reden kann und über die man sich so seine
Vorstellungen machen kann.“132 Nachdem sie mit den gekauften Zigaretten Platz am Buffet
wieder genommen hat, wird der Blick der Hauptfigur an den Schanktisch verlagert. Von nun
an fühlt sich der Protagonist von Reizen dieses Mädchens angezogen:
Als sie die Zigaretten bekam, steckte sie sich gleich eine an, und weil ihr
schweifender Blick an unserem Tisch hängenblieb, fühlte ich mich aufgerufen, ihr
den Aschenbecher unsres Tisches zum Buffet zu tragen, denn dort war keiner.
Wie aufmerksam und hilfsbereit ich doch war! Sie lächelte mich an, und ich hielt
es für passend, zurückzulächeln. Und tatsächlich: Sie lächelte erneut.133
Nach dem Hin- und Herlächeln bestellt Miriam eine Flasche Champagner und stellt damit
eine Inszenierung vor Klaus an, sodass sie ihn in ihren Bann schlägt. Von jetzt an wird sie von
Klaus als Objekt der Begierde betrachtet. Es wird notiert:
Nein, Mr. Kitzelstein, ich will die Dinge beim Namen nennen: Sie machte es der
Sektflasche mit der Hand! Sie wichsten der Sektflasche einen! Sie klemmte sich
die Flasche zwischen die Schenkel, entfernte mit spitzen Fingern den Draht und
131
Ebd., S.124.
Ebd., S.124.
133
Ebd., S.124.
132
45
begann lächelnd, am Flaschenhals zu reiben, schnell und fest. [...] Sie wusste, was
sie tat!134
Mit begehrlichen Augen, worauf die kursivgeschriebenen bzw. mit einem Ausrufezeichen
beendeten Sätze hinweisen, schaut sich die Hauptfigur das Verhalten des Mädchens an und
geriet in immer gröβere Entzückung. Dies endet im Endeffekt im Miriams Bett, wo die
Szenerie nahezu eines Pornofilms entworfen wird. In dieser Szene kann Klaus schon wieder
mal seinen Augen nicht trauen. Es wird notiert:
In ihrer Wohnung packte sie mich am Hosenbund, sah mir tief in die Augen und
zog mich in die Küche. Sie setzt sich auf den Küchentisch, strich mir mit spitzen
Fingern über die Brust und knöpfte mir das Hemd auf. [...] Und dass man in
einem solchen Fall, von Gebierde, äh, von Begierde, das Kleid zerreiβt. 135
Somit bringt er auf eine explizite Weise seine Begierde zum Ausdruck. Doch dann gibt sich
die Hauptfigur noch der Hoffnung hin, dass aus dieser Begegnung eine Liebesbeziehung
entstehen kann. Klaus erfährt aber eine herbe Enttäuschung, indem das Mädchen namens
Miriam den Beischlaf, welchen sie vollzogen haben, zum purem Sexerlebnis erklärt. Dies
lässt den Mut des Protagonisten sinken und dessen Erniedrigungsgefühle aufkommen:
>>War da sonst nix da<<, sagte sie und blies den Rauch aus. Da saβ sie auf ihrem
Klapp-Küchenstuhl. In einem langen Hemd, das nur mit den unteren drei, vier
Knöpfen geschlossen war, die Beine lässig ausgestreckt, und degradierte mich zur
6maschiene. Ich senke beschämt meinen Blick [...].136
Vor dem Hintergrund dieser Begegnung zwischen der Hauptfigur Klaus und dem Mädchen
namens Miriam kann man schlussfolgern, dass Klaus erste Sexerfahrung ihn lediglich in
Unsicherheit bringt. Voller Hoffnung auf eine Liebesgeschichte gelangt der Protagonist zur
Erkenntnis, dass Frauen ein Objekt der Begierde sein können, über das man zudem noch ein
Gespräch führen kann. Jedoch Klaus wird auch dabei über die Tatsache aufgeklärt, dass nicht
jede intime Begegnung mit einer Frau zu der Lovestory führt. Von nun an werden
Begegnungen mit Frauen in Klaus Empfinden zur bloβen Sexangelegenheit. Einiges an
Belegen für die Tatsache liefert die Szene, in der die Hauptfigur auf eine ältere Frau mit
etwas gröβerer Gewichtsklasse, welche er selbst später als Wurstfrau bezeichnet, stöβt. Sie ist
im Augenblick der Begegnung betrunken. Klaus sieht über das Aussehen und Gewicht dieser
Frau hinweg und nimmt es zum Anlass, um sein sexuelles Selbstbewusstsein, das im letzten
134
Ebd., S.124-125.
Ebd., S.137.
136
Ebd., S.129.
135
46
Treffen mit Miriam betrübt wurde, aufzupolieren. Er schleppt sie nämlich zu ihrer eigenen
Wohnung, um mit ihr da Sex zu treiben. In diesem Zusammenhang wird Folgendes notiert:
Wie dem auch sei, ein paar Minuten später saβ ich auf ihrem Sofa und hatte mein
Gesicht in ihrer Schulter eingegraben, wo ich mich von ihren Küssen sicher
fühlte. Ferner tatschten meine Hände auf ihr herum, und ich dachte an
Wurstsorten: Bockwurst, Bierschinken, Sülzen – das ganze Sortiment. Ich zog die
Schleife ihrer Bluse auf. Sie öffnete mir die Hose und fing an zu lachen.137
Auch diesmal erlebt der Protagonist eine Erniedrigung. Sein Glied, dessen Gröβe zu Klaus
Komplexen gehört, wird von dieser Frau ausgelacht, sodass es nicht mal zum
Geschlechtsverkehr zwischen den beiden Figuren kommt. Es wird notiert:
Sollte das heiβen, dass all diese Küsse, die ich über mich ergehen lieβ, umsonst
waren? Dann hätte ich mich sexuell missbrauchen lassen, ohne selbst zu
miβbrauchen?138
Der Hauptfigur gelingt es also nicht, durch den Missbrauch der älteren Frau sein sexuelles
Selbstbewusstsein aufzubessern. Der Protagonist wird vielmehr von ihr demütigt, ja es wird
in dieser für Klaus peinlichen Situation auf dessen Achillesferse getreten. Diese für ihn
unglückliche Strähne, die mit sexuellen Enttäuschungen geprägt ist, wird jedoch mit der
Begegnung seiner einzigen Liebesgeschichte durchbrochen. Es wird notiert:
Soviel vorweg: Wir duzten uns, und die Geschichte mit Yvonne ist die einzige
Liebesgeschichte meines Lebens, eine Liebesgeschichte, die so scheißtraurig ist,
dass ich sie nicht erzählen würde, wenn ich nicht musste.139
Diese Liebesgeschichte geht nämlich auf eine von Klaus verlorene Kundenquittung von dem
Schuhmeister zurück. Dieser Schnipsel wird von der Yvonne gefunden, die gleich Klaus
anruft, um ihm mitzuteilen, sie hat seine Kundenquittung von dem Schuhmeister gefunden.
Klaus Mutter lässt ihn sich mit einem Blumenstrauβ bei ihr zu bedanken. Die Hauptfigur lernt
bei diesem Anlass, dass Frauen sich gerne mit Blumen beschenken lassen. Es wird notiert:
„Ich kenne mich mit Blumen nicht aus, ich weiβ auch nicht, was an Blumen schön sein soll,
warum sich Leute gegenseitig Blumen schenken ist mir ein Rätsel ...“140 Klaus verliebt sich in
Yvonne auf den ersten Blick. Doch erst nach einer längeren Zeit nach dem ersten
gemeinsamen Treffen entscheidet sich Klaus ihr mit seinen Liebesgefühlen zu offenbaren.
137
Ebd., S.189-190.
Ebd., S.190.
139
Ebd., S.214.
140
Ebd., S.214.
138
47
Sein Empfinden zu ihr wird stärker als seine Anfälligkeiten für triebtäterische Aktivitäten und
veranlassen ihn zum Schreiben eines Liebesbriefes an sie. Klaus Liebe wird von Yvonne
erwidert und die beiden verbringen viele schöne Augenblicke miteinander. Doch während
Klaus zum ersten Mal Sex mit ihr hat, pendelt sich Klaus Unverständlichkeit im Hinblick auf
geschlechtliche Kontakte mit Frauen wieder ein. In dem Zusammenhang wird notiert:
Und dann sagte sie, was sie nicht hätte sagen dürfen, jene drei Worte, nein, nicht
die drei Worte; sie flüsterte: >>Tut mir weh!<< Oje, das war zuviel für mich,
verstehen Sie mal, ich hatte mich zwar im Geiste damit abgefunden, einen Engel
zu ficken, aber das ich ihr weh tun sollte, wo ich ihr theoretisch meine Liebe
beweisen müsste – nein, das war wirklich zuviel für mich. [...] Ich stand auf, zog
mich an und ging.
Diese Ereignisse, welche die Szenen der Hauptfigur mit den Frauen ausmachen, motivieren
auf eine gewisse Weise Klaus triebtäterisches Verhalten und werden somit in einen kausalen
Zusammenhang eingebetet. Die gescheiterten Versuche des Protagonisten, mit welchen er
sein Verständnis gegenüber den Frauen zu finden sucht, lassen ihn nicht mal seine Komplexe
wegstecken. Mit Demütigung wird er dabei vielmehr in seine empfindlichste Stelle getroffen,
die sein kleines Glied ist. Die Beziehung der Hauptfigur zu den Frauen bleibt also angespannt,
bis es zum Treffen mit Yvonne kommt. Von dieser Begegnung an scheint das Empfinden des
Protagonisten zu dem schönen Geschlecht auf die richtige Bahn gelenkt zu sein. Doch dieser
scheinbare Eindruck verliert bei dem Beischlaf der Hauptfigur mit Yvonne an seiner
Gültigkeit, sodass Klaus Unverständnis den Frauen gegenüber unverändert bleibt.
4.3 Erzählinstanzen
Ich darf von mir behaupten, durch ein ganzes Panzerregiment Geburtshilfe
genossen zu haben, ein ganzes Panzerregiment, das am Abend des 20. August
1968 in Richtung Tschechoslowakei rollte und auch an einem kleinem Hotel im
Dörfchen Brunn vorbeikam. In dem meine Mutter, mit mir im neunten Monat
schwanger, während ihres Urlaubs wohnte. Motoren dröhnten, und Panzerketten
klirrten aufs Pflaster. In Panik durchstieβ ich die Fruchtblase, trieb durch den
Geburtskanal und landete auf einem Wohnzimmertisch. Es war Nacht, es war
Hölle, Panzer rollten und ich war da: Die Luft stank und zitterte böse, und die
Welt, auf die ich kam, war eine politische Welt.141
141
Ebd., S.5.
48
Mit diesen Worten des Ich-Erzählers beginnt der Entwicklungsroman von Thomas Brussig
Helden wie wir. Die Hauptfigur Klaus Uhltzscht, der zugleich den Ich-Erzähler ausmacht,
wird von einem Journalisten des New York Times interviewt. Daher zieht er ein Fragment aus
seinem Tagesbuch heran, das die Begebenheiten an seinem Geburtstag wiedergibt. Durch die
Figur eines persönlichen Erzählers, der als vermittelnde Instanz auf die Bühne tritt, wird für
den Leser schon mit dem ersten Satz erkennbar, dass hier eine Geschichte erzählt wird. Wenn
man in Betracht zieht, dass bei der Analyse narrativer Texte nicht nur das Erzählte, sondern
auch
der
Vorgang
der
Vermittlung
mitsamt
allen
erzähltechnischen
Verfahren
durchzuleuchten sind, so liefert schon der erste Satz einen relevanten Anhaltspunkt für den
Deutungsprozess.142 Es ist nämlich auf der einen Seite von einem „Damals“ und dem
dazugehörigen Bild der Vergangenheit die Rede. Auf der anderen Seite jedoch fällt auf, dass
der Ich-Erzähler von Begebenheiten berichtet, die er im Prinzip noch nicht so richtig erlebt
hat, weil er damals schlechthin erst die Fruchtblase seiner Mutter durchzustoβen am Werke
war. Trotzdem wirkt dieser Textabschnitt, als ob dieses Ereignis aus der Sicht eines
Handlungsbeteiligten
erzählt
werden
würde,
der
einen
privilegierten
aber
nicht
notwendigerweise vollständigen Überblick über das Geschehen hat. Durch den schildernden
Rückgriff auf das „Damals“ liegt zugleich im ersten Ansatz – um es mit Franz K. Stanzel
auszudrücken – eine Erzählsituation vor, die durch das Zusammenspiel zwischen dem
„erlebenden“ und dem „erzählenden Ich“ mit der Ich-Erzählsituation gleichzusetzen ist.143
Wenn also schon durch den ersten Satz – mindestens ansatzweise – die Erzählform
bestimmbar ist, werden des Weiteren andere Merkmale des Erzählers herausgearbeitet : 1) die
Erzählerposition mit der Frage nach der Intensität seiner Involviertheit in die erzählte
Geschichte; 2) der Modus der Erfahrung der erzählten Geschichte mit dem Fokus auf die
Erlebensdimension oder eine sachliche Vermittlung von Geschehensmomenten, die zu einer
perspektivierten Geschichte verknüpft werden; 3) die Erzählperspektive, bei der eine
Fokussierung auf die Innen- oder die Außenwelt vorherrschen kann und 4) die Erzählhaltung,
die direkte oder indirekte Bewertungen enthalten kann.144
Der Erzähler spielt nicht nur die Rolle der Vermittlungsinstanz, die in die Geschichte einführt,
sondern er ist mit seinen Reflexionen und Kommentaren ständig auf dem Plan. Er äußert sich
nicht nur zu Handlungen anderer Figuren und zu wahrgenommenen Zuständen und
Vgl. Zimniak, Paweł: Zwei Lieben in Deutschland – Zum narrativen Muster deutsch-polnischer
Liebesgeschichten im Adoleszenzroman Jens Petersens „Die Haushälterin“. Warszawa 2008, S.1.
143
Vgl. Stanzel, Franz K.: Typische Formen des Romans. Göttingen 1987 (11. Aufl.), S.33.
144
Vgl. Zimniak, Paweł: Zwei Lieben in Deutschland – Zum narrativen Muster deutsch-polnischer
Liebesgeschichten im Adoleszenzroman Jens Petersens „Die Haushälterin“. Warszawa 2008, S.1.
142
49
Geschehnissen, sondern versucht seine eigene Position zu bestimmen. In dem Sinne äuβert er
sich durch seine Gedanken- und Gefühlswelt zum vermeintlichen Beruf seines Vater, welcher
nach der Überzeugung des Ich-Erzählers als Auβenhändler arbeitet, sodass es heiβt:
Was mir als der erbarmungsloseste aller Berufe vorkam, seitdem ich auf dem
Weihnachtsmarkt einen Zuckerwatteverkäufer gesehen hatte, der sich frierend an
seinen Becher Tee klammerte. Ein Bild des Jammers. Mir leuchtete ein, dass man
von diesen Auβenhändlern keine gute Laune erwarten sollte, ihr Dasein war hart
und voller Entbehrungen. Während ich mit meinen Malbildern beschäftigt bin,
muss mein Vater zähneklappernd auf der Straβe stehen oder sich vom Regen
durchweichen lassen – und dann wunderte ich mich, warum er nie in
Familienvaterlaune die Tür aufschlieβt: >>Hallo, hallo, was hat denn unser kleiner
Indianer heute gemalt? <<145
Der Ich-Erzähler gibt sich an solchen Textstellen auktorial – und dies erfolgt trotz der
Tatsache, dass er ein fester Bestandteil der fiktionalen Welt ist und in sie weder von außerhalb
eingreift noch an ihrem Rande steht –, weil er hier als Beobachter in einer kommentierendwertenden Rolle auftritt. Die beobachtete Figur des Vaters wird für ihn zum Anlass für
Reflexion.146 Die Ausrüstung mit auktorialen Merkmalen geht jedoch nicht so weit, dass der
Erzähler die Funktion eines „Allwissenden“ im Sinne von unbegrenzten Kenntnissen über die
Beschaffenheit der Diegese ausübt, denn sein Blickwinkel ist auch durch das Alter begrenzt.
Für den Erzählvorgang innerhalb des ganzen Textes ist charakteristisch, dass der Fokus
gleichzeitig sowohl auf die Innen- als auch die Außenwelt fällt. Einiges an Belegen für die
Tatsache liefert uns die Textstelle, an der Klaus der Ich-Erzähler sein politisches Weltbild
darlegt. Einen groβen Einfluss auf die Formierung des Weltbildes des Ich-Erzählers übt das
damalige kommunistische System aus, dessen Werte und Weltvorstellungen in das fiktionale
Universum eingebettet sind. Dies bestätigt die Halbwachs Theorie von der sozialbedingten
individuellen Erinnerung, deren Existenz eine Voraussetzung für die Entstehung von
Sinnwelten des Individuums ist, welches sich dementsprechend an
bestimmte soziale
Gepflogenheiten angleicht. In Anlehnung an die Weltkarte wird die ganze Welt von Klaus in
4 Teile aufgegliedert, denen wiederum 4 verschiedene Farben zugeteilt werden. Die
sozialistischen Länder sind allerdings rot, was auf die Farbe der Arbeiterfahne, der
Arbeiterbewegung zurückgeht. Grün werden junge Nationalstaaten kenntlich gemacht. Sie
sind aber nach Klaus Position fast rot, „[...] weil Tomaten zum Beispiel ja auch erst grün sind,
145
146
Brussig, Thomas: Helden wie wir. Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 1988, S.22.
Vgl. Zimniak, Paweł: Zwei Lieben in Deutschland – Zum narrativen Muster deutsch-polnischer
Liebesgeschichten im Adoleszenzroman Jens Petersens „Die Haushälterin“. Warszawa 2008, S.4.
50
bevor sie selbstverständlich rot werden.“ Erst dann haben sie ihm zufolge die nötige Reife.
Durch die Hervorhebung der Reife und der Tatsache wird auch deutlich wie das Denken des
Ich-Erzählers von der Sowjet – Enzyklopädie147 beeinflusst ist. Die dunkelblaue Farbe teilt er
den kapitalistischen Ländern und die hellblaue wiederum den Kolonien zu. Es wird notiert:
Hellblau hingegen waren die Kolonien, was ich so deutete, daβ diese Länder
kapitalistisch sein müssen, aber es eigentlich nicht wollen – die sind mit dem
Herzen nicht richtig dabei, die werden zum Kapitalismus gezwungen und würden
gerne anders, wenn man sie nur lieβe.148
Das auf eine explizite Weise dargestellte Weltbild lässt nicht nur eine spezifische
innerpsychische Realität beim Ich-Erzähler erkennen, sondern hängt mit einer sachlichen
Vermittlung von Einzelheiten zusammen, die bildverstärkend sind und die Hauptfigur als
Erzählinstanz besser zum Vorschein kommen lassen.
Überwiegend gibt sich Klaus als der Ich-Erzähler mit auktorialen Merkmalen zu erkennen,
was bereits im Obigen dargelegt wurde. Jedoch an einigen Stellen wird der Ich-Erzähler zur
personalen Erzählinstanz. Es wird dann meistens von Worten einer anderen Figur erzählt. Es
sind entweder kurze Sätze, die als eine Art Kommentar zum Betragen einer andern Figur
gelten oder es werden sogar ganze Dialoge eingeschoben. Falls ein Dialog angeführt wird,
dann ist zugleich Klaus die Hauptfigur an der Handlung beteiligt. Ein prägnantes Beispiel
dafür gilt die Szene, in der Klaus seine Wohnung abzuschlieβen vergisst und demzufolge von
seinen Eltern zurechtgewiesen wird. Doch bei der Auferlegung der Strafe für Klaus kommt es
zu einem Gespräch zwischen den Eltern, sodass es im Text heiβt:
Ich bitte Sie, ich wurde nie geschlagen oder angeschrien, und selbst wenn ich
bestraft werden sollte, mussten meine Eltern wie in jedem Schwurgerichtprozeß
zu einem einstimmigen Urteil kommen, was manchmal gar nicht so richtig war.
Sie: >>Wir müssen doch nicht immer so streng...<< Er >>Willst du durchgehen
lassen...<< Sie: >>Aber wenn er verspricht...<< Er: >>Ja, soll er davonkommen,
ohne...<< 149
Vor dem Hintergrund der Analyse der Erzählinstanzen kann schlussgefolgert werden, die
Hauptfigur Klaus erfüllt seine Rolle des Ich – Erzählers in sehr weitem Maβe, sodass sie sich
erzählerisch auf weitgehende Beschreibung von
Ereignissen einlässt, an die sie sich
grundsätzlich nicht zu erinnern im Stande ist. Ein prägnantes Beispiel dafür ist der Anfang des
147
Ebd., S.76.
Brussig, Thomas: Helden wie wir. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1988, S.94.
149
Ebd., S.36.
148
51
Romans, der als Zitat oben herangezogen wurde. Als Schlussfolgerung gilt auch die Tatsache,
dass der Ich – Erzähler nicht nur die Rolle der Vermittlungsinstanz übernimmt, sondern auch
mit seinen Kommentaren und Überlegungen andauernd gegenwärtig ist und somit seine
eigene Position zum Verhalten anderer Figuren einnimmt. Dies trägt nicht zuletzt dazu bei,
dass das Erzählen wie aus der auktorialen Perspektive zu erfolgen scheint, weil der Erzähler
sich als Beobachter in einer kommentierend-wertenden Rolle zu erkennen gibt. Sein Fokus
fällt dabei nicht nur auf die Innenwelt, sondern auch auf die Auβenwelt, was das Beispiel von
Klaus Weltbild deutlich belegt. Des Weiteren muss darauf hingewiesen werden, dass auβer
den ich – bezogenen Erzählsituationen, die innerhalb des ganzes Textes hauptsächlich
anzutreffen, kommen auch personale Stellen vor.
4.4 Raumentwurf
Die Raumgestaltung im Rahmen der Literatur teilt, worauf bereits im theoretischen Teil
hingewiesen wurde, nicht nur einen Handlungsort den Figuren zu. Durch die jeweilige
Raumkonstruktion wird vielmehr eine für den jeweiligen Text typische Stimmung und
Atmosphäre entfaltet und ein Ort für figurales Denken, Fühlen gegeben. In diesem Sinne ist
der Raum im Roman Helden wie wir entworfen. Als Beleg gilt die Szene, in welcher der
Protagonist
sich
in
dem
Wartesaal
in
der
Zentralstelle
zur
Bekämpfung
der
Geschlechtskrankheiten befindet. Diese Visite in der Praxis geht auf den ersten
Geschlechtsverkehr der Hauptfigur Klaus zurück, während dessen sich Klaus womöglich, so
seine Eltern, mit dem Tripper infiziert hatte. Selbst das Betreten des Raumes gibt der
Hauptfigur eine Gelegenheit zum Nachdenken und Knabbern. Es wird notiert: „Ich berühre
nicht mal meinen Pinsel ohne triftigen Grund und soll nun eine Klinke für Geschlechtskranke
einfach so anfassen?“150 Dies belegt zugleich die Tatsache, dass das Phänomen der
Räumlichkeit, um es mit Paweł Zimniak auszudrücken, Verstehens- und Erklärungsmodelle
für die Analyse der Relationen von symbolischen Räumen liefert.151 Im weiteren Verlauf der
Szene wird von der Hauptfigur der Wartesaal als Ort für Gedanken des Protagonisten
dargestellt. Es wird von dem Ich – Erzähler notiert:
150
151
Brussig, Thomas: Helden wie wir. Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 1988, S.140.
Vgl. Zimniak, Paweł: Poetische , Logik ’ der Raumperformationen – Raum als Stimmungsträger.
(Manuskript).
52
Im Wartezimmer standen Stühle. Sollte ich meinen Arsch auf Stühle setzen, auf
denen ... Ich, der ich keine Klobrilleberührte, ebensowenig, wie ich meine Hose
auf einbezogenes Bett lege, sollte mich setzen? Auf diese Stühle? [...] Jeder
wusste, dass jeder weiβ, weshalb man hier ist, aber niemand wusste vom andern
Genaues.152
Auf Grund dessen wird auch deutlich, dass Raumvorstellungen mit (Raum)Deutungen
einhergehen. Deshalb sind die im Bereich dichterischer Rede erfolgenden „[...] räumlichen
Inszenierungspraktiken als Formen von Identifikations- oder Distanzierungsstrategien [...]“
aufzufassen.153 Räumlichkeit innerhalb eines fiktionalen Textes darf jedoch nicht als getreues
Abbild der Wirklichkeit genommen werden, denn sie stellt nicht die Wirklichkeit, sondern
eine spezifische Form der Weltauffassung von den Figuren dar. Dementsprechend ist die
Küche in Brussigs Roman entworfen. Die Küche als Raum zum Kochen, Backen, Zubereiten
der Speisen und in dem man auch isst, wird in Gedanken- und Gefühlswelt des Protagonisten
Klaus zum Gerichtssaal umfunktionalisiert, sodass es im Text heiβt:
Mein Vater stellte seine Tasse ab, dass es klirrte, und sah mit hönischen Triumph
meine Mutter an – Was, verehrte Frau Richterin, brauchen Sie denn noch an
Beweisen für das Versagertum unseres Angeklagten? Hatte ich schon gesagt, dass
ich mich beim Abendbrot immer klein, dumm, ahnungslos, fehlentwickelt,
minderbemittelt, unwürdig fühlte? Daβ ich mich immer wie vor einem
amerikanischen Schwurgericht fühlte? Mit einem Vater dem Staatsanwalt,
Vertreter der auf Ruhe und Ordnung bestehenden unbescholtenen Bürger, und
einer verständnisvollen Richterin, die nicht gerne strafte, aber immer und
unermüdlich auf meine Einsicht hinarbeitete. Selbst wenn ich fragte, wie groβ
eines Tages mein Pulver sein wird.154
Dieses Zitat gibt auch eine Auskunft über das Verhältnis der Hauptfigur zu deren Eltern,
welche hiermit die Mutter als Richterin, welche nicht gern straft und der Vater als
Staatsanwalt, welcher Anklage gegen seinen Sohn Klaus erhebt. Dieser Raum hier ist eine –
so Paweł Zimniak - „[...] mit Sprachzeichen und narrativ erzeugte Konstruktion, die nicht nur
kulissenhaft als zum Setting gehörend eine textkonstitutive Funktion erfüllt, sondern auch
performativ über die Subjekt - Objekt Beziehung konstituiert wird.”155 Somit steht die Küche
als Raum im Sinne des Relationalen und Performativen in einem engen Zusammenhang mit
der Empfindung und Wahrnehmung der Hauptfigur, sodass die Küche sich als ein besonderes
152
Brussig, Thomas: Helden wie wir. Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 1988, S.141.
Zimniak, Paweł: Poetische , Logik ’ der Raumperformationen – Raum als Stimmungsträger.
(Manuskript).
154
Brussig, Thomas: Helden wie wir. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1988, S.56.
155
Zimniak, Paweł: Poetische , Logik ’ der Raumperformationen – Raum als Stimmungsträger.
(Manuskript).
153
53
„Empfindungsmaterial” erfassen lässt.156 Dies belegt auch Lotmans These, dass die räumliche
Ordnung in der Diegese zum zentralen und aufbauenden Element wird, dem auch andere nicht
nur räumlichen Komponenten unterworfen sind.
4.5 Zeitlicher Ereignisrahmen
Scheffel und Martinez greifen in ihrer Einführung in die Erzähltheorie drei Grundbegriffe der
Handlung narrativer Texte auf. Das sind Ereignis(Motiv), Geschehen, Geschichte. Das
Ereignis oder Motiv bezeichnen sie als die kleinste und elementare Einheit der Handlung. Sie
beziehen sich dabei auf Thomas Tomaševskij, der das Ereignis als die Mikroebene bzw. die
Grundstruktur eines narrativen Textes versteht. Helden wie wir von Thomas Brussig ist ein
Entwicklungsroman, der eine ganze Reihe von Einzelheiten über Erfahrungen und Erlebnisse
des Protagonisten und deren psychologische Verarbeitung bzw. Integration in seine eigene
Persöhnlichkeit schildert. Die Erzählung umspannt einen Zeitrahmen von der Geburt der
Hauptfigur, die symbolträchtig mit dem Einmarsch der russischen Truppen in die
Tschechoslowakei am 20. August 1968 zusammenfällt, bis zur Öffnung der Berliner Mauer
am neunten November 1989. Bis dahin werden die ersten 21 Lebensjahre des Protagonisten in
der DDR erzählt, die symbolhaft mit den 21 Sterbejahren des Sozialismus exakt ineinander
fallen, denn seine Geburt in „eine politische Welt“ erfolgt am zwanzigsten August 1968, dem
Tag des Einmarsches der Warschauer Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei.157 Der Held
wächst auf als Einzelkind zweier Eltern, die antagonistischer kaum sein können: die Mutter
stets sorgfältig, fürsorglich, alles erläuternd, auf Ausgleich bedacht – der Vater ewig
verdüstert, mürrisch, schweigsam, streitsüchtig. In ihrer Erziehung allerdings ergänzen sie
sich auf fatale Art und Weise: Ihr Sohn wird immer „klein“ gehalten, bleibt Außenseiter, fühlt
sich als Versager. Den Kern seines Minderwertigkeitskomplexes macht das aus, was
Heranwachsende in der Regel auch am meisten beschäftigt – die Sexualität. In dieser Hinsicht
erlebt sich der geistig überlegene Protagonist gegenüber Gleichaltrigen als hoffnungslos
zurückgeblieben. Am meisten leidet die Hauptfigur unter der Zwangsvorstellung, ein zu
kleines Glied zu haben. Sein Minderwertigkeitsgefühl hat eine logische Kehrseite – den
Größenwahn. Schon der kleine Klaus träumt davon, wegen seiner besonderen Qualität als
156
157
Ebd., (Manuskript).
Brussig, Thomas: Helden wie wir. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1988, S.5.
54
Nobelpreisträger bekannt zu werden. Neben diesem egoistischen Motiv treibt ihn aber auch
ein aufopferndes an: Er will außerdem im Namen des kommunistischen Staates als
historischer Missionär agieren. Beides zusammen macht ihn anfällig für die Propaganda des
kommunistischen Staatssystem und letztlich zu einem Mitarbeiter der Stasi, wodurch er in die
Fußstapfen des Vaters tritt, auch wenn das seinen Gefühlen gegenüber dem Vater äuβerst
widerspricht und sein Unmündigsein verlängert. Die neue Tätigkeit hindert seine leicht
reizbare Phantasie nicht. Sie verführt ihn zu noch extremeren sexuellen Perversionen, die er
mit den Grundlagen des Sozialismus in Zusammenhang bringt. Die Betätigung in Kreisen der
Stasi erzeugt in ihm zugleich ein erhebliches Maß an krimineller Energie, die nur durch den
Gang der Geschichte zu guter Letzt gewendet wird. Im Schlusskapitel Der geheilte Pimmel
wird die sexuelle Metaphorik des Romans konsequent fortgesetzt. Der Außenseiter arbeitet
sich hoch zum Anführer einer Menge, die noch mit der Berliner Mauer geschlagen zu sein
scheint, die er vor ihnen mit seinem Penis zum Einsturz bringt. Dementsprechend können aus
dem gesamten Text 4 Ereignisse herausgesondert werden, die in Folge ihrer chronologischen
Aufeinanderreihung zum Geschehen werden. Anschlieβend werden sie durch die Motivierung
–
um
es
mit
Scheffel
und
Martinez
auszudrücken
–
in
einen
kausalen
Erklärungszusammenhang eingebettet und somit zu einer komplexen Geschichte integriert.158
Dass der Zusammenhang einer Geschichte durch die motivationale Verbindung der
dargestellten Ereignisse hergestellt wird, ist ein allgemeines Merkmal narrativer Texte.159
Das erste Ereignis also, mit dem Klaus, wie er selbst meint, nobelpreisverdächtige
Lebensgeschichte eingeleitet wird, ist eben seine Geburt. Wer wie Klaus Uhlzscht am
zwanzigsten August 1968, dem Tag an dem der Prager Frühling durch
Panzer des
Warschauer Vertrag-Staaten beendet wurde, muss für historische Aufgaben auserkoren sein,
so selbst der Protagonist Klaus:
Mr. Kitzelstein, wie Sie sehen, habe ich, meiner historischen Verantwortung voll
bewusst, bereits damit begonnen, die Geschichte meines Lebens aufzuschreiben,
auch wenn ich gestehen muss, dass ich in zwei Jahren nicht über den ersten
Absatz hinausgekommen bin.160
Diese Tatsache, dass der Protagonist an diesem besonderen Tag geboren wurde, ist für ihn ein
Beweggrund für das Schreiben eines Notizbuches, das dessen autobiographische Züge enthält.
Dessen Bewusstsein lässt auch bei ihm Gefühle des Gröβenwahns aufkommen, was er selbst
158
Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2005, S.110.
Vgl. edb., S.118.
160
Brussig, Thomas: Helden wie wir. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1988, S.5.
159
55
als seine hervorstechende Eigenschaft bei jeder Gelegenheit hervorhebt. Das erste Ereignis,
das mit der Geburt des Protagonisten zusammenfällt, wird auf Grund Klaus (krankhaft)
übersteigerten Geltungsdrangs zum Geschehen, nachdem die Hauptfigur als Neunjähriger auf
die Titelseite der auflagestärksten Zeitung - der Neuen Berliner Illusrtierten gekommen ist.
Von diesem Geschehen wird Klaus Gröβenwahn „angekurbelt“, der erst beim ersten Ausflug
ins Ferienlager gedämpft wird. Das zweite Ereignis, das man bei der Analyse dieses Romans
unter dem Aspekt des zeitlichen Ereignisrahmens heraussondern kann, ist der Klaus zum
ersten Mal erigierte Penis. Sein Glied versteift sich nämlich in die Erektion beim Anblick
einer Fernsehshowmoderatorin. Die Hauptfigur verfällt dabei in Entzückung. Es wird notiert:
Ich war nicht vorbereitet! Was war das? Jawohl, mein erster, Dagmar Fredericks
Augenschlag und ihr chansonetter Tonfall bescherten mir den ersten Steifen. Mein
erster richtiger Steifer! Was für ein Gefühl! Heiβ war er und irgendwie
abenteuerlich, und einemmal begriff ich, was zwischen Männern und Frauen
abgeht: Daß Männer ständig versuchen, Dinge zu tun, die Frauen mit Blicken
hanorieren, die so was auslösen.161
Von nun an wird Klaus ständig von Erektionen „heimgesucht“ und das ist von Belang für den
Weitergang der Lebensgeschichte der Hauptfigur, wenn man bedenkt, dass Klaus nach
gescheiterten Versuchen mit Frauen mit 21 Jahren Kaulquappen in einen Kondom stopft und
sie „vergewaltigt“. Auf dem Werdegang zum Multiperversen wird aber die Yvonne – Episode
eingeschoben. Die Yvonne – Episode ist die erste und zugleich einzige Liebesgeschichte des
Protagonisten. Die Begegnung der Hauptfigur mit Yvonne ist ebenfalls wie die mit den
vorherigen Frauen zum Scheitern verurteilt. Diese Episode spielt aber für die chronologische
und kausale Weiterentwicklung der Haupthandlung keine Bedeutung und somit ist lediglich
eine Nebenhandlung. Das dritte Ereignis in der Lebensgeschichte der Hauptfigur ist deren
Abiturzeit. Zu dieser Zeit geht Klaus auf Geheiβ seines Vaters zu einem Nachmittagstreffen
der Offiziersbewerber. Nichts ahnend wird er von der eingesetzten Kommission auf seine
Arbeitstauglichkeit in dem Staatssicherheitsministerium hin überprüft. Dieses Ereignis wird
zum Geschehen integriert, indem Klaus ein paar Monate später zu einem Zwiegespräch mit
einem Instrukteur des Staatssicherheitsdienstes eingeladen wird. In diesem Gespräch stellt
sich heraus, dass die Hauptfigur in die Reihen der Stasi einverleibt wird. Von nun an träumt
Klaus davon, als Topagent bei der Stasi zu arbeiten. Daher arbeitet er von diesem Zeitpunkt
an tüchtig auf seinen beruflichen Aufstieg hin. Er unterwirft sich dabei restlos der Ideologie
161
Ebd., S.67.
56
des Sozialismus und versucht alles richtiger als richtig zu machen, was zugleich mit seinem
Wunsch,
zukünftig
als
Nobelpreisträger
dazustehen,
und
seinem
Gröβenwahn
zusammenhängt. Es wird notiert:
Ich glaube, mich kriegten sie auch mit der historischen Mission. Mission!
Historisch! Das es so etwas gab! Das war’s, was ich brauchte! Aha, Karl Max (der
vom Hundertmarkstein) und Friederich Engels (Fünfzigmarkschein) hatten die
historische Mission der Arbeiterklasse entdeckt. [...] Wie hilfsbereit, dass wir die
Arbeiterklasse nicht allein mit ihrer schweren historischen Mission auf dem
Buckel durch die Weltgeschichte waten lassen. Nur die Edelmütigsten unter den
Menschen – ich fühle mich immer angesprochen, wenn an Ritterlichkeit appelliert
wird – verfechten die Sache des Fortschritts. Überzeugt kann schlieβlich jeder
sein, aber wer ist bereit, Opfer zu bringen. Ich zum Beispiel mit meinen
Eitelkeiten als zukünftiger Preisträger. Nobelpreisträger kann im Grunde jeder
sein, vorausgesetzt, er ist so genial wie ich [...].162
Somit wird der Fortgang der Geschichte bzw. das Handeln der Hauptfigur durch kausale
Motivierung veranschaulicht.. Dies erfolgt auf eine explizite Weise durch die erklärende
Aussage des Protagonisten, wessen Beleg das obige Zitat ist sich unverzüglich im
Staatsicherheitsministerium stellen, ohne von den Gründen dafür erfahren zu haben.
Überschwänglich und sich der Hoffnung hingebend, mit einer geheimen Aufgabe betraut zu
werden, eilt die Hauptfigur ins Ministerium. Im Ministerium erwartet ihn ein in dem Roman
als Riechfinger bezeichneter Doktor, welcher Klaus eine Bereitschaftserklärung zur
Blutspende vorlegt. Ohne lange
überlegt zu haben, unterschreibt der Protagonist dieses
Dokument und stellt sich darauf hin eine Reihe von Fragen:. Zu diesem Zeitpunkt des Lebens
des Protagonisten wird in die Geschichte eine Episode eingeschoben, die ein Teil der
Haupthandlung ausmacht. Sie wird hiermit als die Honecker – Episode genannt. Sie wird in
die Szene eingesetzt, in der Klaus einen Anruf eines Staboffiziers mit der Nachricht bekommt,
er sollte
Für wen darf ich bluten? Nur für einen Star? Oder für die gesamte
Olympiamannschaft? Oder nur für meine Blutgruppe? Die Gewichtheber? Die
Leichtathleten? Die Kraft- oder die Ausdauersportler? Oder vielleicht sogar die
Schwimmer? Mein Blut schwimmt zahllosen Siegen entgegen!
Über die Blutspende und den Aufenthalt im Regierungskrankenhaus kommt es zur
Begegnung der Hauptfigur mit dem Blutnehmer, welcher der stärkste Mann in der DDR war –
Erich Honecker. Dieses Treffen ist für den Protagonisten sehr wichtig, wenn man bedenkt,
162
Ebd., S.103-104.
57
dass Klaus den Job des Topagenten der Stasi begehrt. In diesem Zusammenhang heiβt es im
Text:
Ich lächelte, ich war froh, dass wir uns endlich getroffen hatten. Wir hatten groβe
Dinge zu besprechen. Schwierige Zeiten standen bevor, aber er hatte mich nicht
vergessen. Klar wir werden was wegen dieser Fluchtwelle aushecken müssen.
In dem obigen Zitat gibt sich die Hauptfigur als der engste Verbündete Honeckers zu
erkennen, was aber nach dem Verlassen des Krankenhauses von Klaus ohne Nachklang
verbleibt. Mithin geht Klaus verbissener Wunsch, als Topagent Geheimaufträge für die Stasi
auszuführen, in Auflösung. Das vierte Ereignis innerhalb der Gesamthandlung ist der 4.
Oktober des Jahres, in dem die Berliner Mauer fiel. An diesem Tag rotten sich die DDR –
Bürger erneut am Alexander Platz zusammen, um gegen staatliche Organen zu protestieren.
Von Schuldgefühlen gequält, die letzen Tage zuvor als Stasiarbeiter viele unbescholtene
Bürger mit stärkster Gewalt festgenommen zu haben, eilt der Protagonist Klaus Uhlzscht auf
den Alexander Platz, um bei den groβen Demonstrationen mitzumachen, ja er wechselt die
Seiten. Auch bei dem „Seitensprung“ gibt sich der Held altruistisch zu erkennen. Es wird im
Zusammenhang notiert: „Ich wollte ans Mikrophon stürmen, ich wollte mich auf die LKWPritsche raufprügeln, um Schluss zu machen mit dem Sozialismus-Hokuspokus [...].“163 Doch
im Begriff, seinen Vorsatz zu verwirklichen, stolpert Klaus über ein Pappschild mit einem
Besenstiel, das ein Demonstrant am Kopf der Treppe zur Rednertribüne abgelegen hat. Es
wird notiert:
[...] Ich übersah es nicht nur, ich stolperte darüber, riβ es mit meinem Fuβ mit,
verfing mich, verlor das Gleichgewicht und wäre die Treppe heruntergefallen –
aber da war noch der Besenstiel, der mir in die Beine geriet. Ich spieβte mir das
Ende des Besenstiels in die Klöten. [...] Ich verlor die Balance und schlug mit dem
Kopf auf die Treppe, was verglichen mit dem Vorangegangenen erholsam war.164
Infolge der Verletzung, die sich Klaus dabei hinzugefügt hat, wird er ins Krankenhaus
gebracht, wo er und präziser sein verstümmelter Penis operiert wird. Nach dem chirurgischen
Eingriff wacht die Hauptfigur auf und kann ihren Augen nicht trauen: „Stellen sich mal vor,
Sie wachen eines Tages auf und anstatt Ihres gewohnten Ziepfelchens finden Sie zwischen
Ihren Beinen das gröβte Glied, das Sie je gesehen haben.”165
Es kommt aber zur
Durchbrechung der zeitlichen Anachronie, die durch eine zukunftorientierte Projektion in der
163
Ebd., S.288.
Ebd., S.289.
165
Ebd., S.300.
164
58
Figurenrede erfolgt. Es wird also von dem Chirurgen vorausgesagt, dass dank der
Medikamente sein Glied wieder zu seiner Normalgröβe finden wird. Unter der
Zwangsvorstellung, den kleinsten Penis zu haben, flüchtet der Protagonist aus dem
Krankenhaus, um sein Glied bei diesem riesengroβen Ausmaβ beizubehalten. Wie daraus zu
schlieβen ist, stellt die Verletzung der Hauptfigur und die Operation eine Episode dar, die ein
Teil der Haupthandlung ausmacht. Die Episode wird hiermit als die Episode des geheilten
Pimmels genannt und trägt zu der Gesamthandlung bei, weil Klaus sich nach der Flucht aus
dem Krankenhaus am neunten November 1989 der demonstrierenden Menge am
Alexanderplatz anschlieβt und stürzt mit seinem ernorm groβen Geschlechtsorgan die
Berliner Mauer um. Damit kommt es zu einem Geschehen, mit dem das vorangehende
Ereignis ergänzt und in einen kausalen Zusammenhang eingegliedert wird. Mit diesem
Geschehen wird Klaus Lebensgeschichte abgeschlossen.
59
5 Fazit
1) Die Formierung der Erinnerung jedes Individuums erfolgt immer unter Bezugsnahme
auf die Erinnerung einer sozialen Gruppe, der das Individuum angehört. Mit anderen
Worten kann es so verstanden werden, dass das Gedächtnis jedes Individuums sich an
bestimmte soziale Gepflogenheiten angleicht, auf welche bei der Erinnerung immer
wieder ein Bezug genommen wird. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass ein für
die
Erinnerung
relevantes
Medium
die
Kunstwerke
sind,
die
eine
Art
Heraufbeschwörung der Vergangenheit sind. Es handelt sich hierbei auch um narrative
Texte wie der Roman Helden wie wir, deren Inhalt aber nicht ganz ein getreues Abbild
menschlicher Erinnerung an die Vergangenheit liefert. Denn im Rahmen fiktionaler
Werke wird eine spezifische bzw. imaginäre Beschaffenheit der erzählten Welt
geschaffen, deren Komponenten nur bedingt oder aber gar nicht der Realität
entsprechen.
2) Die Erzählung Helden wie wir bestätigt durch seinen Inhalt und die Gestaltung der
Hauptfigur seine Zugehörigkeit zur Gattung Entwicklungsroman. Allerdings ist
hiermit eine scherzhafte Form darlegt, die ihren Ausdruck an der wahnwitzigen
Gründlichkeit und Sonderlichkeit des Protagonisten findet.
3) Die Episoden, die in die Handlung eingeschoben werden, sind entweder Teil der
Haupthandlung oder aber eine Nebenhandlung, die für den Fortgang der
Haupthandlung irrelevant ist.
4) Die narrative Gesamtstruktur dieser Erzählung kann durchaus als episodisch genannt
werden, weil die einzelnen Episoden locker durch die Hauptfigur Klaus Uhltzscht
miteinander verbunden werden. Dies ist insoweit relevant, als dass Schelmenroman als
Gattung sich ebenfalls mit der episodischen Struktur auszeichnet.
5) Ein Aspekt, das diesem Roman offensichtlich in groβem Maβe abgeht, ist die
Grenzüberschreitung in Lotmans Sinne, die lediglich zum Schluss realisiert wird. Es
ist nämlich die Überquerung der Grenze zwischen dem Ost- und Westberlin, die der
Protagonist mit seinem Geschlechtsorgan vollzieht. Am Ende der Schlussszene
kommen räumliche Charakteristiker zum Vorschein, die den komplementären
Gegensatz zwischen den Teilräumen prägen.
6) Der Schelmenroman Helden wie wir bietet einen realitätsnahen Einblick in die letzten
21 Jahre der DDR. Im Vordergrund steht allerdings die Hauptfigur und zugleich die
Erzählinstanz Klaus Uhltzscht, das letztendlich in die Reihe der Stasi einverleibt wird.
60
Das System der Stasi wird damit zu dem Schwerpunkt der Erzählung. Dies wird
keinesfalls trocken, sondern sehr nüchtern dargestellt. Es werden dabei viele Details
zum Ausdruck gebracht, die medienwirksam an den Alltag in der Deutschen
Demokratischen Republik erinnern. Als prägnantes Beispiel gilt die Szene aus dem
Unterricht in der Klaus Lernergruppe. Die Schulkinder sehen nähmlich einen DDR –
Propagandafilm über den Zweiten Weltkrieg und die Befreiung Deutschlands von der
Sowjetunion. Der Wunsch der Kinder ist es, den Film nach Ablauf rückwärtslaufend
zu sehen. Der Lehrer erklärt sich damit einverstanden und lässt den Film rückwärts
laufen, d.h. die ausgebombten Städte werden wieder aufgerichtet, aber auch
Nazigröβen, die rückwärtslaufend wieder auftauchen. Danach kommen zwei
Stasibeamte, welche die Klasse auffragen, ob der Lehrer tatsächlich einen solchen
Film der Rückseite voran habe laufen lassen. Der Lehrer wird freilich darauf hin
festgenommen und kommt somit ins Gefängnis. Wie daraus zu folgern ist, ist bei der
Analyse narrativer Texte nicht nur das Erzählte selbst, sondern auch der Vorgang des
Erzählens, also der Diskurs als Ebene des Erzählvollzugs.
61
6 Didaktisierungsvorschläge
Stundenentwurf Nr. 1
Zeit: 90 Min
Klasse: III. Fremdsprachenkolleg
Thema: Grundformen des Erzählens
Hauptziel: Die Studenten sollten nach der Unterrichtsstunde die Erzählerposition in Bezug auf
die Intensität seiner Involviertheit in erzählte Geschichte und den Modus der Erfahrung des
Erzählers von der erzählten Geschichte bestimmen können.
Pragmatische Ziele: Die Studenten lernen gefragte Informationen im Text suchen, seine
eigene Auffassung zu einem Sachverhalt formulieren und diese mit Textbeispielen begründen.
Die Studenten lernen dabei eine klare, logische und prägnante Aussage zu machen.
Kognitive Ziele: Während dieses Unterrichts lernen die Studenten, die berichtende Form des
Erzählens von der szenischen Darstellung zu unterscheiden und die Platzierung der
Erzählerfigur zu erkennen.
Sozial – affektive Ziele: Jeder der Studenten lernt seinen eigenen Standpunkt im Forum
darzulegen und ihn mit Beispielen zu verteidigen bzw. den Standpunkt anderer Studenten zu
akzeptieren. Die Studenten lernen auch Partnerarbeit.
1) Begrüβungsphase: 5 Min
Ich begrüβe die Studenten mit einem Guten Tag und prüfe die Anwesenheit.
2) Einführungsphase: 15 Min
Ich verteile den Studenten zwei Texte von Franz K. Stanzel, die zwar den gleichen
Sachverhalt zum Ausdruck bringen, doch aber einige signifikante Differenzen auf der
Vermittlungsebene zueinander aufweisen(Anlage1). Ich lasse zwei der Studenten die Texte
vortragen. Ich führe zwei neue Begriffe ein, die sich auf die Erzählvorgänge in den beiden
Texten beziehen. Es sind die berichtende Erzählung und die szenische Darstellung. Die
Studenten werden von mir gefragt, worauf diese Bezeichnungen: berichtende Erzählung und
die szenische Darstellung zurückzuführen sind. Ich nenne die diese Erzählensarten und
schreibe deren Hauptmerkmale stichpunktartig an die Tafel. Die Studenten vermerken sich
sie.
Sozialform: Frontalunterricht
62
Materialien: Extrablätter, Tafel, Kreide
Feinziele: Die Studenten üben lautes Lesen und lernen die zwei Grundformen des Erzählens
kennen.
3) Übungsphase: 25 Min
Die Studenten versuchen zu zweit die Grundunterschiede herauszustellen, die sie bei dem
ersten Lesen wahrgenommen haben. Nachdem sie Hauptunterschiede zwischen den beiden
Texten herausgesondert haben, ziehe ich lesend diejenigen Textabschnitte heran, welche die
Erzählerposition bezüglich der Intensität seiner Verstrickung in die dargestellte Geschichte
veranschaulichen. Die Studenten versuchen die Perspektive zu bestimmen, aus welcher der
Erzähler die Geschichte wiedergibt. In diesem Zusammenhang nenne ich zwei
Bezeichnungen, nach denen man die Form des Erzählers je nach seiner Erfahrung von der
erzählten Geschichte festlegen kann. Der Erzähler ist nämlich entweder extra heterodiegetisch oder intra – homodiegetisch oder autodiegetisch. Die zwei Bezeichnungen
werden von mir an die Tafel geschrieben. Ich erkläre die zwei Bezeichnungen von der
Etymologie her, sodass die Studenten nun in der Lage sind, den richtigen Erzählertyp der
richtigen Version zuzuordnen.
Sozialform: Partnerarbeit
Materialien: Extrablätter, Tafel, Kreide
Feinziele: Die Studenten lernen zwei neue Bezeichnungen mit Erklärung hinsichtlich der
Erzählerperspektive kennen, sodass sie im Stande sind, die Erzählerposition zu bestimmen.
4) Anwendungsphase: 20 Min
Die Studenten bekommen von mir einen Buchausschnitt aus dem Roman Helden wie wir
(Anlage2) und einen von mir präparierten Text, der eine berichtende Form des aus dem
Roman herangezogenen Ausschnitts darstellt. Die Aufgabe der Studenten besteht darin, die
Hauptunterschiede zwischen den beiden Texten herauszustellen, kurz den Inhalt
wiederzugeben und eine längere schriftliche Aussage vorzubereiten, welche die
Erzählerposition und den Grad der Verwicklung des Erzählers in die erzählte Geschichte
umfasst. Das alles machen die Studenten zu zweit.
Sozialform: Partnerarbeit
Materialien: Extrablatt
Feinziele: Die Studenten üben leises Leseverstehen
63
5) Testphase: 15 Min
Jedes Paar präsentiert im Forum das Ergebnis ihrer Textanalyse.
Sozialform: Plenum
Materialien: keine
Feinziele: Die Studenten üben Sprechen
64
Anlage Nr. 1
Lesen Sie die zwei Versionen dieser Erzählung und überlegen Sie, worauf die ihnen
zugeschriebenen Bezeichnungen (berichtende Erzählung und die szenische Darstellung)
zurückzuführen sind!
Erste Version (berichtende Erzählung):
Im Verlauf des Krieges ist schließlich auch diese Stadt erobert und zerstört worden. Dabei
wurden fast alle Häuser und Tempel vom Feuer, das die Eroberer gelegt haben, eingeäschert.
Der Einwohner der Stadt, meist Frauen, Kinder und Greise, bemächtigte sich eine Panik. Es
wird berichtet, dass sie Eroberer in erster Linie auf Beute bedacht waren. Vermutlich sind
damals auch die reichen Tempelschätze der Stadt völlig ausgeplündert worden. Von
Augenzeugen wird berichtet, die plünderten Soldaten seien bei der Verteilung dieser reichen
Beute in Streit untereinander geraten. Wie es dem damaligen Kriegsrecht entsprach, wurde
ein Großteil der Einwohner von den Eroberern als Gefangene verschleppt, wodurch manches
Kind seine Mutter, mache Gattin ihren Mann verlor.
Zweite Version (szenische Darstellung):
Vom Dach seines Hauses in einiger Entfernung von der östlichen Stadtmauer konnte er jetzt
ganz deutlich hören, dass es den Belagern gelungen sein musste, in die Stadt einzudringen.
Der Kampflärm kam immer näher. Schon zeigte sich roter Feuerschein über den Dächern der
Häuser in dieser Richtung. Überall in den Gassen begannen die Menschen zu laufen, hierhin
und dorthin, angstvoll und ratlos, wo in diesem Augenblick der höchsten Not Hilfe zu finden
wäre. Direkt vor seinem Haus hatte sich eine Gruppe Menschen angesammelt, weinende
Frauen und Kinder und hilflose Greise, denen die Angst ins Gesicht geschrieben stand. Doch
noch ehe sie zu einem Entschluss gekommen waren, wohin sie sich wenden sollten, tauchte
schon die ersten feindlichen Soldaten am unteren Ende der Straße auf. Diese liefen gerade auf
den Eingang des Tempels zu und drangen in ihn ein. Und jetzt erschien der erste von ihnen
wieder, beladen mit Beute. Sogleich stürzten sich andere Soldaten auf ihn und versuchten,
ihm einen Teil des Beutegutes zu entreißen. Der Lärm der plünderten Soldaten, das
Angstgeschrei der Frauen und Kinder, das Prasseln des Feuers, das nun den ganzen östlichen
Stadtteil erfasst hatte, erfüllte die Luft. Von seinem Versteck aus musste er zusehen, wie man
begann, einen Teil der Einwohner als Gefangene zu fesseln und fortzuführen. Eine Mutter
versuchte verzweifelt, ihr Kind festzuhalten . . .
65
Anlage Nr. 2
Lesen Sie die zwei Texte und machen Sie ein Paar Stichpunkte zu dem Inhalt dieser Texte!
Anschließend versuchen Sie die Erzählerposition und den Grad der Verwicklung des
Erzählers in die erzählte Geschichte zu bestimmen!
Erste Version (szenische Darstellung):
Ich musste nicht in den Kindergarten, sondern saβ glücklich zu Hause, hantierte mit meinen
Buntstiften und malte Bilder, über die meine Mutter immer wieder in Verzückung geriet – sie
strahlte, sie lachte, sie lobte, und wenn mein Vater zum Feierabend kam präsentierte sie ihm
überschwänglich meine Mutter meine
meine
>>Malbilder<<.,
>>Malbilder<<.
Er allerdings interessierte sich nicht für
und ich hatte immer das Gefühl, dass es nicht ist, was er von mir
erwartet.
Zweite Version (berichtende Erzählung):
Er musste den Kindergarten nicht besuchen. Wie von seiner Oma berichtet wird, saß er zu
Hause und malte seine Bilder, über die, wie die Nachbarn berichten, die Mutter hingerissen
war. Als der Vater zum Fierabend nach Hause kam, zeigte ihm die Mutter die gemalten Bilder
des Sohnes. Er war mit ihnen nicht besonders zufrieden, was vermutlich auf eine schlechte
Beziehung zwischen den beiden zurückging.
66
Stundenentwurf Nr. 2
Zeit: 90 Min
Klasse: III. Fremdsprachenkolleg
Thema: Raumgestaltung im Bereich der Literatur
Hauptziel: Die Studenten sollten nach der Unterrichtsstunde sagen können, wie der Raum in
einem narrativen Text gestaltet ist.
Pragmatische Ziele: Die Studenten üben die Fertigkeit, gefragte Informationen aus dem Text
herauszufiltern. Sie lernen auch hiermit, sich zu einem Sachverhalt zu äußern.
Kognitive Ziele: Die Studenten sollten nach der Unterrichtsstunde sagen die Hauptfigur
bestimmen, fiktionale Welten, auf welche die Hauptfigur innerhalb der Handlung stößt,
unterscheiden bzw. die klassifikatorische Grenze zwischen diesen Welten erkennen können.
Sozial – affektive Ziele: Die Studenten üben die Fertigkeit, selbstständig und innerhalb einer
Gruppe zu arbeiten.
1) Begrüβungsphase: 5 Min
Ich begrüβe die Studenten mit einem Guten Tag und prüfe die Anwesenheit.
2) Einführungsphase: 30 Min
Ich mache eine Einleitung mit Besprechung der Theorie von der Ordnung narrativer Texte
bezüglich der Räumlichkeit, die von Jurij M. Lotman vorgeschlagen wurde. Diese Theorie
wird von mir auf Grund des Inhaltes von Dante Alighieris Göttlicher Komödie erklärt.
Sozialform: Frontalunterricht
Materialien: Tafel, Kreide
Feinziele: Die Studenten lernen Lotmans Theorie bezüglich der Räumlichkeit im Rahmen
narrativer Texte kennen.
3) Übungsphase: 20 Min
Die Studenten bekommen einen Textausschnitt aus Thomas Brussig Am kürzeren Ende der
Sonnenallee(Anlage1) zu der Lotmans Theorie, die unbesprochen als Übungsstoff dient. Ich
bringe den Studenten den politischen bzw. geschichtlichen Kontext näher, auf den der
Textanschnitt referiert. Jeder liest zunächst mal den Text für sich selbst. Darauf hin sollten die
Studenten im Plenum auf Grund dieser Beispiele die drei Komponenten (ein semantisches
Feld, das in zwei komplementäre Untermengen aufgeteilt ist; eine Grenze zwischen diesen
Untermengen, die unter normalen Bedingungen undurchdringlich ist; der die Handlung
67
tragende Held) welche die Grundstruktur dieser narrativen Texte ausmachen. Dann sollen sie
die im Lotmans Sinne klassifikatorische Grenze im Text ausfindig machen und die Teilräume,
zwischen denen diese Grenze durchläuft, benennen. Dann versuchen die Studenten die drei
Ebenen herauszusondern, auf denen sich der komplementäre Gegensatz der Teilräume
entfaltet.
Sozialform: Plenum
Materialien: Extrablatt
Feinziele: Die Studenten üben leises Leseverstehen.
4) Anwendungsphase: 20 Min
Die Studenten arbeiten in Gruppen. Ich verteile ihnen auf einer Kopieunterlage einen
Ausschnitt aus der Schlussszene des Romans Helden wie wir(Anlage2). Die Studenten sollten
sich einige Stichpunkte zu der Handlung notieren. Anschließend versuchen sie innerhalb der
Gruppe die drei Komponenten herauszusondern, die einiges an Belegen für den narrativen
Charakter des Textausschnitts liefern. Dann schreiben sie einige Stichpunkte zu der
Überschreitung der klassifikatorischen Grenze (die Berliner Mauer) von dem Helden des
Romans bzw. zu dem Gegensatz dieser Teilräume (Ost- vs. Westberlin).
Sozialform: Gruppenarbeit
Materialien: Extrablatt
Feinziele: Die Studenten lernen Gruppenarbeit und leises Lesenverstehen
5) Testphase: 15 Min
Jede Gruppe wählt einen Gruppensprecher, der unter Zuhilfenahme der stichpunktartigen
Notizen eine Aussage macht. Falls er etwas nicht berücksichtigt hat, dann ergänzt seine
Aussage die ganze Gruppe.
Sozialform: Plenum
Materialien: keine
Feinziele: Die Studenten üben freies Sprechen
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Anlage Nr. 1
Micha hatte keine Westplatten – trotzt Westonkel. Platten ließen sich in der Unterhose
schmuggeln, und für solche Abenteuer wie doppelter Boden war Onkel Heinz nicht der Typ.
Es genügte, daß der Grenzler mal etwas gründlicher im Paß blätterte – und schon bereute
Heinz, daß er für seine armen Verwandten immer wieder dieses verflucht hohe Risiko,
erwicht zu werden, auf sich nahm.
Anlage Nr. 2
Es passierte so viel in diesen Tagen, was einfach nicht zu glauben war, und ich war mir
sicher, daß ihm und den übrigen Grenzern das den Rest geben würde. So was hatten sie. noch
nie gesehen! So was hätten sie nie für möglich gehalten! Was sich ihnen darbot, war so
unglaublich, daß sie mit niemandem darüber sprechen konnten, weil ihn glauben wird. Ich
ließ mir Zeit, viel Zeit, ich sah allen nacheinander in die Augen, und schließlich entriegelte
einer von ihnen wie hypnotisiert das Tor. Ehe sie sich es anders überlegten, [...] hatte ich die
Gitterstäbe gepackt und das Tor aufgestoßen.
>>So<<
schrie ich [...]
>>loslaufen
selber!<<. [...] Ein Westberliner Fotograf überreichte mir mit den Worten
>>Wenn
muss ihr
du dir ein
paar Mark verdienen willst . . .<< seine Visitenkarte. Um nicht unverstanden zu bleiben,
untermalte er sein Angebot mit Hüftbewegungen. So habe ich mir den Westen immer
vorgestellt: Man ist kaum über den weißen Strich und wird schon in Pornos verwickelt.
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7 Zusammenfassung
In der vorliegenden Diplomarbeit wurde in dem methodologischen Ansatz Bezug auf den
neusten Forschungsstand bezüglich des Gedächtnisdiskurses genommen. Damit hat man sich
hiermit erstens auf die Fragestellung des Sonderforschungsbereiches Erinnerungskulturen an
der Justus – Liebig – Universität Gießen bezogen, der ein mehrdimensionales Modell für die
kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung entworfen hat.. Zweitens wurde theoretisch auf
den Begriff des Gedächtnisses und dessen Formen der kollektiven Bezugnahme auf die
Vergangenheit
eingegangen.
In
diesem
Zusammenhang
wurde
aktuelle
Gedächtniskonzeptionen von Jan und Aleida Assmann, Maurice Halbwachs, Aby Warburg,
Pierre Nora rekapituliert. In dem methodologischen Teil wurde auch in Kürze die spezifische
Formierung des Gedächtnisses und der Erinnerungskulturen in geschlossenen Gesellschaften
des so genannten Realsozialismus dargelegt. Was dieser Diplomarbeit offensichtlich abgeht,
ist ein eingehender Verweis auf die besondere Ausprägung des Gedächtnisses der Hauptfigur
des Romans Helden wie wir Klaus Uhltzschts, das ein deutliches Zeugnis der Beeinflussung
der menschlichen Erinnerungen von einer totalitären Ideologie ablegt. Im weiteren Teil wurde
die Literatur in narratologischer Perspektive aufgegriffen. In dieser Hinsicht wurde das
Verhältnis zwischen dem Erzählten und dem Vorgang des Erzählens als Anregung unter
Bezugnahme der Erzähltheorien von Matias Martinez, Michael Scheffel, Boris Tomaševskij
aufgenommen und rekapituliert. In dem analytischen Teil wurde die Charakteristik der
Zentralfigur Klaus Uhltzschts mitsamt der Konstellation der anderen Figuren und des
Protagonisten des Romans Helden wie wir von Thomas Brussig vorgenommen. Ausgehend
von Stanzels zwei Formen des Erzählens und drei Erzählsituationen wurde den Fragen nach
Erzählpositionen und der Einstellung des Lesers zur erzählten Welt nachgegangen. Was
hiermit jedoch nicht realisiert wurde und als eine gute Ergänzung im Anschluss an diese
vorliegende Diplomarbeit gelten könnte, wäre eine genauere Studie über das innere Verhältnis
des Rezipienten zum fiktionalen Text bzw. zur Beschaffenheit der erzählten Welt.
Anschlieβend wurde Bezug auf Lotmans Theorie von der Bedeutung der Räumlichkeit
bezüglich narrativer Texte genommen. Bei der Analyse des Raumes im Roman Helden wie
wir wurde der Fokus jedoch mehr auf andere Aspekte der Räumlichkeit wie Struktur und
Präsentation des Raumes, Modus der Raumwahrnehmung, sprachliche Mittel der
Raummodellierung, Verhältnis zwischen Raum und Identität und Funktionalisierung von
Räumen gelenkt und damit Lotmans Theorie nur bedingt mit einbezogen, was auf kaum
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vorhandene Grenzüberschreitung in Lotmans Sinne zurückzuführen ist, de lediglich zum
Schluss vollzogen wird. Zum Schluss wurden einzelne Ereignisse, die dann zu Geschehen und
schließlich zu einer ganzen Geschichte integriert wurden, in einen zeitlichen Rahmen
eingeordnet. Was in dieser Hinsicht einer Ergänzung wert wäre, ist die Erstellung eines
Handlungsschemas, das die Integration der einzelnen Ereignisse zu einem Ganzem also zu der
ganzen Geschichte veranschaulichen würde. In dem sechsten Kapitel wurden sechs
Schlussfolgerungen gezogen, die aus vor allen Dingen aus der Analyse hervorgehen. Das
siebte und zugleich letzte Kapitel enthält Didaktisierungsvorschläge für den DaF – Unterricht.
Der Leitgedanke dabei ist es, wie man beim Lesen fiktionaler Werke auf den narrativen Text
„schauen“ kann, sodass man sich bei der Analyse dessen Inhalts nicht nur auf eine reine
Nacherzählung beschränkt.
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8 Streszczenie
Ta o to przedłożona praca dyplomowa powołuje się w swej wstępnej metodologicznej części
do najnowszego stanu badań dotyczącego dyskursu pamięci. W oparciu o obecny stan tych o
to badań odwołano się po pierwsze do problemu w wyodrębnionym zakresie badań na
Uniwersytecie Justus – Liebig w Gießen o kulturach pamięci. W ramach tych o to badań
zaprojektowano wielowymiarowy model dla badań o pamięci. Po drugie zostało teoretycznie
przestudiowane pojęcie pamięci i jej formy kolektywnego sięgania do przeszłości. W tym
kontekście zostały zrekapitulowane aktualne koncepcje Jana i Aleidy Assmanów, Maurycego
Halbwachsa, Aby Warburga, Piera Nora dotyczące pamięci. W metodologicznej części
przedstawiono także pokrótce specyficzne formowanie się pamięci i kultur pamięciowych w
zamkniętych społeczeństwach tak zwanego realnego socializmu. To co tej pracy widocznie
brakuje, jest dokładne wskazanie tak specyficznie ukształtowanej pamięci głównej postaci
powieści Thomasa Brussiga Bohaterowie tacy jak my Klausa Uhltzscht, która jest wyraźnym
świadectwem wpływu totalitarnej ideologi na ludzkie wspomnienia. W dalszej części został
poruszony temat literatury w narratologicznej perspektywie. W związku z tym odniesiono
się do zawiązku między tekstem jako opowiadanie i samym procesem opowiadania. W celu
tym zrekapitulowano teorie dotyczące narracyjnych opowiadań wywodzące się od Matiasa
Martineza, Michaela Scheffela, Borysa Tomaševskiego. W analitycznej części została
scharakteryzowana główna postać Klaus Uhltzscht. Wraz z charakterystyką została
przeprowadzona konstelacja innych figur i protagonisty powieści Thomasa Brussiga
Bohaterowie tacy jak my. Wychodząc od dwóch
form opowiadania i trzech sytuacji
opowiadawczych, które zostały określone przez Franza Stanzela, odniesiono się do pytań
takich jak: pozycje opowiadawcze i nastawienie czytelnika do opowiedzianego świata. W
ramach tej o to pracy nie udało się jednakże zrealizować badań dotyczących wewnętrznego
związku recypienta do fikcjonalnego tekstu i właściwości świata przedstawionego. Badanie
takie byłoby dobrym suplementem do tej pracy. Następnie powołano się na teorię Lotmana o
znaczeniu przestrzenności odnośnie tekstów narracyjnych. Przy analizie przestrzeni w
powieści Bohaterowie tacy jak my uwaga została jednakże skierowana na inne aspekty
przestrzenności takie jak: struktura i prezentacja przestrzeni, modus spostrzegania przestrzeni,
językowe środki modelowania przestrzeni, związek między przestrzenią a identyfikacją,
funkcjonalizacja przestrzeni. Dlatego też teoria Lotmana została jedynie po części włączona
do analizy, czego przyczyną jest prawie nie występujące przekroczenie granicy w mniemaniu
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Lotmana, które zostaje zaledwie na końcu zrealizowane. Na zakończenie analitycznej części
została utworzona ramówka czasowa z wydarzeń, które się integrują w toku wydarzeń do
jednej historii. Taka ramówka czasowa byłaby warta uzupełnienia o utworzenie schematu
akcji, który uwidoczniłby integracje wydarzeń do całości, czyli jednej historii. W szóstym
rozdziale wyciągnięte jest 6 wniosków, które w pierwszym rzędzie wynikają z analizy.
Siódmy i zarazem ostatni rozdział tej o to pracy zawiera propozycje dydaktyzacji dla lekcji
niemieckiego jako języka obcego. Myślą przewodnią jest sposób, jak można „patrzeć” przy
czytaniu fikcjonalnych dzieł na tekst narracyjny, tak ażeby przy analizie tekstu nie ograniczać
się tylko do samego opowiadania jego treści.
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9 Literatur
Primärliteratur
Brussig, Thomas: Helden wie wir. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1988.
Sekundärliteratur
Assmann, Jan &Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp
1988.
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität
in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992.
Brackert, Helmut/Stückrath, Jörn: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek b.
Hamburg: Rowohlt 1996, S.66.
Bauer, Heinz / Lottes, Günther / Martini, Wolfram: Erinnerungskulturen. Antrag auf
Einrichtung eines Sonderforschungsberichts (1637). Forschungsphase 01.01.199731.12.1999. Justus – Liebig – Universität Gießen 1996, S.9-31.
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar:
J.B. Metzler 2005, S.13-39.
Gansel, Carsten: Gedächtnis und Literatur in geschlossenen Gesellschaften der Real –
Sozialismus zwischen 1945 und 1985. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007.
Gombrich,Ernst H..: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biorgaphie. Hamburg: Europäische
Verlags- Anstalt 1992 (orig.: Aby Warburg. An Intellectual Biography. London: Warburg
Institute 1970)
Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen.
Frankfurt a.M.: Shurkamp1985, S.20-23.
Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Fischer1991 (orig.:La
mémoire collektive.Paris: Presse universitaires de France 1950).
Jannidis, Fotis: Figur und Person, a.a.O., S.130.
Jürgen Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen
Bildungsroman. München 1972.
Lotman, Jurij M.: Die Struktur des künstlerischen Textes. Frankfurt/M.1973.
Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München:
74
C.H. Beck 2005.
Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Fischer 1998 [1990].
Stanzel, Franz K.: Typische Formen des Romans. Göttingen 1987.
Tomaševskij, Boris: Theorie der Literatur. Poetik. Hg. V. Klaus-Dieter Seemann. Wiesbaden
1985
Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. Wrocław – Dresden:
Neiβe
Verlag 2007.
Zimniak, Paweł: Verlorene Heimat – Zum deutschen Topos in der polnischen
Erinnerungskultur nach 1945. In: Gansel, Carsten (Hg.): Gedächtnis und Literatur in
geschlossenen Gesellschaften des Real – Sozialismus zwischen 1945 und 1985.Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht 2007.
Zimniak, Paweł: Zwei Lieben in Deutschland – Zum narrativen Muster deutsch-polnischer
Liebesgeschichten im Adoleszenzroman Jens Petersens „Die Haushälterin“. Warszawa
2008
Zimniak, Paweł: Poetische , Logik ’ der Raumperformationen – Raum als Stimmungsträger.
(Manuskript).
75
Danksagung
Selbst eine Diplomarbeit entsteht nicht im Alleingang. Ich habe auf meinem Weg zum Ziel
dem Betreuer meiner Diplomarbeit Herrn Prof. Dr. Paweł Zimniak viel zu verdanken. Er war
und ist für mich ein kompetenter Gesprächspartner und eine wichtige Bezugsperson. P.
Zimniak stellte mir stets einen neuen wissenschaftlichen Stoff bereit, der zum Schreiben der
vorliegenden Diplomarbeit unabdingbar war. Er galt und gilt immer noch für mich als ein
unermüdlicher Motivator, ohne dessen Motivationskünste die Arbeit ein Phantasma bleiben
müsste. Herzlichen Dank für Engagement, Verständnis, Geduld und kritische Begleitung der
Arbeit.
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