Erinnerungsraum DDR Zur Inszenierung der Erinnerung in Thomas Brussig Helden wie wir Inhaltsverzeichnis Seite 1 Literatur und Gedächtnis- Zur Zielbestimmung.............................. 4 2 Methodologischer Ansatz und Forschungsstand............................... 5 2.1 Gedächtnis und Erinnerungskulturen......................................................... 5 2.2 Zum Gedächtnisdiskurs - Maurice Halbwachs, Aby Warburgs, Jan und Aleida Assmanns Konzepte........................................................... 7 2.3 Pierre Nora: Lieux de mémoire................................................................... 18 2.3.1 Erinnerungsphänomen im Rahmen des Gieβener Sonderforschungsbereiches 434.............................................. 22 2.4 Gedächtnis und Erinnerungskturen in geschlossenen Gesellschaften des Realsozialismus..................................................................................... 24 3 Literatur in narratologischer Perspektive......................................... 26 3.1 Das Erzählen und das Erzählte...................................................................... 26 3.2 Stanzels Grundformen des Erzählens............................................................ 28 3.2.1 Erzählinstanzen und Einstellung zur erzählten Welt in literaturwissenschaftlicher Perspektive......................................... 29 3.3 Raumsemantik im Bereich der Literatur....................................................... 31 4 Analytischer Teil – zum Roman Helden wie wir.................................. 33 4.1 Figuren und Figurenkonstellation................................................................. 33 4.1.1 Figurales Denken, Handeln, Fühlen – Zur Charakteristik der Hauptfigur........................................................................................ 35 4.2 Hauptfigur und ihr soziales Umfeld – Zur Figurenkonstellation.................... 39 4.2.1 Vater – Sohn – Konstellation zwischen Bewunderung und Hass.... 40 2 4.2.2 Mutter – Sohn – Konstellation zwischen Faszination und Liebe...... 42 4.2.3 Klaus – Frauen – Konstellation zwischen Objekt der Begierde und Liebe........................................................................................... 45 4.3 Erzählinstanzen.................................................................................... 48 4.4 Raumentwurf........................................................................................ 52 4.5 Zeitlicher Ereignisrahmen................................................................... 54 5 Fazit.......................................................................................................... 60 6 Didaktisierungsvorschläge..................................................................... 62 7 Zusammenfassung................................................................................... 70 8 Streszczenie.............................................................................................. 72 9 Literaturverzeichnis................................................................................ 74 3 1 Literatur und Gedächtnis – zur Zielbestimmung Jedes interdisziplinär aufgegriffene Thema, das relevante Geschichtserfahrungen von Individuen und Kollektiven darstellt, muss zugleich analysiert und in entsprechenden Kontext eingebettet werden. Es wird daher in der Gegenwart ein wachsendes Interesse der nicht nur wissenschaftlich orientierten Öffentlichkeit an der Erinnerungs- und Geschichtskultur konstatiert, zu denen ohne Zweifel auch der Erinnerungsraum DDR gehört. In den letzten Jahren sind es vor allem Kinofilme, sowie literarische Texte gewesen, die medienwirksam an die vergangene DDR erinnern. Beim Lesen des Romans Helden wie wir von Thomas Brussig, dessen Analyse im analytischen Teil vorgenommen wird, „[...] kann man teilhaben an einem >>Verlachen<< und einer >>Komödisierung<< der DDR [...]“.1 Im Falle der Autorengruppe besteht der Druck der persöhnlichen Betroffenheit, die mit einer Generation und einem für einen bestimmten Zeitpunkt typischen Menschenschicksal verbunden ist und eine bestimmte Gedächtnisgemeinschaft entstehen lässt. Deshalb ist es wichtig, dass Themen, die innerhalb der Literatur aufgegriffen werden und auf die Geschichte rekurrieren, an den Leser weitergegeben werden. Denn durch die Textanalysen wird „[...] ein Erinnerungshorizont abgesteckt, der in die Relation zwischen historischen Wirklichkeiten und (historisch) akzeptierbaren literarischen Möglichkeiten eingreift“.2 Seitdem die ersten Menschen bereits in der Antike literarische Texte zu schreiben begannen, hat man schon damals der Literatur eine operative Funktion zugeschrieben. Bis zum heutigen Tag sieht sich selbst die Literatur in Gansel, Carsten: Gedächtnis und Literatur in „ geschlossenen Gesellschaften“ des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S.12. 2 Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. Wrocław – Dresden: Neiβe Verlag 2007, S.31. 1 4 dieser Rolle. Autoren sahen und sehen immer noch für sich selbst einen Auftrag, politische/gesellschaftliche Verhältnisse nicht nur zu analysieren, sondern auch Anstöβe zu geben, Bestehendes zu verändern. Aus diesem Grunde eignen sich literarische Texte so hervorragend als Gedächtnismedium. Die Frage, ob und inwieweit der Dichter sein eigenes Erleben in literarisches Gewand kleidet, mag dabei unberücksichtig bleiben, denn die in fiktionalen Texten geschriebenen Sätze sind zum Einen nicht als Behauptungen des Autors anzusehen und zum Anderen gehört die Erfindung fiktionaler Welten zur Arbeit der Dichter. Daher muss zugleich der Begriff der Fingiertheit für literarische Texte ausgespart werden. Viel wichtiger ist es, inwiefern die im Rahmen dichterischer Rede verfassten Texte das Bewusstsein kleinerer und gröβerer Gesellschaftsgruppen über nationale Grenzen hinaus zu beeinflussen und zu verändern vermögen. Damit nimmt die vorliegende Diplomarbeit erstens Bezug auf Fragestellung des Sonderforschungsbereiches Erinnerungskulturen3 an der Justus – Liebig – Universität Gießen, der ein mehrdimensionales Modell für die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung entworfen hat. In dem Modell werden vor allem Dynamik, Kreativität, Prozesshaftigkeit und Pluralität der kulturellen Erinnerung hervorgehoben. Zweitens wird theoretisch auf den Begriff des Gedächtnisses und dessen Formen der kollektiven Bezugnahme auf die Vergangenheit eingegangen. In diesem Zusammenhang werden auch hiermit aktuelle Gedächtniskonzeptionen von Jan und Aleida Assmann, Maurice Halbwachs, Aby Warburg, Pierre Nora rekapituliert. In dem narratologischem Teil wiederum wird vor allen Dingen auf das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem erzählerischen Medium mitsamt den jeweils verwendeten erzähltechnischen Verfahren der Präsentation auf der einen Seite und dem Erzählten (die Geschichte, die im Text dargestellte Welt) auf der anderen Seite hingewiesen. Im Anschluss daran wird in Anlehnung an Stanzels Unterscheidung von drei typischen Erzählinstanzen auf die Frage nach der Intensität der Involviertheit des Erzählers in die erzählte Geschichte eingegangen. Zum Schluss des theoretischen Teiles wird der Aspekt der Einstellung des Lesers zur erzählten Welt, sowie die Bedeutung der Raumgestaltung innerhalb narrativer Texte aufgegriffen. Den weiteren Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit macht die Analyse des Entwicklungsromans Helden wie wir von Thomas Brussig aus, bei der allerdings an die oben angeführten theoretischen Komponenten angeknüpft bzw. auf die Begrifflichkeit bezüglich der Handlung eingegangen wird, die für diese Analyse unabdingbar ist. 3 Bauer, Heinz / Lottes, Günther / Martini, Wolfram: Erinnerungskulturen. Antrag auf Einrichtung eines Sonderforschungsberichts (1637). Forschungsphase 01.01.1997-31.12.1999. Justus – Liebig – Universität Gießen 1996, S.9-31. 5 2 Methodologischer Ansatz und Forschungsstand 2.1 Gedächtnis und Erinnerungskulturen Jedes Phänomen, das zur wissenschaftlichen Diskussion wird bzw. geworden ist, hat eine mehr oder minder lange Forschungsgeschichte hinter sich. Obwohl Stiftung, Pflege und Reflexion des kulturellen Erbes, darauf verweist vermutend Astrid Erll4 – zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen gehören und die Entwicklung des kollektiven Gedächtnisses bis in die Antike zurückzuverfolgen ist, setzte erst mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts Diesbezüglich wurden eine wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen Phänomenen ein. Formen der kollektiven Bezugnahme auf die Vergangenheit sorgfälltig herangezoomt und zum Gegenstand kulturwissenschaftlicher Theoriebildung gemacht. Die kulturwissenschaftliche Grundannahme von dem Konstruktcharakter menschlicher Sinnwelten und Erinnerungen bezieht sich dabei allerdings auch auf die Ebene der Theoriebildung. In diesem Zusammenhang notiert Astrid Erll folgendes: Jede theoretische Annahme über Inhalte oder Funktionsweisen des kollektiven Gedächtnisses ist selbst ein Konstrukt und hat mehr von einer wissenschaftlichen >Erfindung< von einem Auffinden kultureller Gegebenheiten.5 Die heutige Forschung zum kollektiven Gedächtnis, teilt sich auf zwei Zweige, welche nach verschiedenen Richtungen hin ausgebreitet werden. Das sind zum einen Maurice Halbwachs’ soziologische Studien zur mémoire collektive und zum anderen Aby Warburgs kulturhistorische Beschäftigung mit einem europäischen Bildgedächtnis. Beide wurzeln in den 1920er Jahren. Halbwachs und Warburg waren die Allerersten, die das Phänomen >kollektives Gedächtnis< beim Namen genannt und dessen systematische Analyse vorgenommen haben. Doch erst in den 1980er Jahren wurde das Gedächtnis-Thema in der kulturhistorischen Forschung wieder aufgegriffen. Zum stärksten Einfluss auf der internationalen Bühne gelangte diesbezüglich das Pierre Noras Konzept lieux de mémoire. Einige Jahre darauf haben Aleida und Jan Assmann mit dem > kulturellen Gedächtnis < ein 4 5 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S.13. Ebd., S.13. 6 Konzept der wissenschaftlich orientierten Öffentlichkeit vorgewiesen, das im deutschsprachigen Raum als das wirkungsvollste und auf der internationalen Ebene als das bestausgearbeitete gilt. Mit dem Begriff >Erinnerungskulturen< hat der Gieβener Sonderforschungsbereich 434 (seit 1997) schlieβlich ein mehrdimensionales Modell für die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung entworfen. In dem Modell werden vor allem Dynamik, Kreativität, Prozesshaftigkeit und Pluralität der kulturellen Erinnerung hervorgehoben. 2.2 Zum Gedächtnisdiskurs - Maurice Halbwachs, Aby Warburgs, Jan und Aleida Assmanns Konzepte Vor allem aus zwei Traditionssträngen speist sich die heutige Forschung zum kollektiven Gedächtnis. Beide haben ihren Ausgangpunkt in den 1920er Jahren. Es handelt sich um die bereits erwähnten Maurice Halbwachs soziologischen Studien zur mémoire collektive und Aby Warburgs kulturhistorische Beschäftigung mit dem europäischen Bildgedächtnis. Alle beide haben bestimmte Thesen zu dem Gedächtnisdiskurs aufgestellt, deren Entstehung hiermit zu rekapitulieren ist. Der französische Soziologe Maurice Halbwachs (1887-1945), ein Schüler Henri Bergsons und Emile Durkheims, hat drei Schriften verfasst, in denen er seinen Begriff der mémoire collektive entwickelt hat und die heute eine zentrale Stellung bei der Beschäftigung mit dem kollektiven Gedächtnis einnehmen. In seiner 1925 veröffentlichten Studie Les cadres sociaux de la mémoire (Das kollektive Gedächtnis, 1991), versucht er, das Abhängigheitsverhältnis zwischen der Ebene der Erinnerung und der sozialen Ebene nachzuweisen. Damit legt er einen Widerspruch gegen die zeitgenössischen Gedächtnistheorien von Henri Bergson und Sigmund Freund, welche die Erinnerung als einen individuellen Vorgang auslegen. Halbwachs Theorie wiederum war darauf hinausgelaufen, dass jede persöhnliche Erinnerung ein kollektives Phänomen ist. Demzufolge stieβ er auf eine heftige Kritik, die von seinen Kollegen aus der Universität Straβburg formuliert wurde. Marc Bloch zum Beispiel warf Halbwachs „[...] eine unzulässige Kollektivisierung indvidualpsychologischer Phänomene [...]“ vor.6 Diese Kritik demotivierte ihn gar nicht, sondern im Gegenteil regte ihn zur Ausführung seines Konzeptes des kollektiven Gedächtnisses an. Es mussten jedoch 15 Jahre vergehen, bis 6 Ebd., S.14. 7 Halbwachs sein Werk geschrieben hatte, das allerdings erst 1950, unvollständig und posthum erscheinen sollte. Zuvor schrieb Halbwachs ein drittes Buch fertig, das an einem Fallbeispiel die Formen und Funktionsweisen des kollektiven Gedächtnisses aufzeigt, La Topaographie légendaire des Évangiles en Terre Sainte (1941; Stätten der Verkündigung im Heiligen Land, 2003). Im August 1944 fiel Maurice Halbwachs den Nazis anheim und wurde nach Buchenwald deportiert, wo man ihn dann auch ermordete. Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet die Beschäftigung mit dem Gedächtnis- und Erinnerungsthema in Vergessenheit. Heutzutage erfolgt aber keine schriftliche Festlegung des kollektiven Gedächtnisses ohne Bezugnahme auf den Soziologen. Aus den Halbwachs Studien heraus lassen sich drei maβgebliche Untersuchungsbereiche bestimmen: 1) Halbwachs Theorie zur sozialbedingten individuellen Erinnerung 2) seine Analyse der Bildung generationsbedingten Gedächtnisses 3) seine Ausweitung des Begriffs der mémoire collektive auf den Bereich kultureller Überlieferung und Traditionsbildung, also auf das, was heute mit der Terminologie Aleida und Jan Assmanns als kulturelles Gedächtnis in Zusammenhang gebracht wird Daraus führt Halbwachs zwei grundlegende Konzepte von kollektivem Gedächtnis zusammen: 1) kollektives Gedächtnis als organisches Gedächtnis des Individuums, das sich im Horizont eines soziokulturellen Umfeldes herausbildet 2) kollektives Gedächtnis als der durch Interaktion, Kommunikation, Medien und Institutionen innerhalb von sozialen Gruppen und Kulturgemeinschaften erfolgende Bezug auf Vergangenes bezeichnet wird. Die These von der sozialen Bedingtheit individueller Erinnerung beruht auf dem Konzept der cadres soziaux, das den Ausgangpunkt der Halbwachs’schen Theorie des kollektiven Gedächtnisses darstellt. Im ersten Teil von Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen veranschaulicht Halbwachs mit Details „die kollektiven Anteile des autobiographischen Gedächtnisses“.7 Er kommt dabei zu dem Schluss dass „der Rückgriff auf cadrus sociaux, soziale Bezugsrahmen, unabdingbare Voraussetzung für jede individuelle Erinnerung ist“. Für seine Begriffe bilden die sozialen Rahmen schlechthin die Menschen, die uns umgeben. Jedes Individuum ist , ein soziales Wesen ` , dem ohne das Kollektiv nicht nur die Sprache und Sitten vorenthalten bleiben, sondern, so Halbwachs, auch der Zugang zum eigenen Gedächtnis verwehrt bleibt.8 Das geht darauf zurück, dass wir Erfahrungen meist im Kreis anderer Menschen machen, die dann uns behilflich sein können, vergangene Ereignisse aus 7 8 Ebd., S.15. Ebd., S.15. 8 der Erinnerung zu holen. In seiner These betont er auch, dass wir durch Interaktionen mit anderen Menschen „[...] Wissen über Daten und Fakten, kollektive Zeit- und Raumvorstellung sowie Denk- und Erfahrungsströmung“ vermittelt übernehmen.9 Diese Überlegung wird von Astrid Erll erweitert, wenn sie feststellt: „Weil wir an einer kollektiven symbolischen Ordnung teilhaben, können wir vergangene Ereignisse verorten, deuten und erinnern.“10 Dies ist so zu verstehen, dass die sozialen Rahmen in wörtlichen Sinne als soziales Feld und die sozialen Rahmen in metaphorischer Sinne, das heiβt Denkmuster, die unsere Wahrnehmung und Erinnerung beeinflussen, als Zwillingspaar zu definieren sind und sich miteinander ergänzen. Von zentraler Bedeutung ist für Halbwachs also die soziale Gruppe, denn ihre Existenz ist die Voraussetzung für die Entstehung von Sinnwelten und deren Weitergabe. Hinzu kommt es noch, dass das Gedächtnis jedes Individuums sich an bestimmte soziale Gepflogenheiten angleicht, auf welche bei der Erinnerung immer wieder ein Bezug genommen wird. Halbwachs notiert in seinem Werk dazu Folgendes: Es würde in diesem Sinne ein kollektives Gedächtnis und einen Rahmen des Gedächtnisses geben, und unser individuelles Denken wäre in dem Maβe fähig sich zu erinnern, wie es sich innerhalb dieses Bezugsrahmens hält und an diesem Gedächtnis partizipiert.11 Vor dem Hintergrund dieser Überlegung muss folgende Schlussfolgerung gezogen werden: Unsere Wahrnehmung kann als typisch einer Gruppe zugeordnet werden, was wiederum deutlich macht, dass unsere individuellen Erinnerungen sozial bedingt sind, und „beide Formen der Weltzuwendung und Sinnstiftung sind undenkbar ohne das Vorhandensein eines kollektiven Gedächtnisses.“12 Man kann aber nicht davon ausgehen, dass es sich bei dem kollektiven Gedächtnis um eine „[...] von organischen Gedächtnissen losgelöste, überindividuelle Instanz“ handelt.13 Kollektives und individuelles Gedächtnis stehen vielmehr 9 Ebd., S.15. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.15. 11 Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt a.M.: Shurkamp 1985, S.23. 12 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.16. 13 Ebd., S.16. 14 Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt a.M.: Shurkamp 1985, S.23. 15 Halbwachs 1991, S.31. 16 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.16. 17 Ebd., S.16. 10 9 in einer engen Beziehung zueinander, so dass „[...]das Individuum sich erinnert, indem es sich auf den Standpunkt der Gruppe stellt, und das Gedächtnis der Gruppe sich verwirklicht und offenbart in den individuellen Gedächtnissen.“14 Der Beobachtungsprozess des kollektiven Gedächtnisses wird also erst durch individuelle Erinnerungsvorgänge ermöglicht, denn „[...] jedes individuelle Gedächtnis ist ein Ausblickspunkt auf das kollektive Gedächtnis.“15 Dieser Ausblickspunkt ist als Orientierungspunkt zu verstehen, den Menschen infolge ihrer Sozialisation und kulturellen Prägungen einnehmen. Und dass jeder Mensch mehreren sozialen Gruppen wie der Familie, der Religionsgemeinschaft, Belegschaft am Arbeitsplatz angehört, ist wohl eine Binsenweiβheit. Doch er auf Grund der die Tatsache, dass Kombination der Gruppenzugehörigkeiten über ein eigentümliches Erfahrungsmodus und Denksystem verfügt, geht eher über die menschliche Denkroutine hinaus. Von dem Hintergrund dieser Überlegung kann man folgendes schlussfolgern: Der auslösende „Erinnerungsformen und –inhalte“, wodurch nicht zuletzt Faktor unterschiedlicher eine Unterscheidung der Gedächtnisse einzelner Menschen vorgenommen werden kann, ist nicht die Erinnerung selbst, sondern auch die Verknüpfung unterschiedlicher Gruppenzugehörigkeiten.16 Ein anderer Aspekt des Halbwachs’schen Konzeptes sind das Generationsgedächtnis, religiöse Topographie und zwei daraus resultierende Formen der kollektiven Vergangenheitsbildung. Halbwachs unterscheidet verschiedene Ausprägungen kollektiver Gedächtnisse und führt im zweiten Teil von Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen einige soziologische Fallbeispiele an – Familie, Religionsgemeinschaft, soziale Klassen. Das Familiengedächtnis ist ein Sonderfall und stellt eine Option für ein intergenerationelles Gedächtnis17 dar. Seine Träger sind all jene Familienmitglieder, die einen Platz an dem Gesichtskreis der Erfahrung des Familienlebens haben. Ein derartiges kollektives Gedächtnis wird dadurch entworfen, dass man innerhalb des Familienkreises gemeinschaftliche Handlungen ausführt, geteilte Erfahrungen macht und gemeinsam die Vergangenheit vergegenwärtigt. Eine Abweichung von der Regel kommt zum Vorschein etwa bei mündlichen Erzählungen bei Familienfest, wo auch diejenigen am Gedächtnis teilhaben, die das Erinnerte nicht selbst miterlebt haben. Auf diese Art und Weise wird „[...] ein Austausch lebendiger Erinnerung zwischen Zeitzeugen und Nachkommen [...]“ vollzogen.18 Das Generationengedächtnis reicht also so weit zurück, 18 Ebd., S.16. 10 wie sich die ältesten Familienmitglieder zurückerinnern können. Es scheint, dass die Zeitgeschichte und das Generationengedächtnis den einen und denselben Bezug nehmen. Für Halbwachs sind aber die zwei Aspekte unvereinbar. Deswegen trennt er grundlegend das Generationsgedächtnis und die Zeitgeschichte voneinander. Von ihm aus handelt es sich um zwei Formen des Vergangenheitsbezugs, die einander ausschlieβen. Deshalb formuliert er in seinem Das kollektive Gedächtnis eine Vergleichsthese zwischen erlebter und geschriebener Geschichte, in der er betont, dass „[...] die Geschichte im allgemeinen an dem Punkt beginnt, an dem die Tradition aufhört – in einem Augenblick, an dem das soziale Gedächtnis erlischt und sich zersetzt [...].“19 Deshalb spricht er von der Unvereinbarkeit der Geschichte und des Gedächtnisses, weil die Geschichte eine Option für „[...] eine unparteiische Gleichordnung aller vergangenen Ereignisse [...]“ darstellt, in deren Interessenzentrum Gegensätze und Brüche stehen.20 Das kollektive Gedächtnis wiederum, dessen Träger zeitlich und räumlich begrenzte Gruppen sind, betrifft nur einen Teil der Erinnerung, die stark wertend und einer Hierarchie anzuordnen ist. Im Bereich kollektiver Gedächtnisse fungiert also der Vergangenheitsbezug als Identitätsbildung. Es werden nur solche Ereignisse erinnert, die den Interessen der Gruppe entsprechen. An jedem dem Selbstbild nicht angenehmen Event wird mehr oder minder unbewusst oder aber bewusst versucht, es aus der Erinnerung auszulöschen. Akzentuiert werden dabei vor allem Beständigkeiten und Ähnlichkeiten innerhalb der Gemeinschaft, welche ein Zeugnis davon ablegen, dass die Gruppe/Gemeinschaft dieselbe geblieben ist. Die Gruppenzugehörigkeit wird durch die Anteilhabe an dem kollektiven Gedächtnis markiert. Die Geschichte greift logischerweise auf die Vergangenheit zurück. Für Halbwachs ist das kollektive Gedächtnis kein gutes Spiegelbild der Vorzeit. Seine Argumentationsweise läuft darauf hinaus, dass das kollektive Gedächtnis sich an den Bedürfnissen und Belangen der Gruppe in der Gegenwart orientiert und rekonstruiert daher die Geschichte nur selektiv. Es kommen dabei Halbwahrheiten bis zu Unwahrheiten ins Spiel. Die Erinnerung hingegen ist ein Abbild der Vergangenheit. In diesem Sinne notiert Halbwachs folgendes: 19 Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Fischer 1991 (orig.:La mémoire collektive. Paris: Presse universitaires de France 1950), S.31. 20 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.16. 21 Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Fischer 1991 (orig.:La mémoire collektive. Paris: Presse universitaires de France 1950), S.55. 11 Die Erinnerung ist in sehr weitem Maβe eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten und wird im Übrigen durch andere, zu früheren Zeiten unternommene Rekonstruktionen, vorbereitet.21 Im Bezug auf Generationsgedächtnisse nennt Halbwachs als deren Medium die alltägliche Kommunikation und als deren Inhalte in erster Linie individuelle Erinnerungen. Diese Unterscheidung wird von ihm in Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen schon in den Kapiteln zum Adeln und zu religiösen Gruppengedächtnissen und erst recht in seiner späteren Studie zur christlichen Gedächtnis- Topographie Palästinas miteinbezogen. In La topographie légendaire wendet er sich stärker geformten kollektiven Gedächtnissen zu, deren Zeithorizonte über Tausende von Jahren hinwegreichen und die daher der Gegenstände und Gedächtnisorte zur Rahmenbildung bedürfen. Materielle Phänomene – Architektur, Pilgerwege, Gräber etc.- werden dabei vordergründig betrachtet. Er geht damit über den Untersuchungsbereich der kollektiv geprägten Erinnerung an gelebte Geschichte hinaus und tritt in den Bereich des kollektiv konstruierten Wissens über eine ferne Vergangenheit und seiner Überlieferung durch Traditionsbildung. Durch den universalen Charakter des Halbwachs’schen Begriffes des kollektiven Gedächtnisses werden einzelne Elemente seiner Begriffsbildung in verschiedenen Disziplinen adoptiert. Halbwachs selbst wurde dadurch zum Vorvater Unterschiedlicher Theorieentwürfe. Im Bereich der Psychologie ging man immer wieder der Halbwachs’ Theoretisierung der kollektiven Bedingtheit individueller Erinnerung nach und begriff die cadres sociaux als (kulturspezifische) Schemata.22 Im Rahmen der Oral History bezog man sich auf seine Untersuchungen zum Generationen- und Alltagsgedächtnis. Im Bezug auf seine Theorie der Gebundenheit des kollektiven Gedächtnisses an Raum und Gegenstände erscheint er als richtungsweisend für kulturwissenschaftliche Ansätze, die sich mit der Überlieferung kulturellen Wissens befassen. Drei Dimensionen von Halbwachs’ Konzept der mémoire collektive und einige Zweige ihrer wissenschaftlichen Weiterführung.23 Der zweite bedeutende Entwurf einer Konzeption des kollektiven Gedächtnisses geht ebenfalls auf einen Wissenschaftler der 19020er Jahre zurück. Abraham Moritz Warburg genannt Aby Warburg (1886-1929) war Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler und der 22 Vgl. Bartlett, Frederic C.: Remembering. A Study in Experimental and Social Psychology. Cambridge: Cambridge UP 1932 23 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.18. 12 Begründer der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg in Hamburg. Gegenstand seiner Forschung war das Nachleben der Antike in den unterschiedlichsten Bereichen der abendländischen Kultur bis in die Renaissance. Dank seiner Forschung und langjähriger Arbeit etablierte sich Ikonologie (Symbolkunde) als eigenständige Disziplin. Mit Warburgs Bibliothek war ein Kreis von so bedeutenden Forschern wie Ernst Cassirer, Erwin Panofsky und Hellmut Ritter verbunden. Angesichts der Gefahr seitens der Nazis musste die Bibliothek im Jahre 1933 nach London gerettet werden. Seit 1944 ist das Warburg Institute ein Teil der University of London. Die Hamburger Warburg-Stiftung gibt in Zusammenarbeit mit dem Berliner Akademie Verlag den Nachlass Aby Warburgs heraus. Doch erst Mitte der 1920er Jahre versuchte er seine kulturwissenschaftliche Forschung mit einer Theorie des kollektiven Gedächtnisses in Zusammenhang zu bringen. Von seiner Beobachtung der Wiederkehr künstlerischer Formen (z.B. bewegte Gewandmotive antiker Fresken in Renaissancegemälden Boticellis und Ghirnlandaios oder gar auf Briefmarken der 1920er Jahre ) heraus formulierte er die These, dass das Phänomen der Aneignung der Antike durch Künstler späterer Epochen auf die „erinnerungsauslösende Kraft kultureller Symbole“ zurückzuführen ist.24 Eine besondere Bedeutung kommt dabei den so genannten Pathosformeln zu. Solche Symbole, in denen sich das antike Pathos niedergeschlagen hatte, bezeichnete Warburg als Pathosformeln. Als gutes Beispiel dafür gilt der Versuch der Renaissancekünstler, Höchststufe des menschlichen Ausdrucks -leidenschaftliche Erregung in Gebärde oder Physiognomie – darzustellen, bei dem sie einen Bezug auf die Symbolik antiker Vorbilder genommen haben. Bei der Erklärung des den Symbolen innenwohnenden Affektgehalts stützte er sich auf das Modell des Gedächtnispsychologen Richard Semon. Bei Pathosformeln, so Warburg, handelt es sich „[...] um kulturelle Engramme oder Dynmogramme, die mnemische Energie speichern und unter veränderten historischen Umständen oder an weit entfernten Orten wieder zu entladen vermögen [...].“25 Kultur basiert auf dem Gedächtnis der Symbole, die wiederum als Energiekonserve26 aufzufassen sind. Ausgerüstet mit diesen Vorüberlegungen machte sich Warburg an den Entwurf des Konzeptes des kollektiven Bildgedächtnisses heran, das er unter anderen auch als soziales Gedächtnis 24 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.19. Ebd., S.19. 26 Ebd.,S.19. 27 Vgl. Gombrich,Ernst H..: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biorgaphie. Hamburg: Europäische VerlagsAnstalt 1992 (orig.: Aby Warburg. An Intellectual Biography. London: Warburg Institute 1970) 25 13 bestimmte. Für Warburg sind mit dem sozialen Gedächtnis zutiefst moralische Fragen verbunden, denn das antike Pathos als Erinnerung ist zugleich eine Herausforderung an den Künstler, sich Warburg betont, dass das soziale Gedächtnis jederzeit aktualisiert und auch verändert werden kann. So spricht er auf Grund der Untersuchung des spezifischen Zusammenspiels von Kontinuität und Umdeutung kultureller Symbolik in Kunstwerken von Rückschlüssen auf die mentale Dimension der Kultur. In diesem Sinne notiert erweiternd ein anderer Denker Gombrich Folgendes: Die Abweichungen der Widergabe, im Spiegel der Zeit erschaut, geben die bewusst oder unbewusst auswählende Tendenz des Zeitalters wieder und damit kommt die wunschbildende, idealsetzende Gesamtseele an das Tageslicht.27 Es wird hiermit darauf hingedeutet, dass die Erinnerung an die Vergangenheit sich in Abhängigkeit von dem Zeitalter, in dem es erinnert wird, und den Idealvorstellungen des in der Vorzeit Geschehenen, vollzieht. Wie immens wichtig der Gedächtnisbegriff für Warburgs Denken war, zeigt sein letztes Ausstellungsprojekt, das den Namen Mnemosyne(1924 - 1929) trägt- den Namen derjenigen Muse, die für Erinnerung steht und Mutter der übrigen Musen ist. Es geht um einen Atlas, der „[...] ein epochen- und länderübergreifendes Bildgedächtnis [...]“ darstellt. 28 Daraus treten „Erinnerungsgemeinschaften“ hervor, die scheinbar Europa und Asien miteinander verbinden. Wie immens wichtig der Gedächtnisbegriff für Warburgs Denken war, zeigt sein letztes Ausstellungsprojekt, das den Namen Mnemosyne (1924 - 1929) trägt- den Namen derjenigen Muse, die für Erinnerung steht und Mutter der übrigen Musen ist. Es geht um einen Atlas, der „[...] ein epochen- und länderübergreifendes Bildgedächtnis [...]“ darstellt. Daraus treten „Erinnerungsgemeinschaften“ hervor, die scheinbar Europa und Asien miteinander verbinden.29 Indem Warburg für seinen Gedächtnisbegriff mitsamt des Ausdruckes >soziales Gedächtnis< auch den des europäischen Kulturgedächtnisses herangezogen hat, weitete er die Trägerschaft enorm aus. Dies kommt in Frage, weil Warburg als das ausschlaggebende Zeug des Kollektivgedächtnisses nicht die mündliche Rede, sondern das Kunstwerk annimmt, das über lange Zeiten und weite Räume hinweg reicht. Man kann also schlussfolgern, dass der Warburgs Gedächtnisbegriff auch seinen Ausdruck in „[...] historisch variablen und gruppenoder nationenspezifischen Ausprägungen kultureller Erinnerung [...]“ findet.30 Dieser Begriff 28 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.20. Ebd., S.20. 30 Ebd., S.21. 29 14 trägt auch dazu bei, dass man die Ausprägungen kultureller Erinnerung und deren Einreihung in die europäisch-asiatische Erinnerungsgemeinschaft nicht aus dem Blickfeld verliert. Jan und Aleida Assmann sind diejenigen, die Ende der 1980er Jahre den Begriff des kulturellen Gedächtnisses geprägt haben. Damit setzte im deutschsprachigen Raum eine intensive Diskussion im Rahmen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung ein. Dank der Theorie des kulturellen Gedächtnisses wurde das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Kultur und Gedächtnis aufgezeigt, begrifflich differenziert und theoretisch begründet. Vor allen Dingen durch die Assmann’sche Hervorhebung des Zusammenhangs von kultureller Erinnerung, kollektiver Identitätsbildung und politischer Legitimierung werden Phänomene beschreibbar, auf welche der kulturwissenschaftliche Fokus seit 1980er Jahren gerichtet wird. Hinzu kommt noch die Vereinbarung bislang angeblich nicht zueinanderpassender wissenschaftlicher Zweige, wodurch ein gemeinsames Forschungsfeld für etwa Geschichtswissenschaft, Altertumswissenschaft, Religionswissenschaft, Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft oder Soziologie geöffnet wurde. Die Autoren des Konzeptes des kulturellen Gedächtnisses griffen auch die Halbwachs’ Theorie des kollektiven Gedächtnisses auf. Sie nahmen dabei begriffliche Trennung zweier Register des kollektiven Gedächtnisses vor. Sie gehen davon aus, dass zwischen einem kollektiven Gedächtnis, das auf mit Symbolen beladenen Objektivationen basiert und einem kollektiven Gedächtnis, das auf Alltagskommunikation fuβt, ein qualitativer Unterschied besteht.31 Deswegen unterscheiden sie zwischen zwei „Gedächtnisrahmen“, dem >kulturellen Gedächtnis< auf der einen Seite und dem >kommunikativen Gedächtnis< auf der anderen Seite.32 Zum Zweck des Vergleichs und um aufzuzeigen, wie grundlegend sich Inhalte, Formen, Medien, Zeitstruktur und Träger dieser beiden Gedächtnis-Rahmen voneinander unterscheiden, hält Jan Assmann Merkmale des kulturellen Gedächtnisses und des kommunikativen auseinander. Wenn man also die Merkmale der beiden Gedächtnisrahmen komparatistisch heranzoomt, dann können folgende Schlussfolgerungen gezogen werden: 1) Das kommunikative Gedächtnis entsteht durch alltägliche Wechselbeziehungen zwischen Menschen. Das kulturelle Gedächtnis hingegen ergibt sich aus einer hochgradig gestifteten und zeremonialisierten, zum Beispiel während eines Festes, vergegenwärtigten Erinnerung. 2) Das kommunikative Gedächtnis bezieht sich stets auf einen „begrenzten, mitwandernden Zeithorizont“ von ca. 80 bis 100 Jahren. und das kulturelle wiederum auf eine ferne 31 32 Vgl. ebd., S.27. Ebd., S.27. 15 Vergangenheit bis hin an die Antike.33 3) Während die Inhalte des kommunikativen Gedächtnisses sich verändern und wird ihnen keine besondere Bedeutung zugeschrieben (nicht zuletzt deswegen, weil jeder berechtigt ist, die gemeinsame Vergangenheit zu erinnern) gilt das kulturelle als „Transporter“ eines festen Bestands an Inhalten und Sinngebungen, die mit Hilfe ausgebildeter Spezialisten fortgesetzt und interpretiert werden (z.B. Priester, Schamanen,Archivare). Der eigentliche Fokus der Assmann’schen Forschung fällt auf das kulturelle Gedächtnis. Nun scheint es erforderlich zu sein, den Begriff des kulturellen Gedächtnisses noch näher zu präzisieren. In dem 1988 erschienen Aufsatz >>Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität<< formte Jan Assmann den Begriff >kulturelles Gedächtnis< und definierte ihn wie folgt: Unter dem Begriff kulturelles Gedächtnis fassen wir den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, Bildern und – Riten zusammen, in derer >Pflege< sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschlieβlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt.34 Inwieweit der Begriff >kulturelles Gedächtnis< hineingespielt werden kann, lässt sich auf Grund einiger Termini veranschaulichen, die zugleich als zentrale Merkmale des kulturellen Gedächtnisses gelten: 1) „Identitätskorrektheit“ – damit ist die Bildung des kulturellen Gedächtnisses innerhalb einer sozialen Gruppe gemeint, aus dem sie ihre Identität ableiten;35 2) „Rekonstuktivität“ – es wird stets von der Gegenwartsperspektive her erinnert, was wiederum auf den retrospektiven Charakter des kulturellen Gedächtnisses hindeutet; 36 3) „Geformtheit“ – ist ein signifikantes Merkmal des kulturellen Gedächtnisses, mit Hilfe dessen die Unterscheidung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnisrahmen vorgenommen werden kann. Hiermit ist die Tatsache gemeint, dass das kulturelle Gedächtnis nur mittels fester Ausdruckformen und Medien fortgesetzt werde kann ;37 4) „Organisiertheit“ – weist auf den institutionellen Charakter des kulturellen Gedächtnisses und auf die Spezialisierung dessen Trägerschaft;38 5) „Verbindlichkeit“ des kulturellen 33 Ebd., S.28. Assmann, Jan &Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988. 35 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.28. 36 Ebd., S.28. 37 Ebd., S.28. 38 Ebd., S.29. 34 16 Gedächtnisses – aus der sich eine >klare Wertperspektive und ein Relevanzgefälle< ergibt; 39 6) „Reflexivität“ – das Merkmal verweist auf den Umstand, dass das kulturelle Gedächtnis die Lebenswelt und das Selbstbild der Gruppe, innerhalb deren erinnert wird, und ja auch sich selbst reflektiert.40 Jan Assmanns Das kulturelle Gedächtnis (1992) gilt trotzt neuer Forschungen zum Gedächtnis im deutschsprachigen Raum als die immer noch einflussreichste, worauf im Rahmen wissenschaftlicher Arbeiten bezüglich des Gedächtnisdiskurses immer wieder Bezug genommen wird. Dies veranschaulicht die Verbindung von Erinnerung, kollektiver Identitätsbildung und politischer Machtausübung. Darüber hinaus werden darin Unterschiede und Gemeinsamkeiten oraler und skripturaler Kulturen herausgestellt. Mündlichkeit und Schriftlichkeit haben als zentrale Medien des kulturellen Gedächtnisses grundsätzlich die gleiche Funktion. Sie fungieren also als „Herrsteller kultureller Kohärenz.“41 Hinzu kommt es noch, dass sowohl mündliche als auch schriftliche Ausdrücke von Kultur(en) die Vergegenwärtigung kultureller Vorzeit ist. In diesem Sinne betont Erll Folgendes: Orale Kulturen sind auf die genaue Wiederholung ihrer Mythen, auf Repetition, angewiesen, denn das kulturelle Gedächtnis wird in den organischen Gedächtnissen der Sänger und Schamanen bewahrt und jede Variation könnte den Überlieferungszusammenhang gefährden.42 Das menschliche Gedächtnis kann wie jedes andere menschliche Organ Verluste erfahren. Auf Grund der organichen Ausprägung menschlichen Gedächtnisses besteht die Gefahr, dass das Vergangene fälschlicherweise oder aber infolge des Gedächtnisverlustes überhaupt nicht wiedergegeben wird. Textuelle Kohärenz wiederum ist schriftlich fixiert. Die Schrift als Medium ist hiermit eine Art Schütz des kulturellen Sinns. Sie kann aufbewahrt und gepflegt werden. Die Flanken für eine spätere Wiederaufnahme sind aber nicht immer ganz abgesichert. Die Schrift innerhalb eines Buches oder Dokumente, die als eine besondere Kulturerbe gelten, kann z.B. in Kriegsverhältnissen zerstört werden. Abgesehen davon werden die „[...] verbindlichen, kanonischen Texte des kulturellen Gedächtnisses [...]“ immer von Gegenwartsperspektive her reflektiert kommentiert, bzw. kritisiert.43 Die Fallstudien die im Rahmen des zweiten Teiles von Das kulturelle Gedächtnis gemacht wurden, belegten 39 40 41 Ebd., S.29. Ebd., S.29. Vgl. Ebd., S.30. Ebd., S.30. 43 Ebd., S.30. 42 17 engste Verschränkung der Schrift, des kulturellen Gedächtnisses, politischer Identität miteinander. In seinem 1999 veröffentlichten Buch Erinnerungsräume unterscheidet Aleida Assmann zwischen Gedächtnis, das als Kunst oder Technik aufzufassen ist und Gedächtnis, das als ein Wissensaufbewahrer, in den „Informationen eingelagert und in gleicher Form abgerufen werden können“.44 Um Vorgänge der Wiederabrufung und des Vergessens von Inhalten des kulturellen Gedächtnisses beschreibbar zu machen, geht Aleida noch einen Schritt weiter und unterscheidet zwischen Funktions- und Speichergedächtnis. Das Funktionsgedächtnis bezeichnet Assmann als das „bewohnte Gedächtnis.“45 Es besteht aus vielen Elementen, welche zu einem zusammenhängenden Ganzen verknüpft werden können und somit die Gegenwart auf einer bestimmten Vergangenheit fundieren. Das Speichergedächtnis wiederum ist ein „unbewohntes Gedächtnis“, dessen einzelne Elemente für Gruppenbezug, Wertbindung und Zukunftsorientierung nicht von Belang sind, weil sie keine Referenz auf die Gegenwart aufweisen. Dazu äuβert sich Jan Assmann folgendermaβen: Auf kollektiver Ebene enthält das Speichergedächtnis das unbrauchbar, obsolet und fremd Gewordene, das neutrale, identitäts-abstrakte Sachwissen, aber auch das Repertoire verpasster Möglichkeiten, alternativer Optionen und ungenutzter Chancen. Beim Funktionsgedächtnis dagegen handelt es sich um ein angeeignetes Gedächtnis, das aus einem Prozeβ der Auswahl, der Verknüpfung, der Sinnkostitution [...] hervorgeht. Die strukturlosen, unzusammenhängenden Elemente treten ins Funktionsgedächtnis als komponiert, konstruiert, verbunden ein. Aus diesem konstruktiven Akt geht Sinn hervor, eine Qualität, die dem Speichergedächtnis grundsätzlich abgeht.46 Das ist darauf zurückzuführen, dass im Bereich des Funktionsgedächtnisses nur strategisch, perspektivisch (mit Anteilnahme kollektivistischer Handlungssubjekte während Festen öffentlicher Rituale, Gedächtnisfeier in der Liturgie) erinnert wird. Und als Medien des Speichergedächtnisses gelten Literatur, Kunst, Wissenschaft, die nur von Individuen, bzw. innerhalb der Kulturgemeinschaft aufgenommen werden. Aleida Assmann spricht noch von einer perspektivischen Beziehung der beiden Formen der Erinnerung. Das Speichergedächtnis wird dabei hintergründig betrachtet, was noch nicht lange bedeutet, dass ihm keine Bedeutung zukommt. Es dient als „Reservoir“ zukünftigen Funktionsgedächtnisses, das zweckgemäβ 44 Ebd, S.31. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.31. 46 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992, S.137. 45 18 angelegt wird. Man unterscheidet daher zwischen Vergangenheit, in die man als Handlungsbeteiligter verstrickt war und vergangenem Erlebnis. 2.3 Pierre Nora: Lieux de mémoire Halbwachs’ und Warburgs Schriften gelten heutzutage als zentrale Grundlegungen der Theoriebildung zum kollektiven Gedächtnis. Bevor sie aber ein breites Echo fanden, hatte sich der Zweite Weltkrieg beenden müssen. Ungefähr erst ein Jahrzehnt vor dem Fall des Eisernen Vorhangs in Ostmitteleuropa, also in den 1980er Jahren, wurden die Konzepte auf einer interdisziplinär – kulturwissenschaftlichen Ebene wieder aufgenommen. Aufgegriffen und erweitert hat sie der französische Geschichtswissenschaftler Pierre Noras in seinen lieux de mémoire. Als Ausgangpunkt für seine Überlegungen übernahm er die Halbwachs’sche Trennung zwischen Geschichte und Gedächtnis. Ebenfalls wie Halbwachs findet Nora die Geschichte und Gedächtnis keineswegs als Synonyme, sondern vielmehr als Gegensätze. Anders als Halbwachs, der von der Existenz kollektiver Gedächtnis ausgeht, geht Nora im Hinblick auf unsere Zeit vom fehlenden Bestand des Gedächtnisses aus. Daraus resultiert nach Position von Nora die intensive Beschäftigung mit dem Gedächtnis, wenn es heiβt: „ Nur deshalb spricht man so viel vom Gedächtnis, weil es keines mehr gibt.“47 Nora zufolge neigt sich die Zeit der Erinnerungsgesellschaften und Erinnerungsideologien dem Ende zu. Einen Einfluss darauf nehmen die Erinnerungskulturen der Emigranten aus den französischen Kolonien, sowie moderne Mediengesellschaft, die mit wachsender Demoktratisierung einhergeht. Diese Faktoren bringen offensichtlich die französische Nationalerinnerung ins Wanken. Deshalb zum Gegenstand seiner Reflexion werden „Erinnerungstorte“, die Erinnerungsbilder einer Nation aufrufen.48 Sie können auf der einen Seite geographische Orte, Denkmäler, Gebäude und Kunstwerke umfassen ebenso wie historische Persönlichkeiten, Gedankentage, philosophische und wissenschaftliche Texte oder symbolische Handlungen. Auf der anderen Seite sind sie nicht im Stande, ein kollektives Gedächtnis im Halbwachs’schen Sinne zu konstituieren. Nach Nora wurzeln die französischen Erinnerungsorte, wie zum Beispiel Paris, Versailles oder Eiffelturm, in dem 19. Jahrhundert, also in der Zeit der III. Republik. Zu damaliger Zeit war das kollektive Gedächtnis noch in der Lage, kollektive Identität zu fördern. Für Nora leben wir heute in einer 47 48 Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Fischer 1998 [1990], S.11. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.23. 19 Übergangszeit, in der man immer weniger auf die „ [...] lebendige, gruppen- und nationenspezifische, indentitätsbildende Vergangenheit [...]“ zurückgreift.49 Deshalb spielen Erinnerungsorte eine Ersatzfunktion für das nicht mehr vorhandene, natürliche kollektive Gedächtnis. Les lieux de mémoire sind eine Sammlung von Aufsätzen, in denen Nora Elemente der französischen Kultur beschreibt. Zwar veranschaulichen sie Aspekte einer gemeinsamen Vergangenheit. Doch auf Grund ihrer verschiedenen Formen und Arten ergeben sie „kein verbindliches Gesamtbild der Erinnerung“ .50 Jedes Individuum wird selbständig entscheiden, an welchen Ort es sich erinnern wird. Zudem ist die Trennung der Vergangenheit von der Gegenwart zu groβ, sodass Erinnerungsorte, welche vom heutigen Standpunkt heraus betrachtet werden, nur sentimentalische Reaktionen bewirken können. Darum sind Erinnerungsorte Zeichen, die nicht nur auf zu erinnernde Aspekte der Vergangenheit, sondern auch auf das „abwesende lebendige Gedächtnis“ hinweisen.51 In seinen mehr von theoretischer Seite vorgetragenen Vorüberlegungen erläutert Nora ausführlich, welche Voraussetzungen ein Ereignis oder Gegenstand erfüllen muss, um als Erinnerungsort bezeichnet werden zu können. Ihm zufolge scheiden sich die Erinnerungsorte in drei Dimensionen: eine materielle, eine funktionale und eine symbolische: 1) Materielle Dimension: Es geht hiermit um kulturelle Objektivationen im weitesten Sinne. Es werden hierzu nicht nur Gegenstände gerechnet, die man anfassen kann(z.B. Gemälde, Bücher), sondern auch vergangene Ereignisse sowie Schweigeminuten. Nora sieht die Tatsache darin begründet, dass sie auch „ein materieller Ausschnitt einer Zeiteinheit“ sind.52 2) Funktionale Dimension: Es handelt sich dabei um eine bestimmte Funktion der Objektivationen innerhalb der Gesellschaft: Berühmte Bücher beispielsweise, wie die Historie de France von Ernest Lavisse, werden zuerst mal zu einem bestimmten Zweck angefertigt. Erst dann avancieren sie zum Erinnerungsort. Dahingehend fungierte die Historie de France als Schulbuch, nach dessen Aufbau der Unterricht in 49 Ebd., S.23. Ebd., S.23. 51 Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Fischer 1998 [1990], S.32. 52 Ebd., S. 32. 53 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.24. 50 20 Frankreich ablief. Die bereits erwähnte Schweigeminute hat die Funktion, „periodisch eine Erinnerung wachzurufen.“53 3) Symbolische Dimension: Als letzter Schritt auf dem Weg, Erinnerungsort zu werden, muss der Objektivation neben ihrer Funktionalität noch eine Bedeutung beigemessen werden. Dies gilt zumal für solchen Fall, wenn Handlungen zum Ritual werden oder Orte sagen- und auraumwoben sind. Erst durch intentionale symbolische Hervorhebung wird ein Gegendstand der Kultur zum Erinnerungsort. Diese Würdigung der Objektivation kann sich dabei zum Zeitpunkt ihrer Entstehung oder aber nachträglich vollziehen. Die zwei letzten Merkmale, Symbolik und Intentionalität, welche die symbolische Dimension ausmachen, unterscheiden Erinnerungsorte von anderen kulturellen Objektivationen. In diesem Zusammenhang notiert Nora Folgendes: Am Anfang muss es einen Willen geben, etwas im Gedächtnis festzuhalten. Gäbe man das Prinzip dieser Vorgängigkeit auf, würde man schnell von einer enggefassten Definition [...] zu einer möglichen, aber unscharfen Definition abgleiten, die theoretisch jedes einer Erinnerung würdige Objekt einschlösse.54 Mit anderen Worten – damit ein Objekt als Erinnerungsort bezeichnet werden kann, muss es bestimmter Voraussetzungen gerecht werden. Es muss mit seiner Funktion und Intention den Menschen dazu bewegen, dass er es im Gedächtnis behält, sodass es für ihn eine Art Quelle symbolischer Kraft bedeutet. Im Rahmen der drei Bände- La République, La Nation und Les France wird aber das „Gesicht“ der Erinnerungsorte noch dekonstruiert. Als lieux de mémoire kommen zum Schwerpunkt erinnerungswissenschaftlicher Studien neue Komponenten hinzu. Dazu gehören Redeweise (>Streben für das Vaterland<), Denkfiguren (>Guallisten und Kommunisten<) oder soziale Umgangsformen (>Galanterie<). So macht viele Kritiker stutzig, was als Erinnerungsort verstanden werden kann. Als Beantwortung dieser Frage scheinen alle kulturellen Phänomene zu sein, die auf kollektiver Ebene bewusst oder unbewusst eine Beziehung mit Vergangenheit oder nationaler Identität aufweisen. Im weiteren Sinne handelt es sich bei den Erinnerungsorten um einen Objektbereich, der von unterschiedlichsten Disziplinen als Anregung zu Untersuchungen genommen werden kann. Kaum verwunderlich also, dass Noras Projekt auch in anderen Ländern Anklang fand. Noras Methode hat den 54 Ebd., S. 32. 21 Anstoβ zu dem Projekt Deutsche Erinnerungsorte von Etienne François und Hagen Schulze (2001) gegeben, das im Gegensatz zu französischen Vorbild stark europäisch orientiert ist. Darüber hinaus werden auch Nationen und Regionen nach dem Muster von Noras Lieux de mémoire betrachtet. Ein prägnantes Beispiel dafür sind amerikanische sites of memory (Kammen 1991; Hebel 2003) italienische luoghi della memoira (Isnenghi 1987) Gedächtnisorte in Quebec (Koloom/Grzonka 2002) und transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa (Le Rider et al.2002).56 2.3.1 Erinnerungsphänomen im Rahmen des Gieβener Sonderforschungsbereiches 434 Mit Hilfe der Deutschen Forschungsgemeinschaft wurde 1997 an der Justus – LiebigUniversität Gieβen der Sonderforschungsbereich (SFB) Erinnerungskulturen gegründet. Der SFB befasst sich mit Inhalten und Formen kultureller Erinnerung von der Antike bis ins 21. Jahrhundert. Mit vereinten Kräften untersuchen das Erinnerungsphänomen samt Germanisten und Historikern auch Latinisten, Gräzisten, Kunsthistoriker, Romanisten, Anglisten, Orientalisten, Philosophen, Politologen und Soziologen. Ziel der SFB Erinnerungskulturen ist „eine konsequente Historisierung der Kategorie der historischen Erinnerung“.57 Es wird damit dem Assmann’schen Modell des kulturellen Gedächtnisses ein Konzept gegenübergestellt, das vor allem die Pluralität der kulturellen Erinnerung in den Mittelpunkt stellt. Es kommt zum Vorschein in der Bevorzugung des Erinnerung – Begriffs vor dem Gedächtnis – Begriff. Darüber hinaus lässt die Verwendung des Plurals – Erinnerungskulturen – die Vielfalt und historisch- kulturelle Variabilität von Erinnerungspraktiken und – konzepten zu. Im Rahmen des SFB Erinnerungskulturen wurde ein Modell zur Beschreibung von kulturellen Erinnerungsprozessen entworfen, das 3 strukturelle Ebenen darstellt. Auf einer ersten Intergrationsstufe werden Rahmenbedingungen des Erinnerns untersucht, die durch vier Faktoren bestimmt sind: 56 57 Vgl. Ebd., S.26. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimer: J.B. Metzler 2005, S.34. 22 1) die Gesellschaftsformation58 - innerhalb der erinnert wird ( Adelsgesellschaft, bürgerliche Gesellschaft, funktional differenzierte Gesellschaft der Postmoderne), 2) ihre von einer bestimmten Epoche bedingte Wissensordnung59, 3) ihr Zeitbewusstsein60 das von dem historischen Wandel geprägt wird 4) ihre Lage angesichts gesellschaftlicher Umbrüche, welche die Zahl der Interpretationsmuster der Vergangenheit in groβem Maβe intensivieren Auf einer zweiten Ebene findet eine Formierung spezifischer Erinnerungskulturen statt. Auch hier können 4 Aspekte herausgesondert werden, die sich im Fokus des Interesses befinden: a) Erinnerungshohheit61, deren gesellschaftliche Ausprägung auch die Vormachtstellung innerhalb anderer Erinnerungskulturen bedeuten kann, b) die Erinnerungsinteressen62 verschiedener gesellschaftlicher Gruppen; sie können in Opposition zueinander stehen, oder aber einander ergänzen, c) die Erinnerungsstrategien63, die sowohl auf die Steigerung der Gedächtnisleistung als auch auf Gedächtnismedientechnologien hinausläuft, d) die Erinnerungsgattungen64 (wie etwa Historienbild, Gedächtnisfilm, historischer Roman oder Historiographie) Die dritte Ebene stellt die Äuβerungsformen und Arten der Wiedergabe des auf die Vergangenheit bezogen Sinns dar und beinhaltet zugleich das konkrete Erinnerungsgeschehen65. Auf dieser ebene wird zwischen Erinnerung und Gedächtnis differenziert. Die Erinnerung ist hierbei ein abrufbarer Prozess von Vergangenheit, der aber einem Wandel unterworfen ist. Kulturelles Gedächtnis wiederum wird als eine Komponente verstanden, die diskursiv aufzugreifen ist. Der Typus der Erinnerungsarbeit reicht dabei von wissenschaftlich-diskursiven bis zu rein imaginativ-fiktiven Strategien. Darüber hinaus wird eine Unterscheidung zwischen erfahrener und nicht-erfahrener Vergangenheit vorgenommen. Man unterscheidet daher zwischen Vergangenheit, in die man als Handlungsbeteiligter verstickt war und vergangenem Erlebnis jenseits der „Erfahrungsschwelle“.66 Ein weiterer 58 Ebd., S.34. Ebd., S.35. 60 Ebd., S.35. 61 Ebd., S.35. 62 Ebd., S.35. 63 Ebd., S.35. 64 Ebd., S.35. 65 Ebd., S.35. 66 Ebd., S.35. 59 23 wichtiger Aspekt ist die Weise, auf welche man die Gegenstände und Medien ( Objektivationen ) des kulturellen Gedächtnisses aufgenommen hat. Es ist dabei zu unterscheiden zwischen dem Zweck der Botschaft Gedächtnismedium und dessen tatsächlichen Aufnahme durch historische Erinnerungskulturen. Der Erinnerungswert kultureller Objektivationen ist geschichtlich, sozial und kulturellbedingt. Den Mittelpunkt der Forschung und Publikationen des SFB Erinnerungskulturen macht vor allen Dingen die zweite Ebene des obigen Models ( Formierung spezifischer Erinnerungskulturen ) aus, wodurch ein nicht zu unterschätzender Beitrag zu einer kulturhistorischen Gedächtnisforschung geleistet wird. 2.4 Gedächtnis und Erinnerungskturen in geschlossenen Gesellschaften des Realsozialismus Das Gedächtnis ist einem ständigem Wandel unterworfen. Ausschlaggebend für jeweilige Erinnerung ist der Zeitpunkt, aus dessen Perspektive heraus erinnert wird. Darüber hinaus scheint dabei erforderlich zu sein, auf das Funktionieren eines natürlichen Ausscheidungsmechanismus hinzuweisen. Denn die Menschen werden älter, und im Laufe der Zeit ändert sich der Blick auf die Vergangenheit, was nicht zuletzt mit der Veränderung vom Selbst- und Fremdbild einhergeht. Doch zur Veränderung des Erinnerungsbildes innerhalb kollektiver Gemeinschaftsgruppen tragen besonders politische Machtstrukturen bei, welche die praktizierte spezifischen Fällen zur Erinnerungspolitik67 stark beeinflussen. Daher kann es in Verdrängung unangenehmer Erinnerungen sowie zur Beeinträchtigung bestimmter Erinnerungsformationen68 kommen. In diesem Zusammenhang notiert Paweł Zimniak in seinem Beitrag Verlorene Heimat – zum deutschen Topos in der polnischen Erinnerungskultur nach 1945 Folgendes: Das Gedächtnis hat einen prozesshaften Charakter, der von dauernden Erinnern und Vergessen – das Vergessen ist dabei kein Löschen, sondern eine Art semiotische Ruhepause – sowie ständiger (Neu)Erzeugung von Vergangenheit bestimmt wird. Die jeweils praktizierte Erinnerungspolitik muss deshalb mit der Vergessens- und Verdrängenspolitik im Zusammenhang gedacht werden. In der wissenschaftlichen Praxis wie bei der Kreierung von Identitätsbildern ist jedoch Zimniak, Paweł: Verlorene Heimat – Zum deutschen Topos in der polnischen Erinnerungskultur nach 1945. In: Gansel, Carsten (Hg.): Gedächtnis und Literatur in geschlossenen Gesellschaften des Real – Sozialismus zwischen 1945 und 1985, S.75. 68 Ebd., S.76. 69 Ebd., S.75. 70 Ebd., S.76. 67 24 die Allianz von Herrschaft und Gedächtnis als retrospektive Entdeckung und prospektive Legitimierung der Geschichte eine bessere Lösung als die Allianz von Herrschaft und Vergessen zwecks der Verhinderung bestimmter Erinnerungsformationen.69 Vor dem Hintergrund dieser Überlegung muss betont werden, dass in Geschichtsbüchern eines Landes die Erinnerungen an die Vergangenheit festgehalten sein sollten, welche auch womöglich auf das jeweilige Land negatives Licht werfen. Peter Burke untermauert dies, indem er von einer öffentlich-privaten Zensur unangenehmer und peinlicher Erinnerungen spricht, wodurch zugleich die Geschichte nach dem Muster der Sowjet – Enzyklopädie70 umgeschrieben oder neu geschrieben wird.71 Burke hebt in seinen Überlegungen diesen Aspekt der Erinnerungsbildung deshalb hervor, weil es kollektiv und individuell vertretbar ist, nicht nur „[...] ein Gedächtnis rühmenswerter Taten zu stabilisieren.“72 Ausgehend von der kulturwissenschaftlichen Unterscheidung in kommunikatives, kollektives, kulturelles Gedächtnis scheint es erforderlich zu sein, der Frage nach der Funktion des Gedächtnisses der Literatur in der DDR, sowie anderen Ländern des Real – Sozialismus nachzugehen. Es müssen also hierbei die Besonderheiten der Ausprägung des kulturellen Gedächtnisses in totalitären, bzw. autoritären politischen Systemen in Kürze herausgestellt werden. Wichtig ist die Formierung des kulturellen Gedächtnisses in den sich als „[...] Diktatur des Ploretariats verstehenden Gesellschaften [...].“73 Der Umgang der Polen mit dem Thema des Flucht- und Vertreibungskomplexes der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg aus den Ostgebieten, bzw. der durch die Geschichte legitimierten und gerechten Rückkehr der Westgebiete zum polnischen Mutterland, worauf man zugleich mit Skepsis und Kritik eingehen sollte, gibt exemplarisch ein Zeugnis davon, wie ein spezifisches kulturelles Gedächtnis in einem Land des realexistierenden Sozialismus ausgeformt wurde. In diesem Kontext notiert Carsten Gansel Folgendes: Der Umgang mit dem Gründungsmythos Antifaschismus, dem Lagerdiskurs, dem Kriegserlebnis, dem Holocaust [...] gibt exemplarisch Auskunft darüber, wie ein spezifisches kulturelles Gedächtnis in den Ländern des Real – Sozialismus ausgeformt wurde und mit welcher Absicht welche Gründungsmythos Über 71 Vgl. ebd., S.76. 72 Ebd., S.76. Gansel, Carsten : Gedächtnis und Literatur in geschlossenen Gesellschaften der Real – Sozialismus zwischen 1945 und 1985. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S.11. 73 25 narrative Texte, ikonische wie rituelle Formen in das kollektive Gedächtnis >transportiert< wurden. Dieser Umstand erfordert es, neben dem >Symbolsystem< auch das >Handlungs- bzw. Sozialsystem Literatur< in den Blick zu bekommen Denn letztendlich sind es die sehr verschiedenen Handlungen, also Handlungsrollen und die entsprechenden Institutionen, die entscheidend für die Ausformung des kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses in den Ländern des Real – Sozialismus waren (u. a. Verlage, Parteiapparat, Ministerium für Staatsicherheit, Schule). In diesem Zusammenhang spielt auch der Aspekt von Kanonisierung bzw. Kanonbildung für die Ausbildung des kulturellen Gedächtnisses eine gewichtige Rolle.74 Von dieser Überlegung heraus muss darauf hingewiesen werden, dass der Staatsapparat der kommunistischen Macht, die auf eine sorgfältige Unterdrückung mit beständiger Einübung in Verrat und die Überwachung aller sowohl staatlicher als auch privater Institutionen abzielte, eine ausschlaggebende Rolle für die Bildung des kulturellen und kollektiven Gedächtnisses spielte. 3 Literatur in narratologischer Perspektive 3.1 Das Erzählen und das Erzählte Wer sich mit literarischen Texten befasst, der muss sich zugleich auf die Ebenen des Was und des Wie einlassen, denn es besteht ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Gehalt einer Erzählung und seiner Darstellungsform. Wenn man aber sich mit den Ebenen des Was und des Wie auseinandersetzt, dann scheint es erforderlich zu sein, auf den russischen Formalismus zurückzugreifen, der zwei Begriffe auseinanderhält: fabula und sjužet, welche mit den Ebenen des Was und des Wie in Zusammenhang gebracht werden können. Boris Tomaševskij bezeichnete in seiner Theorie der Literatur (1925) fabula als „die Gesamtheit der Motive in ihrer logischen kausaltemporalen Verknüpfung“.75 Unter sjužet verstand er die Gesamtheit derselben Motive, aber in der literarischen Reihenfolge und Verknüpfung. In den 60-er Jahren griff der strukturalistische Erzähltheoretiker Tzvetan Todorov das Begriffspaar des Formalisten auf und übersetzte es mit histoire vs. discours. Unter dem Begriff histoire versteht Todorov nicht nur das Geschehen selbst, sondern das ganze erzählerische Medium, innerhalb dessen das Geschehen stattfindet. Damit geht er über Tomaševskijs fabula hinaus, Gansel, Carsten : Gedächtnis und Literatur in geschlossenen Gesellschaften der Real – Sozialismus zwischen 1945 und 1985. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S.11. 75 Tomaševskij, Boris: Theorie der Literatur. Poetik. Hg. V. Klaus-Dieter Seemann. Wiesbaden 1985, S. S.218. 74 26 welche nur „[...] die handlungsrelevanten Teile der erzählten Welt [...]“ umfasst.76 Mit dem Begriff discours bezeichnet Todorov nicht nur die Anordnung der Ereignisse im Werk, sondern auch den gesamten Bereich der literarischen Vermittlung eines Geschehens. Damit geht er wieder über Tomaševskijs Begriffspaar hinaus, diesmal aber über sjužet, der nur die Reihenfolge der Ereignisse in ihrer literarischen Darstellung betrifft. Die Gegenüberstellung von fabula/histoire und sjužet/discours nahm der französische Erzähltheoretiker Gérard Genette als Anregung zu einer Dreiteilung. Er hält dabei an Todorovs histoire fest, die er als den narrativen Inhalt auslegt. Für den Begriff discours benutzt er zwei Termini: Erzählung und Narration. Mit Erzählung meint er den narrativen Text im Sinne eines materiellen Lautbildes und mit Narration den narrativen produzierenden Akt, mit dessen Hilfe die Erzählung erfolgt. Ausgerüstet mit dieser Begrifflichkeit von Tomaševskij, Todorov und Genette nehmen Michael Scheffel und Martin Martinez in ihrer Einführung in die Erzahltheorie eine Unterscheidung zwischen der erzählten Welt und der Handlung als Gesamtheit der handlungsfunktionalen Elemente des Erzählten, vor. Im Bereich der Handlung unterscheiden sie vier Elemente, die in einer Wechselbeziehung zueinander stehen: 1) Ereignis (Motiv)77: als die elemantare Einheit eines narrativen Textes. 2) Geschehen78, das Scheffel und Martinez als chronologische Aneinanderreihung von Ereignissen bezeichnen, die aufeinander folgen. 3) Geschichte79: auf der dritten Intergationsstufe nennen sie Geschichte, falls die Ereigniskette nicht nur einen temporalen, sondern auch einen kausalen Charakter aufweist, sodass „[...] die Ereignisse nicht nur aufeinander, sonder auch auseinander folgen [...]“.80 4) Handlungsschema81: als ein „[...] aus der Gesamtheit der erzählten Ereignisse abstrahiertes globales Schema der Geschichte [...]“ , dessen typisches Muster nicht nur einem einzelnen Text, sondern einer ganzen Textgruppe zugeordnet werden kann. Die andere Seite der Opposition macht ihnen zufolge der Begriff der Darstellung aus. Im Rahmen der Darstellung unterscheiden sie noch zwischen zwei Aspekten: 1) Erzählung82: als die erzählten Ereignisse in ihrer literarischen Reihenfolge, also wie sie im Werk vorliegen. 2) Erzählen83: als die Darstellungsverfahren der Erzählung und die Weise der Präsentation in bestimmten Sprachen, Medien (z.B. rein sprachliche oder audiovisuelle). 76 Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2005, S.23. Ebd., S.25. 78 Ebd., S.25. 79 Ebd., S.25. 80 Ebd., S.25. 81 Ebd., S.25. 82 Ebd., S.25. 83 Ebd., S.25. 77 27 3.2 Stanzels Grundformen des Erzählens Franz Stanzel spricht in seinem Werk Typische Formen des Romans von zwei Formen des Erzählens. Das sind die berichtende (panoramatische) Erzählung und die szenische (mimetische) Darstellung. Um die Differenzen zwischen den beiden Formen des Erzählens zu veranschaulichen, bietet Stanzel zwei Texte dar, welche zwar von dem gleichen Sachverhalt handeln, doch aber einige signifikante Unterschiede auf der Vermittlungsebene aufweisen. Seine Beispielsgeschichte spielt in einer Stadt (deren Name nicht erwähnt wird), die unter Kriegsverhältnissen von feindlichen Truppen angegriffen wird. „Der Einwohner der Stadt, meist Frauen, Kinder und Greise, bemächtigte sich eine Panik.“84 Die reichen Tempelschätze der Stadt werden von den Angreifern völlig ausgeplündert. Die meisten Einwohner werden als Kriegsgefangene gefesselt und fortgeführt. Was die Unterschiede anbelangt: der erste Unterschied kommt in dem Sprachstil zum Vorschein. Während die erste Version im epischen Modus erzählt wird, wird die zweite Version im dramatischen dargestellt. Was die Erzählfigur betrifft, dann lässt sich feststellen, dass der Erzähler in der ersten panoramatischen Version extra-heterodiegetisch ist. Das bedeutet zugleich, dass er nicht an dem Geschehen beteiligt war. Er muss die Informationen über die Begebenheiten aus zweiter Hand bekommen haben, weil es mitten in der ersten Version heiβt: Es wird berichtet, dass die Eroberer in erster Linie auf Beute bedacht waren. Vermutlich sind damals auch die reichen Tempelschätze der Stadt völlig ausgeplündert worden. Von den Augenzeugen wird erzählt, die plündernden Soldaten seien bei der Verteilung dieser reichen Beute untereinander in Streit geraten.85 Durch das Wort „vermutlich“ oder den Ausdruck „Von den Augenzeugen wird erzählt“ scheint der Erzähler sich in zeitlich – räumlicher Ferne von Ereignissen im Einzelnen und vom epischen Vorgang im Ganzen zu befinden. In der zweiten mimetischen Version wiederum ist die Erzählfigur intra - homodiegetisch. Es heiβt aber nicht gleich, dass er aus der Sicht eines Handelnden erzählt, sondern aus der Erlebnisperpektive. Einiges an Belegen für die Tatsache liefert bereits der erste Satz, wenn es heiβt: 84 85 Stanzel, Franz K.: Typische Formen des Romans. Göttingen 1987, S.12. Ebd., S.12. 28 Vom Dach seines Hauses in einiger Entfernung von der östlichen Stadtmauer konnte er jetzt ganz deutlich hören, dass es den Belagern gelungen sei musste, in die Stadt einzudringen.86 Der Erzähler wird zum Augenzeugen der Ereignisse, womit sich die Erzähldistanz zugleich wesentlich verkürzt. Der nächste Faktor, der den Unterschied zwischen der berichtenden Erzählung und der szenischen Darstellung noch zusätzlich prägt, ist der Grad der Schilderungsgenauigkeit der Begebenheiten. Während in der ersten (berichtenden) Version die wichtigsten Begebenheiten in einer knappen Zusammenfassung dargestellt werden, sodass der Text einigermaβen trocken auf den Leser wirkt, ist die zweite Version (szenische Darstellung) in emotionaler Hinsicht aussagekräftiger. Ein prägnantes Beispiel dafür ist die Beschreibung der Panik, die sich der Stadteinwohner bemächtigte, wenn es in der panoramatischen Erzählung diesbezüglich in einem einzigen Satz heiβt: „Der Einwohner der Stadt, meist Frauen, Kinder und Greise, bemächtigte sich eine Panik“.87 In der zweiten Version wiederum wird dieser Zustand folgendermaβen geschildert: Überall in den Gassen begannen Menschen zu laufen, hierhin und dorthin, angstvoll und ratlos, wo in diesem Augenblick der höchsten Not Hilfe zu finden wäre. Direkt von vor seinem Haus hatte sich eine Gruppe Menschen angesammelt, weinende Frauen und Kinder und hilflose Greise, denen die Angst ins Gesicht geschrieben stand.88 Hier werden hingegen mehrere bis ins Detail gehende Beschreibungen, attributiv gebrauchte Adjektive wie „weinende Frauen, Kinder und hilflose Greise“ zum Ausdruck gebracht. Dieses ganze sprachliche Kostüm trägt nicht zuletzt dazu bei, dass die szenische Darstellung ein kräftigeres Wirkungspotenzial entwickelt. Anhand dessen sieht man auch, dass eine und dieselbe Geschichte auf unzählige verschiedene Weisen präsentiert werden kann. 3.2.1 Erzählinstanzen und Einstellung zur erzählten Welt in literaturwissenschaftlicher Perspektive 86 Ebd., S.12. Ebd., S.12. 88 Ebd., S.12. 87 29 In narrativen Texten ist eine Vielfalt unterschiedlichster Erzählstrukturen anzutreffen, was offensichtlich den Alltagserzählungen abgeht. Ein komplexes Zusammenspiel der Erzählstrukturen in literarischen Erzählungen trägt zuglich dazu bei, dass sie nicht nur auf ein erlebendes oder reales Ich reduziert werden können. In den letzen Jahrzehnten ging man oftmals diesem Zusammenspiel analytisch auf den Grund. Diese Analyse ist vor allen Dingen durch Stanzels Unterscheidung von drei typischen Erzählsituationen bestimmt worden: der ich-bezogenen, der auktorialen und der personalen Erzählsituation. Von dieser Unterscheidung ausgehend lassen sich vier Erzählpositionen heraussondern, die auf zwei Dimensionen beruhen: 1) Die eine Dimension bildet der Grad der Involviertheit des Erzählers in die erzählte Geschichte. Hiermit müssen folgende Fragen gestellt werden:89 a) Wird die Geschichte aus der Sicht eines Handlungsbeteiligten erzählt, der einen privilegierten aber nicht notwendigerweise vollständigen Überblick über das Geschehen hat? b) Wird die Geschichte aus einer mehr oder minder groβen Distanz berichtet? 2) Als die andere Dimension gilt der Erfahrungsmodus des Erzählers von dem Erzählten. Hiermit müssen solche Fragen gestellt werden: a) Wird die Geschichte vom Erzähler reflektiert wahrgenommen und begrifflich und logisch in einem Zusammenhang wiedergegeben? b) Oder wird die Geschichte aus der Sicht einer Person widergegeben, die ihre Erlebnisse nicht reflektiert, bzw. nicht bewusst wahrnimmt? Mit solcherlei Fragen hängt auch die Einstellung des Lesers fiktionaler, bzw. literarischer Werke zu dem erzählten Gehalt zusammen. Im Groβen und Ganzen kann man sagen, dass man beim Lesen narrativer Texte von der Art und Weise der Vermittlung der Geschichte absieht, wenn es dem Autor gelungen sein sollte, den Leser gedanklich und gefühlsmäβig in seine Geschichte zu involvieren. In dieser Einstellung identifiziert sich der Leser mit den Figuren, die innerhalb der Geschichte dargestellt werden, nimmt Anteil an ihrem Schicksal und beurteilt ihr Verhalten nach Maβstäben seiner eigenen lebensweltlichen Praxis. 90 Man könnte daher behaupten, dass der Leser fiktionaler Texte sich für die Dauer der Lektüre der 89 Vgl. Brackert, Helmut/Stückrath, Jörn: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1996, S.66. 90 Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2005, S.21. 30 Täuschung unterwirft, im Sinne, dass das Erzählte tatsächlich geschehen sei.91 Diesbezüglich haben sich im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Theorien herausgebildet, die sich in Beschreibung des Phänomens weit voneinander unterscheiden. So war man der Ansicht: [...] der Leser müsse sich imaginativ in die erzählte Geschichte hineinversetzen und das Erzählte vorübergehend für real annehmen, um den Text überhaupt zu verstehen.92 In diesem Sinne erklärt der Franzose Nicolas Boileau in seinem L’Art Poétique, dass den Verstand nur das beschäftigt, was er glaubt. Die zweite Theorie läuft darauf hinaus, dass „[...] der Leser sich des fiktiven Status der erzählten Welt stets bewusst sei.“93 Diese Auffassung findet sich bereits bei Aristoteles, der das Vergnügen der Dichtkunst in Nachahmungen von Dingen und Sachen sieht, denen wir im Alltag aber nicht begegnen. Der dritten Theorie nach werden die beiden ersten Einstellungen zur erzählten Welt verbunden, indem man das vorübergehende Hineinversetzen in die fiktionale Welt und das Bewusstsein von dem Fiktionscharakter des Dargestellten/Erzählten als eine Art Zwillingspaar versteht. Diese Auffassung vertreten etwa Roman Ingarden und Wolfgang Iser. Wie dem auch sei: Einerseits muss darauf hingedeutet werden, dass fiktionale Behauptungssätze auf Tatsachen der durch sie erzählten Welt referieren, unabhängig davon, ob der Leser diese für die Dauer der Lesens für Begebenheiten hält oder nicht.94 Andererseits muss betont werden, dass innerhalb der Literatur immer eine Realität der erzählten Welt geschaffen wird – ganz zu schweigen davon, ob der Leser glaubt, dass diesem Inhalt Tatsachen in der Wirlichkeit entsprechen. Daher kann der Begriff der Lüge bzw. Fingiertheit für die Literatur ausgespart werden, denn fiktionale Sätze sind nicht als Behauptungen des Autors aufzufassen. 3.3 Raumsemantik im Bereich der Literatur Der Raum einer Geschichte, ihr Schauplatz ist ein wichtiges Element von literarischen Texten, das oftmals unterschätzt wird. Die Gestaltung vom Raum innerhalb eines literarischen Textes zielt allerdings nicht nur auf die Gabe eines entsprechenden Handlungsortes für die Figuren ab. Die jeweilige Raumkonstruktion teilt weitgehend einem bestimmten Text einige 91 Vgl. edb., S.21. Ebd., S.21. 93 Ebd., S.22. 94 Vgl. edb., S.22. 92 31 Funktionen zu, wodurch Unterschiede zwischen einzelnen Texten feststellbar sind.95 So trägt das Entwerfen eines bestimmten Raumes zur Entfaltung einer besonderen Stimmung oder einer Atmosphäre bei. Wenn man die in literarischen Texten entworfenen Räume einer genaueren Analyse unterzieht, so stellt sich recht bald heraus, in welchem Maβe sie nach unterschiedlichsten Mustern gebaut sind. Dies könnte fälschlicherweise den Eindruck erwecken, „[...] es herrsche eine gewisse Beliebigkeit im Entwurf der literarischen Räume [...]“.96 Eine derartige Reduktion im Rahmen der Narration hat der estnische Literatur – und Kulturwissenschaftler Jurij M. Lotman einer Kritik unterworfen und „[...] eine räumliche Ordnung narrativer Texte [...]“ vorgeschlagen. Den Ausgangspunkt dafür bildet der von ihm geprägte Begriff sujet, den Lotman als die Grundstruktur eines narrativen Textes versteht. Lotman zufolge setzt sich ein sujet aus drei notwendigen Komponenten zusammen: I. ein semantisches Feld [i.e. eine erzählte Welt], das in zwei komplementäre Untermengen aufgeteilt ist; 2. eine Grenze zwischen diesen Untermengen, die unter normalen Bedingungen impermeabel ist, im vorliegenden Fall jedoch (der sujethaftige Text spricht immer von einem vorliegendem Fall) sich für den die Handlung tragenden Helden als permeabel erweist; 3. der die Handlung tragende Held.97 Die zwei Untermengen, welche mit einer klassifikatorischen Grenze voneinander getrennt sind, können als verschiedene Weltmodelle verstanden werden. Lotmans Meinung bezüglich des Raumentwurfes innerhalb eines literarischen Textes läuft darauf hinaus, dass der künstlerische Raum „[...] zum formalen System für die Konstruktion unterschiedlicher, darunter auch ethischer Modelle [...]“ wird.98 So entfaltet sich Lotman zufolge der komplementäre Gegensatz der Teilräume auf drei Ebenen: a) Topologisch ist der Raum der erzählten Welt durch Gegenüberstellungen wie hoch vs. tief, links vs. recht oder innen vs. auβen bestimmt. b) Zu den topologischen Unterschieden kommen noch meist wertende Gegensatzpaare wie z.B. gut vs. böse, vertraut vs. fremd, natürlich vs. künstlich. c) Schlieβlich wird die Bedeutung der toplogischen Ordnung durch „[...] topographische Gegensatzpaare der dargestellten Welt konkretisiert [...]“ , z.B. Land vs. See, Berg vs. Tal, Himmel vs. Hölle.99 Lotman geht davon aus, dass die räumliche Ordnung der erzählten Welt „[...] zum organisierenden Element wird, um das herum auch die nichträumlichen Charakteristika Vgl. Gansel, Carsten : Gedächtnis und Literatur in geschlossenen Gesellschaften der Real – Sozialismus zwischen 1945 und 1985. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2007, S.20. 96 Ebd., S.20. 97 Lotman, Jurij M.: Die Struktur des künstlerischen Textes. Frankfurt/M. 1973, S. S360. 98 Lotman, Jurij M.: Die Struktur des künstlerischen Textes. Frankfurt/M. 1973, S.205. 99 Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2005, S.141. 95 32 aufgebaut werden.“100 In diesem Sinne ist beispielsweise der Raum in Dante Alighieris Göttlicher Komödie topologisch durch die Gegenüberstellung von oben vs. unten, semantisch durch den Gegensatz von gut vs. böse und topographisch durch die Achse zwischen den beiden in gröβter Entfernung gelegenen Punkten des Universums gestalltet.101 Das eine Ende macht der Mittelpunkt der Erde mit der Hölle und dem Sitz des Widersacher Gottes Luzifers aus. An dem anderen Ende hingegen ist die zehnte und zugleich oberste Himmelssphäre, wo sich Gottes Sitz befindet. Als Handlung der Commedia gilt die Reise, auf welche sich der IchErzähler Dante durch den Kosmos begibt. Er gelangt durch die verschiedenen Kreise der Hölle hindurch bis zum mittleren Punkt der Erde, indem er zuerst immer tiefer in die Erdkugel hineinsteigt. Darauf hin steigt er durch die andere Seite des kugelförmigen Planets und das Fegefeuer wieder hinauf und durchquert fliegend den Himmel bis an den höchsten Punkt des Weltraums. Die drei Bereiche, welche Dante durchquert – Hölle, Läuterungsberg, Himmel sind durch gewöhnlichehrweise undurchlässige(impermeable) Abschlusslinien, im Sinne von Grenzen, voneinander getrennt, welche sich aber für den die Handlung tragenden Helden als permeabel (durchlässig) erweisen. Diese Abschlusslinien sind topographisch durch Tore markiert. Die Überschreitung der Grenzen ist Lotman zufolge eine Voraussetzung für sujethaltige, d.h. narrative Texte. Als Beispiele für sujetlose Texte nennt er Kalender, Telephonbücher und lyrische Gedichte.102 Im Hinblick auf die Grenzüberschreitung differenziert Lotman noch weiter narrative Texte: 1) Texte, in denen die klassifikatorische Grenze überschritten wird – von Martinez und Scheffel in ihrer Einführung in die Erzähltheorie als „revolutionär“ bezeichnet.103 2) Texte, in denen die Grenzüberschreitung entweder versucht wird und scheitert oder vollzogen wird aber dann z.B. durch den Tod des Protagonisten aufgehoben wird – auch von den beiden Literaturwissenschaftlern als „restitutiv“ genannt.104 4 Analytischer Teil – zum Roman Helden wie wir 4.1 Figuren und Figurenkonstellation 100 Lotman, Jurij M.: Die Struktur des künstlerischen Textes. Frankfurt/M. 1973, S.332. Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2005, S.141. 102 Vgl. ebd., S.142. 103 Ebd., S.142. 104 Ebd., S.142. 102 Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2005, S.134. 101 33 Das Vergnügen am Lesen fiktionaler Erzählungen besteht darin, dass man sich mit den dargestellten Figuren identifiziert, Anteil an ihrem Schicksal nimmt und ihr Verhalten nach Maβstäben eigener lebensweltlicher Erfahrung und Praxis beurteilt. Damit hängen folgende Fragen zusammen: 1) Sind diese dargestellten Personen, ihre Handlungen und ihr Umfeld über ihre Individualität hinaus eigentlich von Belang? 2) Somit scheint es erforderlich zu sein, eine weitere Frage zu stellen: hat jeder literarische Text eine Tiefenstruktur102 oder aber nur eine Oberflächestruktur? Mit anderen Worten: weisen wirklich alle narrativen Texte eine invariante Struktur, ein bestimmtes Grundmuster, sodass konkrete Textgruppen/Gattungen herausgesondert werden könnten? Trotzt der Tatsache, dass diese Frage nie zufriedenstellend geklärt wurde, kann man die Existenz einer Tiefenstruktur in narrativen Texten bejahen. Einiges an Belegen für die Tatsache liefert uns der Entwicklungsroman Helden wie wir von Thomas Brussig, in dem die Lebensentwicklung der Zentralfigur namens Klaus Ultzscht beschrieben wird. Dieser Roman schildert eine ganze Reihe von Einzelheiten über Erfahrungen und Erlebnisse des Protagonisten und deren psychologische Verarbeitung bzw. Integration in seine eigene Persöhnlichkeit. Es kann auch eine ganze Menge narrativer Texte angeführt werden, deren Inhalt eine derartige Rekonstruktion der Lebensgeschichte einer Hauptfigur darstellt. Das sind beispielsweise Die Blechtrommel von Günter Grass, Der Zauberberg von Thomas Mann sowie Parzival von Wolfram von Eschenbach. Darüber hinaus muss auf die Tatsache hingewiesen werden, dass der Entwicklungsroman mit seinen Wurzeln in dem Schelmen - bzw. Pikaroroman reicht. Der Schelmenroman stammt aus dem Spanien des 16. Jahrhunderts. Der erste Vertreter dieser Gattung ist der anonym erschienene Lazarillo de Tormes. Der Held ist hierbei ein picaro. Dieses spanische Lexem steht für einen gemeinen Kerl von einem üblem Lebenswandel. Die frühesten deutschen Schelmenromane bezeichneten die Hauptfigur picaro als Landstörtzer, was in dem heutigen Sprachgebrauch soviel wie Landstreicher bedeutet. Erst im 18. Jahrhundert etablierte sich die Bezeichnung Schelm, nachdem sie die anfänglich negative Konnotation verloren hatte. Ein weiterer Aspekt des Entwicklungsromans ist die opportunistische Einstellung des Helden zu seiner Umwelt und seinen Mitmenschen. Während seiner naiven und mit Idealen erfüllten Kindheit und Jugend wird er mit einer Welt voller Gegensätze konfrontiert, in der er sich zugleich anderen Menschen gegenüber überlegen fühlt. Er kann dabei viele Dinge nicht begreifen und begegnet Personen, die seine Vorstellungen von der realen Welt noch zusätzlich in Unsicherheit bzw. Widersprüchlichkeit bringen. Jacobs spricht von einem „[...] 34 Bruch zwischen idealerfüllter Seele und widerständiger Realität [...].“103 Es begleiten ihn bei alldem zugleich Angst- und Bedrohungsgefühle, die auf seine Unerfahrenheit zurückgehen. Die Figur des Klaus Uhltzschts eignet sich dafür hervorragend. Denn einerseits fällt er aus dem Rahmen, weil er nicht nur mit Widerstand auf die etablierte Erwachsenenwelt reagiert, sondern auch mit Übererfüllung der Normen. Das ist ganz untypisch und somit aufregend. All die Informationen sind insoweit relevant, als dass sie einen situativen Rahmen abgeben und ein soziales Milieu darstellen, in dem sich die Figuren bewegen und das einen Einfluss auf ihr Denken, Fühlen und Handeln hat.104 Daher wird in dem vorliegenden Teil der Diplomarbeit die Charakteristik der Hauptfigur Klaus Ultzscht vorgenommen, sowie auf Beziehungen dieses Protagonisten mit anderen Figuren des Romans Helden wie wir eingegangen, die einen direkten Einfluss auf die Formung seiner Persöhnlichkeit ausüben. 4.1 Figurales Denken, Handeln, Fühlen – Zur Charakteristik der Hauptfigur Dass die Zentralfigur Klaus Uhltzscht seine Umwelt nicht verstehen kann, zeigt sich bereits in seiner Kindheit, in der er von seinem Vater missachtet wird, worauf noch eingehender in Vater – Sohn – Konstellation Beug genommen wird. Ein prägnantes Beispiel dafür gibt selbst sein Vater, indem er zum Feierabend nach Hause kommt und sich keine Zeit für seinen Sohn Klaus nimmt, sodass es im Text heiβt: Ich musste nicht in den Kindergarten, sondern saβ glücklich zu Hause, hantierte mit meinen Buntstiften und malte Bilder, über die meine Mutter immer wieder in Verzückung geriet – sie strahlte, sie lachte, sie lobte, und wenn mein Vater zum Feierabend kam präsentierte sie ihm überschwänglich meine Mutter meine >>Malbilder<<. Er allerdings interessierte sich nicht für meine >>Malbilder<<., und ich hatte immer das Gefühl, dass es nicht ist, was er von mir erwartet.105 Hier sieht man auch eine wichtige Rolle der Mutter, auf die erst bei der Konstellation Mutter – Sohn eingegangen wird. Sein aufkommendes Gefühl der Unsicherheit und der Bedrohung wird deutlich, wenn er von seinen Eltern zum ersten Mal ins Ferienlager geschickt wird und sich vorher Gedanken über den bevorstehenden Ausflug macht, sodass es heiβt: 103 Jürgen Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman. München 1972. 104 Vgl. Jannidis, Fotis: Figur und Person, a.a.O., S. 130. 105 Brussig, Thomas: Helden wie wir. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1988, S.20. 35 [...] vermutlich war Ferienlager eine ernste Sache. Daβ ich getrimmt wurde wie einer, der sich für drei Wochen unter Diebe und Schurken begeben muss, wunderte mich keineswegs, die Welt war schlieβlich voller Gefahren, wobei Einbrecher, Tätowierte und Schokoladenvergifter bestimmt nur die Spitze des Eisbergs darstellten.106 Auf Grund dessen kommt ein anderes Charaktermerkmal der Hauptfigur Klaus zum Vorschein, der mit ziemlicher Sicherheit von der Schlechtigkeit anderer Menschen überzeugt ist. Dies bedeutet für ihn zugleich eine Gefahr, die er an diesem Zeitpunkt seines Lebens noch nicht so richtig einschätzen kann. In diesem Kontext wird eine Schwäche des Protagonisten von ihm selbst genannt – das Sachenverlieren. Er macht sich dabei weiterhin Gedanken über seine Ferien, die er zum ersten Mal ohne Eltern zu verbringen hat. In diesem Zusammenhang steht Folgendes geschrieben: Wenn mir nur die Hälfte meiner Sachen geklaut wird, könnte ich die andere Hälfte immer noch selbst verlieren. Ich hatte nämlich den Ruf, ein sagenhafter Sachenverlierer zu sein. [...] Ich verlor sogar Dinge, die bis dahin als unverlierbar galten. Ich verlor meine Sandalen, obwohl ich sie anhatte.107 Während des Aufenthalts im Ferienlager erfährt der Leser von dem nächsten Komplex, an dem die Hauptfigur Klaus leidet. Diesen Komplex redet sich der Protagonist eigentlich selber ein, was bei der Bettenbelegung deutlich wird. Die Zentralfigur hält sich nähmlich für den Schlechtinformiertesten. Dessen Bestätigung erhält Klaus, indem er in Streit mit seinem Kollegen aus dem Ferienlager gerät, welcher ihm, während Klaus Abwesenheit, sein Bett besetzt. Es kommt dabei zu keinem Handgemenge. Die zwei Jungs erledigen die Angelegenheit auf eine nicht ganz profane Weise, die Klaus Kollege vorschlägt und was wiederum Kindern in Klaus Alter zuzutrauen ist. Die beiden Jungs lassen sich also auf einen Wettbewerb im Weitpinkeln ein, den der Protagonist zum ersten Mal macht und stellt fest: Ich wunderte mich nur: Werden auf diese Weise im Ferienlager alle Fragen geklärt? [...] Wenn das so ist, dachte ich, muss ich mich dem wohl stellen [...]. [...] Und auβerdem sah es so aus, dass ich der einzige war, der das Spiel nicht kannte.108 Im Ferienlager wird Klaus mehrmals in Unsicherheit bzw. Widersprüchlichkeit gegenüber der Welt gebracht, sodass die von ihm aufgestellte These „Ich bin der schlechtinformierteste 106 107 10 Ebd., S.47. Ebd., S.48. Ebd., S.50. 36 Mensch“ bekräftigt wird.109 Einiges an Belegen für die Tatsache liefert uns die Szene aus dem Ferienlager, in der Klaus von anderen Kindern beigebracht wird, wie sich Menschen vermehren, sodass es im Text heiβt: So wurde ich aufgeklärt: Bumsen ist Kindermachen, erklärte mir einer, um dann ungerührt fortzufahren: >>Der Vater muss seinen Pisser in die Muschie der Mutter stecken<<. So eine Sauerei würden meine Eltern niemals tun! Niemals! Nie und nimmer! Welches kranke Gehirn konnte sich bloβ solche Ungeheuerlichkeiten ausdenken?110 Die Tatsache, dass Menschen geschlechtlich verkehren, um Kinder zu bekommen, geht weit über Klaus Vorstellungen von den Naturgesetzen hinaus. Es tritt hierbei ein Faktum hervor, das den Bruch in Klaus zwischen idealerfüllter Seele und widerständiger Realität belegt. Seinen kräftigen Widerspruch erhebt er mit Worten „So eine Sauerei würden meine Eltern niemals tun! Niemals! Nie und nimmer!.“ Es besteht aber bei ihm immer wieder ein Funken Unsicherheit, die ihn auf Gedanken wie etwa „Aber wenn es stimmt? Wenn die Kinder wieder mal recht haben?“ bringen.111 Das Gefühl der Angst begleitet den Protagonisten Klaus ununterbrochen in der Schule. Das Bewusstsein, gleich an die Tafel gerufen oder mit einer mündlichen Aufgabe betraut zu werden, lässt bei ihm Bedrohungsgefühle aufkommen, die zusätzlich von der Angst, im Sportunterricht am Reck hängen und als der letzte Flachschwimmer dastehen zu müssen, bestärkt werden. Als er älter wird, versucht er nicht nur gesellschaftlicher Normen gerecht zu werden, sondern unterwirft sich restlos deren Hauptprinzipien. Dies zeigt sich an der Tatsache, dass Klaus, angestachelt von seiner Eitelkeit als zukünftiger Preisträger, wie er selbst behauptet, sich die marxistische Ideologie der Arbeiterklasse zu eigen macht. In diesem Zusammenhang heiβt es im Text: Ich glaube, mich kriegten sie auch mit der historischen Mission. Mission! Historisch! Das es so etwas gab! Das war’s, was ich brauchte! Aha, Karl Max (der vom Hundertmarkstein) und Friederich Engels (Fünfzigmarkschein) hatten die historische Mission der Arbeiterklasse entdeckt. [...] Wie hilfsbereit, dass wir die Arbeiterklasse nicht allein mit ihrer schweren historischen Mission auf dem Buckel durch die Weltgeschichte waten lassen. Nur die Edelmütigsten unter den Menschen – ich fühle mich immer angesprochen, wenn an Ritterlichkeit appelliert wird – verfechten die Sache des Fortschritts. Überzeugt kann schlieβlich jeder sein, aber wer ist bereit, Opfer zu bringen. Ich zum Beispiel mit meinen 109 Ebd., S.92. Ebd., S.63. 111 Ebd., S.63. 110 37 Eitelkeiten als zukünftiger Preisträger. Nobelpreisträger kann im Grunde jeder sein, vorausgesetzt, er ist so genial wie ich [...].112 In diesem Kontext tritt zugleich die Überzeugung des Protagonisten von seiner Überlegenheit gegenüber anderen Menschen hervor, ja er hält sich für den Bestgeeigneten, der auf alles gefasst ist, um die Erfüllung der angeblich historischen Mission der Arbeiterklasse voranzutreiben. Er möchte gerne sich selbst als das Musterbeispiel gelten lassen. Doch selbst die Überzeugung der Hauptfigur von seiner Überlegenheit anderen Menschen gegenüber, lässt ihn seine Angstgefühle nicht loswerden. Er behauptet bei der Sache nicht nur mit dem Verstand zu sein, sondern auch mit dem Gefühl, die wie er selber sagt: Ich weiβ nämlich, dass die Gefühle, die mich da reinzogen, Gefühle waren, über die ich nicht gerne rede: meine Ängste, mein Scham, mein Wunsch nach Gröβe, mein Wunsch zu den Siegern im Ausdauerlauf zu gehören, mein Wunsch, es >>richtig<< zu machen, und meine Angst zu versagen.113 Auf Grund dessen wird deutlich, dass Klaus durch die Übernahme der marxistischen Ideologie in seine eigene Persöhnlichkeit zugleich sein Ansehen und Selbstbewusstsein aufzupolieren versucht. Im Hinblick darauf gibt es viele identische Textstellen, an denen die Hauptfigur seiner Ungeschicklichkeit mit einer Reihe von Fragen auf den Grund geht, sodass es im Text heiβt: Warum kann ich nicht mal an den Fick glauben, den ich selbst vollbracht habe? [...]Weil ich das Kind dieser Eltern bin? Weil ich den kleinsten Pimmel habe? Weil ich Klaus heiβe, letzter Flachschwimmer war, verschwitzt bin und nie durchsehe? Weil ich das Gefühl habe, immer etwas falsch zu machen, selbst wenn ich mal nichts falsch gemacht habe?114 Der Entwicklungsroman wurzelt, worauf schon hingewiesen wurde, in dem Schelmen - bzw. Pikaroroman. Der Held ist ein picaro, also ein gemeiner Kerl von einem üblem Lebenswandel. Hinsichtlich der Hauptfigur dieses Romans findet diese Bezeichnung ihre Bestätigung. Klaus Uhltzscht ist eben der Multiperverse in aller Gestallt. Nachdem er die Masturbation von anderen Jungen abgeguckt hat, führt er diese Tätigkeit auf Schritt und Tritt aus. Er als der Ich-Erzähler versucht dies dem Leser mit den Erektionen erklären, von denen er am laufendem Band heimgesucht wird. Seine perverse Tätigkeit begründet er, indem er 112 Ebd., S.103-104. Ebd., S.137-138. 114 Ebd., S.137. 113 38 eine Verbindungslinie zwischen seinen Perversionen und dem System des realexistierenden Sozialismus herstellt, sodass es im Text heiβt: Mr. Kitzelstein, ich lege Wert auf die Feststellung, dass ich pervers wurde, um dem Sozialismus zum Sieg zu verhelfen. Mein Forschungsgebiet war heikel; das Verhältnis von Sozialismus und Perversion nirgends erklärt. Wie gefällt ihnen die dialektische Einheit Sozialismus braucht Perversion, Perversion braucht Sozialismus!115 Seine triebtäterischen Perversionen kennen keine Grenzen. Klaus Uhltzscht nimmt nähmlich die Fluchtwelle im Jahre 1989 zum Anlass für seine perverse Tätigkeit und verkehrt „geschlechtlich“ mit Larven des Lurchs. In diesem Kontext ist Folgendes notiert: Dennoch erprobte ich eine neue Perversion. Ich schlich jeden Tag im Sommer 89 zu einem stillen Tümpel in der Nähe der Hochschule und fischte mit einem feinmaschigen Käscher nach Kaulquappen, die zu Tausenden in Ufernähe lebten. Entsprechend der täglichen Flüchtlingsquote zählte ich die Kaulquappen ab und stopfte ich sie in einen Kondom, den ich überzog. [...] Die jeweilige Anzahl der vergewaltigten Kaulquappen wuchs kontinuierlich. Je gröβer die Fluchtwelle, desto wohliger wurde der Gezappel an der Trompete.116 Vor dem Hintergrund dieser Charakteristik kann schlussgefolgert werden, dass der Protagonist Klaus Ultzscht eine komische Hauptfigur darstellt, die durchaus mit Forrest Gump vergleichbar ist. Sie wirkt schon allein deshalb komisch, weil ihr verbissener Wunsch zukünftig Träger des Nobelpreises zu werden und richtiger zu sein als richtig, einfach aus dem Rahmen fällt. Ihre Komplexe, an denen sie leidet, Ängste, mit welchen sie sich herumschlägt und Perversionen, die sie treibt, bekräftigen zusätzlich die Vorstellung bei dem Leser von der wahnwitzigen Gründlichkeit und Sonderlichkeit des Protagonisten. 4.2 Hauptfigur und ihr soziales Umfeld – Zur Figurenkonstellation Die Hauptfigur Klaus Ultzscht und deren soziales Umfeld stehen in einem engen Zusammenhang zueinander. Ein prägendes Merkmal für den Entwicklungsroman Helden wie wir ist, wie bereits angedeutet, die opportunistische Einstellung des Helden zu seiner Umwelt und seinen Mitmenschen. Während seiner naiven und mit Idealen erfüllten Kindheit und 115 116 Ebd., S.247. Ebd., S.255-256. 39 Jugend wird er mit einer Welt voller Gegensätze konfrontiert, in der er sich zugleich anderen Menschen gegenüber überlegen bzw. unterlegen fühlt. Er kann dabei viele Dinge nicht begreifen und begegnet Personen, die seine Vorstellungen von der realen Welt noch zusätzlich in Unsicherheit bzw. Widersprüchlichkeit bringen. Es wird nun auf die Beziehungen des Protagonisten mit anderen Figuren des Romans eingegangen, denen Klaus innerhalb der Gesamthandlung begegnet bzw. mit denen er in einem direkten Kontakt steht. 4.2.1 Vater – Sohn – Konstellation zwischen Bewunderung und Hass Vielleicht kann er sich nicht so richtig zeigen? Was für eine Tragödie muss sich in seinem Herzen abspielen: Er, der Ernährer und Beschützer, wird von seinem einzigen Sohn verkannt. Egal, wie unangenehm er mir war – in seinem Innersten war er gut. Ein erdrückender Konflikt. Ich liebte ihn, aber ich konnte ihn nicht leiden.117 Mit diesen Worten bringt Klaus, noch als Kleinkind, sein Gefühl gegenüber seinem Vater zum Ausdruck. Es zeigt sich hiermit der Zwiespalt in Klaus Gefühlswelt. Auf der einen Seite bringt er viel Ehrfurcht seinem Vater gegenüber auf. Der heranwachsende Protagonist weist auch auf die Tatsache hin, von der er in der Kindheitsphase noch fest überzeugt ist, dass sein Vater im Innersten gut ist, ja er gilt als Klaus bewunderndes Vorbild. Doch auf der anderen Seite kommt er mit ihm irgendwie nicht gut aus, sodass er feststellt: „Ich liebte ihn, aber ich konnte ihn nicht leiden.“113 Seine Bewunderung des Vaters kann aber zuglich auf seine Unerfahrenheit zurückgeführt werden. In Klaus naiver Kindervorstellung wächst sein Vater unmittelbar zu einem Zauberer, der geradezu Wunder vollbringt. In diesem Zusammenhang heiβt es im Text: Der Mann wurde jeden Tag bedeutender. Wenn ich so groβ bin wie er, werde ich auch so schnell die Wohnung aufschlieβen? Oder an Fuβgeruch laborieren? Und wie macht er es mit den Bartstoppeln – obwohl er sich täglich rasiert, kommt er immer wieder zu neuen. Oder Auto fahren: Ganz abgesehen davon, dass es für ihn offensichtlich kein Problem war, mit den Füβen an die Pedale zu gelangen – er 117 113 Ebd., S.37. Ebd., S.37. 40 schien sich sogar darin auszukennen, wann welches Pedal getreten werden muss.118 Die Beziehung des Protagonisten zu seinem Vater unterliegt ständigen und wertenden Verschiebungen und gilt als Ergebnis stattfindender Interaktionen. In Klaus weiteren Lebensverlauf kristallisiert sich jedoch sein Empfinden dem Vater gegenüber heraus. Es entwickelt sich aber nicht zum Guten, sondern zum Schlechten hin. Klaus Interaktion mit dem Vater lässt bei dem Protagonisten Hassgefühle aufkommen. Wir saβen am Tisch, meine Mutter zog ein Gesicht, als hätte ihr jemand den Stuhl auf die Zehen gestellt, mein Vater reckte sich, verschränkte die Arme hinter dem Nacken, grinste mich an – und für dieses Grinsen hasse ich ihn wirklich – und sagte: Na endlich hast du’s rausgekriegt. Dieser Scheiβkerl, der mein Vater war, hielt mich für einen Versager, weil ich ihm seinen Auβenhandelsjob abgekauft habe.119 Mit vierzehn Jahren kommt der adoleszente Klaus nämlich an die Wahrheit von seinem Vater, der als Stasiagent arbeitet. Klaus als kleinem Kind wurde jedoch eingeflüstert, dass sein Vater im Ministerium vom Auβenhandel beschäftigt ist. Das Negative in der VaterSohn-Beziehung – und diese Beziehung gehört zu einem der tragenden Gerüste der Figurenkonzeption im Brussigs Entwicklungsroman – speist sich auch aus Ängsten seitens des Protagonisten. Er fühlt sich dabei ihm unterlegen und vollkommend bedeutungslos, sodass er sogar Angstgefühle zu spüren bekommt. Im Zusammenhang damit malt sich die Hauptfigur berufliche Umgebung seines Vaters und Aktivitäten, welche er da ausführt, aus. Klaus nimmt an, dass sein Vater wahrscheinlich als Vernehmer fungiert, der „immer die Lampe anknipst und ins Gesicht hält“ und bei dem man sich das Glas Wasser verdienen muss.120 Der Abscheu vor dem ursprünglich als Bewunderungsobjekt geltenden Mann wird bei Klaus durch die Tatsache erregt, dass sein Vater nie mit ihm spricht und falls er Klaus meint, redet er immer auf seine Frau, also Klaus Mutter, ein. Klaus Hassgefühle dem anfänglich als sein Vorbild geltendem Hausmann gegenüber gelangen auf die Höchststufe des Abscheus, als sich die Lebenszeit des Vaters dem Ende zuneigt. „Ich war in letzen stunden an seinem Bett, bei dem Monster, der mein Vater war“ – eben mit diesen Worten drückt die Zentralfigur sein Empfinden gegenüber dem Vater aus. Der Zauberer, der geradezu Wunder vollbracht hat, wird nun zum Ungeheuer, der in Klaus Augen lediglich 118 Ebd., S.38. Ebd., S.84. 120 Ebd., S.88. 119 41 Verachtung findet. Jedoch auch in diesem Moment, in dem der nur noch bei dem Protagonisten Abneigung erregende Mann, kurz vor dem Tode ist, wartet Klaus auf ein Zeichen von ihm, welches ein letztes Beleg an das Gute in seinem Inneren liefern würde bzw. welches das Gefühl der Hauptfigur ihrer ewigen Unterlegenheit und ihrer Bedeutungslosigkeit zu verdrängen vermag. Doch auch diese Annährungsversuche, die vonseiten Klaus initiiert werden, scheitern am Tode des Vaters, sodass es im Text heiβt: Ich hatte noch immer Angst vor ihm. Und ich wartete immer auf ein Zeichen Vor ihm, daβ ich sein Sohn bin und daβ er mir vertraut oder daβ er mich annimmt oder was auch immer. Und obwohl er nur dalag und nichts tat, als vor sich hin zu krepieren, wurde ich das Gefühl meiner ewigen Unterlegenheit, meiner unfertigen Existenz und meiner Bedeutungslosigkeit nicht los. [...] Er schloss die Augen, und sein Herz hörte auf zu schlagen. Nie wieder Vater, dachte ich erleichtert und wollte singen, aber dann konnte ich es doch nicht.121 Vor dem Hintergrund dieser Konstellation Vater – Sohn lässt sich schlussfolgern, dass die Beziehung zwischen den beiden innerhalb der Lektüre einem Wandel unterläuft, der die gemeinsamen Relationen zwischen Klaus und seinem Vater zum Schlechten hinsteuert. Dieses Verhältnis ist also von einem Wechsel von der Bewunderung bis hin zu den Hass- und Abneigungsgefühlen gekennzeichnet. Eine völlig andere und mit positiven Emotionen aufgeladene Beziehung entwickelt sich wiederum zwischen dem Protagonisten und seiner Mutter, worauf nunmehr eingegangen wird. 4.2.2 Mutter – Sohn – Konstellation zwischen Faszination und Liebe Wenn man Vater schon ein Stinkstiefel war und meine Mutter das Gegenteil, dann, so sagt meine Logik und mein Gefühl, müsste sie doch gut sein! Verstehen Sie: GUT! Ich ahne, dass ich jetzt den Tatsachen ins Auge sehen muβ und eine Geschichte zu erzählen habe, die davon handelt, wie ich das kleinere Übel vergötterte. Was blieb mir übrig als meine Mutter zum ganzen Gegenteil meines Vaters aufzubauen?122 Derartige Vergleich zwischen dem Vater und der Mutter des Protagonisten wird von dem IchErzähler Klaus angestellt. Schon der erste Satz dieses Textabschnitts liefert einen relevanten 121 122 Ebd., S.267. Ebd., S.26. 42 Anhaltspunkt für die Diskrepanz zwischen dem guten Verhältnis der Hauptfigur Klaus mit deren Mutter und dem Missverhältnis mit dessen Vater. Während der Vater als missgelaunter und unhöfflicher Mann bezeichnet wird, wird der Mutter zwei Mal das positiv aufgeladene Adjektiv „gut“, ein Mal sogar mit einem Ausrufezeichen, zugeschrieben.123 Somit wird die Mutter zum Gegenteil ihres Mannes gemacht, das sich an anderen Textstellen noch mehr herauskristallisiert. Wie bereits im Titel dieses Unterkapitels ergibt sich der Protagonist der Faszination seiner Mutter. Ihre bezaubernde Ausstrahlung und Anziehungskraft wird von der Hauptfigur bei der Gelegenheit hervorgehoben, als sie als Hygieneinspektorin zu einer ärztlichen Untersuchung bezüglich des Läusebefalls zur Klaus Lernergruppe gekommen ist. Alle beneideten mich um meine gütige, freundliche, kluge und bedeutende Mutter, die Herrin der Geheimrezepte und schmerzloseste Ärztin weit und breit. Ich beneidete mich ja selbst um meine Mutter!124 Der letzte Satz „Ich beneidete mich ja selbst um meine Mutter!“, der mit einem Ausrufezeichen am Ende formuliert wird, weist auf die grenzlose Klaus Faszination von dessen Mutter hin.125 Dass diese Faszination eine besondere und eigenartige ist, belegt die Tatsache, dass für Klaus sogar die Art des Betretens von Räumen, die für seine Mutter charakteristisch ist, eine fesselnde Wirkung auf den Protagonisten hat. Im Text wird Folgendes notiert: „Eine weitere wirklich zu würdigende Eigenschaft meiner Mutter war ihre Kunst des Betretens von Räumen. Ohne Übertreibung: Darin war sie königlich.“126 Ihre Leistung, die Klaus zufolge schier königlich ist, war aber schon in der Vergangenheit exzellent, wenn es rückblickend heiβt: Es begann, indem sie sanft die Klinke hereindrückte und die Tür weich in den Rahmen zog. Dann öffnete sie die Tür einen Spaltweit und steckte ihren Kopf hindurch, neugierig und selig, als trete sie vor den Gabentisch. [...] Auf diese Art betrat sie jeden Morgen mein Zimmer, um mich zu wecken.127 Anhand dieses Zitats wird zugleich deutlich, dass die Mutter von seinem Sohn nahezu vergöttert wird, was wiederum einen Hinweis auf eine enge Beziehung zwischen den beiden Figuren bietet. Klaus Mutter steht von dessen Kindheit an in seiner Nähe. Sie unterbricht nähmlich ihre Facharztausbildung, um sich um ihr neugeborenes Kind mit aller Hingabe 123 Ebd., S.26. Ebd., S.28. 125 Ebd., S.28. 126 Ebd., S.28. 127 Ebd., S.28. 124 43 kümmern zu können. Auch anstatt ihren Sohn Klaus in den Kindergarten zu schicken, bleibt sie zu Hause und verbringt die meiste Zeit mit ihrem Sohn. Es wird notiert: Ich musste nicht in den Kindergarten, sondern saβ glücklich zu Hause, hantierte mit meinen Buntstiften und malte Bilder, über die meine Mutter immer wieder in Verzückung geriet – sie strahlte, sie lachte, sie lobte, und wenn mein Vater zum Feierabend kam präsentierte sie ihm überschwänglich meine Mutter meine >>Malbilder<<.128 Dieser Textabschnitt veranschaulicht auf eine explizite Weise dieses besondere Verhältnis zwischen Mutter und Sohn, das von Faszination und Liebe beiderseits gekennzeichnet ist. Dass diese Relation der beiden Figuren von der Liebe und Nähe geprägt ist, zeigt sich auch bei dem Anlass, als Klaus zum ersten Mal in das Ferienlager geschickt wurde. Bei dem Abschied der Mutter von seinem Sohn kommt es zu Zärtlichkeiten, welche dann jedoch auch ins Geschrei und Abschiedstränen seitens Klaus übergehen. Im Zusammenhang mit dem Abschied stellt sich der Ich-Erzähler Klaus eine Reihe von Fragen, die auf die Mutter bezogen sind: Wie kann ich existieren ohne sie, die mich leitet und lobt und stützt und tröstet? Was bin ich ohne sie? Wer wird vor nichts zurückschrecken, wenn es darum geht, dass ich aufs Rettungsamt gefahren werden muβ? Sie, die alles über mich weiβ, die immer für mich da ist, die alles alles alles für mich tut, getan hat und tun wird, sie sollte ich hergeben für eine Fremde?129 Klaus Anhänglichkeit an der Mutter setzt nicht einmal in seiner Pubertätsphase aus, was allerdings mit mütterlicherseits überspannter Fürsorglichkeit einhergeht. Selbst wenn Klaus sechzehn Jahre alt wird, wird sie nicht müde zu betonen, dass er ihr Kind ist und zu tun, als er immer noch ein Kind wäre. Es hat demzufolge, als Klaus in Folge eines Unfalls körperlich verstümmelt ist, eine ziemlich demütigende Auswirkung auf den Protagonisten. Im Zusammenhang wird Folgendes notiert: Ich war hilflos wie ein Baby! Selbst auf der Toilette kam ich nicht zurecht. Wie sollte ich ohne sie die Hose hochziehen? Wie alt war ich, als ich zuletzt vom Klo rief: >>Mama, ich bin fertig!<< Vier, Fünf? Jetzt war ich neuzehn, und als meine Mutter auf meinen Ruf kam, zog sie die Hose hoch, nein, sie eilte herbei, in der Hand das Babypuder, das in unserem Haus griffbereit herumstand wie anderswo vielleicht Aschenbecher oder Kugelschreiber, und inspizierte meinen Pinsel, indem sie ihn mit spitzen Fingern hin und her wendete.130 128 Ebd., S.20. Ebd., S.48-49. 130 Ebd., S.202. 129 44 Resümierend kommt aus dieser Konstellation hervor, dass die Mutter im Klaus Leben eine immense Rolle spielt. Im Gegensatz zu dessen Vater ist sie bis zum Ende das nahezu vergötterte Vorbild für Klaus. Ohne ein längeres Nachdenken lässt sich leicht erahnen, dass der Protagonist in der Lage ist, alles seiner Mutter anzuvertrauen, was auf eine enge Beziehung zwischen den beiden Figuren hinausläuft. 4.2.3 Klaus – Frauen – Konstellation zwischen Objekt der Begierde und Liebe Es sind auch Frauen, abgesehen von der Mutter, die einen direkten Einfluss auf die Formung der (emotionalen/sexuellen) Persöhnlichkeit der Hauptfigur Klaus Uhltzscht ausüben. Innerhalb der Gesamthandlung treten drei Frauen auf, die ausschlaggebend eine Spur in Klaus Erinnerung hinterlassen. Auf die erste Frau stöβt der Protagonist noch als männliche Jungfrau in einer Kneipe, die mit Tanzfläche versehen ist. Marina, so heiβt das Mädchen, kommt zufällig an Klaus vorbei, um sich am Buffet Zigaretten zu kaufen. Dem Protagonist fällt sie überhaupt nicht auf. Doch durch Anstoβen seines Begleiters Raymund mit Worten „>>Die Figur!<<“ wird Klaus Aufmerksamkeit auf sie gelenkt.131 Es wird notiert: „Sieh an, dachte ich, Frauen haben also eine Figur, über die man reden kann und über die man sich so seine Vorstellungen machen kann.“132 Nachdem sie mit den gekauften Zigaretten Platz am Buffet wieder genommen hat, wird der Blick der Hauptfigur an den Schanktisch verlagert. Von nun an fühlt sich der Protagonist von Reizen dieses Mädchens angezogen: Als sie die Zigaretten bekam, steckte sie sich gleich eine an, und weil ihr schweifender Blick an unserem Tisch hängenblieb, fühlte ich mich aufgerufen, ihr den Aschenbecher unsres Tisches zum Buffet zu tragen, denn dort war keiner. Wie aufmerksam und hilfsbereit ich doch war! Sie lächelte mich an, und ich hielt es für passend, zurückzulächeln. Und tatsächlich: Sie lächelte erneut.133 Nach dem Hin- und Herlächeln bestellt Miriam eine Flasche Champagner und stellt damit eine Inszenierung vor Klaus an, sodass sie ihn in ihren Bann schlägt. Von jetzt an wird sie von Klaus als Objekt der Begierde betrachtet. Es wird notiert: Nein, Mr. Kitzelstein, ich will die Dinge beim Namen nennen: Sie machte es der Sektflasche mit der Hand! Sie wichsten der Sektflasche einen! Sie klemmte sich die Flasche zwischen die Schenkel, entfernte mit spitzen Fingern den Draht und 131 Ebd., S.124. Ebd., S.124. 133 Ebd., S.124. 132 45 begann lächelnd, am Flaschenhals zu reiben, schnell und fest. [...] Sie wusste, was sie tat!134 Mit begehrlichen Augen, worauf die kursivgeschriebenen bzw. mit einem Ausrufezeichen beendeten Sätze hinweisen, schaut sich die Hauptfigur das Verhalten des Mädchens an und geriet in immer gröβere Entzückung. Dies endet im Endeffekt im Miriams Bett, wo die Szenerie nahezu eines Pornofilms entworfen wird. In dieser Szene kann Klaus schon wieder mal seinen Augen nicht trauen. Es wird notiert: In ihrer Wohnung packte sie mich am Hosenbund, sah mir tief in die Augen und zog mich in die Küche. Sie setzt sich auf den Küchentisch, strich mir mit spitzen Fingern über die Brust und knöpfte mir das Hemd auf. [...] Und dass man in einem solchen Fall, von Gebierde, äh, von Begierde, das Kleid zerreiβt. 135 Somit bringt er auf eine explizite Weise seine Begierde zum Ausdruck. Doch dann gibt sich die Hauptfigur noch der Hoffnung hin, dass aus dieser Begegnung eine Liebesbeziehung entstehen kann. Klaus erfährt aber eine herbe Enttäuschung, indem das Mädchen namens Miriam den Beischlaf, welchen sie vollzogen haben, zum purem Sexerlebnis erklärt. Dies lässt den Mut des Protagonisten sinken und dessen Erniedrigungsgefühle aufkommen: >>War da sonst nix da<<, sagte sie und blies den Rauch aus. Da saβ sie auf ihrem Klapp-Küchenstuhl. In einem langen Hemd, das nur mit den unteren drei, vier Knöpfen geschlossen war, die Beine lässig ausgestreckt, und degradierte mich zur 6maschiene. Ich senke beschämt meinen Blick [...].136 Vor dem Hintergrund dieser Begegnung zwischen der Hauptfigur Klaus und dem Mädchen namens Miriam kann man schlussfolgern, dass Klaus erste Sexerfahrung ihn lediglich in Unsicherheit bringt. Voller Hoffnung auf eine Liebesgeschichte gelangt der Protagonist zur Erkenntnis, dass Frauen ein Objekt der Begierde sein können, über das man zudem noch ein Gespräch führen kann. Jedoch Klaus wird auch dabei über die Tatsache aufgeklärt, dass nicht jede intime Begegnung mit einer Frau zu der Lovestory führt. Von nun an werden Begegnungen mit Frauen in Klaus Empfinden zur bloβen Sexangelegenheit. Einiges an Belegen für die Tatsache liefert die Szene, in der die Hauptfigur auf eine ältere Frau mit etwas gröβerer Gewichtsklasse, welche er selbst später als Wurstfrau bezeichnet, stöβt. Sie ist im Augenblick der Begegnung betrunken. Klaus sieht über das Aussehen und Gewicht dieser Frau hinweg und nimmt es zum Anlass, um sein sexuelles Selbstbewusstsein, das im letzten 134 Ebd., S.124-125. Ebd., S.137. 136 Ebd., S.129. 135 46 Treffen mit Miriam betrübt wurde, aufzupolieren. Er schleppt sie nämlich zu ihrer eigenen Wohnung, um mit ihr da Sex zu treiben. In diesem Zusammenhang wird Folgendes notiert: Wie dem auch sei, ein paar Minuten später saβ ich auf ihrem Sofa und hatte mein Gesicht in ihrer Schulter eingegraben, wo ich mich von ihren Küssen sicher fühlte. Ferner tatschten meine Hände auf ihr herum, und ich dachte an Wurstsorten: Bockwurst, Bierschinken, Sülzen – das ganze Sortiment. Ich zog die Schleife ihrer Bluse auf. Sie öffnete mir die Hose und fing an zu lachen.137 Auch diesmal erlebt der Protagonist eine Erniedrigung. Sein Glied, dessen Gröβe zu Klaus Komplexen gehört, wird von dieser Frau ausgelacht, sodass es nicht mal zum Geschlechtsverkehr zwischen den beiden Figuren kommt. Es wird notiert: Sollte das heiβen, dass all diese Küsse, die ich über mich ergehen lieβ, umsonst waren? Dann hätte ich mich sexuell missbrauchen lassen, ohne selbst zu miβbrauchen?138 Der Hauptfigur gelingt es also nicht, durch den Missbrauch der älteren Frau sein sexuelles Selbstbewusstsein aufzubessern. Der Protagonist wird vielmehr von ihr demütigt, ja es wird in dieser für Klaus peinlichen Situation auf dessen Achillesferse getreten. Diese für ihn unglückliche Strähne, die mit sexuellen Enttäuschungen geprägt ist, wird jedoch mit der Begegnung seiner einzigen Liebesgeschichte durchbrochen. Es wird notiert: Soviel vorweg: Wir duzten uns, und die Geschichte mit Yvonne ist die einzige Liebesgeschichte meines Lebens, eine Liebesgeschichte, die so scheißtraurig ist, dass ich sie nicht erzählen würde, wenn ich nicht musste.139 Diese Liebesgeschichte geht nämlich auf eine von Klaus verlorene Kundenquittung von dem Schuhmeister zurück. Dieser Schnipsel wird von der Yvonne gefunden, die gleich Klaus anruft, um ihm mitzuteilen, sie hat seine Kundenquittung von dem Schuhmeister gefunden. Klaus Mutter lässt ihn sich mit einem Blumenstrauβ bei ihr zu bedanken. Die Hauptfigur lernt bei diesem Anlass, dass Frauen sich gerne mit Blumen beschenken lassen. Es wird notiert: „Ich kenne mich mit Blumen nicht aus, ich weiβ auch nicht, was an Blumen schön sein soll, warum sich Leute gegenseitig Blumen schenken ist mir ein Rätsel ...“140 Klaus verliebt sich in Yvonne auf den ersten Blick. Doch erst nach einer längeren Zeit nach dem ersten gemeinsamen Treffen entscheidet sich Klaus ihr mit seinen Liebesgefühlen zu offenbaren. 137 Ebd., S.189-190. Ebd., S.190. 139 Ebd., S.214. 140 Ebd., S.214. 138 47 Sein Empfinden zu ihr wird stärker als seine Anfälligkeiten für triebtäterische Aktivitäten und veranlassen ihn zum Schreiben eines Liebesbriefes an sie. Klaus Liebe wird von Yvonne erwidert und die beiden verbringen viele schöne Augenblicke miteinander. Doch während Klaus zum ersten Mal Sex mit ihr hat, pendelt sich Klaus Unverständlichkeit im Hinblick auf geschlechtliche Kontakte mit Frauen wieder ein. In dem Zusammenhang wird notiert: Und dann sagte sie, was sie nicht hätte sagen dürfen, jene drei Worte, nein, nicht die drei Worte; sie flüsterte: >>Tut mir weh!<< Oje, das war zuviel für mich, verstehen Sie mal, ich hatte mich zwar im Geiste damit abgefunden, einen Engel zu ficken, aber das ich ihr weh tun sollte, wo ich ihr theoretisch meine Liebe beweisen müsste – nein, das war wirklich zuviel für mich. [...] Ich stand auf, zog mich an und ging. Diese Ereignisse, welche die Szenen der Hauptfigur mit den Frauen ausmachen, motivieren auf eine gewisse Weise Klaus triebtäterisches Verhalten und werden somit in einen kausalen Zusammenhang eingebetet. Die gescheiterten Versuche des Protagonisten, mit welchen er sein Verständnis gegenüber den Frauen zu finden sucht, lassen ihn nicht mal seine Komplexe wegstecken. Mit Demütigung wird er dabei vielmehr in seine empfindlichste Stelle getroffen, die sein kleines Glied ist. Die Beziehung der Hauptfigur zu den Frauen bleibt also angespannt, bis es zum Treffen mit Yvonne kommt. Von dieser Begegnung an scheint das Empfinden des Protagonisten zu dem schönen Geschlecht auf die richtige Bahn gelenkt zu sein. Doch dieser scheinbare Eindruck verliert bei dem Beischlaf der Hauptfigur mit Yvonne an seiner Gültigkeit, sodass Klaus Unverständnis den Frauen gegenüber unverändert bleibt. 4.3 Erzählinstanzen Ich darf von mir behaupten, durch ein ganzes Panzerregiment Geburtshilfe genossen zu haben, ein ganzes Panzerregiment, das am Abend des 20. August 1968 in Richtung Tschechoslowakei rollte und auch an einem kleinem Hotel im Dörfchen Brunn vorbeikam. In dem meine Mutter, mit mir im neunten Monat schwanger, während ihres Urlaubs wohnte. Motoren dröhnten, und Panzerketten klirrten aufs Pflaster. In Panik durchstieβ ich die Fruchtblase, trieb durch den Geburtskanal und landete auf einem Wohnzimmertisch. Es war Nacht, es war Hölle, Panzer rollten und ich war da: Die Luft stank und zitterte böse, und die Welt, auf die ich kam, war eine politische Welt.141 141 Ebd., S.5. 48 Mit diesen Worten des Ich-Erzählers beginnt der Entwicklungsroman von Thomas Brussig Helden wie wir. Die Hauptfigur Klaus Uhltzscht, der zugleich den Ich-Erzähler ausmacht, wird von einem Journalisten des New York Times interviewt. Daher zieht er ein Fragment aus seinem Tagesbuch heran, das die Begebenheiten an seinem Geburtstag wiedergibt. Durch die Figur eines persönlichen Erzählers, der als vermittelnde Instanz auf die Bühne tritt, wird für den Leser schon mit dem ersten Satz erkennbar, dass hier eine Geschichte erzählt wird. Wenn man in Betracht zieht, dass bei der Analyse narrativer Texte nicht nur das Erzählte, sondern auch der Vorgang der Vermittlung mitsamt allen erzähltechnischen Verfahren durchzuleuchten sind, so liefert schon der erste Satz einen relevanten Anhaltspunkt für den Deutungsprozess.142 Es ist nämlich auf der einen Seite von einem „Damals“ und dem dazugehörigen Bild der Vergangenheit die Rede. Auf der anderen Seite jedoch fällt auf, dass der Ich-Erzähler von Begebenheiten berichtet, die er im Prinzip noch nicht so richtig erlebt hat, weil er damals schlechthin erst die Fruchtblase seiner Mutter durchzustoβen am Werke war. Trotzdem wirkt dieser Textabschnitt, als ob dieses Ereignis aus der Sicht eines Handlungsbeteiligten erzählt werden würde, der einen privilegierten aber nicht notwendigerweise vollständigen Überblick über das Geschehen hat. Durch den schildernden Rückgriff auf das „Damals“ liegt zugleich im ersten Ansatz – um es mit Franz K. Stanzel auszudrücken – eine Erzählsituation vor, die durch das Zusammenspiel zwischen dem „erlebenden“ und dem „erzählenden Ich“ mit der Ich-Erzählsituation gleichzusetzen ist.143 Wenn also schon durch den ersten Satz – mindestens ansatzweise – die Erzählform bestimmbar ist, werden des Weiteren andere Merkmale des Erzählers herausgearbeitet : 1) die Erzählerposition mit der Frage nach der Intensität seiner Involviertheit in die erzählte Geschichte; 2) der Modus der Erfahrung der erzählten Geschichte mit dem Fokus auf die Erlebensdimension oder eine sachliche Vermittlung von Geschehensmomenten, die zu einer perspektivierten Geschichte verknüpft werden; 3) die Erzählperspektive, bei der eine Fokussierung auf die Innen- oder die Außenwelt vorherrschen kann und 4) die Erzählhaltung, die direkte oder indirekte Bewertungen enthalten kann.144 Der Erzähler spielt nicht nur die Rolle der Vermittlungsinstanz, die in die Geschichte einführt, sondern er ist mit seinen Reflexionen und Kommentaren ständig auf dem Plan. Er äußert sich nicht nur zu Handlungen anderer Figuren und zu wahrgenommenen Zuständen und Vgl. Zimniak, Paweł: Zwei Lieben in Deutschland – Zum narrativen Muster deutsch-polnischer Liebesgeschichten im Adoleszenzroman Jens Petersens „Die Haushälterin“. Warszawa 2008, S.1. 143 Vgl. Stanzel, Franz K.: Typische Formen des Romans. Göttingen 1987 (11. Aufl.), S.33. 144 Vgl. Zimniak, Paweł: Zwei Lieben in Deutschland – Zum narrativen Muster deutsch-polnischer Liebesgeschichten im Adoleszenzroman Jens Petersens „Die Haushälterin“. Warszawa 2008, S.1. 142 49 Geschehnissen, sondern versucht seine eigene Position zu bestimmen. In dem Sinne äuβert er sich durch seine Gedanken- und Gefühlswelt zum vermeintlichen Beruf seines Vater, welcher nach der Überzeugung des Ich-Erzählers als Auβenhändler arbeitet, sodass es heiβt: Was mir als der erbarmungsloseste aller Berufe vorkam, seitdem ich auf dem Weihnachtsmarkt einen Zuckerwatteverkäufer gesehen hatte, der sich frierend an seinen Becher Tee klammerte. Ein Bild des Jammers. Mir leuchtete ein, dass man von diesen Auβenhändlern keine gute Laune erwarten sollte, ihr Dasein war hart und voller Entbehrungen. Während ich mit meinen Malbildern beschäftigt bin, muss mein Vater zähneklappernd auf der Straβe stehen oder sich vom Regen durchweichen lassen – und dann wunderte ich mich, warum er nie in Familienvaterlaune die Tür aufschlieβt: >>Hallo, hallo, was hat denn unser kleiner Indianer heute gemalt? <<145 Der Ich-Erzähler gibt sich an solchen Textstellen auktorial – und dies erfolgt trotz der Tatsache, dass er ein fester Bestandteil der fiktionalen Welt ist und in sie weder von außerhalb eingreift noch an ihrem Rande steht –, weil er hier als Beobachter in einer kommentierendwertenden Rolle auftritt. Die beobachtete Figur des Vaters wird für ihn zum Anlass für Reflexion.146 Die Ausrüstung mit auktorialen Merkmalen geht jedoch nicht so weit, dass der Erzähler die Funktion eines „Allwissenden“ im Sinne von unbegrenzten Kenntnissen über die Beschaffenheit der Diegese ausübt, denn sein Blickwinkel ist auch durch das Alter begrenzt. Für den Erzählvorgang innerhalb des ganzen Textes ist charakteristisch, dass der Fokus gleichzeitig sowohl auf die Innen- als auch die Außenwelt fällt. Einiges an Belegen für die Tatsache liefert uns die Textstelle, an der Klaus der Ich-Erzähler sein politisches Weltbild darlegt. Einen groβen Einfluss auf die Formierung des Weltbildes des Ich-Erzählers übt das damalige kommunistische System aus, dessen Werte und Weltvorstellungen in das fiktionale Universum eingebettet sind. Dies bestätigt die Halbwachs Theorie von der sozialbedingten individuellen Erinnerung, deren Existenz eine Voraussetzung für die Entstehung von Sinnwelten des Individuums ist, welches sich dementsprechend an bestimmte soziale Gepflogenheiten angleicht. In Anlehnung an die Weltkarte wird die ganze Welt von Klaus in 4 Teile aufgegliedert, denen wiederum 4 verschiedene Farben zugeteilt werden. Die sozialistischen Länder sind allerdings rot, was auf die Farbe der Arbeiterfahne, der Arbeiterbewegung zurückgeht. Grün werden junge Nationalstaaten kenntlich gemacht. Sie sind aber nach Klaus Position fast rot, „[...] weil Tomaten zum Beispiel ja auch erst grün sind, 145 146 Brussig, Thomas: Helden wie wir. Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 1988, S.22. Vgl. Zimniak, Paweł: Zwei Lieben in Deutschland – Zum narrativen Muster deutsch-polnischer Liebesgeschichten im Adoleszenzroman Jens Petersens „Die Haushälterin“. Warszawa 2008, S.4. 50 bevor sie selbstverständlich rot werden.“ Erst dann haben sie ihm zufolge die nötige Reife. Durch die Hervorhebung der Reife und der Tatsache wird auch deutlich wie das Denken des Ich-Erzählers von der Sowjet – Enzyklopädie147 beeinflusst ist. Die dunkelblaue Farbe teilt er den kapitalistischen Ländern und die hellblaue wiederum den Kolonien zu. Es wird notiert: Hellblau hingegen waren die Kolonien, was ich so deutete, daβ diese Länder kapitalistisch sein müssen, aber es eigentlich nicht wollen – die sind mit dem Herzen nicht richtig dabei, die werden zum Kapitalismus gezwungen und würden gerne anders, wenn man sie nur lieβe.148 Das auf eine explizite Weise dargestellte Weltbild lässt nicht nur eine spezifische innerpsychische Realität beim Ich-Erzähler erkennen, sondern hängt mit einer sachlichen Vermittlung von Einzelheiten zusammen, die bildverstärkend sind und die Hauptfigur als Erzählinstanz besser zum Vorschein kommen lassen. Überwiegend gibt sich Klaus als der Ich-Erzähler mit auktorialen Merkmalen zu erkennen, was bereits im Obigen dargelegt wurde. Jedoch an einigen Stellen wird der Ich-Erzähler zur personalen Erzählinstanz. Es wird dann meistens von Worten einer anderen Figur erzählt. Es sind entweder kurze Sätze, die als eine Art Kommentar zum Betragen einer andern Figur gelten oder es werden sogar ganze Dialoge eingeschoben. Falls ein Dialog angeführt wird, dann ist zugleich Klaus die Hauptfigur an der Handlung beteiligt. Ein prägnantes Beispiel dafür gilt die Szene, in der Klaus seine Wohnung abzuschlieβen vergisst und demzufolge von seinen Eltern zurechtgewiesen wird. Doch bei der Auferlegung der Strafe für Klaus kommt es zu einem Gespräch zwischen den Eltern, sodass es im Text heiβt: Ich bitte Sie, ich wurde nie geschlagen oder angeschrien, und selbst wenn ich bestraft werden sollte, mussten meine Eltern wie in jedem Schwurgerichtprozeß zu einem einstimmigen Urteil kommen, was manchmal gar nicht so richtig war. Sie: >>Wir müssen doch nicht immer so streng...<< Er >>Willst du durchgehen lassen...<< Sie: >>Aber wenn er verspricht...<< Er: >>Ja, soll er davonkommen, ohne...<< 149 Vor dem Hintergrund der Analyse der Erzählinstanzen kann schlussgefolgert werden, die Hauptfigur Klaus erfüllt seine Rolle des Ich – Erzählers in sehr weitem Maβe, sodass sie sich erzählerisch auf weitgehende Beschreibung von Ereignissen einlässt, an die sie sich grundsätzlich nicht zu erinnern im Stande ist. Ein prägnantes Beispiel dafür ist der Anfang des 147 Ebd., S.76. Brussig, Thomas: Helden wie wir. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1988, S.94. 149 Ebd., S.36. 148 51 Romans, der als Zitat oben herangezogen wurde. Als Schlussfolgerung gilt auch die Tatsache, dass der Ich – Erzähler nicht nur die Rolle der Vermittlungsinstanz übernimmt, sondern auch mit seinen Kommentaren und Überlegungen andauernd gegenwärtig ist und somit seine eigene Position zum Verhalten anderer Figuren einnimmt. Dies trägt nicht zuletzt dazu bei, dass das Erzählen wie aus der auktorialen Perspektive zu erfolgen scheint, weil der Erzähler sich als Beobachter in einer kommentierend-wertenden Rolle zu erkennen gibt. Sein Fokus fällt dabei nicht nur auf die Innenwelt, sondern auch auf die Auβenwelt, was das Beispiel von Klaus Weltbild deutlich belegt. Des Weiteren muss darauf hingewiesen werden, dass auβer den ich – bezogenen Erzählsituationen, die innerhalb des ganzes Textes hauptsächlich anzutreffen, kommen auch personale Stellen vor. 4.4 Raumentwurf Die Raumgestaltung im Rahmen der Literatur teilt, worauf bereits im theoretischen Teil hingewiesen wurde, nicht nur einen Handlungsort den Figuren zu. Durch die jeweilige Raumkonstruktion wird vielmehr eine für den jeweiligen Text typische Stimmung und Atmosphäre entfaltet und ein Ort für figurales Denken, Fühlen gegeben. In diesem Sinne ist der Raum im Roman Helden wie wir entworfen. Als Beleg gilt die Szene, in welcher der Protagonist sich in dem Wartesaal in der Zentralstelle zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten befindet. Diese Visite in der Praxis geht auf den ersten Geschlechtsverkehr der Hauptfigur Klaus zurück, während dessen sich Klaus womöglich, so seine Eltern, mit dem Tripper infiziert hatte. Selbst das Betreten des Raumes gibt der Hauptfigur eine Gelegenheit zum Nachdenken und Knabbern. Es wird notiert: „Ich berühre nicht mal meinen Pinsel ohne triftigen Grund und soll nun eine Klinke für Geschlechtskranke einfach so anfassen?“150 Dies belegt zugleich die Tatsache, dass das Phänomen der Räumlichkeit, um es mit Paweł Zimniak auszudrücken, Verstehens- und Erklärungsmodelle für die Analyse der Relationen von symbolischen Räumen liefert.151 Im weiteren Verlauf der Szene wird von der Hauptfigur der Wartesaal als Ort für Gedanken des Protagonisten dargestellt. Es wird von dem Ich – Erzähler notiert: 150 151 Brussig, Thomas: Helden wie wir. Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 1988, S.140. Vgl. Zimniak, Paweł: Poetische , Logik ’ der Raumperformationen – Raum als Stimmungsträger. (Manuskript). 52 Im Wartezimmer standen Stühle. Sollte ich meinen Arsch auf Stühle setzen, auf denen ... Ich, der ich keine Klobrilleberührte, ebensowenig, wie ich meine Hose auf einbezogenes Bett lege, sollte mich setzen? Auf diese Stühle? [...] Jeder wusste, dass jeder weiβ, weshalb man hier ist, aber niemand wusste vom andern Genaues.152 Auf Grund dessen wird auch deutlich, dass Raumvorstellungen mit (Raum)Deutungen einhergehen. Deshalb sind die im Bereich dichterischer Rede erfolgenden „[...] räumlichen Inszenierungspraktiken als Formen von Identifikations- oder Distanzierungsstrategien [...]“ aufzufassen.153 Räumlichkeit innerhalb eines fiktionalen Textes darf jedoch nicht als getreues Abbild der Wirklichkeit genommen werden, denn sie stellt nicht die Wirklichkeit, sondern eine spezifische Form der Weltauffassung von den Figuren dar. Dementsprechend ist die Küche in Brussigs Roman entworfen. Die Küche als Raum zum Kochen, Backen, Zubereiten der Speisen und in dem man auch isst, wird in Gedanken- und Gefühlswelt des Protagonisten Klaus zum Gerichtssaal umfunktionalisiert, sodass es im Text heiβt: Mein Vater stellte seine Tasse ab, dass es klirrte, und sah mit hönischen Triumph meine Mutter an – Was, verehrte Frau Richterin, brauchen Sie denn noch an Beweisen für das Versagertum unseres Angeklagten? Hatte ich schon gesagt, dass ich mich beim Abendbrot immer klein, dumm, ahnungslos, fehlentwickelt, minderbemittelt, unwürdig fühlte? Daβ ich mich immer wie vor einem amerikanischen Schwurgericht fühlte? Mit einem Vater dem Staatsanwalt, Vertreter der auf Ruhe und Ordnung bestehenden unbescholtenen Bürger, und einer verständnisvollen Richterin, die nicht gerne strafte, aber immer und unermüdlich auf meine Einsicht hinarbeitete. Selbst wenn ich fragte, wie groβ eines Tages mein Pulver sein wird.154 Dieses Zitat gibt auch eine Auskunft über das Verhältnis der Hauptfigur zu deren Eltern, welche hiermit die Mutter als Richterin, welche nicht gern straft und der Vater als Staatsanwalt, welcher Anklage gegen seinen Sohn Klaus erhebt. Dieser Raum hier ist eine – so Paweł Zimniak - „[...] mit Sprachzeichen und narrativ erzeugte Konstruktion, die nicht nur kulissenhaft als zum Setting gehörend eine textkonstitutive Funktion erfüllt, sondern auch performativ über die Subjekt - Objekt Beziehung konstituiert wird.”155 Somit steht die Küche als Raum im Sinne des Relationalen und Performativen in einem engen Zusammenhang mit der Empfindung und Wahrnehmung der Hauptfigur, sodass die Küche sich als ein besonderes 152 Brussig, Thomas: Helden wie wir. Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 1988, S.141. Zimniak, Paweł: Poetische , Logik ’ der Raumperformationen – Raum als Stimmungsträger. (Manuskript). 154 Brussig, Thomas: Helden wie wir. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1988, S.56. 155 Zimniak, Paweł: Poetische , Logik ’ der Raumperformationen – Raum als Stimmungsträger. (Manuskript). 153 53 „Empfindungsmaterial” erfassen lässt.156 Dies belegt auch Lotmans These, dass die räumliche Ordnung in der Diegese zum zentralen und aufbauenden Element wird, dem auch andere nicht nur räumlichen Komponenten unterworfen sind. 4.5 Zeitlicher Ereignisrahmen Scheffel und Martinez greifen in ihrer Einführung in die Erzähltheorie drei Grundbegriffe der Handlung narrativer Texte auf. Das sind Ereignis(Motiv), Geschehen, Geschichte. Das Ereignis oder Motiv bezeichnen sie als die kleinste und elementare Einheit der Handlung. Sie beziehen sich dabei auf Thomas Tomaševskij, der das Ereignis als die Mikroebene bzw. die Grundstruktur eines narrativen Textes versteht. Helden wie wir von Thomas Brussig ist ein Entwicklungsroman, der eine ganze Reihe von Einzelheiten über Erfahrungen und Erlebnisse des Protagonisten und deren psychologische Verarbeitung bzw. Integration in seine eigene Persöhnlichkeit schildert. Die Erzählung umspannt einen Zeitrahmen von der Geburt der Hauptfigur, die symbolträchtig mit dem Einmarsch der russischen Truppen in die Tschechoslowakei am 20. August 1968 zusammenfällt, bis zur Öffnung der Berliner Mauer am neunten November 1989. Bis dahin werden die ersten 21 Lebensjahre des Protagonisten in der DDR erzählt, die symbolhaft mit den 21 Sterbejahren des Sozialismus exakt ineinander fallen, denn seine Geburt in „eine politische Welt“ erfolgt am zwanzigsten August 1968, dem Tag des Einmarsches der Warschauer Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei.157 Der Held wächst auf als Einzelkind zweier Eltern, die antagonistischer kaum sein können: die Mutter stets sorgfältig, fürsorglich, alles erläuternd, auf Ausgleich bedacht – der Vater ewig verdüstert, mürrisch, schweigsam, streitsüchtig. In ihrer Erziehung allerdings ergänzen sie sich auf fatale Art und Weise: Ihr Sohn wird immer „klein“ gehalten, bleibt Außenseiter, fühlt sich als Versager. Den Kern seines Minderwertigkeitskomplexes macht das aus, was Heranwachsende in der Regel auch am meisten beschäftigt – die Sexualität. In dieser Hinsicht erlebt sich der geistig überlegene Protagonist gegenüber Gleichaltrigen als hoffnungslos zurückgeblieben. Am meisten leidet die Hauptfigur unter der Zwangsvorstellung, ein zu kleines Glied zu haben. Sein Minderwertigkeitsgefühl hat eine logische Kehrseite – den Größenwahn. Schon der kleine Klaus träumt davon, wegen seiner besonderen Qualität als 156 157 Ebd., (Manuskript). Brussig, Thomas: Helden wie wir. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1988, S.5. 54 Nobelpreisträger bekannt zu werden. Neben diesem egoistischen Motiv treibt ihn aber auch ein aufopferndes an: Er will außerdem im Namen des kommunistischen Staates als historischer Missionär agieren. Beides zusammen macht ihn anfällig für die Propaganda des kommunistischen Staatssystem und letztlich zu einem Mitarbeiter der Stasi, wodurch er in die Fußstapfen des Vaters tritt, auch wenn das seinen Gefühlen gegenüber dem Vater äuβerst widerspricht und sein Unmündigsein verlängert. Die neue Tätigkeit hindert seine leicht reizbare Phantasie nicht. Sie verführt ihn zu noch extremeren sexuellen Perversionen, die er mit den Grundlagen des Sozialismus in Zusammenhang bringt. Die Betätigung in Kreisen der Stasi erzeugt in ihm zugleich ein erhebliches Maß an krimineller Energie, die nur durch den Gang der Geschichte zu guter Letzt gewendet wird. Im Schlusskapitel Der geheilte Pimmel wird die sexuelle Metaphorik des Romans konsequent fortgesetzt. Der Außenseiter arbeitet sich hoch zum Anführer einer Menge, die noch mit der Berliner Mauer geschlagen zu sein scheint, die er vor ihnen mit seinem Penis zum Einsturz bringt. Dementsprechend können aus dem gesamten Text 4 Ereignisse herausgesondert werden, die in Folge ihrer chronologischen Aufeinanderreihung zum Geschehen werden. Anschlieβend werden sie durch die Motivierung – um es mit Scheffel und Martinez auszudrücken – in einen kausalen Erklärungszusammenhang eingebettet und somit zu einer komplexen Geschichte integriert.158 Dass der Zusammenhang einer Geschichte durch die motivationale Verbindung der dargestellten Ereignisse hergestellt wird, ist ein allgemeines Merkmal narrativer Texte.159 Das erste Ereignis also, mit dem Klaus, wie er selbst meint, nobelpreisverdächtige Lebensgeschichte eingeleitet wird, ist eben seine Geburt. Wer wie Klaus Uhlzscht am zwanzigsten August 1968, dem Tag an dem der Prager Frühling durch Panzer des Warschauer Vertrag-Staaten beendet wurde, muss für historische Aufgaben auserkoren sein, so selbst der Protagonist Klaus: Mr. Kitzelstein, wie Sie sehen, habe ich, meiner historischen Verantwortung voll bewusst, bereits damit begonnen, die Geschichte meines Lebens aufzuschreiben, auch wenn ich gestehen muss, dass ich in zwei Jahren nicht über den ersten Absatz hinausgekommen bin.160 Diese Tatsache, dass der Protagonist an diesem besonderen Tag geboren wurde, ist für ihn ein Beweggrund für das Schreiben eines Notizbuches, das dessen autobiographische Züge enthält. Dessen Bewusstsein lässt auch bei ihm Gefühle des Gröβenwahns aufkommen, was er selbst 158 Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2005, S.110. Vgl. edb., S.118. 160 Brussig, Thomas: Helden wie wir. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1988, S.5. 159 55 als seine hervorstechende Eigenschaft bei jeder Gelegenheit hervorhebt. Das erste Ereignis, das mit der Geburt des Protagonisten zusammenfällt, wird auf Grund Klaus (krankhaft) übersteigerten Geltungsdrangs zum Geschehen, nachdem die Hauptfigur als Neunjähriger auf die Titelseite der auflagestärksten Zeitung - der Neuen Berliner Illusrtierten gekommen ist. Von diesem Geschehen wird Klaus Gröβenwahn „angekurbelt“, der erst beim ersten Ausflug ins Ferienlager gedämpft wird. Das zweite Ereignis, das man bei der Analyse dieses Romans unter dem Aspekt des zeitlichen Ereignisrahmens heraussondern kann, ist der Klaus zum ersten Mal erigierte Penis. Sein Glied versteift sich nämlich in die Erektion beim Anblick einer Fernsehshowmoderatorin. Die Hauptfigur verfällt dabei in Entzückung. Es wird notiert: Ich war nicht vorbereitet! Was war das? Jawohl, mein erster, Dagmar Fredericks Augenschlag und ihr chansonetter Tonfall bescherten mir den ersten Steifen. Mein erster richtiger Steifer! Was für ein Gefühl! Heiβ war er und irgendwie abenteuerlich, und einemmal begriff ich, was zwischen Männern und Frauen abgeht: Daß Männer ständig versuchen, Dinge zu tun, die Frauen mit Blicken hanorieren, die so was auslösen.161 Von nun an wird Klaus ständig von Erektionen „heimgesucht“ und das ist von Belang für den Weitergang der Lebensgeschichte der Hauptfigur, wenn man bedenkt, dass Klaus nach gescheiterten Versuchen mit Frauen mit 21 Jahren Kaulquappen in einen Kondom stopft und sie „vergewaltigt“. Auf dem Werdegang zum Multiperversen wird aber die Yvonne – Episode eingeschoben. Die Yvonne – Episode ist die erste und zugleich einzige Liebesgeschichte des Protagonisten. Die Begegnung der Hauptfigur mit Yvonne ist ebenfalls wie die mit den vorherigen Frauen zum Scheitern verurteilt. Diese Episode spielt aber für die chronologische und kausale Weiterentwicklung der Haupthandlung keine Bedeutung und somit ist lediglich eine Nebenhandlung. Das dritte Ereignis in der Lebensgeschichte der Hauptfigur ist deren Abiturzeit. Zu dieser Zeit geht Klaus auf Geheiβ seines Vaters zu einem Nachmittagstreffen der Offiziersbewerber. Nichts ahnend wird er von der eingesetzten Kommission auf seine Arbeitstauglichkeit in dem Staatssicherheitsministerium hin überprüft. Dieses Ereignis wird zum Geschehen integriert, indem Klaus ein paar Monate später zu einem Zwiegespräch mit einem Instrukteur des Staatssicherheitsdienstes eingeladen wird. In diesem Gespräch stellt sich heraus, dass die Hauptfigur in die Reihen der Stasi einverleibt wird. Von nun an träumt Klaus davon, als Topagent bei der Stasi zu arbeiten. Daher arbeitet er von diesem Zeitpunkt an tüchtig auf seinen beruflichen Aufstieg hin. Er unterwirft sich dabei restlos der Ideologie 161 Ebd., S.67. 56 des Sozialismus und versucht alles richtiger als richtig zu machen, was zugleich mit seinem Wunsch, zukünftig als Nobelpreisträger dazustehen, und seinem Gröβenwahn zusammenhängt. Es wird notiert: Ich glaube, mich kriegten sie auch mit der historischen Mission. Mission! Historisch! Das es so etwas gab! Das war’s, was ich brauchte! Aha, Karl Max (der vom Hundertmarkstein) und Friederich Engels (Fünfzigmarkschein) hatten die historische Mission der Arbeiterklasse entdeckt. [...] Wie hilfsbereit, dass wir die Arbeiterklasse nicht allein mit ihrer schweren historischen Mission auf dem Buckel durch die Weltgeschichte waten lassen. Nur die Edelmütigsten unter den Menschen – ich fühle mich immer angesprochen, wenn an Ritterlichkeit appelliert wird – verfechten die Sache des Fortschritts. Überzeugt kann schlieβlich jeder sein, aber wer ist bereit, Opfer zu bringen. Ich zum Beispiel mit meinen Eitelkeiten als zukünftiger Preisträger. Nobelpreisträger kann im Grunde jeder sein, vorausgesetzt, er ist so genial wie ich [...].162 Somit wird der Fortgang der Geschichte bzw. das Handeln der Hauptfigur durch kausale Motivierung veranschaulicht.. Dies erfolgt auf eine explizite Weise durch die erklärende Aussage des Protagonisten, wessen Beleg das obige Zitat ist sich unverzüglich im Staatsicherheitsministerium stellen, ohne von den Gründen dafür erfahren zu haben. Überschwänglich und sich der Hoffnung hingebend, mit einer geheimen Aufgabe betraut zu werden, eilt die Hauptfigur ins Ministerium. Im Ministerium erwartet ihn ein in dem Roman als Riechfinger bezeichneter Doktor, welcher Klaus eine Bereitschaftserklärung zur Blutspende vorlegt. Ohne lange überlegt zu haben, unterschreibt der Protagonist dieses Dokument und stellt sich darauf hin eine Reihe von Fragen:. Zu diesem Zeitpunkt des Lebens des Protagonisten wird in die Geschichte eine Episode eingeschoben, die ein Teil der Haupthandlung ausmacht. Sie wird hiermit als die Honecker – Episode genannt. Sie wird in die Szene eingesetzt, in der Klaus einen Anruf eines Staboffiziers mit der Nachricht bekommt, er sollte Für wen darf ich bluten? Nur für einen Star? Oder für die gesamte Olympiamannschaft? Oder nur für meine Blutgruppe? Die Gewichtheber? Die Leichtathleten? Die Kraft- oder die Ausdauersportler? Oder vielleicht sogar die Schwimmer? Mein Blut schwimmt zahllosen Siegen entgegen! Über die Blutspende und den Aufenthalt im Regierungskrankenhaus kommt es zur Begegnung der Hauptfigur mit dem Blutnehmer, welcher der stärkste Mann in der DDR war – Erich Honecker. Dieses Treffen ist für den Protagonisten sehr wichtig, wenn man bedenkt, 162 Ebd., S.103-104. 57 dass Klaus den Job des Topagenten der Stasi begehrt. In diesem Zusammenhang heiβt es im Text: Ich lächelte, ich war froh, dass wir uns endlich getroffen hatten. Wir hatten groβe Dinge zu besprechen. Schwierige Zeiten standen bevor, aber er hatte mich nicht vergessen. Klar wir werden was wegen dieser Fluchtwelle aushecken müssen. In dem obigen Zitat gibt sich die Hauptfigur als der engste Verbündete Honeckers zu erkennen, was aber nach dem Verlassen des Krankenhauses von Klaus ohne Nachklang verbleibt. Mithin geht Klaus verbissener Wunsch, als Topagent Geheimaufträge für die Stasi auszuführen, in Auflösung. Das vierte Ereignis innerhalb der Gesamthandlung ist der 4. Oktober des Jahres, in dem die Berliner Mauer fiel. An diesem Tag rotten sich die DDR – Bürger erneut am Alexander Platz zusammen, um gegen staatliche Organen zu protestieren. Von Schuldgefühlen gequält, die letzen Tage zuvor als Stasiarbeiter viele unbescholtene Bürger mit stärkster Gewalt festgenommen zu haben, eilt der Protagonist Klaus Uhlzscht auf den Alexander Platz, um bei den groβen Demonstrationen mitzumachen, ja er wechselt die Seiten. Auch bei dem „Seitensprung“ gibt sich der Held altruistisch zu erkennen. Es wird im Zusammenhang notiert: „Ich wollte ans Mikrophon stürmen, ich wollte mich auf die LKWPritsche raufprügeln, um Schluss zu machen mit dem Sozialismus-Hokuspokus [...].“163 Doch im Begriff, seinen Vorsatz zu verwirklichen, stolpert Klaus über ein Pappschild mit einem Besenstiel, das ein Demonstrant am Kopf der Treppe zur Rednertribüne abgelegen hat. Es wird notiert: [...] Ich übersah es nicht nur, ich stolperte darüber, riβ es mit meinem Fuβ mit, verfing mich, verlor das Gleichgewicht und wäre die Treppe heruntergefallen – aber da war noch der Besenstiel, der mir in die Beine geriet. Ich spieβte mir das Ende des Besenstiels in die Klöten. [...] Ich verlor die Balance und schlug mit dem Kopf auf die Treppe, was verglichen mit dem Vorangegangenen erholsam war.164 Infolge der Verletzung, die sich Klaus dabei hinzugefügt hat, wird er ins Krankenhaus gebracht, wo er und präziser sein verstümmelter Penis operiert wird. Nach dem chirurgischen Eingriff wacht die Hauptfigur auf und kann ihren Augen nicht trauen: „Stellen sich mal vor, Sie wachen eines Tages auf und anstatt Ihres gewohnten Ziepfelchens finden Sie zwischen Ihren Beinen das gröβte Glied, das Sie je gesehen haben.”165 Es kommt aber zur Durchbrechung der zeitlichen Anachronie, die durch eine zukunftorientierte Projektion in der 163 Ebd., S.288. Ebd., S.289. 165 Ebd., S.300. 164 58 Figurenrede erfolgt. Es wird also von dem Chirurgen vorausgesagt, dass dank der Medikamente sein Glied wieder zu seiner Normalgröβe finden wird. Unter der Zwangsvorstellung, den kleinsten Penis zu haben, flüchtet der Protagonist aus dem Krankenhaus, um sein Glied bei diesem riesengroβen Ausmaβ beizubehalten. Wie daraus zu schlieβen ist, stellt die Verletzung der Hauptfigur und die Operation eine Episode dar, die ein Teil der Haupthandlung ausmacht. Die Episode wird hiermit als die Episode des geheilten Pimmels genannt und trägt zu der Gesamthandlung bei, weil Klaus sich nach der Flucht aus dem Krankenhaus am neunten November 1989 der demonstrierenden Menge am Alexanderplatz anschlieβt und stürzt mit seinem ernorm groβen Geschlechtsorgan die Berliner Mauer um. Damit kommt es zu einem Geschehen, mit dem das vorangehende Ereignis ergänzt und in einen kausalen Zusammenhang eingegliedert wird. Mit diesem Geschehen wird Klaus Lebensgeschichte abgeschlossen. 59 5 Fazit 1) Die Formierung der Erinnerung jedes Individuums erfolgt immer unter Bezugsnahme auf die Erinnerung einer sozialen Gruppe, der das Individuum angehört. Mit anderen Worten kann es so verstanden werden, dass das Gedächtnis jedes Individuums sich an bestimmte soziale Gepflogenheiten angleicht, auf welche bei der Erinnerung immer wieder ein Bezug genommen wird. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass ein für die Erinnerung relevantes Medium die Kunstwerke sind, die eine Art Heraufbeschwörung der Vergangenheit sind. Es handelt sich hierbei auch um narrative Texte wie der Roman Helden wie wir, deren Inhalt aber nicht ganz ein getreues Abbild menschlicher Erinnerung an die Vergangenheit liefert. Denn im Rahmen fiktionaler Werke wird eine spezifische bzw. imaginäre Beschaffenheit der erzählten Welt geschaffen, deren Komponenten nur bedingt oder aber gar nicht der Realität entsprechen. 2) Die Erzählung Helden wie wir bestätigt durch seinen Inhalt und die Gestaltung der Hauptfigur seine Zugehörigkeit zur Gattung Entwicklungsroman. Allerdings ist hiermit eine scherzhafte Form darlegt, die ihren Ausdruck an der wahnwitzigen Gründlichkeit und Sonderlichkeit des Protagonisten findet. 3) Die Episoden, die in die Handlung eingeschoben werden, sind entweder Teil der Haupthandlung oder aber eine Nebenhandlung, die für den Fortgang der Haupthandlung irrelevant ist. 4) Die narrative Gesamtstruktur dieser Erzählung kann durchaus als episodisch genannt werden, weil die einzelnen Episoden locker durch die Hauptfigur Klaus Uhltzscht miteinander verbunden werden. Dies ist insoweit relevant, als dass Schelmenroman als Gattung sich ebenfalls mit der episodischen Struktur auszeichnet. 5) Ein Aspekt, das diesem Roman offensichtlich in groβem Maβe abgeht, ist die Grenzüberschreitung in Lotmans Sinne, die lediglich zum Schluss realisiert wird. Es ist nämlich die Überquerung der Grenze zwischen dem Ost- und Westberlin, die der Protagonist mit seinem Geschlechtsorgan vollzieht. Am Ende der Schlussszene kommen räumliche Charakteristiker zum Vorschein, die den komplementären Gegensatz zwischen den Teilräumen prägen. 6) Der Schelmenroman Helden wie wir bietet einen realitätsnahen Einblick in die letzten 21 Jahre der DDR. Im Vordergrund steht allerdings die Hauptfigur und zugleich die Erzählinstanz Klaus Uhltzscht, das letztendlich in die Reihe der Stasi einverleibt wird. 60 Das System der Stasi wird damit zu dem Schwerpunkt der Erzählung. Dies wird keinesfalls trocken, sondern sehr nüchtern dargestellt. Es werden dabei viele Details zum Ausdruck gebracht, die medienwirksam an den Alltag in der Deutschen Demokratischen Republik erinnern. Als prägnantes Beispiel gilt die Szene aus dem Unterricht in der Klaus Lernergruppe. Die Schulkinder sehen nähmlich einen DDR – Propagandafilm über den Zweiten Weltkrieg und die Befreiung Deutschlands von der Sowjetunion. Der Wunsch der Kinder ist es, den Film nach Ablauf rückwärtslaufend zu sehen. Der Lehrer erklärt sich damit einverstanden und lässt den Film rückwärts laufen, d.h. die ausgebombten Städte werden wieder aufgerichtet, aber auch Nazigröβen, die rückwärtslaufend wieder auftauchen. Danach kommen zwei Stasibeamte, welche die Klasse auffragen, ob der Lehrer tatsächlich einen solchen Film der Rückseite voran habe laufen lassen. Der Lehrer wird freilich darauf hin festgenommen und kommt somit ins Gefängnis. Wie daraus zu folgern ist, ist bei der Analyse narrativer Texte nicht nur das Erzählte selbst, sondern auch der Vorgang des Erzählens, also der Diskurs als Ebene des Erzählvollzugs. 61 6 Didaktisierungsvorschläge Stundenentwurf Nr. 1 Zeit: 90 Min Klasse: III. Fremdsprachenkolleg Thema: Grundformen des Erzählens Hauptziel: Die Studenten sollten nach der Unterrichtsstunde die Erzählerposition in Bezug auf die Intensität seiner Involviertheit in erzählte Geschichte und den Modus der Erfahrung des Erzählers von der erzählten Geschichte bestimmen können. Pragmatische Ziele: Die Studenten lernen gefragte Informationen im Text suchen, seine eigene Auffassung zu einem Sachverhalt formulieren und diese mit Textbeispielen begründen. Die Studenten lernen dabei eine klare, logische und prägnante Aussage zu machen. Kognitive Ziele: Während dieses Unterrichts lernen die Studenten, die berichtende Form des Erzählens von der szenischen Darstellung zu unterscheiden und die Platzierung der Erzählerfigur zu erkennen. Sozial – affektive Ziele: Jeder der Studenten lernt seinen eigenen Standpunkt im Forum darzulegen und ihn mit Beispielen zu verteidigen bzw. den Standpunkt anderer Studenten zu akzeptieren. Die Studenten lernen auch Partnerarbeit. 1) Begrüβungsphase: 5 Min Ich begrüβe die Studenten mit einem Guten Tag und prüfe die Anwesenheit. 2) Einführungsphase: 15 Min Ich verteile den Studenten zwei Texte von Franz K. Stanzel, die zwar den gleichen Sachverhalt zum Ausdruck bringen, doch aber einige signifikante Differenzen auf der Vermittlungsebene zueinander aufweisen(Anlage1). Ich lasse zwei der Studenten die Texte vortragen. Ich führe zwei neue Begriffe ein, die sich auf die Erzählvorgänge in den beiden Texten beziehen. Es sind die berichtende Erzählung und die szenische Darstellung. Die Studenten werden von mir gefragt, worauf diese Bezeichnungen: berichtende Erzählung und die szenische Darstellung zurückzuführen sind. Ich nenne die diese Erzählensarten und schreibe deren Hauptmerkmale stichpunktartig an die Tafel. Die Studenten vermerken sich sie. Sozialform: Frontalunterricht 62 Materialien: Extrablätter, Tafel, Kreide Feinziele: Die Studenten üben lautes Lesen und lernen die zwei Grundformen des Erzählens kennen. 3) Übungsphase: 25 Min Die Studenten versuchen zu zweit die Grundunterschiede herauszustellen, die sie bei dem ersten Lesen wahrgenommen haben. Nachdem sie Hauptunterschiede zwischen den beiden Texten herausgesondert haben, ziehe ich lesend diejenigen Textabschnitte heran, welche die Erzählerposition bezüglich der Intensität seiner Verstrickung in die dargestellte Geschichte veranschaulichen. Die Studenten versuchen die Perspektive zu bestimmen, aus welcher der Erzähler die Geschichte wiedergibt. In diesem Zusammenhang nenne ich zwei Bezeichnungen, nach denen man die Form des Erzählers je nach seiner Erfahrung von der erzählten Geschichte festlegen kann. Der Erzähler ist nämlich entweder extra heterodiegetisch oder intra – homodiegetisch oder autodiegetisch. Die zwei Bezeichnungen werden von mir an die Tafel geschrieben. Ich erkläre die zwei Bezeichnungen von der Etymologie her, sodass die Studenten nun in der Lage sind, den richtigen Erzählertyp der richtigen Version zuzuordnen. Sozialform: Partnerarbeit Materialien: Extrablätter, Tafel, Kreide Feinziele: Die Studenten lernen zwei neue Bezeichnungen mit Erklärung hinsichtlich der Erzählerperspektive kennen, sodass sie im Stande sind, die Erzählerposition zu bestimmen. 4) Anwendungsphase: 20 Min Die Studenten bekommen von mir einen Buchausschnitt aus dem Roman Helden wie wir (Anlage2) und einen von mir präparierten Text, der eine berichtende Form des aus dem Roman herangezogenen Ausschnitts darstellt. Die Aufgabe der Studenten besteht darin, die Hauptunterschiede zwischen den beiden Texten herauszustellen, kurz den Inhalt wiederzugeben und eine längere schriftliche Aussage vorzubereiten, welche die Erzählerposition und den Grad der Verwicklung des Erzählers in die erzählte Geschichte umfasst. Das alles machen die Studenten zu zweit. Sozialform: Partnerarbeit Materialien: Extrablatt Feinziele: Die Studenten üben leises Leseverstehen 63 5) Testphase: 15 Min Jedes Paar präsentiert im Forum das Ergebnis ihrer Textanalyse. Sozialform: Plenum Materialien: keine Feinziele: Die Studenten üben Sprechen 64 Anlage Nr. 1 Lesen Sie die zwei Versionen dieser Erzählung und überlegen Sie, worauf die ihnen zugeschriebenen Bezeichnungen (berichtende Erzählung und die szenische Darstellung) zurückzuführen sind! Erste Version (berichtende Erzählung): Im Verlauf des Krieges ist schließlich auch diese Stadt erobert und zerstört worden. Dabei wurden fast alle Häuser und Tempel vom Feuer, das die Eroberer gelegt haben, eingeäschert. Der Einwohner der Stadt, meist Frauen, Kinder und Greise, bemächtigte sich eine Panik. Es wird berichtet, dass sie Eroberer in erster Linie auf Beute bedacht waren. Vermutlich sind damals auch die reichen Tempelschätze der Stadt völlig ausgeplündert worden. Von Augenzeugen wird berichtet, die plünderten Soldaten seien bei der Verteilung dieser reichen Beute in Streit untereinander geraten. Wie es dem damaligen Kriegsrecht entsprach, wurde ein Großteil der Einwohner von den Eroberern als Gefangene verschleppt, wodurch manches Kind seine Mutter, mache Gattin ihren Mann verlor. Zweite Version (szenische Darstellung): Vom Dach seines Hauses in einiger Entfernung von der östlichen Stadtmauer konnte er jetzt ganz deutlich hören, dass es den Belagern gelungen sein musste, in die Stadt einzudringen. Der Kampflärm kam immer näher. Schon zeigte sich roter Feuerschein über den Dächern der Häuser in dieser Richtung. Überall in den Gassen begannen die Menschen zu laufen, hierhin und dorthin, angstvoll und ratlos, wo in diesem Augenblick der höchsten Not Hilfe zu finden wäre. Direkt vor seinem Haus hatte sich eine Gruppe Menschen angesammelt, weinende Frauen und Kinder und hilflose Greise, denen die Angst ins Gesicht geschrieben stand. Doch noch ehe sie zu einem Entschluss gekommen waren, wohin sie sich wenden sollten, tauchte schon die ersten feindlichen Soldaten am unteren Ende der Straße auf. Diese liefen gerade auf den Eingang des Tempels zu und drangen in ihn ein. Und jetzt erschien der erste von ihnen wieder, beladen mit Beute. Sogleich stürzten sich andere Soldaten auf ihn und versuchten, ihm einen Teil des Beutegutes zu entreißen. Der Lärm der plünderten Soldaten, das Angstgeschrei der Frauen und Kinder, das Prasseln des Feuers, das nun den ganzen östlichen Stadtteil erfasst hatte, erfüllte die Luft. Von seinem Versteck aus musste er zusehen, wie man begann, einen Teil der Einwohner als Gefangene zu fesseln und fortzuführen. Eine Mutter versuchte verzweifelt, ihr Kind festzuhalten . . . 65 Anlage Nr. 2 Lesen Sie die zwei Texte und machen Sie ein Paar Stichpunkte zu dem Inhalt dieser Texte! Anschließend versuchen Sie die Erzählerposition und den Grad der Verwicklung des Erzählers in die erzählte Geschichte zu bestimmen! Erste Version (szenische Darstellung): Ich musste nicht in den Kindergarten, sondern saβ glücklich zu Hause, hantierte mit meinen Buntstiften und malte Bilder, über die meine Mutter immer wieder in Verzückung geriet – sie strahlte, sie lachte, sie lobte, und wenn mein Vater zum Feierabend kam präsentierte sie ihm überschwänglich meine Mutter meine meine >>Malbilder<<., >>Malbilder<<. Er allerdings interessierte sich nicht für und ich hatte immer das Gefühl, dass es nicht ist, was er von mir erwartet. Zweite Version (berichtende Erzählung): Er musste den Kindergarten nicht besuchen. Wie von seiner Oma berichtet wird, saß er zu Hause und malte seine Bilder, über die, wie die Nachbarn berichten, die Mutter hingerissen war. Als der Vater zum Fierabend nach Hause kam, zeigte ihm die Mutter die gemalten Bilder des Sohnes. Er war mit ihnen nicht besonders zufrieden, was vermutlich auf eine schlechte Beziehung zwischen den beiden zurückging. 66 Stundenentwurf Nr. 2 Zeit: 90 Min Klasse: III. Fremdsprachenkolleg Thema: Raumgestaltung im Bereich der Literatur Hauptziel: Die Studenten sollten nach der Unterrichtsstunde sagen können, wie der Raum in einem narrativen Text gestaltet ist. Pragmatische Ziele: Die Studenten üben die Fertigkeit, gefragte Informationen aus dem Text herauszufiltern. Sie lernen auch hiermit, sich zu einem Sachverhalt zu äußern. Kognitive Ziele: Die Studenten sollten nach der Unterrichtsstunde sagen die Hauptfigur bestimmen, fiktionale Welten, auf welche die Hauptfigur innerhalb der Handlung stößt, unterscheiden bzw. die klassifikatorische Grenze zwischen diesen Welten erkennen können. Sozial – affektive Ziele: Die Studenten üben die Fertigkeit, selbstständig und innerhalb einer Gruppe zu arbeiten. 1) Begrüβungsphase: 5 Min Ich begrüβe die Studenten mit einem Guten Tag und prüfe die Anwesenheit. 2) Einführungsphase: 30 Min Ich mache eine Einleitung mit Besprechung der Theorie von der Ordnung narrativer Texte bezüglich der Räumlichkeit, die von Jurij M. Lotman vorgeschlagen wurde. Diese Theorie wird von mir auf Grund des Inhaltes von Dante Alighieris Göttlicher Komödie erklärt. Sozialform: Frontalunterricht Materialien: Tafel, Kreide Feinziele: Die Studenten lernen Lotmans Theorie bezüglich der Räumlichkeit im Rahmen narrativer Texte kennen. 3) Übungsphase: 20 Min Die Studenten bekommen einen Textausschnitt aus Thomas Brussig Am kürzeren Ende der Sonnenallee(Anlage1) zu der Lotmans Theorie, die unbesprochen als Übungsstoff dient. Ich bringe den Studenten den politischen bzw. geschichtlichen Kontext näher, auf den der Textanschnitt referiert. Jeder liest zunächst mal den Text für sich selbst. Darauf hin sollten die Studenten im Plenum auf Grund dieser Beispiele die drei Komponenten (ein semantisches Feld, das in zwei komplementäre Untermengen aufgeteilt ist; eine Grenze zwischen diesen Untermengen, die unter normalen Bedingungen undurchdringlich ist; der die Handlung 67 tragende Held) welche die Grundstruktur dieser narrativen Texte ausmachen. Dann sollen sie die im Lotmans Sinne klassifikatorische Grenze im Text ausfindig machen und die Teilräume, zwischen denen diese Grenze durchläuft, benennen. Dann versuchen die Studenten die drei Ebenen herauszusondern, auf denen sich der komplementäre Gegensatz der Teilräume entfaltet. Sozialform: Plenum Materialien: Extrablatt Feinziele: Die Studenten üben leises Leseverstehen. 4) Anwendungsphase: 20 Min Die Studenten arbeiten in Gruppen. Ich verteile ihnen auf einer Kopieunterlage einen Ausschnitt aus der Schlussszene des Romans Helden wie wir(Anlage2). Die Studenten sollten sich einige Stichpunkte zu der Handlung notieren. Anschließend versuchen sie innerhalb der Gruppe die drei Komponenten herauszusondern, die einiges an Belegen für den narrativen Charakter des Textausschnitts liefern. Dann schreiben sie einige Stichpunkte zu der Überschreitung der klassifikatorischen Grenze (die Berliner Mauer) von dem Helden des Romans bzw. zu dem Gegensatz dieser Teilräume (Ost- vs. Westberlin). Sozialform: Gruppenarbeit Materialien: Extrablatt Feinziele: Die Studenten lernen Gruppenarbeit und leises Lesenverstehen 5) Testphase: 15 Min Jede Gruppe wählt einen Gruppensprecher, der unter Zuhilfenahme der stichpunktartigen Notizen eine Aussage macht. Falls er etwas nicht berücksichtigt hat, dann ergänzt seine Aussage die ganze Gruppe. Sozialform: Plenum Materialien: keine Feinziele: Die Studenten üben freies Sprechen 68 Anlage Nr. 1 Micha hatte keine Westplatten – trotzt Westonkel. Platten ließen sich in der Unterhose schmuggeln, und für solche Abenteuer wie doppelter Boden war Onkel Heinz nicht der Typ. Es genügte, daß der Grenzler mal etwas gründlicher im Paß blätterte – und schon bereute Heinz, daß er für seine armen Verwandten immer wieder dieses verflucht hohe Risiko, erwicht zu werden, auf sich nahm. Anlage Nr. 2 Es passierte so viel in diesen Tagen, was einfach nicht zu glauben war, und ich war mir sicher, daß ihm und den übrigen Grenzern das den Rest geben würde. So was hatten sie. noch nie gesehen! So was hätten sie nie für möglich gehalten! Was sich ihnen darbot, war so unglaublich, daß sie mit niemandem darüber sprechen konnten, weil ihn glauben wird. Ich ließ mir Zeit, viel Zeit, ich sah allen nacheinander in die Augen, und schließlich entriegelte einer von ihnen wie hypnotisiert das Tor. Ehe sie sich es anders überlegten, [...] hatte ich die Gitterstäbe gepackt und das Tor aufgestoßen. >>So<< schrie ich [...] >>loslaufen selber!<<. [...] Ein Westberliner Fotograf überreichte mir mit den Worten >>Wenn muss ihr du dir ein paar Mark verdienen willst . . .<< seine Visitenkarte. Um nicht unverstanden zu bleiben, untermalte er sein Angebot mit Hüftbewegungen. So habe ich mir den Westen immer vorgestellt: Man ist kaum über den weißen Strich und wird schon in Pornos verwickelt. 69 7 Zusammenfassung In der vorliegenden Diplomarbeit wurde in dem methodologischen Ansatz Bezug auf den neusten Forschungsstand bezüglich des Gedächtnisdiskurses genommen. Damit hat man sich hiermit erstens auf die Fragestellung des Sonderforschungsbereiches Erinnerungskulturen an der Justus – Liebig – Universität Gießen bezogen, der ein mehrdimensionales Modell für die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung entworfen hat.. Zweitens wurde theoretisch auf den Begriff des Gedächtnisses und dessen Formen der kollektiven Bezugnahme auf die Vergangenheit eingegangen. In diesem Zusammenhang wurde aktuelle Gedächtniskonzeptionen von Jan und Aleida Assmann, Maurice Halbwachs, Aby Warburg, Pierre Nora rekapituliert. In dem methodologischen Teil wurde auch in Kürze die spezifische Formierung des Gedächtnisses und der Erinnerungskulturen in geschlossenen Gesellschaften des so genannten Realsozialismus dargelegt. Was dieser Diplomarbeit offensichtlich abgeht, ist ein eingehender Verweis auf die besondere Ausprägung des Gedächtnisses der Hauptfigur des Romans Helden wie wir Klaus Uhltzschts, das ein deutliches Zeugnis der Beeinflussung der menschlichen Erinnerungen von einer totalitären Ideologie ablegt. Im weiteren Teil wurde die Literatur in narratologischer Perspektive aufgegriffen. In dieser Hinsicht wurde das Verhältnis zwischen dem Erzählten und dem Vorgang des Erzählens als Anregung unter Bezugnahme der Erzähltheorien von Matias Martinez, Michael Scheffel, Boris Tomaševskij aufgenommen und rekapituliert. In dem analytischen Teil wurde die Charakteristik der Zentralfigur Klaus Uhltzschts mitsamt der Konstellation der anderen Figuren und des Protagonisten des Romans Helden wie wir von Thomas Brussig vorgenommen. Ausgehend von Stanzels zwei Formen des Erzählens und drei Erzählsituationen wurde den Fragen nach Erzählpositionen und der Einstellung des Lesers zur erzählten Welt nachgegangen. Was hiermit jedoch nicht realisiert wurde und als eine gute Ergänzung im Anschluss an diese vorliegende Diplomarbeit gelten könnte, wäre eine genauere Studie über das innere Verhältnis des Rezipienten zum fiktionalen Text bzw. zur Beschaffenheit der erzählten Welt. Anschlieβend wurde Bezug auf Lotmans Theorie von der Bedeutung der Räumlichkeit bezüglich narrativer Texte genommen. Bei der Analyse des Raumes im Roman Helden wie wir wurde der Fokus jedoch mehr auf andere Aspekte der Räumlichkeit wie Struktur und Präsentation des Raumes, Modus der Raumwahrnehmung, sprachliche Mittel der Raummodellierung, Verhältnis zwischen Raum und Identität und Funktionalisierung von Räumen gelenkt und damit Lotmans Theorie nur bedingt mit einbezogen, was auf kaum 70 vorhandene Grenzüberschreitung in Lotmans Sinne zurückzuführen ist, de lediglich zum Schluss vollzogen wird. Zum Schluss wurden einzelne Ereignisse, die dann zu Geschehen und schließlich zu einer ganzen Geschichte integriert wurden, in einen zeitlichen Rahmen eingeordnet. Was in dieser Hinsicht einer Ergänzung wert wäre, ist die Erstellung eines Handlungsschemas, das die Integration der einzelnen Ereignisse zu einem Ganzem also zu der ganzen Geschichte veranschaulichen würde. In dem sechsten Kapitel wurden sechs Schlussfolgerungen gezogen, die aus vor allen Dingen aus der Analyse hervorgehen. Das siebte und zugleich letzte Kapitel enthält Didaktisierungsvorschläge für den DaF – Unterricht. Der Leitgedanke dabei ist es, wie man beim Lesen fiktionaler Werke auf den narrativen Text „schauen“ kann, sodass man sich bei der Analyse dessen Inhalts nicht nur auf eine reine Nacherzählung beschränkt. 71 8 Streszczenie Ta o to przedłożona praca dyplomowa powołuje się w swej wstępnej metodologicznej części do najnowszego stanu badań dotyczącego dyskursu pamięci. W oparciu o obecny stan tych o to badań odwołano się po pierwsze do problemu w wyodrębnionym zakresie badań na Uniwersytecie Justus – Liebig w Gießen o kulturach pamięci. W ramach tych o to badań zaprojektowano wielowymiarowy model dla badań o pamięci. Po drugie zostało teoretycznie przestudiowane pojęcie pamięci i jej formy kolektywnego sięgania do przeszłości. W tym kontekście zostały zrekapitulowane aktualne koncepcje Jana i Aleidy Assmanów, Maurycego Halbwachsa, Aby Warburga, Piera Nora dotyczące pamięci. W metodologicznej części przedstawiono także pokrótce specyficzne formowanie się pamięci i kultur pamięciowych w zamkniętych społeczeństwach tak zwanego realnego socializmu. To co tej pracy widocznie brakuje, jest dokładne wskazanie tak specyficznie ukształtowanej pamięci głównej postaci powieści Thomasa Brussiga Bohaterowie tacy jak my Klausa Uhltzscht, która jest wyraźnym świadectwem wpływu totalitarnej ideologi na ludzkie wspomnienia. W dalszej części został poruszony temat literatury w narratologicznej perspektywie. W związku z tym odniesiono się do zawiązku między tekstem jako opowiadanie i samym procesem opowiadania. W celu tym zrekapitulowano teorie dotyczące narracyjnych opowiadań wywodzące się od Matiasa Martineza, Michaela Scheffela, Borysa Tomaševskiego. W analitycznej części została scharakteryzowana główna postać Klaus Uhltzscht. Wraz z charakterystyką została przeprowadzona konstelacja innych figur i protagonisty powieści Thomasa Brussiga Bohaterowie tacy jak my. Wychodząc od dwóch form opowiadania i trzech sytuacji opowiadawczych, które zostały określone przez Franza Stanzela, odniesiono się do pytań takich jak: pozycje opowiadawcze i nastawienie czytelnika do opowiedzianego świata. W ramach tej o to pracy nie udało się jednakże zrealizować badań dotyczących wewnętrznego związku recypienta do fikcjonalnego tekstu i właściwości świata przedstawionego. Badanie takie byłoby dobrym suplementem do tej pracy. Następnie powołano się na teorię Lotmana o znaczeniu przestrzenności odnośnie tekstów narracyjnych. Przy analizie przestrzeni w powieści Bohaterowie tacy jak my uwaga została jednakże skierowana na inne aspekty przestrzenności takie jak: struktura i prezentacja przestrzeni, modus spostrzegania przestrzeni, językowe środki modelowania przestrzeni, związek między przestrzenią a identyfikacją, funkcjonalizacja przestrzeni. Dlatego też teoria Lotmana została jedynie po części włączona do analizy, czego przyczyną jest prawie nie występujące przekroczenie granicy w mniemaniu 72 Lotmana, które zostaje zaledwie na końcu zrealizowane. Na zakończenie analitycznej części została utworzona ramówka czasowa z wydarzeń, które się integrują w toku wydarzeń do jednej historii. Taka ramówka czasowa byłaby warta uzupełnienia o utworzenie schematu akcji, który uwidoczniłby integracje wydarzeń do całości, czyli jednej historii. W szóstym rozdziale wyciągnięte jest 6 wniosków, które w pierwszym rzędzie wynikają z analizy. Siódmy i zarazem ostatni rozdział tej o to pracy zawiera propozycje dydaktyzacji dla lekcji niemieckiego jako języka obcego. Myślą przewodnią jest sposób, jak można „patrzeć” przy czytaniu fikcjonalnych dzieł na tekst narracyjny, tak ażeby przy analizie tekstu nie ograniczać się tylko do samego opowiadania jego treści. 73 9 Literatur Primärliteratur Brussig, Thomas: Helden wie wir. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1988. Sekundärliteratur Assmann, Jan &Tonio Hölscher (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1992. Brackert, Helmut/Stückrath, Jörn: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1996, S.66. Bauer, Heinz / Lottes, Günther / Martini, Wolfram: Erinnerungskulturen. Antrag auf Einrichtung eines Sonderforschungsberichts (1637). Forschungsphase 01.01.199731.12.1999. Justus – Liebig – Universität Gießen 1996, S.9-31. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S.13-39. Gansel, Carsten: Gedächtnis und Literatur in geschlossenen Gesellschaften der Real – Sozialismus zwischen 1945 und 1985. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. Gombrich,Ernst H..: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biorgaphie. 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Zimniak stellte mir stets einen neuen wissenschaftlichen Stoff bereit, der zum Schreiben der vorliegenden Diplomarbeit unabdingbar war. Er galt und gilt immer noch für mich als ein unermüdlicher Motivator, ohne dessen Motivationskünste die Arbeit ein Phantasma bleiben müsste. Herzlichen Dank für Engagement, Verständnis, Geduld und kritische Begleitung der Arbeit.