Kann ein Systemangebot das Kostenmanagement ersetzen? Wege zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit im Maschinenbau Sieben Thesen zur Diskussion Gesamtmetall-Forum, Berlin, 7. Dezember 2001 Prof. Dr. Hermann Simon* 1. Wie kann es sein, dass im deutschen Maschinen- und Anlagenbau kein Geld verdient wird? Wir haben hier eine Branche mit höchster Kompetenz, globaler Präsenz, viele der Unternehmen sind sogar Weltmarktführer. Kürzlich besuchte uns der Vorstand eines Zementanlagenbauers. Die Herren hatten nur eine Frage: „Wie können wir Geld verdienen?“. Sie klagten: „Wir sind technisch Spitze, wir haben einen guten Marktanteil, aber beim Gewinn krebsen wir immer an der Nulllinie herum“. Hier muss doch irgendetwas faul sein? Zwar ist die Umsatzrendite nach Steuern von 0,9% im Jahre 1993 auf 3% im Jahre 1999 gestiegen, aber was ist das schon? Es gibt einzelne, die besser abschneiden, etwa Trumpf oder Heidelberger Druck, aber bei den meisten sieht es düster aus. Ich war selbst zehn Jahre bei Dürr im Aufsichtsrat und bin als Berater ständig mit diesen Problemen konfrontiert. Ich weiß, wovon ich rede. 2. Eine unmittelbare Folge ist, dass Anlagen- und Maschinenbauunternehmen wenig wert sind. Die Börsenbewertung ist katastrophal. Einige Beispiele: Linde hat einen Börsenwert von 5,5 Milliarden Euro, MAN bringt 3,3 Milliarden Euro auf die Waage und Thyssen Krupp gerade einmal 8 Milliarden. Dürr wird nur mit 350 Millionen Euro bewertet, IWKA mit 330 Millionen Euro. Wohin das führt, hat man gerade am Beispiel FAG gesehen. Warum ist Mannesmann in die Hände von Vodafone gefallen? Weil es den Wertminderer Atecs nicht genügend schnell verkauft hat. Diese Problematik * Prof. Dr. Hermann Simon ist Vorsitzender der Geschäftsführung von SIMON, KUCHER & PARTNERS Strategy & Marketing Consultants in Bonn, Boston, London, München, Paris, Tokio, Wien und Zürich sowie Visiting Professor an der London Business School (www.simonkucher.com). trifft genauso Familienunternehmen. Denn das Kapital muss dahin fließen, wo Werte geschaffen, nicht wo Werte vernichtet werden oder stagnieren. 3. Wo kann man ansetzen, um die Situation zu verbessern? Es gibt nur drei Gewinntreiber: Menge, Preise und Kosten. Denn Gewinn ist bekanntlich Menge mal Preis minus Kosten. Kostenmanagement ist und bleibt ein wichtiger, permanent zu beschreitender Weg zur Erhaltung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Ohne ständige Rationalisierung wird der Krieg mit Sicherheit verloren. Aber damit allein wird er noch lange nicht gewonnen. Die relative Bedeutung des Kostenmanagements nimmt sogar ab, denn jede Rationalisierung stößt irgendwo an Grenzen. Die Reaktion auf die Krise ist viel zu einseitig. Hat Opel wirklich eine Produktionsüberkapazität von 350000 Autos oder nicht eine Marketingunterkapazität von 100000 oder 200000 Stück? 4. Der wichtigste Weg für den deutschen Maschinen- und Anlagenbau zu höherer Profitabilität liegt in höherem bzw. besser austariertem „Value-to-Customer“. Hierbei geht es nicht um die Maximierung des Kundennutzens. Davon bieten wir ohnehin oft zu viel. Angemessen bezahlt werden wir dafür nicht. Es geht vielmehr darum, Kundennutzen und Kosten besser aufeinander abzustimmen. Wir nennen das „Target Valuing – Target Costing“. Ein Beispiel ist der Transrapid. Die Siemens-Ingenieure waren sehr stolz darauf, das System in 10 Minuten-Intervallen betreiben zu können. Eine detaillierte Analyse des Kundennutzens ergab, dass 20 Minuten genauso gut sind. Wer war dagegen? Die Ingenieure, denn ihr 10 Minuten-Stolz war verletzt. Die Entscheidung fiel dennoch für 20 Minuten. Einsparung: 2 Milliarden DM! Zwischen unserer technischen Kompetenz und dem Kundennutzen klafft nach wie vor eine riesige Lücke. 5. Das führt zu der Frage: Was ist Kundennutzen? Kundennutzen setzt sich im Maschinen- und Anlagenbau immer aus Produkt und Dienstleistung zusammen. Damit sind wir bei einem Teil der Systemfrage. Und Dienstleistung ist nach wie vor unsere Schwäche. Ich will das einmal pointiert auf den Nenner „Easy to do business with“ bringen. Empfindet es der Kunde als einfach, mit uns Geschäfte abzuwickeln? Fast in jeder Studie bekommen wir von den ausländischen Kunden den Kommentar, das mit den deutschen Unternehmen „easy to do business with“ genau nicht gilt. Das zweite Thema ist, ob der Kunde wirklich für unsere Dienstleistungen zahlt. Hier sind wir wieder beim Kundennutzen. Und dazu habe ich eine klare Meinung. Wir dürfen keinen Dienstleistungsschnickschnack bieten, sondern harte Vorteile, die nahe am Produkt liegen. Und wir müssen dafür knallhart Preise berechnen. Die Wachstumschancen sind groß. General Electric hat im Industriebereich in den letzten Jahren sein enormes Wachstum fast nur mit Dienstleistungen erreicht, etwa bei Düsentriebwerken. Dienstleistungen und Prozesse sind im übrigen ein Bereich, in dem große Innovationspotenziale schlummern. So hat GE die Wartungszeit für eine Turbine von 47 auf 17 Tage reduziert. Ich darf aber auch vor Illusionen warnen. Manche Dienstleistungen müssen neutral bleiben. So wollen Autohersteller beispielsweise nicht, dass die Reifenmontage durch Reifenfirmen oder Räderfirmen erfolgt. Deshalb verkauft Hayes Lemmerz, der Weltmarktführer bei Autorädern, seine Sparte Reifenmontage. 6. Eine große, jedoch schwierige Chance liegt in Systemangeboten. Durch Systemangebote ergeben sich Wachstumschancen. Zudem lässt sich die Vergleichbarkeit reduzieren. Ich halte viel von der Vertiefung der Wertschöpfungstiefe. Heidelberg, Dürr, Winterhalter, ein marktführender Anbieter gewerblicher Spülmaschinen, sind diesen Weg gegangen, ich vermute auch Herr Kannegiesser mit seinem Unternehmen. Entscheidend sind zwei Fragen: Erstens, was will der Kunde? Wir stellen häufig fest, dass der Kunde keinen Systemanbieter, sondern Spezialisten bevorzugt. Frage zwei lautet: Wo habe ich stärkere Wettbewerbsvorteile? Auf der Einzelproduktebene oder auf der Systemebene? Ein Beispiel: Siemens kann den EVUs die Wartung ganzer Verteilungsnetze anbieten, also Leitung, Umschaltstationen, Transformatoren. Ein reiner Transformatorenhersteller kann das nicht. Also hat Siemens auf der Systemebene einen stärkeren Wettbewerbsvorteil als bei den Einzelprodukten. Systeme bedingen jedoch auch höhere Komplexität. Wir hatten kürzlich einen Fall im Bosch-Konzern, es ging um Automation. Es gab keine Mitarbeiter, die die volle Systemkomplexität beherrschten. Folglich war es besser, die Systeme nicht zu integrieren und die Spezialisten die Geschäfte machen zu lassen. Vor einer weiteren Illusion möchte ich ausdrücklich warnen: Das Systemangebot beseitigt nicht den Preiswettbewerb und damit die Notwendigkeit, Kosten zu senken. Die Antwort auf die Frage im Titel „Kann ein Systemangebot das Kostenmanagement ersetzen?“ lautet also eindeutig nein! Das Kostenmanagement bleibt notwendig, das Systemangebot ist eine zusätzliche Chance für Wachstum, aber keine Lösung für ansonsten nicht erledigte Hausaufgaben. 7. Lassen Sie mich mit einer letzten These schließen. Hoher „Value-toCustomer“ bringt zwangsläufig mehr Komplexität und einen höheren Dienstleistungsanteil. Dienstleistung heisst Dienen und Leisten. Dienstleistung ist weniger kapitalintensiv, dafür umso personalintensiver. Damit sind die Rationalisierungs- und Automatisierungspotenziale eingeschränkter als in der Produktion. Qualifikation und Kosten des Personals spielen die zentrale Rolle. Zudem ergeben sich gravierende Konsequenzen für Organisation und Führung. Dienstleistung findet überwiegend vor Ort statt, die Dezentralisierung nimmt also zu. Dieser Tage sagte mir der Vorstandsvorsitzende von Thyssen Krupp Serv, Dr. Ludwig, dass die Führung in seiner Einheit total andere Anforderungen stelle als die im Duisburger Stahlwerk des Unternehmens. Die Dienstleister der deutschen Maschinen- und Anlagenbauer werden überall in der Welt arbeiten, am wenigsten in Deutschland. Daraus ergeben sich völlig neue Konstellationen, die Arbeitgeber wie Gewerkschaften verstehen und berücksichtigen müssen.