4 Zu Grundfragen von Literatur, Erinnerung und Identität

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Zur Inszenierung von Erinnerung im Stephan
Wackwitz’ Familienroman "Ein unsichtbares
Land" (2003)
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung ....................................................................................................................... 3
2 Zu Konzepten von Gedächtnis und Erinnerung ............................................................. 6
2.1 Das kulturelle und das kommunikative Gedächtnis: Jan und Aleida Assmann...... 6
2.2 Vom individuellen zum kollektiven Gedächtnis: Maurice Halbwachs .................. 9
3 Problematik des Gedächtnisses im Kontext der Kognitionswissenschaft ................... 12
3.1 Das autobiographische Gedächtnis in Anlehnung an Markowitsch und Welzer .. 12
3.2 Daniel Schacters Position nach Gedächtnis und Persönlichkeit ........................... 14
4 Zu Grundfragen von Literatur, Erinnerung und Identität ............................................ 18
4.1 „Fictions of memory“ in Bezug auf Birgit Neumann ........................................... 18
4.2 Erzähltheoretische Besonderheiten nach Astrid Erll ............................................ 20
4.2.1 Erfahrungshaftiger vs. monumentaler Modus ............................................... 21
4.2.2 Historisierender Modus.................................................................................. 25
4.2.3 Antagonistischer Modus ................................................................................ 26
4.2.4 Reflexiver Modus........................................................................................... 29
5 Zur Inszenierung von Erinnerung in Stephan Wackwitz’ „Ein unsichtbares Land“ ... 33
5.1 Biographische Angaben zum Autor ...................................................................... 33
5.2 Zum Inhalt des Familienromans „Ein unsichtbares Land“ ................................... 34
5.3 Erzählerische Vermittlung .................................................................................... 35
5.4 Zum Verhältnis der Erzählebenen ........................................................................ 44
5.5 Zur Perspektivenstruktur im Rahmen der Fokalisierung ...................................... 53
5.6 Zur Innenweltdarstellung ...................................................................................... 57
5.7 Zum ‚Wie’ der Darstellung ................................................................................... 59
5.8 Zur Raumkonstruktion .......................................................................................... 77
5.9 Zur paratextuellen Gestaltung ............................................................................... 82
6 Schlussmerkungen ....................................................................................................... 88
7 Literatur........................................................................................................................ 91
7.1 Primärliteratur ....................................................................................................... 91
7.2 Sekundärliteratur ................................................................................................... 91
7.3 Internetseite ........................................................................................................... 97
2
1 Einleitung
Nach der Position von Paweł Zimniak sollte jedes interdisziplinär angesprochene
Thema, das zugleich äußerst relevante Geschichtserfahrungen von Individuen und
Kollektiven zum
Gegenstand der
Diskussion macht,
durch
unterschiedliche
Gesichtspunkte und noch dazu kontextuelle Einbettungen festgelegt werden.1 Daraus
folgt, dass die Erinnerungskultur im Sinne einer Geschichtskultur nur dann besprochen
werden kann, wenn sie nicht auf „geschichtsblinde“ und „a-historische“ Aspekte
verweist, sondern wenn sie „dem Menschen komplexe geschichtliche Relationen
anbietet und ihn zur Reflexionen anregt.“2 Die vorliegende Arbeit wird versuchen zu
zeigen, wie die vereinzelten Aspekte des Prinzips von Gedächtnis und Erinnerung das
Wahrnehmungssystem eines Menschen kreieren. Offensichtlich dabei wird, dass
Gedächtnis und Erinnerung, als zwei ungewöhnliche Phänomene, einen integralen Teil
des menschlichen Daseins bilden. Es wundert also nicht, dass sie das wachsende
Interesse an verschiedenen Gebieten der Wissenschaft hervorrufen. Beachtenswert ist,
dass
sich
mit
dieser
Erscheinung
sowohl
die
Kulturanthropologie,
die
Neurowissenschaft als auch Psychosoziologie beschäftigen. Die Vielzahl von
Forschungsprogrammen
rekurriert
jedoch
auf
die
medizinischen,
naturwissenschaftlichen und technischen Faktoren. Um näher diesem Kuriosum zu sein,
muss man sich genauer der Auffassungen von Jan, Aleida Assmann und Maurice
Halbwachs
angesehen.
Als
Grundstein
wird
hier
die
spezifische
Gedächtnisdifferenzierung dienen. Zum Untersuchungsgegenstand wird sowohl das
individuelle als auch kollektive Gedächtnis gemacht. An dieser Stelle muss hinzugefügt
werden, dass mit speziellem Nachdruck die Unterschiede zwischen dem kulturellen und
kommunikativen Gedächtnis erklärt werden. Der weitere theoretische Teil der Arbeit
fokussiert sich auf das Gedächtnis im Kontext der Kognitionswissenschaft. Wenn dieser
Aspekt weiter verfolgt wird, dann erweist sich, dass sein Antlitz durch
Systemtransformation Ende des 20. Jahrhunderts gekennzeichnet wurde.3 Darunter
1
Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. Literarische Fallstudien.
Wrocław/Dresden: Neisse Verlag 2007, S. 7.
2
Vgl. ebd., S. 7. Zitiert nach: Reulecke, Jürgen: Antimodernismus und Zivilisationskritik. Die
Heimatbewegung aus historisch-gesellschaftlicher Perspektive. In: Regionaler Fundamentalismus? Hg.
von Museumsdorf Cloppenburg, Kulturamt der Stadt Oldenburg, Stadtmuseum Oldenburg. Oldenburg
1999, S. 12-21, hier S. 13f.
3
Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen
und biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett 2005, S. 25. Zitiert nach Erll, Astrid/Nünning, Ansgar
(Hrsg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität - Historizität - Kulturspezifität
3
versteht man das allgemein verbreitete Interesse zum Thema Gedächtnis und
Erinnerung, das sich vor allem aus „dem altersdemographischen Veränderungen in den
meisten
westlichen
Gesellschaften“
ergibt.4
Signifikant
ist,
dass
die
Kognitionswissenschaft als ziemlich junger Wissenschaftszweig mehrdimensionale
Gebiete der wissenschaftlichen Disziplinen umfasst. Es ist zu bedenken, dass sie die
Korrelationen zwischen Wahrnehmung, Denken, Motorik und Sprache untersucht.
Daraus resultieren neue, interessante, wissenschaftliche Befunde, die die Welt der
Psychologie, Neurowissenschaft oder Linguistik revolutionieren. Auf solche Art und
Weise
verfügt
die
Verarbeitungsformen
zeitgenössische
von
Wissenschaft
Gedächtnisaktivitäten,
eine
über
Reihe
„unterschiedlichste
unterschiedlicher
Gedächtnissysteme und über Ansatzpunkte für bessere medizinische Intervention von
der Mikrochirurgie bis hin zur Therapie von Alzheimer- Patienten oder Epileptikern“.5
Im folgenden Teil der Arbeit wird demnach einen großen Wert auf das
autobiographische Gedächtnis von Markowitsch/Walzer gelegt. Eine sonderbare Rolle
spielt auch Daniel Schacters Position nach Gedächtnis und Persönlichkeit. Bei der Frage
nach dem Zusammenhang von Literatur, Erinnerung und Identität wird es versuchen zu
begründen, ob das menschliche Gedächtnis in der Tat auf seine individuelle und
kollektive Ebene verweist. Im weiteren Abschnitt der Magisterarbeit wird Rücksicht auf
die Bestimmung der Aufgabe von Literatur im Prozess der Gedächtnisbildung
genommen. Mit Blick darauf lohnt sich zu artikulieren, dass man den Zusammenhang
von Literatur und ihren außerliterarischen Dimensionen als einen idiosynkratischen
Dialog erkennt. In diesem theoretischen Teil wird demnach primär das literarische
Leistungsvermögen in der Erinnerungskultur besprochen.6 Es wird auch gezeigt, wie
Literatur als Symbolsystem die Kongruenz von Erinnerung und Identität prägt und wie
diese Bezugsrahmen durch gedächtnistheoretische Befunde formuliert werden. Um sich
dieses Wissen anzueignen, werden bestimmte Genre von Romanen in Bezug auf Birgit
Neumann und ihre Fictions of memory präsentiert, d.h. die autobiographischen
Gedächtnisromane, b) die autobiographischen Erinnerungsromane, c) die kommunalen
Gedächtnisromane und d) die soziobiographischen Romane. Das Ziel solcher
(=Medien und kulturelles Gedächtnis 1). Berlin: de Gruyter 2004. In diesem Kontext ist zu betonen,
dass im Mittelpunkt der Erwägungen die politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Ereignisse aus
den 1980er Jahren stehen. Diese fanden in den meisten westlichen Ländern statt. Sie trugen zu großen
Systemtransformationen bei. Dank ihnen beginnt man sich für die eigene Identität, d.h für das Prinzip
Gedächtnis und Erinnerung zu interessieren.
4
ebd., S. 25.
5
Ebd., S. 26.
6
Vgl. Neumann, Birgit: Literatur, Erinnerung, Identität. 2005, S. 163.
4
spezifischen Zusammenstellung ist es zu untersuchen, auf welche Art und Weise solche
Subgattungen durch die Vorführung von Erinnerung, Identität und die zu ihnen
gehörenden
fiktionalen
Gestaltungsmöglichkeiten
relevante
Spuren
in
der
Erinnerungskultur hinterlassen. Der letzte Aspekt, der im Kontext von Grundfragen zu
Literatur, Erinnerung und Identität beachtet werden muss, bezieht sich auf die
erzähltheoretischen Besonderheiten nach Astrid Erll. Es werden hier die wichtigsten
Voraussetzungen hinsichtlich der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses berücksichtigt.
Als Ansatzpunkte werden auf diesem Gebiet folgende Darstellungsformen angesehen:
1) die Selektionsstruktur, 2) die paratextuelle Gestaltung, 3) Intertextualität, 4)
Intermedialität, 5) die erzählerische Vermittlung, 6) Innenweltdarstellung, 7) Raum-,
Zeitdarstellung.7 Die vorher erwähnten literarischen Verfahren konstituieren fünf Modi
der Erinnerung (den erfahrungshaftigen Modus, den monumentalen Modus, den
historisierenden Modus, den antagonistischen Modus und den reflexive Modus), die
prinzipiell über das Wesentliche der Literatur als Gedächtnismedium entscheiden.8 Im
letzten Teil der vorliegenden Magisterarbeit wird die konkrete Analyse des Buches
durchführen.
Dadurch
sollte
die
Spezifik
des
Generationen-Gedächtnisses
veranschaulicht werden. An dieser Stelle lohnt sich darauf aufmerksam zu machen, dass
sie durch konkrete Erinnerungen und Erfahrungen geprägt wird. Diese werden hingegen
aus dem Gesichtspunkt der Enkelgeneration erzählt, kommentiert und im Endeffekt
bewertet.
7
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: Metzler 2005, S. 170173.
8
Vgl. Ebd., S. 168.
5
2 Zu Konzepten von Gedächtnis und Erinnerung
2.1
Das kulturelle und das kommunikative Gedächtnis: Jan und Aleida Assmann
Den Zusammenhang von Erinnerung und Gedächtnis diskutiert man seit dem Ende der
1980er Jahre. Eine bedeutende Rolle bei der Erforschung von Gedächtnisprozessen
haben Jan und Aleida Assmann gespielt. Die Wissenschaftler haben den
kulturwissenschaftlichen Gedächtnisdiskurs maßgeblich geprägt. Eine zentrale Rolle im
Gedächtnisdiskurs spielt der Begriff des kollektiven Gedächtnisses, dessen Ursprung in
den angelsächsischen Cultural Studies liegen.9
Man geht davon aus, dass der Begriff der mémoire collective zum ersten Mal vom
französischen Soziologen Maurice Halbwachs verwendet wurde. Das Wesentliche
dieses Phänomens bezieht sich auf zwei Vergangenheitsregister, anders gesagt, auf zwei
Gedächtnis- Rahmen Mit Blick auf diese Betrachtungsweise konstatiert man, dass es
einen Unterschied ausmacht, ob das kollektive Gedächtnis Bezug auf die
Alltagskommunikation nimmt oder mit offiziellen, symbolischen Gütern, Kodierungen
und Objektivationen verbunden ist.
Das kommunikative Gedächtnis verweist auf die Alltäglichkeit. Es umfasst die
Erinnerungen, die durch Gespräche mit Freunden, Erfahrungen in der Familie oder der
Gruppe erworben wurden. Anders gesagt, handelt es sich um die rezente
Vergangenheit.10 Die Träger des Gedächtnisses entscheiden über seine Form und Werte.
Man nimmt doch Rücksicht auf die Tatsache, dass das kommunikative Gedächtnis
zeitlich begrenzt ist. Das Gedächtnis einer Gesellschaft unterliegt ganz verständlichen
Wandlungen, die durch den Wechsel der Generation gekennzeichnet werden. Jeder
Generationswechsel dauert ca. 40 Jahren. Nach dieser Periode verändert sich merklich
das Erinnerungsprofil einer Gesellschaft, wodurch das kommunikative Gedächtnis
informell und wenig durchstrukturiert ist.11
Das kulturelle Gedächtnis gilt bestimmt als krasse Opposition zum früher besprochenen
Vergangenheitsregister. Nach der Position von Jan Assmann versteht man darunter
9
Frei, Norbert (2006, 28. September): Ich erinnere mich. Politisches Buch: ZEIT ONLINE; Nr. 40.
http://www.zeit.de/2006/40/P-Assmann (Zugriff am 10.März 2009).
10
Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und polnische Identität in frühen
Hochkulturen. München: C. H Beck 1992, S. 50.
11
Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. 2002, S. 13.
6
„einen Sammelbegriff für den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen
Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten […] in deren <Pflege> sie ihr
Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber
nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von
Einheit und Eigenart stützt“.12 Das kulturelle Gedächtnis ist an „feste Objektivationen“
gebunden. Im Gegensatz zum kulturellen Gedächtnis ist es offiziell gestiftet. Für seine
Hauptaufgabe hält man den Transport von Erfahrungen und Wissen über die
Generationenschwelle.
Notwendig
erweisen
sich
externe
Datenspeicher
und
Institutionen zu sein, die für Gedächtnispflege und Wissenvermittlung verantwortlich
sind. Ein komplexer Überlieferungsbestand, wie Artefakte, Texte, Bilder oder
Skulpturen, wird infolge des historischen Wandels ständig erneuert, angepasst und
weiter tradiert. Bemerkenswert ist, dass unentbehrlich für diese Gedächtnisform solche
Komponenten wie Konservierung und Pflege sind.13 Im Gegenteil zum kommunikativen
Gedächtnis, wo sich die Lebenserfahrungen auf individuelle Biographien beziehen,
zieht das kulturelle Gedächtnis mythische Urgeschichte in Betracht Die Vergangenheit
wird kulturell fixiert auf verschiedene Art und Weise, d.h. durch Stimme, Körper,
Mimik, Gestik, Tanz, Schrift, Buch, Film. Riten und Feste gelten doch als primäre
Organisationsformen, dank denen die kulturelle Identität vor allem bei den schriftlosen
Gesellschaften gestiftet wurde.14
Daraus resultiert, dass das kulturelle Gedächtnis typische „Alltagsferne“ erweist,
während seine Opposition- „Alltagsnah“. Das kommunikative Gedächtnis umfasst 3-4
Generationen, also etwa 80-100 Jahre. Sein Vergangenheitsbezug ändert sich, weil er
durch persönliche Erfahrungen und Erinnerungen von Gruppenmitgliedern wie Familie
oder Bekanntenkreis bestimmt ist. Das kommunikative Gedächtnis wird ständig durch
regelmäßige Interaktionen, gemeinsame Lebensformen und geteilte Erfahrungen
geprägt.15 Es kommt noch hinzu, dass es einen spezifischen Zeithorizont braucht. Im
Fall des kulturellen Gedächtnisses ist er doch viel breiter. Das kulturelle Gedächtnis ist
weder zeitlos noch kontextgebunden. Die Gruppengeschichte hängt von den aktuellen
Bedürfnissen und Lebensumständen konkreter Gruppe. An diesem Punkt sollte man
hinzufügen, dass die Medien der Archivierung und Kommunikation formgebend und
12
Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. 1988, S. 9-19, hier S. 15.
Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. 2002, S. 17.
14
Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und polnische Identität in frühen
Hochkulturen. 1992, S. 56.
15
Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. 2002, S. 13.
13
7
sinnstiftend wirken. Auf keinen Fall gelten sie als neutrale Behälter oder
Transportmittel.16 Die Architektur des kulturellen Gedächtnisses wird durch zwei Modi
der Erinnerung bestimmt. Das Funktionsgedächtnis und das Speichergedächtnis, anders
gesagt das bewohnte und das unbewohnte Gedächtnis balancieren zwischen dem
Wesentlichen und Wissenswerten.17 Der Hauptunterschied zwischen ihnen besteht
darin, dass die erste Komponente Rücksicht auf die Alltagskommunikation nimmt,
wodurch es die Wir- und Ich-Identität von Menschen prägt. Die zweite Ebene ist eher
mit dem ungeordneten Archiv verbunden. Im Gegensatz zum Funktionsgedächtnis, das
vor allem selektiv verfährt, sammelt das Speichergedächtnis alle Informationen.
Während sich das bewohnte Gedächtnis auf eine Gruppe, eine Institution oder ein
Individuum fokussiert, ist das unbewohnte Gedächtnis mit keinem konkreten Träger
verbunden. Wie schon angedeutet wurde, kennt sich das Funktionsgedächtnis gut in drei
zeitlichen Ebenen aus. Die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bilden
eigentümliche Brücke, was für das Speichergedächtnis unmöglich ist. Dieser Teil des
kulturellen Gedächtnisses betrachtet man als eine Sammlung von den ungeordneten
Elementen, die die materiellen Spuren der kulturellen Vergangenheit in Form der
visuellen und verbalen Dokumente versichern.18
Verdienstvoll ist, dass zwischen dem bewohnten und dem unbewohnten Gedächtnis,
also zwischen zwei immanenten Bestandteilen des kulturellen Gedächtnisses, keine
klare hermetische Grenze gibt. Es ist nicht zufällig, dass gewisse Elemente des
Funktionsgedächtnisses
an
Interesse
verlieren
und
einen
neuen
Platz
im
Speichergedächtnis finden. Dasselbe betrifft die Elemente aus dem Archiv, die in den
aktiven Teil des Gedächtnisses zurückgeholt werden. Mit Blick auf diese Tatsache muss
betont werden, dass das kulturelle Gedächtnis, das sich oberhalb des kollektiven
Gedächtnisses
befindet,
den
Bürgern
einer
Gesellschaft
eine
langfristige
Kommunikation im Hinblick auf historische Perspektive versichert.19 Man muss noch
hinzugeben, dass die Polarität zwischen beiden Vergangenheitsregister, die sich im
Rahmen des kollektiven Gedächtnisses vollzieht, vor allem auf solche Aspekte wie Fest,
Alltag rekurriert. Die beiden Formen unterscheiden sich durch ihre spezifische
16
Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. 1988, S. 9-19.
Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses.
München: C.H Beck Verlag 1999, S. 130-133.
18
Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. 2002, S. 17.
19
Vgl. ebd., S. 17.
17
8
Geformtheit und Zeremonialität. Diese Faktoren beeinflussen unverkennbar das
Selbstbewusstsein und die Identität der Gruppen von Menschen.
2.2
Vom individuellen zum kollektiven Gedächtnis: Maurice Halbwachs
Es ist zu berücksichtigen, dass die Relationen zwischen den vereinzelten Elementen des
Gedächtnisses werden auf verschiedene Art und Weise von Soziologen untersucht,
indem man immer wieder auf die Vergangenheit und ihre soziale Konstruktion
zurückgreift.20 Mit diesem Phänomen beschäftigt sich Maurice Halbwachs, der
französische Soziologe und Philosoph. Er versucht zu begründen, warum es sich lohnt,
mit dem kollektiven Gedächtnis zu beschäftigen. Der Begriff mémoire collective d.h.
das kollektive Gedächtnis wurde von ihm in den 1920er Jahren eingeführt.
Beachtenswert ist, dass er Schüler von Henri Bergson und Emile Durkheim war. Wenn
diesen Faktor unter die Lupe genommen wird, muss berücksichtigt werden, dass ihre
Lehre auf Maurice Halbwachs einen wesentlichen Einfluss ausübte. Der von Durkheim
entwickelte Begriff Kollektivbewusstsein ließ Halbwachs stereotypisches Denken
überwinden und neue Auslegung für das Gedächtnis finden.21 Der Franzose stellt die
These auf, dass es einen bestimmten Zusammenhang zwischen dem individuellen und
kollektiven
Gedächtnis
gibt.
Halbwachs
macht
vor
allen
auf
soziale
Rahmenbedingungen des Gedächtnisses aufmerksam:
„Es gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren
sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen um ihre Erinnerungen
zu fixieren und wiederzufinden.“22
In diesem Kontext spricht man vom Sozialisationsprozess. Man muss darauf hinweisen,
dass die persönlichen Erinnerungen mit dem Kollektiv zusammenhängen, d.h. ein
soziales Milieu, in dem man lebt, prägt jede individuelle Erinnerung, die aus der
Kommunikation und Interaktion innerhalb einer sozialen Gruppe resultiert.23 Die
Menschen erinnern sich nämlich nicht nur das, was sie selbst erleben, sondern auch das,
was sie von anderen erfahren. Anders gesagt handelt es sich darum, dass sich
menschliche Erinnerungen durch einen mehrdimensionalen Charakter auszeichnen.
Halbwachs verweist in seiner Erwägungen auf mannigfaltige Erscheinungsformen des
20
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und polnische Identität in frühen
Hochkulturen. 1992, S. 34.
21
Ebd., S. 35.
22
Halbwachs 1985a, S. 121.
23
Vgl. Neumann, Birgit: Literatur als Medium (der Inszenierung) kollektiver Erinnerungen und
Identitäten. In: Literatur, Erinnerung, Identität. Theoriekonzepten und Fallstudien, Trier: WVT 2003,
S. 52.
9
kollektiven Gedächtnisses. In Betracht zieht er solche Gruppengedächtnisse wie
Familie, religiöse Gemeinschaften oder Berufsgruppen. Wenn die Kultur als
Gedächtnisphänomen betrachtet wird, muss berücksichtigt werden, dass sie vor allem
symbolische Sinnwelten konstruiert und tradiert.24 An dieser Stelle kann man sich eines
Beispiels bedienen. In der Perspektive von Maurice Halbwachs wird das kollektive
Familiengedächtnis als besonders gültige Form des Gedächtnissystems angesehen. Er
beschreibt diese Erscheinung mit folgenden Worten:
„Die Erinnerungen einer Familie entwickeln sich tatsachlich im Bewusstsein der
verschiedenen Mitglieder der Familiengruppe als auf ebensovielen verschiedenen
Boden; selbst wenn sie beisammen sind, erst recht aber wenn sie im Leben
voneinander getrennt sind, erinnert sich jeder von ihnen auf seine Weise an die
gemeinsame Familienvergangenheit.“25
Aus dieser Aussage tritt außergewöhnliches Bild des Gruppengedächtnisses hervor.
Sein Phänomen stützt sich darauf, dass es durch bestimmte Struktur und Organisation
gekennzeichnet wird. Die ältesten Familienangehörigen gestalten das kollektive
Familiengedächtnis, das später im Verlauf der Ritten, Bräuche, Sitten und mündlicher
Erzählungen von den jüngeren Generationen angeeignet und beibehalten wird. In
diesem
Zusammenhang
betrachtet
man
familiär
gefärbte
Erinnerungen
als
„Lehrstücke“, also als Elemente, deren Ziel ist, die Grundeinstellung einer Gruppe zu
präsentieren. Darüber hinaus bedenkt der Soziologe, ob die Reproduktion der
Vergangenheit als das wichtigste Kriterium in den Erinnerungen wahrgenommen
werden sollte. Halbwachs optiert eher für eine Auseinandersetzung, dass das, was am
wesentlichsten ist, vor allem auf die Bestimmung der Wesenart, Eigenschaften und
Schwächen der Erinnerungen rekurriert. Es loht sich zu markieren, dass die soziale
Konstruktion der Vergangenheit auf verschiedenen Ebenen verläuft. Wenn Raum- und
Zeitbezug unter die Lupe genommen wird, muss berücksichtigt werden, dass
„Kollektive das Gedächtnis ihrer Glieder bestimmen“26, wodurch dieses Gedächtnis
dynamisch und anpassungsfähig ist. Die Vergangenheitsebenen werden mit den
Gegenwartsebenen verflochten, was zeugt davon, dass die Vergangenheit von den sich
wandelnden Bezugsrahmen der Gegenwart immer wieder reorganisiert.27
Die logische Konsequenz daraus ist, dass das Gedächtnis, das aus der Vergangenheit
zurückgerufen wird, mit den aktuellen Bedürfnissen in der Gegenwart
24
Vgl. Neumann, Birgit: Literatur, Erinnerung, Identität. 2005, S. 160.
Halbwachs 1985, S. 203.
26
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und polnische Identität in frühen
Hochkulturen. 1992, S. 36.
27
Vgl. Ebd., S. 42.
25
10
zusammenhängt. Halbwachs betont deutlich, dass die nächsten Generationen
keine neuen Ideen suchen, die als Ersatzmittel für ihre Vergangenheit gelten. Sie
brechen auf keinen Fall mit ihrer Tradition oder mit ihren Wurzeln. Sie
überleben die Vergangenheit einfach anders. Jede Erinnerungsgemeinschaft
nimmt zwei Aspekte in Betracht, a) die Eigenart und b) die Dauer.28 Wenn es
um den Begriff Selbstbild geht, muss berücksichtigt werden, dass sich die
erinnerten Ereignisse vor allem auf Analogie, Gemeinsamkeiten und Stetigkeit
beziehen. Zu den Faktoren, die über die Identität und Individualität einer
sozialen Gruppe entscheiden, gehören Selektivität, Perspektivität, Subjektivität.
Im
Hinblick
auf
den
zweiten
Aspekt
konstatiert
man,
dass
jede
Erinnerungsgruppe nach Dauer strebt. Zu diesem Zweck plädiert sie dafür, dass
Wandlungen nach Möglichkeit nivelliert werden sollten. Resümierend stellt man
fest, dass sich die Identität einer Gruppe im Prozess des Erinnerns vollzieht. Ihr
kollektiver
Charakter
ergibt
sich
aus
der
gemeinsamen
Vergangenheitsinterpretation. Das Individuelle und das Kollektiv, zwei
gegenseitige Komponenten der Erinnerung, stehen demnach in einem engen
Zusammenhang. Die Kohäsion von Kollektivgedächtnis, Selbstbild einer Gruppe
und sozialer Funktion wird von Halbwachs an der Hierarchie des Feudalsystems
dargestellt. Wappen und Titeln vs. Rechte und Privilegien. Rang der Familie vs.
Wissen über eigene Vergangenheit.29 Wissenschaftlich gesehen steht das
Individuum im Vordergrund der Reflexionen über Gedächtnis und Erinnerung
Die Individualität verbindet sich jedoch mit mannigfaltigen Faktoren, d.h. mit
Rahmen, die im Endeffekt wesentlich die Form und Struktur der Erinnerung
beeinflusst. Das führt zu der Schlussfolgerung, dass wenn das Erinnern so sehr
von den sozialen, kulturellen und historischen Rahmenbedingungen geprägt
wird, dasselbe auch des Vergessens betrifft. Erinnern und Vergessen sind nur
scheinbar oppositionelle Komponenten. Beide sind „Tätigkeiten“, die das
Gedächtnis gestalten. Das bestätigt nur die Theorie, dass es keine Konstanz gibt.
Das menschliche Gedächtnis zeigt deswegen auch Unzuverlässigkeit und
„Launenhaftigkeit“ auf.
28
Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und polnische Identität in frühen
Hochkulturen. 1992, S. 40.
29
Neumann, Birgit: Literatur, Erinnerung, Identität. 2005, S. 160-161.
11
3 Problematik des Gedächtnisses im Kontext der
Kognitionswissenschaft
3.1
Das autobiographische Gedächtnis in Anlehnung an Markowitsch und
Welzer
Psychologisch gesehen ist das autobiographische Gedächtnis eine der wichtigsten
Komponenten im Prozess des Erinnerns und des Vergessens. Es gibt gewisse
Merkmale, die auf eine Orientierungsleistung dieses Phänomens aufweisen. In diesem
Zusammenhang lohnt sich anzudeuten, dass man besonders die Theorie von zwei
deutschen Sozialpsychologen hoch schätzt. H. J. Markowitsch, Professor für
Physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld30 und Harald Welzer,
Forschungsprofessor für Sozialpsychologie an der Universität Witten/Herdeck31,
belegen in ihren Betrachtungen über die autobiographischen Motive im Prozess der
Einspeicherung, Aufbewahrung und beim Abruf von Erinnerungen, dass das immer
wieder zurückkommende Thema auf sie ein imposantes Kuriosum ist.
Markowitsch
und
Welzer
berücksichtigen
in
ihren
wissenschaftlichen
Auseinandersetzungen solche Elemente, die den Schwerpunkt des autobiographischen
Gedächtnisses festlegen. Nach ihren Positionen wird diese Form durch den Faktor, dass
sie „den Menschen zum Menschen macht und vom Tier unterscheidet“32, geformt. In
Bezug auf diese Annahme muss hervorgehoben werden, dass es sich um die Fähigkeit
des Menschen „Ich“ zu sagen geht. Unter diesem Aspekt versteht man ein Individuum,
das eine eigenständige Person ist, die erstens über eine besondere Lebensgeschichte
verfügt, zweitens Gegenwart und Zukunft bewusst empfindet und imstande ist, beide
Elemente zu gestalten.33 Das autobiographische Gedächtnis gibt demzufolge nach
Halbwachs und Welzer solchem Menschen das Vermögen die persönliche Existenz in
30
Universität Bielefeld, Homepages (2009): Prof. Dr. Hans Markowitsch.
http://www.uni-bielefeld.de/psychologie/personen/ae14/markowitsch.html (Zugriff am 14.März
2009).
31
ZiF- Zentrum für interdisziplinäre Forschung (2007): Emotionen als bio-kulturelle Prozesse, Prof. Dr.
Harald Welzer.
http://www.uni-bielefeld.de/ZIF/FG/2004Emotions/welzer.html (Zugriff am 14.März 2009).
32
Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische
Grundlagen und biosoziale Entwicklung 2005, S. 11.
33
Vgl. ebd., S. 11.
12
einem Raum-Zeit-Kontinuum zu situieren und auf eine Vergangenheit zurückzublicken
zu können, die der Gegenwart vorausgegangen ist.34“
In diesem Kontext ist es zu beachten, dass die oben erwähnte Fähigkeit die so genannte
mentalen Zeitreisen35 aktiviert, indem zukünftiges Handeln platziert werden kann. Aus
dem sozialpsychologischen Gesichtspunkt müssen drei Voraussetzungen erfüllt werden,
damit die Rede von Effizienz der Orientierungsleistung sein werden könnte.
Markowitsch und Welzer verweisen auf diese Bedingtheit folgendermaßen: a) die
Erinnerungen müssen sich auf einen Ich-Bezug stützen, um folgerichtig gebraucht
werden zu können, b) die autobiographische Dimension der Erinnerungen muss durch
den so genannten emotionalen Index dargelegt werden, d.h. die autobiographischen
Erinnerungen stehen mit den konträren Gefühlen in Wechselbeziehung zueinander, c)
die autobiographischen Erinnerungen sind als autonetisch positioniert. Mit anderen
Worten haben sie einen Hang zum „Verwechseln vom Geschehnissen und der Quellen
von Ereignissen“.36
Paradox werden die von jemandem gelesenen oder gehörten Ereignisse und Erlebnisse
zum autobiographischen Gedächtnis assimiliert. Daraus folgt, dass man sich in
divergente vergangene Situationen zurückversetzt, ohne irgendwelchen Einfluss darauf
zu haben. Die schon früher abgeschlossene Handlung kann von einem Individuum
manipuliert und auf neue Art und Weise erlebt werden. Wenn dieses Faktum einer
Analyse unterzogen wird, muss herausgestellt werden, dass die Gedächtnisprozesse
kontinuierlich modifiziert werden. Dem Menschen als einem Denkwesen wurde im
Laufe der Zeit ein vorzügliches Phänomen angeeignet. In evolutionärer Hinsicht
signifiziert man es als einen Anpassungsvorteil. Diese Eigenschaft wird in der
Perspektive von Markowitsch und Welzer mit diesen Worten definiert:
„Über ein autobiographisches Gedächtnis zu verfügen, bedeutet in evolutionärer
Perspektive einen enormen Anpassungsvorteil: Es schafft die Möglichkeit, sich
bewusst und reflexiv zu dem zu verhalten, was einem widerfahren ist und wie
man darauf reagieren hat.“37
Die Autoren verweisen auf das hervorragende Vermögen, das jedem Menschen
angeboren ist. Man muss darauf aufmerksam machen, dass der Mensch in der Tat
34
Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische
Grundlagen und biosoziale Entwicklung 2005, S. 11.
35
Dieser Begriff wurde von Endel Tulving eingeführt. Er ist ein kanadischer Neurowissenschaftler und
Psychologe. Sein Hauptforschungsgebiet ist das episodische Gedächtnis.
36
Vgl. Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis. und biosoziale
Entwicklung. 2005, S. 26.
37
Markowitsch und Welzer 2005, S. 11.
13
imstande ist, sich bewusst und reflexiv auf das beziehen, was schon einmal passiert ist.
Unabdingbar scheint es in diesem Bereich die Aufgabe des reflexiven Gedächtnisses zu
sein. Ohne es wäre es keine Kohärenz zwischen solchen Gedächtnisaktivitäten wie Reiz
und Reaktionen, Anforderungen und Antworten.38 Alle diese Bestandteile würden
damals keine Bedeutungsträger. Wie die Untersuchungen zeigen, hängt das
Entwicklungsalter des autobiographischen Gedächtnisses mit dem Spracherwerb
zusammen.
Markowitsch
und
Welzer
unterstreichen
doch,
dass
sein
Entwicklungszyklus auch des jungen Erwachsenenalters und der späten Adoleszenz
betrifft.39
3.2
Daniel Schacters Position nach Gedächtnis und Persönlichkeit
Man muss darauf hinweisen, dass nach der Kognitionswissenschaft das menschliche
Gedächtnis als eine Art Datenverarbeitungsmaschine gilt. Es ist wie ein Computer, der
verschiedene Informationen speichert, aufbewahrt und abruft.40 Daniel Schacter,
Direktor des Department of Psychology an der Harvard-Universität/Cambridge,
sensibilisiert jedoch dafür, dass das menschliche Gedächtnis im Gegensatz zum
Computer Erlebnisse nicht auf die Festplatte einbrennt.41 Der Mensch ist nämlich
gerade nicht in der Lage, gewisse Elemente aus dem Gedächtnis abzurufen: „Vielmehr
interpretieren wir Ereignisse der Vergangenheit immer wieder neu, je nachdem wie wir
uns heute fühlen oder in welcher Situation wir uns befinden.“42
Nach Schacter trägt jeden Mensch in sich die Reste seiner Erinnerungen. Diese binden
ihn an die Vergangenheit. Es gibt zwar Orte und Menschen, die seit längerer Zeit
vergangen sind, aber es lässt sich nicht leugnen, dass sie weiter in den Erinnerungen
eines Individuums oft als geisterhafte Erinnerungen existieren.43 Der einzigartige
Charakter des Erinnerns zeichnet sich durch seine Subjektivität und Selektivität aus,
d.h. die dieselben Ereignisse können auf verschiedene Art und Weise interpretiert
38
Vgl. Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis. und biosoziale
Entwicklung. 2005, S. 12.
39
Vgl. ebd., S. 12.
40
Vgl. Schacter, L. Daniel: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbeck bei
Hamburg: Rowohlt Verlag 2001, S. 39.
41
FOCUS Magazin (2001, 05. November): Die Vergangenheit zurechtbiegen. FOCUS ONLINE; Nr. 45.
http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/gehirn/medizin-die-vergangenheitzurechtbiegen_aid_191748.html (Zugriff am 16.März 2009).
42
Schacter, im Gespräch mit FOCUS Magazin (Nov. 2001)
43
Vgl. Schacter, L. Daniel: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit. 2001, S. 37f.
14
werden. Ihre jede Auslegung kreiert ein gewisses Bild, das sich aus den
Sinneseindrücken einer Gruppe von Menschen ergibt.
Die Erinnerungen sind demzufolge im Verhältnis zu jedem Mensch unverwechselbar,
indem sie mit Anderen nicht gleichgestellt werden können. Offensichtlich ist, das die
Erinnerungsfähigkeit den vielfältigen Wandlungsprozessen und Neuerfindungen in der
Gedächtnisforschung unterliegen. Beim Prozess des Erinnerns aktivieren sich
wiederkehrende Fehler und Probleme, die das neurowissenschaftliche Phänomen Wahre
und falsche Erinnerungen auslöst. Problematisch scheinen folgende Punkte zu sein: 1)
das Verblassen von Erinnerungen, 2) Moment der Einspeicherung, 3) der Abruf von
Erinnerungen, 4) Irrtümer, Verwechslungen der Quellen, 5) Quellenamnesien,
Suggestibilität, 6) verzerrte Erinnerungen im Kontext von Kategorisierungen, und 7)
Persistenz von Erinnerungen, die sich vor allem durch traumatische Erfahrungen und
depressive Erkrankungen äußert.44
Schacter deutet auf drei Gedächtnissysteme hin, die wesentlich den Prozess des
Erinnerns affizieren. Diese drei Komponenten bezeichnet er als das prozedurale, das
semantische und das episodische Gedächtnis.45 Wenn die erste Ebene beachtet wird,
muss berücksichtigt werden, dass man mit seiner Hilfe alle möglichen Fertigkeiten
erlernt und Gewohnheiten erwerbt. Die menschlichen Handlungen werden automatisch
gestaltet, ohne bewusste Reflexion zu bewahren.46 Wie die Untersuchungen zeigen,
erreichen die so genannten routinisierten körperlichen Fertigkeiten nie das Potential
„symbolischer Vermittlung“, die wiederum für das semantische Wissen kennzeichnend
ist.47 In der Perspektive von Schacter nimmt man Bezug auf die verschieden Formen
des Priming-Effekts, der von den Psychologen als den Kontext-Effekt angesehen wird.48
Diese assoziative Gedächtnisaktivierung rekurriert auf die Wiedererkennung eines
Reizes, der vom Gedächtnis zu einem konkreten, früheren Zeitpunkt unbewusst
registriert wurde. Das
betrifft
sowohl
der
Randbereiche der
menschlichen
Aufmerksamkeit als auch der Zuständen von Bewusstlosigkeit wie der Schlaf oder die
Narkose.49
44
Vgl. Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische
Grundlagen und biosoziale Entwicklung. 2005, S. 28-32.
45
Ebd., S. 40.
46
Vgl. ebd., S. 40.
47
Vgl. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. 2002, S. 27.
48
Das Psychologie- Lexikon: Priming- Effekt. Psychology48.com.
http://www.psychology48.com/deu/d/priming-effekt/priming-effekt.htm (Zugriff am 17.März 2009).
49
Vgl. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. 2002, S. 27.
15
Im Fall des zweiten Gedächtnissystems, also des semantischen Gedächtnisses, macht
Schacter vor allem auf die Aufbewahrung des begrifflichen und faktischen Wissens
aufmerksam. Dieses System" stützt sich im Unterschied zum prozeduralen Wissen auf
das gelernte, symbolisch repräsentierte Wissen. Seinen Kern bestimmt Schacter als
knowing- that, d. h als zeit- und kontextfreie Kenntnis, die in der Schule oder beim
Fernsehen angeeignet wird.50 Es lohnt sich dabei hinzufügen, dass das semantische
Gedächtnis in einem engen Zusammenhang mit der dritten Komponente des
Gedächtnissystems d. h mit dem episodischen Gedächtnis steht. Nach Auffassung von
Schacter betrachtet man es als ein System, dank dem einzelne Kontexte aus der
Vergangenheit mit den persönlichen Erlebnissen (Lebenserfahrung), anders gesagt mit
lebensgeschichtlichen Episoden, die so genannte eigene Vergangenheit prägen51.
Daraus folgen mentale Zeitreisen, die stark emotial gefärbt sind. Diese ermöglichen
einer erinnerten Person, die Einschränkungen von Zeit und Raum aufzuheben, sich in
der Vergangenheit nach Belieben fortzubewegen und sich die Zukunft einzubilden.52
Es steht außer Frage, dass die kognitive Psychologie der 60er und 70er Jahre keinen
großen Nachdruck der subjektiven Erfahrungen verlieh. Mit dieser wissenschaftlichen
Dimension begann sich erst der kanadische Neurowissenschaftler und Psychologe Endel
Tulving auseinanderzusetzn. Er verfügte doch über keine konkreten Befunde, die seine
Tätigkeit beschleunigen konnte. Für die zeitgenössische Kognitionspsychologie ist die
Frage nach der subjektiven Erfahrungen kein großes Dilemma. Dank der zahlreichen
Untersuchungen hat sie einen Einblick in die innere Welt des Erinnerns. Manche ihre
Ergebnisse überraschen und tragen dazu bei, dass manche Ansichten revidiert werden
müssen.
Nach Schacter differenziert man zwei Typen von Erinnerungen: Feld- und BeobachterErinnerungen.53 Der Hauptunterschied zwischen beiden Elementen liegt darin, dass das
erinnerte Geschehen anders rezipiert wird. Die Feld-Erinnerungen richten den Fokus
auf emotionale Intensität zum vergangenen Geschehen, was bedeutet, dass man sich
etwas mit eigenen Augen erinnert, d.h. man sich so verhält, als wäre man dort sein.
Solche Art der Erinnerung tritt vorwiegend bei jüngeren Erinnerungen auf. Wenn es
sich um Beobachter-Erinnerungen handelt, muss festgestellt werden, dass sie Distanz
50
Vgl. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. 2002, S. 24.
Vgl. ebd., S. 24.
52
Vgl. Schacter, L. Daniel: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit. 2001, S. 41.
53
Vgl. ebd., S. 41.
51
16
zum vergangenen Geschehen nehmen. Da sie oft in älteren Erinnerungen platziert
werden, deuten sie erstens für geringere Gefühlsbeteiligung, zweitens für wenigere
Intensität von gegenwärtiger Gefühlserregung hin.54 Es kommt auch vor, dass sich der
Erinnerungsakt der Feld-Erinnerungen zum Vorteil der Beobachter-Erinnerungen und
umgekehrt verändert. Es ist deswegen anzunehmen, dass die emotionale Intensität einer
Erinnerung teilweise mit den Modalitäten des Erinnerungsaktes zusammenhängt55.
Der letzte Aspekt, der besprochen werden sollte, nimmt Bezug auf zwei Formen der
subjektiven Erfahrungen, nämlich auf Erinnern und Wissen. Der erste Bestandteil
verweist auf visuelle Vorstellungen des physischen Umfelds eines Ereignisses, wodurch
einerseits die Situationen besser abgerufen werden können, andererseits die
Gedächtnismanipulation hervorgerufen werden kann. In Anlehnung an die zweite Form
lenkt man darauf Aufmerksam, dass sie sich mit dem Auf-der-Zunge-liegen-Phänomen
verbindet. Man weiß zwar etwas, aber das ist nur ein Teil des Ganzen. Eine Person ist in
der Tat nicht imstande, an den ursprünglichen Zeitpunkt oder die Situation zu erinnern.
Solcher Zustand entsteht durch Ablenkung oder durch die Beschäftigung sich mit etwas
anderem zum Moment des Geschehens. In solcher Situation können also Assoziationen
und Verknüpfungen nicht hergestellt werden. Die Vergegenwärtigung dieser Prozesse
vollzieht sich demnach nur während des Erinnerns.
Die
oben
besprochene
Problematik
des
Gedächtnisses
im
Kontext
der
Kognitionswissenschaft zeugt eindeutig davon, dass das Prinzip Gedächtnis und
Erinnerung ein faszinierendes und mehrdimensionales Thema ist, das in hohem Maße
den psychologischen und neurowissenschaftlichen Ebenen dient. Die von der
Kognitionswissenschaft durchgeführten Forschungen und Untersuchungen im Bereich
der menschlichen Psyche revolutionieren sowohl die Welt der Wissenschaft, als auch
das alltägliche Leben eines durchschnittlichen Menschen, wodurch er mehr auf seine
Identität und Gedächtnisprozesse gerichtet ist.
54
55
Vgl. Schacter, L. Daniel: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit. 2001, S. 45-48.
Ebd., S. 47f.
17
4 Zu Grundfragen von Literatur, Erinnerung und Identität
4.1
„Fictions of memory“ in Bezug auf Birgit Neumann
Man geht davon aus, dass man sich an gewisse Inhalte mit Hilfe verschiedener Medien
erinnert. Auf solche Art und Weise funktioniert das menschliche Gedächtnis, das dank
den Ressourcen sowohl der individuellen als auch der kollektiven Erinnerungen eine
Identität stiftet. Die Korrelationen zwischen diesen Komponenten forscht die Literatur,
die als ein Medium fungiert. Es lohnt sich anzudeuten, dass sich immer häufiger die
literarischen Texte mit dem Gedächtnisdiskurs auseinandersetzen. Daraus resultieren
abwechslungsreiche Inszenierungen, die in Form von Fictions of memory „den
Zusammenhang von Erinnerung und Identität in ästhetisch verdichteter Form
darstellen“.56
Neumann verweist auf die Spezifik dieser literarischen Erscheinung. Bezeichnend ist,
dass Fictions of memory durch ihre Struktur und Form, d. h durch ihre narrative
Offenheit,
Vielstimmigkeit,
Mehrdeutigkeit
und
Selbstreflexivität
neue
Erinnerungskonzeptionen und Identitätsvariante skizzieren.57 Bedeutungsvoll sind auch
solche literarische Techniken wie die Raumdarstellung und die Intertextualität. Ihr
Phänomen bezieht sich darauf, dass sie durch eine Reihe von Symbolen für konkrete
Anwendung der individuellen und kollektiven Erinnerungen im Rahmen der
Inszenierung von Erinnerung prädestinieren. In der Perspektive von Birgit Neumann
wird der Raum vor allem als sinnbildlicher Ausdrucksträger gesehen. Daraus folgt, dass
dieses Verfahren zum Erinnerungsort simplifiziert wird.58 Wenn es um die
Intertextualität bzw. Intermedialität geht, wird von der Autorin hervorgerufen, dass
beide Komponenten zu dem textuellen und medialen Vorhandensein des Vergangenen
standardisieren, indem die Signifikanz von Gedächtnismedien in Form der
Überlieferung von kollektiven Erinnerungen dokumentiert wird.
Fictions of memory verfügen somit über ein reiches Spektrum von Verfahren, mit deren
Hilfe das Prinzip Erinnerung und Identität realisiert werden kann. Diese Vielfalt wird
durch a) die individuelle und kollektive Vergangenheitsaneignung, b) Stabilisierung und
Destabilisierung
von
Identität,
c)
gemeinschaftliche
56
Gedächtnisbildung,
d)
Neumann, Birgit: Fictions of memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsromanen. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, Heft 4/2004, S. 337.
57
Vgl. Ebd., S. 356.
58
Vgl. Ebd., S. 341.
18
Auseinandersetzung antagonistischer Erinnerungen illustriert.59 Neumann thematisiert
diese Bezüge nach gattungstypologischen Erscheinungsformen. Es lohnt sich dabei zu
erwähnen, dass Zeitbezug eine besondere Rolle spielt. Dieser ermöglicht nämlich, die
hervortretenden Prozesse zwischen Gedächtnis und Erinnerung zu differenzieren und
gleichzeitig die Erzählebenen zu konstruieren. Der Hauptunterschied besteht darin, dass
das Gedächtnis auf das Vergangene gerichtet ist, indem seine Dominanz auf der
diegetischen `Ebene einer zurückliegenden Handlung basiert. Die Erinnerung wird
hingegen durch die Gegenwart präsentiert. Daraus ergibt sich ihre Handlungsfähigkeit
in der extradiegetischen Form.60
Die Korrelationen zwischen Erinnerung und Identität werden noch durch andere,
genauso signifikante und gravierende Dimension des Phänomens Fictions of memory
ausgedrückt. Man nennt sie als eine geschlossene Perspektivestruktur, infolgedessen die
kommunale Erfahrung aus der Perspektive der Ausblickspunkte61 wahrgenommen wird.
Im Hinblick auf diese Kategorien stellt Neumann vier Romantypen aus: 1) der
autobiographische Gedächtnisroman, 2) der autobiographische Erinnerungsroman, 3)
der kommunale Gedächtnisroman, 3) der soziobiographische Erinnerungsroman.
Der Gedächtnisroman umfasst „das sinn- und identitätsstiftende Potential von
Gedächtniserzahlungen“62
darstellt.
Anders
gesagt
macht
dieser
Typ darauf
aufmerksam, dass die individuellen Erfahrungen uneinheitlich sind. Dank der
erzählerischen Vermittlung festigen sie eine geschlossene und folgerichtige Identität.
Das auffälligste Merkmal dieser Form ist jedoch die Tatsache, dass sie der individuellen
Erfahrungsverarbeitung die Sinnstiftungsmodelle zusichert.63 Dieser Faktor ist schon
nicht so offensichtlich für den autobiographischen Erinnerungsroman. Die Sinnstiftung
erweist sich hier ein Dilemma zu sein. Außergewöhnlich ist, dass diese
Erscheinungsform der Fictions of memory nach den neuen, offenen Ideen und Varianten
von Identität suchen.
Im Rahmen der autobiographischen Erinnerungen geben die Erinnerungserzählungen
nie eine endgültige Antwort auf das Thema des Gewordenseins innerhalb der
59
Vgl. Neumann, Birgit: Fictions of memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsromanen. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, Heft 4/2004, S. 342.
60
Die Termine diegetisch und extradiegetisch beziehen sich auf die Theorie von Gerard Genette. Präziser
gesagt handelt es sich um den Ort des Erzählens.
61
Mit diesem Begriff bedient sich Maurice Halbwachs.
62
Neumann, Birgit: Fictions of memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsromanen. 2004, S. 356.
63
Vgl. ebd., S. 356.
19
individuellen Erfahrung. Das Wesentliche liegt darin, dass sie pernament nach
innovativen Erzählungen streben. Aus diesem Grund sind sie mit der Offenheit und
Polyvalenz des Sinnstiftungsprozesses einverstanden. In der Erinnerungskultur können
sie deswegen als reflexiver Metadiskurs gelten.64 In Anlehnung an den kommunalen
Roman muss festgehalten werden, dass sein Funktionspotential durch „marginalisierte
und nicht-sanktionierte Erinnerungen“65 gekennzeichnet wird. Mit anderen Worten
bringt er zusätzlich schon vernachlässigte und verbotene Inhalte an. Es formiert sich
dadurch ein einmaliger Gegendiskurs, der dazu führt, dass schon die früher von der
Gesellschaft aufgenommenen Normen neuen Perspektiven unterliegen. Das, was den
letzten Roman typisiert und von anderen Elementen der Fictions of memory
differenziert, tituliert Neumann als kulturell getrennte Erinnerungsversionen.66 Diese
Alternativen hängen paradox mit der Authentizität und Tragfähigkeit zusammen.
Logischerweise werden sie von den Menschen bewahrt und als ein integratives
Vergangenheitsregister rezipiert.
4.2
Erzähltheoretische Besonderheiten nach Astrid Erll
Es steht außer Zweifel, dass sich das kollektive Gedächtnis der vielfältigen Medien
bedient. Für ein besonders repräsentatives Mittel gilt die Literatur, die sich sowohl mit
den fiktionalisierten Biographien, Autobiographien als auch Memoiren beschäftigt. Auf
ihre unterschiedlichen Varianten und Kategorien verweist Astrid Erll. Diese
ermöglichen in erster Linie a) historische Romane von Zeitromanen zu differenzieren,
nächstens b) Vergangenheitsinszenierung in Novellen und short-story zu recherchieren
und schließlich c) narrative Aspekte in Balladen und Dramen zu verifizieren. 67 Unter
diesen Bedingungen verwirklicht sich das Prinzip der Rhetorik des kollektiven
Gedächtnisses. Es muss dabei signifiziert werden, dass literarische Form mit
gedächtnismedialer Funktion nur innerhalb der bestimmten Erinnerungskultur
berücksichtigt werden kann. Die Leitfrage, die gestellt werden muss, richtet sich auf
konkrete ästhetische Verfahren. Ihre Spezifik bezieht sich auf die Annahme, dass sie ein
64
Vgl. Neumann, Birgit: Fictions of memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen
Gegenwartsromanen. 2004, S. 356.
65
ebd., S. 356f.
66
Ebd., S. 357.
67
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen 2005, S. 167. Siehe auch: Erll,
Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hrgs.):
Gedächtniskonzepte
der
Literaturwissenschaft.
Theoretische
Grundlegung
und
Anwendungsperspektiven. Berlin: Walter de Gruyter 2005, S. 267-270.
20
literarisches Werk zu einem Medium des kollektiven Gedächtnisses macht.68 Wenn man
darauf Rücksicht nimmt, muss aufgewiesen werden, dass nicht ohne Bedeutung der
Rezeptionsprozess beim Leser ist:
„Entscheidend wird in jedem Fall sein, welche Erwartungen und
Sinnstiftungsstrategien die Leserschaft an die Lektüre heranträgt und ob sie das
gedächtnismediale Potential des Symbolssystem Literatur im Rezeptionsprozess
aktualisiert. Neben individuellen und kollektiven Rezeptionsstrategien spielen
dabei Verfahren der erinnerungskulturellen Institutionalisierung und (nicht zu
unterschatzen) die massenmediale Diskussion und Bewerbung von Literatur eine
Rolle.“69
Astrid Erll beweist, dass eine Lektüre auf verschiedene Art und Weise aufgenommen
werden kann. Ihr Erfolg hängt ebenso von den Erwartungen, Sinnstiftungsstrategien der
Leserschaft, wie von Gedächtnisbildung und von Kanonisierungsprozessen ab. Wenn
man diese Tatsache weiter verfolgt, dann kommt man zum Schluss, dass die Rhetorik
des kollektiven Gedächtnisses, die die konkreten narrativen Verfahren für Erforschung,
Darstellung und Darlegung der Erinnerung verwendet, zu antworten versucht, wie
literarische Texte als Medien funktionieren und wie sie von den Rezipienten
wahrgenommen werden. Bezeichnend dabei ist, dass sie sich zu diesem Zweck auf fünf
Modi beruft, die prinzipiell durch literarische Techniken konstruiert werden.
4.2.1 Erfahrungshaftiger vs. monumentaler Modus
Wie Astrid Erll bemerkt, verfügt die Literatur über ein Spektrum literarischer
Darstellungsverfahren. Diese inszenieren kulturell-autobiographische Erinnerungen und
entscheiden über ihren kulturellen oder kommunikativen Charakter. Die literarischen
Texte suchen nach Vergangenheitsregister, die sich durch religiöse oder ethnischnationale Ursprünge der Mythen ausdrücken. Wenn sie ihren Blick auf kulturelle
Nuance lenken, konstruieren sie die Wirklichkeit im Fernhorizont der Kultur. Durch die
Generationsliteratur veranschaulichen sie hingegen kommunikative Aspekte des
Gedächtnisses,
die
als
eine
Form
der
Inszenierung
von
menschlichen
Geschichtserfahrungen gelten. Die Literatur ist also ein Medium, das im Rahmen des
kollektiven Gedächtnisses operiert. Einerseits bildet es die Identität und perpetuiert die
Selbstverständigung innerhalb der Generationen, andererseits richtet es den Focus auf
68
69
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen 2005, S. 167.
ebd., S. 167.
21
das Trauma, das als ein Spiegelbild von individuell-autobiographischen menschlichen
Tragödien und grausamen Schicksalen identifiziert wird.70
Der Schwerpunkt beider Modi liegt auf ihren zwei Kriterien, d. h auf
„Erfahrungshaftigkeit“71 und "Monumentalität". Der Hauptunterschied zwischen ihnen
besteht darin, dass während der erfahrungshaftige Modus mit dem literarischen
Realismus verknüpft ist, indem er auf „lebensweltliche Details und spezifische
Erfahrungen“72 orientiert ist, der monumentale Modus die Monumenten, bzw. die
Zeichen involviert, dank denen die Kultur gepflegt wird. In der Perspektive von Erll ist
doch diese Differenz nicht so sehr offenbar. Es gibt in der Tat keine klaren Grenzen.
Die Ebenen des kulturellen Gedächtnisses wirken auf „Erfahrungshaftigkeit“ ein. Die
Elemente des kommunikativen Gedächtnis werden in Form von „lebendiger Geschichte“
in das kulturelle Gedächtnis transpositioniert. Um zu wissen, auf welchen Aspekt den
Text Bezug nimmt, muss man sich einer Reihe von literarischen Darstellungsverfahren
bedienen. Astrid Erll differenziert folgende Formen73:
 Selektionsstruktur- im Zentrum steht die Frage, ob die dargestellten Dinge, d.h.
Personen, Ereignisse eines bestimmten Textrepertoires auf das kommunikative oder
auf das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft basieren.74
 paratextuelle Gestaltung- es handelt sich darum, dass man sich der Zitate
(Bibelsprüche, Shakespearezitate) bedienen, dank denen a) die ganze kulturelle
Überlieferung samt mit ihrer Bedeutung hervorgerufen wird, b) die Verbindung an
außerliterarische, lebensweltliche Bezüge verdeutlicht wird.75
 Intertextualität- darunter versteckt sich ein literarisches Darstellungsverfahren, das
um die Autorität und Authentizität der literarischen Texte möglich zu machen, den
Anspruch auf schon anerkannte Literatur, d.h. auf kanonische oder klassische Werke
70
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 169. Siehe auch: Erll,
Astrid/Nünning, Ansgar/Birk, Hanne: Gedächtnisromane: Literatur über den Ersten Weltkrieg als
Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren. Trier: WVT 2003.
71
Mehr dazu in: Nünning, Vera/Nünning, Ansgar: Produktive Grenzüberschreitungen: transgenerische,
intermediale und interdisziplinäre Ansätze in der Erzähltheorie. In: Dies (Hrgs.): Erzähltheorie
transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier: Wiss. Verl. Trier 2002, S. 1-23, hier S. 6. Zitiert
nach Fludernik, Monika: Einführung in die Erzähltheorie 2006, S. 122ff.
72
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 169.
73
Siehe auch dazu: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar: Literatur und Erinnerungskultur. Eine narratologische
und funktionsgeschichtliche Theorieskizze mit Fallbeispielen aus der britischen Literatur des 19. und
20. Jahrhunderts. In: Oesterle, Günter (Hrgs.): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur
kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, S. 200205.
74
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 170.
75
Vgl. ebd., S. 170.
22
erhebt. Wie Aleida Assmann bemerkt, weisen sie gewisse Regelmäßigkeit auf. Sie
eignen sich Zitate, Symbole, sprachliche Varianten oder charakteristische Figuren aus
der Bibel an und behandeln sie zum Teil als „eigene Autorität“. Auf den anderen
Aspekt deutet dabei Jan Assmann hin. Die Literatur besitzt die Abilität, selbst das
kulturelle Gedächtnis zu stiften.76 Solches Vermögen fördert hauptsächlich einen
monumentalen Modus.
 Interdiskursivität- diese Form lässt sich zweierlei verstehen. Wenn sprachliche
Besonderheiten und die Aufnahme alltagssprachlicher, gruppenspezifischer Begriffe
im Vordergrund stehen, tritt zweifellos der erfahrungshaftiger Modus auf.
Oppositionell dazu stehen schematische und veraltete Wendungen, die von der
Sprache des Monuments also von dem monumentalen Charakter der Literatur
zeugen.77
 Intermedialität- die Differenzen zwischen beiden Modi liegen in Details. Wie Astrid
Erll andeutet, sind sie in den Medien stark verankert. Während doch der
erfahrungshaftige Modus seinen Blick auf die kommunikative Dimension des
Gedächtnisses, d.h. auf Fotos, Tonbandaufnahmen, wirft, beschäftigt sich der
monumentale Modus mit den kulturellen Aspekten des Gedächtnisses. Dazu zählt man
heilige Schriften oder Denkmäler.78
 erzählerische Vermittlung- das Wesentliche besteht darin, dass man sich auf ganz
andere erzählerische Instanzen rekurriert. Dem monumentalen Modus, also dem
kulturellen Gedächtnis entspricht auktorialer Erzähler79. Dem erfahrungshaftigen
Modus also dem kommunikative Gedächtnis hingegen: Ich- Erzähler und personaler
Erzähler80. Wenn diese Aspekte weiter vertieft werden, lohnt sich darauf aufmerksam
zu machen, dass beide Erzählinstanzen durch eine Reihe von Merkmalen
gekennzeichnet
sind.
Für
einen
wichtigen
Anhaltspunkt
im
Bereich
der
Erzählsituation gilt die Stimme des Erzählers. Ausgehend davon konstatiert man, dass
für den auktorialen Erzähler offizielle, distanzierte Stimme typisch ist. Mit anderen
Worten überblickt, interpretiert und bewertet er konkrete Ereignisse, Geschehnisse
oder Figuren, ohne in die dargestellte Welt involviert zu werden. Ganz andere Haltung
nimmt Ich-Erzähler und personaler Erzähler an. Ihre Stimme sind subjektiv,
76
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 170f.
Vgl. Ebd., S. 171.
78
Vgl. ebd., S. 171.
79
Nach der Auffassung von Franz Karl Stanzel (1979).
80
Vgl. Ebd.,
77
23
emotional gefärbt. Das narrative Wissen ergibt sich aus der Lebenserfahrung, die
zusammen mit alltagsweltlichen und sozialen Erinnern homodiegetischen Erzähler81
visualisieren. Den Ich-Erzähler und personalen Erzähler betrachtet man folglich
gewissermaßen als „Zeugen des Erzählten“. Nach der Auffassung von Erll spielen
dabei der I-as-witness Erzähler und der autodiegetische Erzähler82 eine entscheidende
Rolle. Während die erste Instanz für Augenzeugenschaft und Selbsterlebtes steht,
dient der zweite Vermittler wegen seiner Erfahrungen als ein Leitbild, das nah an dem
Kollektiv ist.83
 Innenweltdarstellung- diese literarische Form verbindet sich prinzipiell mit zwei
Themenkomplexen.
Einerseits
ist
das
interne
Fokalisierung,
andererseits-
Gedankenberichte, erlebte Rede, innerer Monolog.84 Ihre Formel und Funktion ist
genügend anschaulich, damit es konzipiert werden könnte, welche Modi als Medien
der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses fungieren. Dabei lohnt sich auf die FeldErinnerungen zu stützen. In der psychologischen Hinsicht sind sie „die Spezifität
individueller Lebenserfahrungen, Details, sinnliche Eindrücke und Emotionen,
Wahrnehmung von den Ereignissen <aus den Augen> daran Beteiligten […]“85 Diese
Bedingungen deuten auf jeden Fall auf den erfahrungshaftigen Modus. Es ist nicht
zufällig, dass Astrid Erll mehrmals auf seinen Kern zurückfährt, der sich vor allem
durch subjektive und emotionale Wahrnehmung von Erfahrungen verdeutlicht. Als
besonders extreme Situation signifiziert man dabei die traumatischen Erlebnisse, die
oftmals erst durch die Anwendung von Gedankenberichten, erlebter Rede oder
inneren Monologe zustande kommen.
 Raum-Zeitdarstellung- wenn diese Kategorie in Rücksicht genommen wird, dann
wird es klar, dass die zeitlichen und räumlichen Kulissen als „ineinander greifende
Formen des literarischen Vergangenheitsbezugs“86 koexistieren. Raum und Zeit, zwei
Wahrnehmungsräume, fasst man also in diesem Sinne als eine Art der Modalität auf,
die sich insbesondere durch „Erinnerungsrahmen“ d.h. durch konkrete Verortung von
Erfahrungen erkennbar macht. Aus diesem Grund gibt es keine festgelegte Grenze
zwischen dem erfahrungshaftigen als auch monumentalen Modus. Der Raum kann in
der Tat sowohl mit Hilfe der Atmosphäre, Stimmung als auch des pathetischen
„Stellung der Erzählers zum Geschehen” nach Gerard Genette (1972).
Vgl. Gerard Genette 1972.
83
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 172.
84
Vgl. Ebd., S. 173.
85
Vgl. ebd., S. 173.
86
Vgl. Ebd., S. 175.
81
82
24
„mythischen Gedächtnisraumes“ ausgedrückt werden87, indem den Übergang
zwischen Modi als reale und authentische Kapazität beurteilt werden kann.
4.2.2 Historisierender Modus
Es ist schon bezeichnend, dass man nach verschiedenen Prinzipien und Ideen greift, um
die Geschichte in die Literatur, d.h. in die historische Romane gemäß den Erwartungen
einzufügen. Angesichts dieses Faktors muss betont werden, dass der historisierende
Modus als ein Bindeelement rezipiert wird. Kennzeichnend für ihn ist, dass er eher dem
Wissen als dem „identitätskonkreten Erinnern“ dient.88 Daraus ergibt sich, dass dieser
Modus in Opposition sowohl zum erfahrungshaftigen als auch monumentalen Modus
steht. Anstatt Bezug auf die autobiographischen Aspekte des Gedächtnisses einer Kultur
zu nehmen, ist er als „Bestandteil des kulturellen Wissenssystem“ vorhanden.89 Dieser
Hang
nach
Fakten
veranschaulicht
sich
durch
„die
wissenschaftliche
Geschichtsschreibung“. Wie Astrid Erll bemerkt, beginnt die „gemeinsame Geschichte“
zwischen historisierenden Modus und historischen Romanen mit dem Anfang des 19.
Jahrhunderts. Das Wesentliche liegt doch auf der Tatsache, dass sich dieser Modus
durch „spezifisches, modernes, […] verknüpftes Zeitbewusstsein“90 auszeichnet.
Solches Denkmuster bezieht sich auf die Voraussetzung, dass die Geschichte als eine
unabänderliche,
definitive
Vergangenheit
gesehen
wird.
Zu
den
typischen
Darstellungsverfahren des historisierenden Modus gehören nach Astrid Erll:
 Rhetorik des Damals-und-Heute91: literarische Methode, mit derer Hilfe das
spezifische, historische Zeitbewusstsein hervorgerufen und dokumentiert wird
 Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung: das
Präsentierte wird in Form der Belege in den Fußnoten geäußert. Es werden auch
Hinweise auf Quellen und geschichtswissenschaftliche Studie in den Paratexten92
87
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 175.
Vgl. Ebd., S. 177.
89
Vgl. ebd., S. 177.
90
Vgl. ebd., S. 177. Dazu äußert sich auch: Weber, Wolfgang: Geschichte und Nation. Das ‚nationale
Princip’ als Determinante der deutschen Historiographie 1840-1880. In: Fulda, Daniel/ Tschopp,
Silvia Serena (Hrsg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der
Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2002, S. 343-358.
91
Der Begriff wurde von Peter Demetz geprägt.
92
In Anlehnung an Gerard Genette versteht man einen Paratext als ein Kommentar zum Haupttext, der in
der Regel in Form des Mottos, des Nachworts, der Widmung ausgedrückt wird. Siehe dazu: Genette,
Gerard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Campus Verlag: Frankfurt a. Main 1992, S. 9.
88
25
wie
Klappentext
oder
Buchrücken
gezeigt.
Im
Mittelpunkt
steht
die
wissenschaftliche Richtigkeit der Vergangenheitsinszenierung.93
 Einbeziehung historischer Einzelheiten: die „Erfahrungsspezifität“ einer Epoche,
die schon vorbei ist, spielt keine tragende Rolle. Es wird vor allem ihre Fremdheit
berücksichtigt.94
Es muss dabei einer Sache Bedeutung beigemessen werden. Der historische Roman und
der historisierende Modus stellen denn auf keiner derselben Ebene. Ein historisches
Erzählen, um erfolgreich zu sein, benötigt unterschiedliche Vergangenheitsregister.
Wenn
es
keinen
erfahrungshaftigen
und
Modus
keine
„identitätsstiftende
Monumentalisierung“ gibt, fehlt einfach an der Vergangenheitsdarstellung.95
4.2.3 Antagonistischer Modus
Selbstverständlich
ist,
dass
die
Vergangenheit
nach
gezielten
Untersuchungsgegenständen systematisiert wird. Sie kann ebenso mit Hilfe des
kommunikativen
Gedächtnisses
wie
des
kulturellen
und
wissenschaftlichen
Gedächtnisses zum Ausdruck gebracht werden. Wenn der Focus auf den
antagonistischen Modus gerichtet wird, erweist sich, dass sich die Literatur in präsente
„Erinnerungskonkurrenzen“
engagiert
und
sich
der
Bestrebungen
nach
„Erinnerungshegemonie“ bedient.96 Als Medien der Erinnerungskonkurrenzen lassen
sich dabei solche literarische Werke verstehen, die einen Überblick über GegenErinnerungen geben. Daraus bildet sich das Gedächtnis der so genannten
marginalisierten bzw. nebensächlichen Gruppen heraus, das samt mit weiteren
Selbsterkenntnissen und Werthierarchien dominante Formen in der Erinnerungskultur
symbolisiert. Darüber hinaus sollte man bedenken, wie die Medialität des Vergangenen
im Bereich des antagonistischen Modus realisiert wird. Es ist klar, dass dieses
Verfahren
auf
den
Erinnerungen
konkreter
93
Gemeinschaften
und
ihrer
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 177.
Vgl. Ebd., S. 178. Mehr dazu in: Birk, Hanne: „Kulturspezifische Inszenierungen kollektiver
Gedächtnismedien in autochthonen Literaturen Kanadas: Alootook Ipellies Arctic Dreams and
Nightmares und Ruby Slipperjacks Weesquachak and the Lost Ones.“ In: Erll, Astrid / Nünning,
Ansgar unter Mitarbeit von Birk, Hanne/Neumann, Birgit/ Schmidt, Patrick (Hrsg.): Medien des
kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität. Berlin: Walter de Gruyter
2005, S. 217-234, hier. 217-225.
95
Vgl. ebd., S. 178.
96
Vgl. ebd., S. 178.
94
26
Identitätskonzepte, Geschichtsbilder basiert.97 Der antagonistische Charakter bildet sich
aus seiner anhaftenden „Selektivität, Standortgebundenheit und Perspektivität“98 heraus.
Astrid Erll macht darauf aufmerksam, dass die Inszenierung von Identität und
Alterität99, die sich hauptsächlich auf dem komparatistischen und postkolonialen
Wissensgebiet bewegt, neue Alternativen und Möglichkeiten zur Verfügung stellt und
neue Identifizierungen zum Ziel setzt.
Das narrative Verfahren des antagonistischen Modus wird durch eine Reihe von
Elementen gekennzeichnet. Der schon oben erwähnte Zusammenhang zwischen
Identität und Alterität rekurriert auf eine Konstruktion, die wiederum nach Fludernik
auf spezifische Phänomene orientiert ist:
„Identitäts- und Alteritätskonstruktionen werden im Text auf verschiedenste Art
produziert: durch imagologische Topoi […]; durch die gezielte Auswahl und
Anordnung des Schauplatz-, Handlungs- und Figurenkomplexen; durch die Wahl
der stilistischen und insbesondere nationalsprachlichen bzw. regionalen
idiolektischen Register; durch die Modi der Fokalisierung sowie die systematische
Regulierung des Zugriffs auf die Innenwelt strategisch ausgewählter
Romanfiguren; durch die Wahl des Erzählerstandpunkts (Klassen-, Geschlechts-,
etc. Zugehörigkeit […]); und durch die Einbindung in, bzw. Abgrenzung von
anderen Identitäts- und Alteritätsdiskursen.“100
Die von Monika Fludernik präsentiertes breites Spektrum narrativer Prozesse beweist,
dass die Erinnerungskonkurrenzen auf vielfältigen Ebenen verortet sind. Sie finden ihre
Aussage sowohl durch den nationalen Aspekt des Antagonismus, als auch durch eine
Vielfalt der Vergangenheitsversionen mitten in den Gruppen. Relevant dabei ist, dass
sich dank der Gedächtnisvarietäten von Klassen, Geschlechtern oder religiösen
Gemeinschaften und Generationen die „Fronten“ antagonistischer Werke entwickeln.101
An
dieser
Stelle
lohnt
sich
eine
Reflexion
über
weitere
literarische
Darstellungsverfahren des antagonistischen Modus einzufügen. Von Bedeutung sind
solche literarische Formen wie:
 Selektionsstruktur- ihre zentrale Aufgabe zielt auf die Feststellung, welche
konkurrierende Gedächtnisstrukturen sich gegenüberstehen lassen. Es muss auch
dabei beantwortet werden, welche Bereiche der Erinnerungen ausgelassen werden
97
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 179.
Vgl. ebd., S. 179
99
Der Begriff verweist auf eine philosophiegeschichtliche Dimension. Er nimmt Bezug auf
poststrukturalistische Theorie (z.B Psychoanalyse oder Dekonstruktion), die sich auf die Dichotomie
von Alterität und Erinnerung als einander bedingende Momente bezieht:
http://www.fremdwort.de/suche.php?term=Alterit%E4t (Zugriff am 23.März 2009).
100
Fludernik 1999, S. 71f.
101
Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 179.
98
27
können und von welchen sozialen Gruppen lohnt sich zu sprechen. Entscheidend ist
hier doch das Fakt, dass der ganze Prozess zur Auf- und Abwertung des Kollektivs
führt.102
 literarische Konfiguration- es werden hier Kontrast- und Korrespondenzrelationen
bevorzugt. Der antagonistischen Konfrontierung von Menschen und ihren
Erinnerungen dient die „kontrastierende Raumdarstellung“, die als eine Art der
Kombination zwischen Heimat und Fremde expliziert wird.103
 die Figurenkonstellation- in den Vordergrund rücken vereinzelte soziale Gruppen.
Es muss differenziert werden, welche Gemeinschaften mit “wahren“ Erinnerungen
assoziiert werden können und welche nicht.104
 die Perspektivenstruktur- sie zeichnet sich durch eine relativ geschlossene Eigenart
aus. Mit ihrer Hilfe werden Identitätskonzepte, Werte, Nomen vorgestellt, priorisiert
und beurteilt.105
 die erzählerische Vermittlung- ihre Basis formt die „Stimme einer Gemeinschaft“,
bzw. Wir-Erzähler. Daraus ergibt sich aufeinander folgende Reihe mehrerer IchErzähler. Wie Astrid Erll markiert, gibt es auch bestimmte „explizite Leseanrede“,
deren Ziel ist, den Leser für sich oder für die betreffende Gruppe zu behalten. Als die
nächste wichtige Komponente gilt communal voice, die als ein „Mittel der
Selbstautorisierung und
der
Ermächtigung
Aussprache von Erinnerungen in
marginalisierten
Autoren“106
die
den konkurrierenden Erinnerungskulturen
unterstützt. Mit Hilfe der impliziten Verfahren werden zuerst gewisse kollektive
Motive ausgelassen, dann aktuelle Plotstrukturen verwendet und schließlich die
Vergangenheitsversionen gesammelt und umgeschrieben.
Die Idee des antagonistischen Modus fokussiert sich auf das „Eingreifen in das
gesellschaftliche Ringen um Erinnerungshoheit“107 Das heißt, dass sie mit literarischer
Methode zusammenarbeitet, die hingegen die narratologischen Komponenten des
Gedächtnisses entweder bejahend intensiviert, oder umstürzlerisch auflöst und mit den
neuen Strukturen ausgestattet.
102
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 179.
Vgl. Ebd., S. 180.
104
Vgl. ebd., S. 180.
105
Vgl. ebd., S. 180.
106
Ebd., S. 181.
107
Ebd., S. 182.
103
28
4.2.4 Reflexiver Modus
Die Spezifik des reflexiven Modus stützt sich auf einen Perspektivenwechsel. Dabei
lohnt sich Bezug auf den erfahrungshaftigen vs. monumentalen Modus, den
historisierenden und antagonistischen Modus zu nehmen. Der prinzipielle Unterschied
zwischen ihnen besteht darin, dass während die ersten vier Elemente der Rhetorik des
kollektiven Gedächtnisses strikt mit dem Gedächtnibildung zusammenhängen, der
reflexive Modus eher zur Gedächtnisreflexion auffordert.108
Astrid Erll sieht dieses literarische Verfahren als ein gewisses Phänomen, das durch
seine Multifunktionalität sowohl die Selektionsstruktur als auch den literarischen Status
des reflexiven Modus prägt. Genauer gesagt geht es um „den paradigmatischen Aspekt
der
Selektion“109
und
um
„den
syntagmatischen
Aspekt
der
narrativen
Konfiguration“.110 Wenn die erste Ebene weiter analysiert wird, lassen sich folgende
Rückschlüsse gezogen werden:
 Selektivität
unterliegt
der
Steigerung,
indem
die
Auswahlmechanismen
berücksichtigt werden. Diese erweisen sich unentbehrlich für die Gestaltung von
Vergangenheit.111
 die gesellschaftlichen Formen deuten Referenzen auf die Diskussionen, Medien und
Organisationen der Erinnerungskultur hin.112
 Ebene aktueller Gedächtnisreflexion wie der kognitiven Psychologie, Psychoanalyse
und der Geschichtstheorie werden durch intertexuelle Bezugsnahmen fixiert.113
 Selbstreflexionen beeinflussen die Literatur und ihre Konstitution als Medium.114
Der syntagmatische Charakter der narrativen Konfiguration wird durch zwei
Ausprägungen gekennzeichnet. Erll bezeichnet sie als „die implizite Inszenierung der
Beobachtung von Erinnerungskultur“ und als „die explizite Thematisierung“115. Im
Rahmen der ersten literarischen Besonderheit wird Metaphorik und Multiperspektivität
verdeutlicht. Es wird auch gezeigt, wie das kollektive Gedächtnis auf der
Handlungsebene gestaltet wird. Um das zu erreichen, führen die Figuren Gespräche
108
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 184.
ebd., S. 184 (Paradigma= Musterbeispiel).
110
ebd., S. 184 (Syntagma= Zusammenstellung).
111
Vgl. ebd., S. 184.
112
Vgl. ebd., S. 184f.
113
Vgl. Ebd., S. 185.
114
Vgl. ebd., S. 185.
115
Vgl. ebd., S. 185.
109
29
über die gemeinsame Vergangenheit. Auf diese Art wird erstens der Rezipient auf
bestimmte Reaktion stimuliert, zweitens wird aufmerksam auf konkrete Monumente,
Denkmäler und Rituale gemacht. Explizite Reflexionen beschäftigen sich hingegen mit
dem Zusammenhang von Gedächtnis und Kultur. Er äußert sich sowohl durch die
Erzählinstanzen, als auch durch die Figuren und durch die angemessene
Bewusstseinsdarstellung.116 Auf ein reflexives Potential verweist in hohem Maße die
erzählerische Vermittlung. Die in ihr enthaltenen Verfahren sind auf folgende Inhalte
positioniert:
 Ich-Erzählungen – sie treten in Form von homo- und autodiegetischen Texten auf.
Darunter werden Autobiographien, Memoiren verstanden, mit deren Hilfe die
individuellen Erinnerungen konkretisiert werden. Durch die Differenzierung auf ein
erlebendes und erzähltes Ich werden die Erinnerungsprozesse narrativ inszeniert. In
Bezug auf die Handlung, muss gesagt werden, dass sie sich auf die spezifische
Wahrnehmungskulisse eines Individuums konzentriert. Da die Erinnerungen in dem
Kollektiv auch verankert sind, werden sie in kommentierenden, analysierenden
Rückschau gesehen. Daraus folgt, dass es keine Stimmigkeit zwischen Erfahrung und
die Erinnerung gibt. Beide Ebene werden u.a nach Konstruktivität, Perspektivität
kritisch behandelt.117
 unzuverlässiges Erzählen118- kennzeichnend für dieses Verfahren sind seine „interne
Unstimmigkeiten und Widersprüche“.119 Die gegenwärtige Perspektive beeinflusst das
Vergangenheitsbild, indem es einem Wandel unterliegt, d.h. es verzerrt wird.
Wesentlich dabei ist, dass im Prozess des Abrufs am meistens die so genannte
„Authentisierungsstrategie“ hoch geschätzt wird. Das Vergessen samt mit dem
Verdrängen bildet schließlich eine elementare Komponente der menschlichen
Erinnerung.120
 Multiperspektivität- eine der wichtigsten Instanzen des reflexiven Modus. Dank der
internen Fokalisierung121 gibt sie öffentliche und private Ereignisse aus der
Vergangenheit weiter.
116
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 185.
Vgl. Ebd., S. 186.
118
Vgl. Nünning /Surkamp/Zerweck 1998.
119
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 186.
120
Vgl. Ebd., S. 187.
121
Vgl. Genette 1972.
117
30
Ein unbestrittener Vorzug des reflexiven Modus ist, dass man mit seiner Hilfe die
Erinnerungskultur observiert und zugleich ihre Mechanismen und Funktionen kritisch
hinterfragt. In dieser Hinsicht ähnelt er des antagonistischen Modus, dem wiederum die
zeitgenössische Erinnerungspolitik am Herzen liegt.
Resümierend lassen sich die Schlussfolgerungen ziehen, dass sich die von Astrid Erll
beschriebene
Rhetorik
des
kollektiven
Gedächtnisses
auf
die
Kooperation
unterschiedlicher Modi bezieht. Der erfahrungshaftige Modus gilt dabei als Basis für
den
monumentalisierenden
antagonistischen
Modus
und
den
beinhalteten
historisierenden
Antagonismen
Modus.
auf
die
Um
die
effiziente
im
und
überzeugende Weise realisiert werden zu könnten, muss eine prinzipielle Bedingung
erfüllt werden. Der Text sollte im Endeffekt die Vergangenheit in Form von Nah- oder
Fernhorizont vermitteln.122 Diese Prozedur wird stets schon in Verbindung mit den
zuvor bezeichneten Modi gebracht. Wenn es um den letzen Modus, d.h. den reflexiven
Modus geht, muss exponiert werden, dass man hier den großen Wert auf antagonistische
Einbezüge legt. In diesem Zusammenhang konzipiert man, dass die fünf Modi differente
„Optionen der erinnerungskulturellen Funktionalisierung von Literatur“123 anbieten. In
der Perspektive von Erll a) gilt sie als Medium der Entfaltung und der Modifikation von
kulturellen Gedächtnis, b) füllt sie das kommunikative Gedächtnis mit ästhetischen
Verfahren, c) setzt sie Mythos und präsente Alltagserfahrung exemplarisch zusammen,
d) formt sie teilweise Darstellungen von Geschichten, e) trennt sie entstehende
Vergangenheitsversionen, f) verankert sie Gegen-Erinnerungen in das kollektive
Gedächtnis und g) impliziert sie die kritische Betrachtung hinsichtlich der Problematik
des kollektiven Gedächtnisses. Im Rahmen der Diskussionen zu Erinnerungskulturen
hat Jan Assmann betont, dass die Vergangenheit auf keinen Fall „an sich“ selbst
existiert. Sie ist nicht das geschlossene Ganze, das für alle Zeiten unveränderlich ist.124
Sie lebt dank den Generationen, Institutionen und Medien, deswegen es ist so wichtig,
damit die Kultur unter dem Aspekt des kommunikativen und des kulturellen Gedächtnis
beachtet werden könnte. Während der erste Bestandteil den Nachdruck einer
Alltagsinteraktion verleiht und einen begrenzten Zeithorizont besitzt, ist das zweite
122
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 189.
ebd., S. 189.
124
Universität in Essen (2004): Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und
politische Identität in frühen Hochkulturen (1992).
http://www.uni-essen.de/literaturwissenschaft-aktiv/Vorlesungen/ausblick/kult_gedaechtnis.htm
(Zugriff am 18.April 2009).
123
31
Gedächtnissystem mit „festen Objektivationen“ verbunden. Wie Jan Assmann bemerkt,
sind sie „hochgradig gestiftet und zeremonialisiert“125. Diese Überlegung ist zu
unterstützen, denn auch Welzer spricht von „Objektivationen des Erinnerns“126, die
wesentlich die Vergangenheit beeinflussen und „zum Leben“ abrufen.
125
Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen
Hochkulturen. 1992, S. 52.
126
Vgl. Welzer, Harald: Das soziale Gedächtnis. Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung,
Tradierung. Hamburg: Hamburger Edition HIS Verlag 2001b, S. 9-21, hier S. 11.
32
5 Zur Inszenierung von Erinnerung in Stephan Wackwitz’ „Ein
unsichtbares Land“
5.1
Biographische Angaben zum Autor
Stephan Wackwitz wurde 1952 als Sohn von Gustav und Margot Wackwitz geboren. Er
studierte Germanistik und Geschichte in München und in Stuttgart. Zu Anfang der 70er
Jahre, also in seiner Studienzeit, war er politisch links eingestellt und in marxistischen
Studentenbund MSB Spartakus engagiert. Es muss dabei unterstrichen werden, dass er
Zögling des Theologischen Seminars war.127 Die Promotion erlangte Wackwitz mit der
Abhandlung über Hölderlin. Als er sein Studium beendete, begann er als Lektor für
Deutsch zuerst am King’s College in London, dann für das Goethe-Institut in Frankfurt
am Main, Neu Delhi, Tokio und München zu arbeiten. Durch 8 Jahre (1999-2007)
fungiert Wackwitz als Leiter des Goethe-Instituts in Krakau. Gegenwärtig arbeitet er als
Programm-Leiter
für
das
Goethe-Institue
in
New
York.128
Wackwitz’s
schriftstellerische Karriere verbindet sich mit der Essayistik. Während seiner Mitarbeit
mit Goethe-Institute nahm er an den verschiedenen Reisen und Auslandsaufenthalten
teil. Auf diese Weise wurde er gewissermaßen zu einem Kenner der Kultur. Stephan
Wackwitz
schrieb
zahlreiche
Essays,
journalistische
Arbeiten
und
kritische
Abhandlungen, die in anerkannten Zeitschriften wie „Merkur“, „Lettre international“
oder „Der Alltag“ publiziert wurden.129 Bedeutsam ist, dass der Autor seine
Erzählungen auch in den Büchern „Tokyo. Beim Näherkommen durch die Straßen“
(Essays, 1994) und „Kleine Reisen“ (1997) publizierte. Wackwitz nutzt grundsätzlich
eigene Erlebnisse und akzentuiert das Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem
Fremden stark. Der Schriftsteller äußert nämlich die Meinung, dass „wenn man reist,
Vgl. Munziger – Archiv (2003): Stephan Wackwitz, deutscher Schriftsteller; (Internationales
Biographisches Archiv 36/2003 vom 25. August. 2003, ergänzt um Nachrichten durch MA-Journal bis
KW 16/2008); http://www.munzinger.de/search/portrait/Stephan+Wackwitz/0/24508.html (Zugriff am
16.April 2009).
128
Vgl. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main (2009): Stephan Wackwitz.
http://www.fischerverlage.de/autor/Stephan_Wackwitz/5705 (Zugriff am 16.April 2009).
129
Vgl. Munziger – Archiv (2003): Stephan Wackwitz, deutscher Schriftsteller; Dr.phil. (Internationales
Biographisches Archiv 36/2003 vom 25. August. 2003, ergänzt um Nachrichten durch MA-Journal bis
KW 16/2008); MUNZIGER ONLINE.
http://www.munzinger.de/search/portrait/Stephan+Wackwitz/0/24508.html (Zugriff am 16.April
2009).
127
33
kann man auch ein bisschen Abstand von dem nehmen, was man normalerweise ist.“130
Eine besondere Beachtung erlangte sein Familienroman „Ein unsichtbares Land“
(2003). Der Schriftsteller sucht nach den Spuren seiner Familie.131 Seine Suche
verbindet sich gleichzeitig mit dem Bedürfnis der so genannten mentalen Zeitreise, die
Wackwitz’s Vergangenheit und Identität determiniert. Nicht ohne Bedeutung ist die
Tatsache, dass dieser Roman kontroverse Probleme anspricht, besonders im Kontext der
zwischenmenschlichen Beziehungen, der Nazizeit, des Holocaust und Deutschland im
„Nullpunkt“, d.h. auf dem „Sonderweg der Bußzerknischung“.132 Es verwundert also
nicht, dass das Buch ambivalente Gefühle in der Leserschaft hervorgerufen hat.
Wackwitz bewertet seinen Text selbst als eine Art der Abrechnung mit der
Vergangenheit. Diese ermöglicht ihm, eine klare Haltung zur älteren Generation wie
zum Onkel, Vater und zu den damaligen traumatischen Ereignissen einzunehmen und
mit der Geschichte abzurechnen. Offensichtlich wird, dass der Familienroman „Ein
unsichtbares Land“ eine lehrreiche Lektüre verspricht. Der Roman kann nicht nur als
eine Form der privaten Aufzeichnungen gelten, sondern auch als ein Zeugnis von
menschlichen Schicksalen, die durch die Vergangenheit auf den Karten der familiären
Geschichte geschrieben wurden.
5.2
Zum Inhalt des Familienromans „Ein unsichtbares Land“
Stephan Wackwitz, Autor und gleichzeitig erzählender Protagonist des Familienromans,
schildert die ungewöhnliche Geschichte seiner Familie, die sich mit einem gewissen
unerhofften Wiedersehen verknüpft. Im Vordergrund steht eine No.1a Pocket KodakKamera, die nach vielen Jahren unerwartet wieder gefunden wird. Sie enthält einen
eingelegten und belichteten Film, der Bezug auf die 1930er Jahre nimmt und strikt mit
den Erfahrungen vom Großvater (Andreas Wackwitz) und vom Vater (Gustav
Wackwitz) des Enkels (Stephan Wackwitz) verbunden ist. Es gibt zu bedenken, dass
gerade diese veraltete und altmodische Kamera eine bedeutsame Rolle im Prozess der
Erinnerung und des Gedächtnisses spielt. Dank diesem Apparat kommt der Erzähler auf
130
Dieses Zitat stammt aus dem Gespräch, das mit Stephan Wackwitz im Hessischen Rundfunk
durchgeführt wurde (am 20.Juli 1994).
131
Vgl. Welzer, Harald: Die Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen. In: Radebold, Hartmut/Zinnecker,
Jürgen (Hrgs.): Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten: Interdisziplinäre Studien
zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen. Essen: Juventa Verlag 2008, S.
87.
132
Wackwitz, Stephan: Ein unsichtbares Land. Ein Familienroman. Frankfurt a. Main: S. Fischer Verlag
2003, S. 153.
34
die eigentliche Spur seiner wahren Familiengeschichte. Diese betrifft vor allem Andreas
Wackwitz, der als Pastor und Veteran des Ersten Weltkrieges samt mit seiner Familie
die Gegend in der Nähe von Auschwitz, d.h. vom galizischen Grenzgebiet zwischen
Polen, Österreich-Ungarn und Oberschlesien bewohnte133. 1933 wanderte er als junger
Mann in das Südwestafrika aus, das damals als die deutsche Kolonie galt. Infolge des
Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges erwies sich die Rückkehr nach Deutschland
unmöglich zu sein. Das Schiff <Adolph Woermann>, mit dem Andreas Wackwitz
zusammen mit seiner Familie reiste, wurde von den Engländern angegriffen und
endgültig aufgebracht. Der Siebzehnjährige Gustav verlor seine Kamera, die von einem
britischen Marinneooffizier konfisziert wurde. Der Junge verbrachte zirka 6 Jahre lang
in Kanada, wo er im Rahmen der Kriegsgefangenschaft Bäume fällte. Inzwischen
befand sich der Apparat in verschiedenen Händen. Erstaunlich ist, dass er sich
bewährte. Die Kamera war zuerst in ein Depot in London, dann in Berlin. Es musste ein
halbes Jahrhundert vergehen, um die Kamera heimzukehren könnte, d.h. zur Familie.
Von jetzt an hatten Gustav und Stephan Wackwitz im Geiste nur eine, sehr frappierende
Frage: Welche Bilder werden sich auf dem über sechzig Jahre alten Film finden?134
Dieses Dilemma ist gewissermaßen ein Grundstein der ganzen Familiengeschichte.
Stephan Wackwitz kreiert auf jeden Fall ein akribisches und ausführliches Bild drei
Generationen, das einerseits durch familiäre Liebe, Achtung, andererseits durch
Ordnungsprinzip,
absolute
Gehorsamkeit
und
gegenseitige
Animositäten
gekennzeichnet wird.
5.3
Erzählerische Vermittlung
Um das Vergangene und das Gegenwärtige konstruiert werden zu können, muss einen
großen Wert auf die Erzählinstanz gelegt werden. Im Familienroman „Ein unsichtbares
Land“ ist sie außer Zweifel ein wichtiges Orientierungszentrum. In der Perspektive von
Carsten Gansel erfüllt der Erzähler eine Reihe von Funktionen. Der Erzähler als
Vermittlungsinstanz „führt in die Geschichte ein, er stellt die Figuren vor und
charakterisiert sie, er macht Angaben zu Raum und Zeit, er schildert die Handlungen
und Figuren“.135 Daraus folgt, dass sich der Erzähler durch übermenschliche
Fähigkeiten auszeichnet. Er hat einen Überblick über den gesamten Handlungsverlauf,
133
Wackwitz, Stephan: Ein unsichtbares Land. Ein Familienroman. 2003, S. 2.
Vgl. ebd., S. 2.
135
Gansel, Carsten: Moderne und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht. Berlin:
Cornlesen Verlag.1999, S. 27.
134
35
er kann gleichzeitig an verschiedenen Orten sein und noch dazu auf das Innen und
Außen der Figuren verweisen136. Im Folgenden wird Typologie der Erzählsituation nach
F. K. Stanzel präsentiert und analysiert. Der Literaturwissenschaftler unterscheidet drei
typische Erzählsituationen137:
 die auktoriale Erzählsituation- die Aufgabe des Erzählers besteht darin, dass er
erstens über die vergangenen oder gegenwärtigen Geschehnisse berichtet, zweitens er
bestimmte Situationen, Verhaltensweise der Figuren bewertet und kommentiert,
drittens er sich an die Leser direkt wendet, indem er imstande ist, die fiktionale und
faktuale Welt darzustellen, Es loht sich darauf hinzuweisen, dass der auktoriale
Erzähler vor allem durch die Außenperspektive konstituiert wird.138 Aus diesem
Grund bleibt seine „Blick auf die Bewusstseinzustände von außen bestimmt und daher
begrenzt“.139 Die Bedeutung des Begriffs „ Allwissenheit“ kann demnach in diesem
Fall als ein problematisches und relatives Phänomen wahrgenommen werden.
In Anlehnung an den Familienroman von Stephan Wackwitz lässt sich herausstellen,
dass dieser Typ der Erzählinstanz tritt hin und wieder auf. Das Erzählte wird
ungewöhnlich im Fernhorizont der vergangenen, epochalen, Ereignissen verortet:
„Und trotzdem ist es schwierig für einen modernen Betrachter, nicht unwillkürlich
ein bisschen stolz zu sein auf die Seibersdorfer Protestanten, wie sie am
Sonntagmorgen mit Sensen, Knüppeln und Messern bewaffnet die katholische
Kirche am Weg liegen lassen und in den Wald ziehen, um nach ihrer Fasson selig
zu werden.“140
Es wird hier verdeutlicht, dass der Erzähler sehr gut weiß, wovon er spricht. Er kennt die
Geschichte des Beskidenvorlands und hat einen Überblick über den religiösen Konflikt
zwischen den Protestanten und den Katholiken des damaligen Seibersdorfes.141
Als bezeichnend erweist sich schon das erste Kapitel, wo der auktoriale Erzähler den
Leser über ein merkwürdiges und gespenstisches Geschehnis informiert:
„Im neunzehnten und noch bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein hat es in der
Gegend um die alte galizische Residenzstadt Auschwitz viel gespukt […] Noch in
den dreißiger Jahren hat man sich zum Beispiel von unheimlichen Tieren im
Lobnitzer Judengrund erzählt, die in Adventsnachten erschienen, oder von
gespenstischen Bergen und Wäldern in der Nahe von Bielitz, in die man durch
Irrlichter gelockt wurde und aus denen man nicht mehr herausfand.“142
136
Vgl. Gansel 1999, S. 27.
Vgl. Stanzel 1987/1995/2001; zit. nach Gansel 1999, S.28ff und Monika Fludernik 2008, S. 104 ff.
138
Vgl. Fludernik, Monika: Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt: WBG 2008, S. 106.
139
Gansel, Carsten: Moderne Kinder und Jugendliteratur. 1999, S. 30
140
Wackwitz 2003, S.67
141
Gegenwärtig wird dieses Dorf unter dem Namen „Kozy“ bekannt.
142
Wackwitz 2003, S. 7f.
137
36
Offensichtlich wird hier, dass der Erzähler über technische Funktionen, wie Ort, Zeit
verfügt. Mit ihrer Hilfe veranschaulicht er eine außergewöhnliche, eher fiktionale
Geschichte, die in engem Zusammenhang mit dem menschlichen Aberglauben steht.
Der Erzähler gehört nicht zu dieser Welt an. Er steht „über“ ihr143, und verfügt über eine
distanzierte Sicht.
 Ich-Erzählsituation- der Erzähler ist ein integraler Teil der Geschichte. Er gehört zur
Welt der Figuren und funktioniert aktiv am konkreten Geschehen als erlebendes Ich.
Kennzeichnend für ihn sind Autobiographien, wo er entweder als Hauptfigur oder als
Nebenfigur vorkommt. Wenn der Ich-Erzähler im Rahmen der Nebenfigur angesehen
wird, dann wird er die Ereignisse aus einer gewissen Perspektive, als „neutraler
Beobachter“144 in Betracht gezogen. Das, was diese Erzählinstanz begrenzt, ist
gleichzeitig das wichtigste Kriterium, das über ihre Präsenz entscheidet. Die
Bewusstseindarstellung in der Ich-Struktur beschränkt sich darauf, was eigentlich „das
Ich denkt und fühlt“145. Wenn es um das Wissen des Ich-Erzählers geht, lässt sich
feststellen, dass es limitiert im Bereich der Handlung und des Raumes ist. Es gibt auch
keine Rede über die zeitlichen Sprünge. Nur innerhalb der Vergangenheit besitzt der
Ich-Erzähler eine Kapazität, eine glaubwürdige Aussage zu bilden.
“Ein unsichtbares Land“ von Stephan Wackwitz verweist am häufigsten auf diese Form.
Schon der Untertitel Familienroman suggeriert, dass das Leitmotiv dieses Buches um
Autobiographisches kreist. Der Ich-Erzähler tritt als Nebenfigur auf. Er erinnert sich als
Erwachsener sowohl an seine Kindheit, Adoleszenz, Jugend, als auch an seine
familiären Beziehungen, mit dem Nachdruck auf den Großvater (Andreas Wackwitz),
der dank seinen zahlreichen Aufzeichnungen (z.B das Tagebuch), den Briefen und der
Persönlichkeit als Hauptfigur verzeichnet wird. Der Narrator beteiligt ohne Zweifel an
der von ihm erzählenden Geschichte. Als erlebendes Ich berichtet er über verschiedene
Aspekte seiner Suche nach der eigenen Identität. Diese, wie sich erweist, sind nicht
immer problemlos und unkompliziert. Mehrmals ziehen sie den Ich-Erzähler zu den
unerwarteten Schlussfolgerungen:
„Auch frühere Ungeschicklichkeiten, Unzulänglichkeiten, Unzuständigkeiten,
Seinsweisen irreparabel und fast nicht auszulotender Transusig- und Ehrlosigkeit
sind mir sowohl atmosphärisch wie auch episodisch im Gedächtnis geblieben und
haben mein Unverhältnis zu meinem Großvater für immer bestimmt, obwohl seine
143
Fludernik 2008, S. 106.
Gansel 1999, S. 30.
145
Vgl. Ebd., S. 32.
144
37
praktische Nüchternheit, seine Abenteuerlust, sein Freiheitsdrang, sein Sinn für die
Natur, sein Mut, sein Selbstbewusst, jene steinerne oder projektilartige
Geschlossenheit seiner Meinungen und Handlungen unter anderen politischen
Umständen ein Vorbild hätten sein können, das ich dringend gebraucht hätte. Aber
wie die Dinge lagen, grauste ekelte es mich […]“146
Diese Aussage deutet eindeutig darauf hin, dass der Erzähler auch eine Figur ist. Die
vom Erzähler vermittelte Reflexion hat einen persönlichen Charakter. Auf solche Art
und Weise äußert sich eine Person, die selbst etwas erlebt, miterlebt oder beobachtet
hat.147 Dabei muss doch hinzugefügt werden, dass ein erzählendes Ich und ein
erlebendes Ich als zwei unterschiedliche Formen verstanden werden können. Nach der
Position von Carsten Gansel ist das „frühere Selbst“ des Ich-Erzählers für die erlebende
Dimension des Ichs typisch. Beide Strukturen werden auch nach solchen Kriterien wie
zeitliche Abstand und Lebens-, Welterfahrung differenziert148. Die spezifischen
Korrelationen zwischen beiden Formen lassen sich auf der folgenden Textpassage
verfolgen:
„Ich kann mich eigentlich nicht erinnern, dass mein Großvater zu Lebzeiten öfter
als zwei Dutzend mal das Wort an mich gerichtet hat- jedenfalls nicht in
bedeutenderen Angelegenheiten als <Gib mir doch mal das Salz rüber> oder
<Badestube ist frei> oder <Jetzt sei mal bitte still, Junge>.“149
In diesem Kontext ist der Erzähler dessen bewusst, dass seine Erinnerungsfähigkeit
zeitlichen Wandlungen unterliegt. Sein Rückblick auf das erlebende Ich, d.h. auf die
Zeit, als er noch ein Kind war, ist nur ein Teilerfolg. Dieses Gefühl wird durch die
Worte: „Ich kann mich eigentlich nicht erinnern […]“150 verstärkt. Eine krasse
Opposition dazu bildet jene Situation, in der der Ich-Erzähler den Focus auf die zeitliche
Distanz, die eigene Lebenserfahrung und den bewussten Wissenshorizont legt, um die
vergangenen Ereignisse im neuen Licht zu sehen. Anders gesagt bewertet und
interpretiert er aus der neuen Sichtweise:
„Ein paar Jahre später aber, als ich selber schon an der Schwelle zum
Erwachsensein stand, hatte ich das Interesse an den familiären
Erstarrungszuständen meines Großvaters längst verloren. Sein Leiden an und war
mir jetzt egal. Was er zu sagen haben möchte, wenn er etwas sagen würde- ich
hatte es nicht mehr wissen wollen.“151
In diesem Fall verhält sich der Ich-Erzähler ganz anders. Er macht den Eindruck, als
wäre er mit den schwierigen für sich Fakten einverstanden und als möchte er definitiv
146
Wackwitz 2003, S. 56f.
Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2005,
S. 90. Zitiert nach Stanzel, Franz: Typische Formen des Romans. Göttingen 1964, S. 16.
148
Vgl. Gansel 1999, S. 30.
149
Wackwitz 2003, S. 19.
150
ebd., S. 19.
151
Ebd., S. 21.
147
38
seine Erinnerungen aus der Vergangenheit verdrängen. Der Narrator schließt eine
gewisse, schmerzliche Zeitspanne aus seinem Leben ab. Seine distanzierte Haltung
ergibt sich sowohl aus dem zeitlichen Abstand („Ein paar Jahre später“ als eine Form
des Zeitsprungs) als auch aus der gesammelten Erfahrung und dem Wissen, die dazu
beigetragen haben, dass sich der Ich-Erzähler für solche unverwechselbare Haltung
ausspricht. In Anlehnung an „Ein unsichtbares Land“ muss festgehalten werden, dass
hier noch hinzu kommt, dass der Narrator aus der unzuverlässigen Perspektive
berichtet. Diese Position wird besonders gut in folgenden Textabschnitten gesehen:
„Die Erinnerungen meines Großvaters über den Rückzug aus Frankreich am Ende
des Ersten Weltkriegs habe ich inzwischen so oft gelesen, dass die Gedanken und
Formulierungen des zweiundzwanzigjährigen Leutnants so etwas wie meine
eigenen geworden sind, etwas, von dem ich nicht mehr weiß, ob ich es erlebt,
gelesen oder als Kind gehört habe- oder ob es nicht in Wirklichkeit mit anderen
Erbanlagen, Fehlern und Begabungen auf mich gekommen sein könnte: eine große
Nase, eine Vorliebe für Havanna-Zigarren, eine Neigung zu frühen Grauwerden
und ein Weltkrieg.“152
Die Unsicherheit des Erzählers beeinflusst seine unzuverlässige Erinnerung: „[…] so
etwas wie meine eigenen geworden sind, etwas, von dem ich nicht mehr weiß, ob ich es
erlebt gelesen oder als Kind gehört habe.“153 Die vereinzelten Erwägungen des
Narrators richten sich auf seine Innenwelt. Er stellt sich unterschiedliche Fragen, die im
Zusammenhang mit seiner Person, seinem Wahrnehmungssystem und seinem
Erinnerungsvermögen. Dieses verweist jedoch auf „falsche Erinnerungen“. Genauso
läuft die Handlung im Kapitel „Kleine Propheten“ vor:
„Ich weiß es nicht. Man kann über diese Dinge ja fast nicht wissen. Es muss im
Februar oder März 1978 gewesen sein, ein halbes Jahr nach dem <Deutschen
Herbst> und auf dem Höhepunkt des prophetischen Halluzinierens über das
wirkliche Gesicht des deutschen Staates.“154
Bevor der Erzähler auf ein konkretes vergangenes Geschehen zurückblickt, bringt er
zum Ausdruck seine Unsicherheit. Er stellt fest: „Ich weiß es nicht“155 Bald nimmt er
eine Rechtsfertigungsprobe auf: „Man kann über diese Dinge ja fast nicht wissen“156.
Endgültig versucht sich selbst der Erzähler zu korrigieren: „Es muss im Februar oder
März 1978 gewesen sein, ein halbes Jahr nach dem <Deutschen Herbst> und auf dem
Höhepunkt des prophetischen Halluzinierens über das wirkliche Gesicht des deutschen
152
Wackwitz 2003, S. 101f.
Ebd., S. 102.
154
Ebd., S. 250.
155
ebd., S. 250.
156
ebd., S. 250.
153
39
Staates“157. Erst dann ist der Narrator in der Lage, über den geheimnisvollen Tod eines
Mädchens aus dem Kreis des MSB Spartakus158 zu erzählen. Obwohl der Erzähler
einen Eindruck macht, als würde er seine Übersicht über seine Erinnerungen verlieren,
gestaltet er eine bestimmte Atmosphäre. Es ist denn nicht so einfach, über die
politischen Systeme zu debattieren. Wie doch der Erzähler ein paar Seiten weiter
beweist, lohnt sich eine konstruktive Auseinandersetzung zu führen. Durch einen Satz
„Auch damals lebten wir in einem ganz anderen, heute unsichtbaren Land“159 macht er
aufmerksam auf die Generation der 1970er Jahre.
 die personale Erzählsituation (personaler Erzähler)- der Erzähler ist hier nicht
mehr ein Vermittler des Geschehens. Solche Darbietungsweisen wie Lesenanreden
oder Kommentaren werden von ihm abgelehnt. Charakteristisch ist, dass hier der
„Modus des Reflektors“160 als eine dominierende Form angesehen wird. Eine Person,
die in dieser Erzählsituation auftritt, fungiert als eine Reflektorfigur, „durch deren
Bewusstsein die Geschichte sozusagen reflektiert ist“.161 Im Endeffekt wird die
Geschichte anonym und neutral gezeigt. Der Erzähler tritt hinter die Figuren, indem er
die Wirklichkeit mit ihren Augen wahrnimmt. Sein Vorhandensein wird in der Regel
durch Erlebte Rede, den inneren Monolog und den Bewusstseinstrom konkretisiert. Im
Fall des Familienromans von Stephan Wackwitz bleibt doch diese Erzählsituation eine
Streitfrage. Der Narrator behält seine „Ich-Form“, obwohl manche Stellen des Textes
auf das personale Verhalten des Erzählers verweisen können.
„Nach etwa 6-8 Minuten schließlich kam es zu derartigen Angstzuständen, dass der
gesamte Hormonhaushalt des Organismus durcheinander geriet. Nach 10-15
Minuten schließlich musste man den Versuch abbrechen, weil sich das Blut
aufzulosen begann […] in dem aus dem Gefängnis geschmuggelten Kassiber
Ulrike Meinhofs ist die Rede von dem <Gefühl, es explodierte einem der Kopf (das
Gefühl, die Schädeldecke musste eigentlich zerreißen, abplatzen)- das Gefühl, es
wurde einem das Rückenmark ins Gehirn gepreßt…, das Gefühl, man stünde
ununterbrochen, unmerklich, unter Strom, man wurde ferngesteuert, das Gefühl,
157
Wackwitz 2003, S. 250.
MSB Spartakus = der Marxistische Studentenbund Spartakus in der BRD (1971-1990). Siehe dazu
vertiefend auch: Zolling, Peter (1997, 01. September): Rote Umwege. Wie die kommunistischen APOErben das Proletariat suchten und im Establishment landeten. Politik: ZEITGESCHICHTE. FOCUS
ONLINE Magazin; Nr. 36. (Zugriff am 25.Mai.2009).
159
Wackwitz 2003, S. 260.
160
Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. Berlin: Walter de Gruyter GmbH &Co. KG 2005, S. 114.
Zitiert nach Stanzel, Franz: Typische Formen des Romans. 1979 (die Auflage aus dem 1979 enthält
die jüngste Version der Erzählsituation. Stanzel schreibt dort über drei Oppositionen: 1) Opposition
der Person, 2) Opposition der Perspektive, 3) Opposition des Modus (Erzähler vs. Reflektor).
161
Fludernik, Monika: Erzähltheorie. Eine Einführung. 2008, S. 108. Siehe zu dieser Frage vertiefend
auch: Genette, Gerard: Die Erzählung. München: Fink 1998, S. 270ff.
158
40
man pißte sich die Seele aus dem Leib, als wenn das Wasser nicht halten kann- das
Gefühl, die Zelle fährt.“162
Dabei wird gezeigt, wie der Erzähler hinter die politischen Gefangenen zurücktritt und
wie er ihre Gefühle und Gedanken im Verhältnis zu der so genannten
„Sonderforschung“163 eingeleuchtet. Die Position des Erzählers stützt sich an dieser
Stelle auf eine spezifische Beschreibung eines ungewöhnlichen Verfahrens, das durch
die Psychiatrische Abteilung der Universitätsklinik in Hamburg praktiziert wird. Die
bestimmten Reflexionen werden im Laufe des Lesens hervorgerufen. Irgendwelche
anderen Kommentare scheinen unnötig zu sein. Davon zeugen unter anderem folgende
Fragmente: „Nach etwa 6-8 Minuten schließlich kam es zu derartigen Angstzuständen,
dass der gesamte Hormonhaushalt des Organismus durcheinander geriet […]“164 oder
„das Gefühl, es wurde einem das Rückenmark ins Gehirn gepreßt…, das Gefühl, man
stünde ununterbrochen, unmerklich, unter Strom, man wurde ferngesteuert, das Gefühl,
man pißte sich die Seele aus dem Leib, als wenn das Wasser nicht halten kann“.165
Abgesehen davon lässt sich herausstellen, dass es im Buch noch weitere Beispiele gibt,
die auf eine unklare Erzählsituation hindeuten. Im Hinblick darauf muss markiert
werden, dass die Präsenz des Erzählers oft durch eine dramatische Geschichte
lokalisiert wird. An dieser Stelle wurde ein Textabschnitt aus dem Kapitel „Kleine
Propheten“ angefügt:
„Der Mann war halb verhungert. Er wusste, dass er schreckliche Dinge
angestellt hatte, und musste deshalb seine Gegner und Opfer in Nazis und
Schweine umlugen. Und er war noch Politiker genug, die Höllenmaschine aus
Schuldgefühlen und Konsequenzdemagogie zu bedienen, die ihn, seine
Mitkampfer und Sympathisanten überhaupt erst in diese fürchterliche Lage
gebracht hatte.“166
Der Erzähler nimmt hier Bezug auf das tragische Schicksal eines jungen Mannes, der
infolge seiner politischen Tätigkeit ins Gefängnis kommt. Im Rahmen des Protestes
gegen die schlechten Haftbedingungen beginnt er einen Hungerstreik, der ihn letztlich
zum Tod bringt.167 Der Erzähler veranschaulicht auf jeden Fall präzis die schwierige
Situation des politischen Gefangenen. Es wurde sowohl sein psychischer Zustand („Er
162
Wackwitz 2003, S. 245.
Die Sonderforschung war im Rahmen der „Folter in der BRD” realisiert.
164
Wackwitz 2003, S. 245.
165
ebd., S. 245.
166
Ebd., S. 249.
167
Der Erzähler nimmt hier Rücksicht auf Holger Meins, d.h auf einen deutschen Studenten, der der
Roten Armee Fraktion angehört hat. 1974 ist er wegen des Hungerstreiks in der U-Haft JVA Wittlich
gestorben. Mehr dazu in: STARBUCK Holger Meins:
http://www.starbuck-holger-meins.de/personen_hkm.htm (Zugriff am 23.April 2009).
163
41
wusste, dass er schreckliche Dinge angestellt hatte, und musste deshalb seine Gegner
und Opfer in Nazis und Schweine umlugen“168) als auch seine physische Erschöpfung
gezeigt („Der Mann war halb verhungert“169). Wenn dieser Faktor unter die Lupe
genommen wird, dann wird es ganz selbstverständlich, dass sich der Erzähler so verhält,
als wäre er mitten in der Geschichte. Das heißt, dass er auf solche Art und Weise
berichtet, als hätte er alles selbst erlebt.
Im Hinblick auf Jürgen H. Petersen lohnt sich darauf aufmerksam zu machen, dass seine
Erzähltheorie nach den bestimmten Kategorien differenziert wird. Er spricht erstens für
die Erzählform, dann für das Erzählverhalten, den Standort des Erzählers, und
schließlich für die Erzählperspektive und die Erzählhaltung.170 In Bezug auf die
Erzählform konstatiert man, dass es sich um den Erzähler handelt. Es muss hier eine
Frage gestellt werden: Wer als Erzähler erzählt die Geschichte? Wer berichtet? 171
Petersen verweist auf zwei Formen: 1) auf die Er-Form, 2) auf die Ich - Form. Das
Wesentliche bezieht sich darauf, dass die erste Erzählinstanz immer in der 3. Person
(Er-, bzw. Sie - Form)172 erzählt. Oppositionell dazu benimmt sich der Ich-Erzähler.
Dieser berichtet in der typischen für ihn 1. Person. Der Erzähler ist demnach nicht nur
das erzählende Medium, sondern auch eine handelnde Person173, die mit Hilfe eines
zeitlichen Abstands (Analepse) das damalige Geschehen thematisiert und beurteilt.
„Und es ist wahrscheinlich die so verschwiegene wie abgrundtiefe Depression des
Weltkriegsveteranen gewesen, die ich schon als Kind in der Gegenwart meines
Großvaters gespürt habe, obwohl ich damals nicht zu sagen gewusst hätte, warum er
so traurig, so kalt, so unempfindlich, warum er so unheimlich war. Auf dem
zwiebelschalendünnen Papier seiner Aufzeichnungen erkenne ich seine Traurigkeit
jetzt wieder.“174
Der Ich-Erzähler erinnert sich an seine Kindheit aus der Perspektive des Erwachsenen.
Er ist schon in der Lage, über eigene Erinnerungen nachzudenken und mit den eigenen
Emotionen und dem Zeitgeist zurechtzukommen. Unbestritten ist doch, dass der
Narrator immer wieder diese vergangene Situation tief im Gedächtnis haftet. Ihre
Wirkung prägte ihn in der Tat noch gegenwärtig ein. Im Rahmen dieser Erzählform wird
auch ein erneuter Ich-Erzähler in der Ich-Erzählung gezeigt. Darunter werden vor allem
168
Wackwitz 2003, S. 249.
ebd., S. 249
170
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur 1999, S. 35. Zitiert nach: Petersen,
Jürgen/Wagner-Egelhaaf, Martina: Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft. Ein
Arbeitsbuch. Berlin: Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. 2006, S. 46 ff.
171
Gansel 1999, S. 35.
172
ebd., S. 35.
173
ebd., S. 35.
174
Wackwitz 2003, S. 106.
169
42
die Teilbriefe aus dem Tagebuch von Andreas Wackwitz verstanden. Logischerweise
werden dadurch die räumliche und die zeitliche Kulisse konstruieren, die doch zum
relevanten Vergangenheitsregister der Geschichte prädestinieren.
Wenn es um das Verhalten des Narrators zum Erzählten nach Petersen geht, zeichnet er
drei Typen aus: 1) das auktoriale Erzählverhalten, 2) das personale Erzählverhalten, 3)
das neutrale Erzählverhalten. Als weitere, dermaßen relevante Kriterien der
Erzähltheorie dienen: a) der Standort bzw. der Blickpunkt des Erzählers (allwissend vs.
begrenzt); b) die Erzählperspektive (Außen-, vs. Innensicht) und c) die Erzählhaltung,
also „wertende Einstellung des Erzählers zum Geschehen“175, die auf neutrale, kritische,
humorvolle und andere Bewertungen verweist.
Es ist zu bedenken, dass sich die Theorien von Stanzel und Petersen durch ein paar
Einzelheiten unterscheiden. Während Stanzel für den Terminus Erzählsituation plädiert,
bezeichnet ihn Petersen als Erzählverhalten. Nach diesem Erzähltheoretiker schlägt
Stanzel zu komplizierte narratologischen Konzepte vor. Der von Stanzel verwendete
Schlüsselbegriff trennt nämlich die Ich-Erzählsituation von der auktorialen und
personalen Sicht ab. Die Erzählform hat im Grunde genommen zwei Arten des
Verhaltens, d.h. einen überschauenden (auktorialen) und personalen (aus der Perspektive
der Figur) Charakter, was bedeutet, dass eine auktoriale Ich-Erzählsituation nur bei
Petersen vorgesehen ist. Bei ihm kann sich „das erzählende Ich kritisch über das
erlebende Ich“ berichten176. Solche Relation wird auch treffend im „Ein unsichtbares
Land“ illustriert:
„Das
Ende der Nachkriegszeit in Deutschland ist gerade an solchen
Nebensachlichkeiten sichtbar geworden: dass Familien sonntags manchmal zum
Mittagessen ins Restaurant gingen; dass Frauen so kurze Röcke trugen, als wären sie
kleine Mädchen und dass Männer mit Kindern spielten. Mein Großvater aber wollte
nichts mit mir zu tun haben. So konnte ich ihn beobachten, und ich beobachtete ihn
genau und herzlos. Er war komisch, stellte ich schließlich fest, als ich vierzehn oder
fünfzehn war; unfreiwillig komisch.“177
Der im Text auftreffende Narrator fokussiert sich auf die politisch-gesellschaftliche
Nachkriegsrealität. Er reflektiert über diese spezifische Wirklichkeit im Sinne eines
erweiterten historischen Wissenshorizonts. In Anlehnung daran versucht der IchErzähler das Verhalten seines Großvaters zu deuten, obwohl das sich mit vielen bitteren
Überlegungen verbindet. Es lässt sich jedoch dabei erkennen, dass sein auktorialer
175
Gansel 1999, S. 36.
Vgl. Ebd., S. 35.
177
Wackwitz 2003, S. 22.
176
43
Charakter begrenzt ist. Er weißt nicht in Wirklichkeit, warum sein Großvater mit ihm
nichts zu tun haben will. In Konsequenz kann er nicht allwissend sein. Der Narrator
stellt eigene Vermutungen an, die nach seiner Ansicht ein bestimmtes Verhaltensmuster
erklären können: „So konnte ich ihn beobachten, und ich beobachtete ihn genau und
herzlos. Er war komisch, stellte ich schließlich fest, als ich vierzehn oder fünfzehn war;
unfreiwillig komisch“178. Erst nach einigen Jahren berichtet der Ich-Erzähler über seine
Enthüllung: „Mein Erwachsenwerden verdarb ihm die Laune und die Lust auf das Leben
der Männer vollends“179. In diesem Fall verhält sich der Erzähler auktorial. Er verfügt
über das Wissen um die Figur sowohl im Bereich der Außen- als auch der Innensicht.
Sein Erzählverhalten ist doch dabei. eher neutral als kritisch. Beim Bericht bewährt er
denn eine zeitliche Distanz, ohne sich in explizite Einschätzungen zu vertiefen.
5.4
Zum Verhältnis der Erzählebenen
Wenn der Familienroman unter dem Aspekt Stellung des Erzählers zum Geschehen180
analysiert wird, muss herausgestellt werden, dass an dieser Stelle Bezug auf Gerard
Genette genommen wird. Dieser französischer Literaturwissenschaftler zeichnet zwei
Typen vom Erzähler aus: 1) einen homodiegetischen Erzähler, der „an der von ihm
erzählten Geschichte als Figur beteiligt ist“181 und 2) einen heterodiegetischen Erzähler,
der sich außer dieser textuellen Wirklichkeit befindet. In Anlehnung an „Ein
unsichtbares Land“ lässt sich bemerken, dass die erste Form d.h. der homodiegetische
Erzähler bzw. der autodiegetische Erzähler“182 als dominante Erzählinstanz existiert.
Der Narrator nimmt Rücksicht auf seine zum Teil nicht aufgearbeiteten Erinnerungen,
die streng mit seiner Familiengeschichte verbunden sind. Durch ihre Thematisierung ist
er imstande, über sie aus der gegenwärtigen Perspektive zu reflektieren:
„Und ich begann schon die Arbeit an unserem Familienroman im Bewusstsein,
dass ich auf der Suche nach jenem Geheimnis in sehr merkwürdige Gegenden, in
mehr als ein unsichtbares Land und in beängstigend fremde Zeiten würde
vordringend müssen. Nicht nur dort, wo mein Großvater arbeitete, bevor er nach
Afrika kam, und wo mein Vater geboren ist […] Ich würde mich auch in der
Geschichte des Weltkrieges verlieren müssen den wir den Ersten nennen, die
Briten aber- mit mehr und angemessenerem Respekt für die Bedeutung dieses
Konflikts- für uns alle und heute noch: ‚The Great War’.“183
178
Wackwitz 2003, S. 22.
Ebd., S. 24.
180
Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2002, S. 80. Zitiert nach:
Genette, Gerard: Die Erzählung. 1998, S. 203ff.
181
Vgl. Ebd., S. 81.
182
Der Erzähler gehört zur fiktionalen Welt. Zugleich ist er ihre Hauptfigur.
183
Wackwitz 2003, S. 59.
179
44
Aus diesem Fragment ergibt sich, dass der homodiegetische Erzähler seine
Erinnerungen mit den Erinnerungen seines Großvaters gegenüberstellt Diese gelten als
ein relevanter Anhaltspunkt auf der Suche nach der Rekonstruktion der Vergangenheit,
die im Rahmen sowohl der eigenen als auch der familiären Identität des Erzählers
realisiert wird.
Der homodiegetische Charakter des Familienromans veranschaulicht sich auch durch
die Biographien der historischen Berühmtheiten. Die Position des Erzählers scheint
anfangs heterodiegetisch zu sein, d.h. der Narrator präsentiert die Tatbestände, die
wiederum ein einartiges kulturelles Archiv skizzieren:
„Später, als Erwachsener, im frühen neunzehnten Jahrhundert, ist Schleiermacher
Fichtes Feind gewesen. Es ist nicht zu übertrieben, von Hass zwischen den beiden
berühmten preußischen Professoren zu sprechen. [...] Fichte hat behauptet, den
Ursprung des Deutschseins im Nationalcharakter gefunden zu haben, in der
Sprache, in einer völkischen Substanz, die weder die Römer erobern konnten noch
Napoleon dauerhaft besiegt hat. Schleiermacher dagegen hat versucht, dem
Unsicherheitserlebnis treu zu bleiben […]“184
Dank dieser Textpassage schildert er eine äußerst viel sagende Geschichte. Johann
Gottlieb Fichte, ein deutscher Vertreter des Idealismus, und Friedrich Schleiermacher,
ein deutscher Theologe und Philosoph, gelten als zwei diametral entgegensetzte
Persönlichkeiten. Ihre detaillierte Beschreibung ist vom Erzähler beabsichtigt. Dank
solches
Verfahrens
wird
der
historische
Hintergrund
dokumentiert.
Das Adverb „später“ weist hier auf einen Zeitsprung, bzw. Ellipse. Es ist dabei noch zu
markieren, dass in der Tat der Narrator als homodiegetischer Erzähler funktioniert.
Diese Stellung wird durch folgende Aussage nachgewiesen:
„Ich habe über diese Feindschaft und ihre Gründe in den Bibliotheken, die ich
während der Abfassung meines Familienromans fast jede Woche und oft ganze
Nachmittage lang besucht habe, nicht viel gefunden. Aber ich glaube trotzdem zu
wissen, dass es damals zwischen beiden um etwas Wichtiges, um zwei grundlegend
verschiedene Möglichkeiten deutscher Tradition gegangen ist.“185
Die vom Erzähler dargestellte Stellung zum Verhalten der deutschen Persönlichkeiten
ist nur eine Bestätigung, dass er hier als beteiligter Beobachter186 der von ihm erzählten
Geschichte fungiert. Mit anderen Worten nimmt er gewissermaßen an der Figurenwelt
teil. Sein Interesse für diese Geschichte bringt ihn dazu, dass er irgendwelche
Informationen über diese Feindschaft und ihre Gründe in den Bibliotheken versucht zu
finden. Obwohl er keine guten Resultate erzielt, ist er davon überzeugt, „dass es damals
184
Wackwitz 2003, S. 179.
ebd., S. 179.
186
Mehr dazu in: Martinez, Mattias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 1999, S. 82.
185
45
zwischen beiden um etwas Wichtiges, um zwei grundlegend verschiedene
Möglichkeiten deutscher Tradition gegangen ist.“187
Wenn die Frage der Stellung des Erzählers zum Geschehen weiter vertieft wird, dann
zeigt sich, dass seine Teilnahme am konkreten Geschehen durch den unterschiedlichen
Grad des Engagements bestimmt wird. Daraus folgt unter anderem der homodiegetische
Erzähler, der eine der Hauptfiguren der Geschichte ist.188:
„Je mehr ich damals über die Trostlosigkeit nachdachte, die meine Schwester,
meine Cousine und ich in ihm auslösten, desto deutlicher verstand ich, dass das
Schweigen meines Großvaters ebenso wie sein gelegentlich ausbrechender Zorn
über uns ein Vorwurf an die Frauen war; ohne die wir ja nicht da gewesen
wären.[…] Wir verhießen ihm keine Zukunft. Wir deprimierten ihn bloß; […] Die
Familientraurigkeit meines Großvaters, fand ich, war eine merkwürdige, die
natürliche Ordnung der Dinge zwischen Kindern und Erwachsenen irgendwie auf
den Kopf stellende Abweichung.“189
Aus dem Text stellt sich eindeutig heraus, dass sich die Spezifik der familiären
Beziehungen nicht nur auf die Relation Enkel-Großvater beschränkt. Der Erzähler
macht auf seine Schwester und auf seine Cousinen aufmerksam. Es ist auch kein Zufall,
dass der Narrator über die „Dinge zwischen Kindern und Erwachsenen“190 spricht, die
doch die Atmosphäre der Familientraurigkeit charakterisiert.
Beachtenswert ist auch andere Stellung, nach der der Erzähler positioniert wird. Ihre
Außergewöhnlichkeit besteht in der autodiegetischen Sicht des Narrators, die einerseits
durch die Kriegsgeschichte seines Vaters (Gustav) und andererseits durch die
merkwürdige Lebenshaltung seines Großvaters (Andreas) festgelegt wird:
„Im September 1939- die deutsche Wehrmacht war gerade in Polen einmarschiertwurde mein Vater, ein siebzehnjähriger Junge, als Passagier des Dampfes <Adolph
Woermann“> mit seinen Eltern und seinen vier Geschwistern und der Fahrt vom
ehemaligen Deutsch- Südwestafrika nach Bremerhaven vom Zweiten Weltkrieg
überrascht, durch einen britischen Kreuzer gefangen genommen und in der Folge
für sechs Jahre in Kanada festgesetzt- ein Zufall, der ihm den Russenfeldzug
erspart und wahrscheinlich das Leben gerettet hat.“191
Der Erzähler verweist hier auf eine faktuale Ereignis, das Bezug auf eine reale und
zugleich äußerst relevante für den Ich-Erzähler bzw. für den homodiegetischen
Erzähler Person nimmt d.h. auf den Vater. Solche Geschichte wie diese übt einen
großen Einfluss auf alle Mitglieder der Familie aus. Besonders nah ist sie Stephan
Wackwitz, d.h. dem Erzähler dieses Familienromans. Dank solchen Projektionen aus
187
Wackwitz 2003, S. 179.
Martinez, Mattias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 1999, S. 82.
189
Wackwitz 2003, S. 21.
190
ebd., S. 21.
191
Ebd., S. 13.
188
46
der Vergangenheit enthüllt er die familiären Geheimnisse, in denen er in hohem Maße
auch aktiv beteiligt ist. Dabei lohnt sich ins Gedächtnis einen kulturellen Aspekt der
Erinnerung zurückgerufen, der doch ermöglicht, konkrete Erfahrungen und Wissen
über die Generationenschwellen zu tradieren.192 Die von Gustav Wackwitz
beschriebenen Erlebnisse gelten also gewissermaßen als Erlebnisse des Ich-Erzählers
mit denen er sich identifiziert.
Wenn es um die Lebenshaltung von Andreas Wackwitz geht, muss konzipiert werden,
dass sie aus der persönlichen Sicht des Erzählers präsentiert wird. Das veranschaulicht
sich in folgendem Fragment des Textes:
„Mein Großvater war noch jung und stark und trotzdem schon so enttäuscht wie ein
alter Mann. Erst elf Jahre später, in einer anderen Art von Zwischenreich, in dem
wieder alles möglich schien, sind ihm die unbestimmten Träume und Vorstellungen
und Phantasmen von 1914 noch einmal zum Greifen nahe gekommen.“193
Es wurde zweifellos in dieser Textpassage gezeigt, dass sich der Ich-Erzähler sehr gut
an der Vorliebe seines Großvaters orientiert. Die Aufmerksamkeit des Lesers lenkt sich
entschlossen auf den ersten Satz: “Mein Großvater war noch jung und stark und
trotzdem schon so enttäuscht wie ein alter Mann.“194 Solche Aussage gibt bestimmt zu
bedenken. Zu diesem Zweck nimmt der Narrator Bezüge auf die Vergangenheit d. h
Rückblende. Daraus ergibt sich, dass Andreas Wackwitz wieder nach elf Jahre „die
unbestimmten Träume und Vorstellungen und Phantasmen von 1914“ erfährt. An
dieser Stelle beweist der Erzähler, dass er eine Übersicht über die Gefühlswelt und
Innenwelt seines Großvaters besitzt. Es wird hier demzufolge klar, dass Andreas
Wackwitz’ Gedanken auch Gedanken seines Enkels (des Erzählers) sind.
Die weitere Analyse der Stellung des Erzählers zum Geschehen195 steht in Verbindung
mit dem Ort des Erzählens196. Nach Genette gibt es drei grundsätzliche Ebene des
Erzählens: 1) extradiegetische Ebene (der Erzählakt erster Stufe), 2) intradiegetische
Ebene (die vom Erzähler präsentierten Ereignisse verläufen auf der zweiten Stufe, z.B
eine Binnenerzählung, d.h. eine Erzählung in der Erzählung), 3) metadiegetische Ebene
(das Erzählen auf der dritten Stufe, also „eine Erzählung in der Erzählung der
192
Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. 2002, S. 17.
Wackwitz 2003, S. 108.
194
ebd., S. 108.
195
Genette 1998, S. 203.
196
Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2002, S. 75ff. Zitiert nach:
Genette, Gerard: Die Erzählung. 1994, bes. S. 151-188, sowie S. 249-256.
193
47
Erzählung“197). In Anlehnung daran nimmt der Erzähler eine konkrete Stellung zum
Geschehen. Insgesamt hat er vier Erzählmöglichkeiten. Der extradiegetischheterodiegetische Erzähltyp verlangt den Erzähler erster Stufe. Dieser erzählt eine
Geschichte, an der er nicht beteiligt ist. Der extradiegetisch-homodiegetische Erzähltyp
kommt in der ersten Stufe vor. Seine Aufgabe besteht darin, dass er über eigene
Geschichte bzw. Erfahrungen erzählt. Als dritte Möglichkeit gilt der intradiegetischheterodiegetische Erzähltyp. Darunter wird der so genannte „Erzähler zweiter Stufe“198
verstanden. Er fokussiert sich auf eine Geschichte, in der er selbst nicht involviert wird.
Der letzte Instanz, d.h. der intradiegetisch-homodiegetische Erzähler unterscheidet sich
von seinem Vorgänger dadurch, dass er in Betracht eigene Lebensgeschichte nimmt.
Der Familienroman von Stephan Wackwitz deutet hauptsächlich auf zwei Typen des
Erzählens hin: 1) auf die extradiegetisch-homodiegetische Ebene und auf die
intradiegetisch-heterodiegetische Ebene. Der erste Erzähltyp erinnert sich an seine
vergangenen Jahre, d.h. an die Kindheit, Jugend und Adoleszenz. Im Vordergrund
stehen die Ereignisse, in denen der Erzähler als Figur beteiligt war. Die 1970er, 1980er
Jahre sind in diesem Fall von großer Bedeutung:
„Dreißig oder vierzig Jahre vergingen. Ich war 1977 fünfundzwanzig, so naiv und
beeinflussbar wie in diesem Alter nur ein Junge aus bildungsbürgerlichen Haus
sein kann, der sein Lebtag lang nichts gesehen und erfahren hat als Schulräume und
Universitätshörsäle […] Morde, über die niemand ein Wort verloren hatte, als sie
begangen worden waren, meldeten sich damals mit verspäteten und wunderlichen
Stimmen zu Wort […] In der hinter dem Schein gelegenen wirklichen Welt,
irgendwo im inneren Herzen der Wirklichkeit (des Grauens) ging das Morden und
Qualen immer noch vor sich, die Verwandlung von Menschen in Leichen nicht nur
in Südamerika, sondern auch hinter den Türen der deutschen Gefängnisse,
Polizeivereine, Universitätskliniken.“199
Der Erzähler markiert hier explizit seine Präsenz. Er macht das durch die Feststellung:
„Dreißig oder vierzig Jahre vergingen. Ich war 1977 fünfundzwanzig […]“200
Beachtenswert dabei ist es, dass er nur fünfundzwanzig ist. Trotzdem ist er bereit dazu,
sich selbst kritisch zu behandeln: “[…]so naiv und beeinflussbar wie in diesem Alter
nur ein Junge aus bildungsbürgerlichen Haus sein kann, der sein Lebtag lang nichts
gesehen und erfahren hat als Schulräume und Universitätshörsäle.“201 Der Narrator
erzählt offen über die deutsche Nachkriegsrealität. Mit der bitteren Reflexion kommt er
zum Schluss: “Morde, über die niemand ein Wort verloren hatte, als sie begangen
197
Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2002, S. 76.
Vgl. Ebd., S. 81.
199
Wackwitz 2003, S. 243.
200
ebd, S. 243.
201
ebd., S. 243.
198
48
worden waren, meldeten sich damals mit verspäteten und wunderlichen Stimmen zu
Wort“. Es gibt hier keine Rechtfertigungsproben. Der Erzähler zeigt eher eine
„unbequeme Wahrheit“, mit der sich noch Deutschland nicht zu Ende abgefunden hat:
„In der hinter dem Schein gelegenen wirklichen Welt, irgendwo im inneren Herzen der
Wirklichkeit (des Grauens) ging das Morden und Qualen immer noch vor sich, die
Verwandlung von Menschen in Leichen nicht nur in Südamerika, sondern auch hinter
den Türen der deutschen Gefängnisse, Polizeivereine, Universitätskliniken.“202 Es lohnt
sich dabei zu ergänzen, dass der Ich-Erzähler sich wie ein heterodiegetischer Erzähler
verhält. Solchen Eindruck hat mindestens der Leser. In seiner Perspektive würde hier
ein überschauendes Erzählen dominieren.
Im Gegensatz dazu verhält sich der intradiegetisch-heterodiegetische Erzähltyp. Die
von dem Narrator beschriebenen Geschehnisse werden nicht auf seine persönlichen
Lebenserfahrungen bezogen. Stephan Wackwitz berichtet demzufolge über die
Geschichten, die ihn nicht direkt betroffen haben. Zu diesem Zweck bedient er sich der
Ausschnitte aus dem Tagebuch von Andreas Wackwitz (Großvater). Es muss dabei
hinzugefügt werden, dass gerade mit Hilfe dieses Memoires die wichtigsten
Informationen aus der unterschiedlichen Zeitspanne geliefert werden können. Als
besonders relevante Denkmäler werden folgende historische und zugleich kulturelle
Orte bezeichnet:
 Anhalt, ein Dorf knapp 10 km nördlich von Auschwitz (Wohnort von Andreas
Wackwitz)
 Oświęcim/Auschwitz (Alltagsleben der Juden und ihre spätere „Endlosung“)
 Laskowice (das Schlosspark und das Haus von Andreas Wackwitz)
 Hamburg (die Hamburger Landeskirche)
 der märkische Luckenwald (Realität der 1940er Jahre: Verschwinden vertrauter
Nachbarn, Versklavung unbekannter Menschen, Massenmorde; Andreas Wackwitz
als Pastor und Generalsuperintendent)
 Namib, Küstenwüsten im früheren Deutsch-Südafrika (Jagdritt)
 Kapstadt (Wackwitzs Wehrdienst)
 Antonienhütte (Mord an den deutschen Landjägern)
 Bunzlau, Ohlau, Dorf Jeltsch und Eisenbahn Breslau-Laskowitz-Carlsmarkt-Oppeln
(sorglose Kindheit von Andreas Wackwitz)
202
Wackwitz 2003, S. 243.
49
 Berlin (Hitler und Nazizeit)
Eine der wichtigsten Erzählungen ist unleugbar die Schlangengeschichte. Diese nimmt
Bezug auf 1938. Sie betrachtet über eine unerwartete Begegnung am Waterberg
zwischen Andreas Wackwitz und der Schlange. Der Erzähler bezeichnet sie einerseits
als „eine der denkwürdigen Jagdbegebenheiten“203, andererseits als „ein Modell des
Lebens“ und als „das Zusammenspiel zwischen einer dämonischen Bedrohung und
einer göttlicher Fügung“.204 Von der Glaubwürdigkeit dieser Geschichte zeugt Andreas
Wackwitz. Es werden hier seine einzelnen Fragmente aus dem Tagebuch veröffentlicht:
“Die ganze Geschichte klingt so unglaublich wie unheimlich, aber ich versichere
nochmals, sie ist Wort für Wort wahr und genau passiert wie hier aufgezeichnet.“205
Waterberg, ein Tafelberg in Namibia spielt hier eine bedeutsame Rolle. Abgesehen von
der ungewöhnlichen Schlangengeschichte geht es um eine außergewöhnliche blutige
Schlacht, die sich zwischen den Deutschen (Kolonisten) und dem afrikanischen VolkHereo am 11.April.1904 abgespielt hat. Man vermutet, dass zirka 60 Prozent dieses
spezifischen Volks ums Leben gebracht wurden.206 Gerade diese Tatsache wurde vom
Narrator in die Geschichte seines Großvaters eingeflochten:
„Denn man muss sich klar machen, dass dieser Mann zu den letzten Angehörigen
eines großen, selbstbewussten und berühmten Kriegsvolkes gehörte, dass dreißig
Jahre zuvor von den deutschen Schutztruppen in dem einzigen Krieg, den das
wilhelminische Deutschland vor 1914 geführt hat, nicht nur an ebendem
Waterberg, wo der Ingenieur Gerhard und mein Großvater die deutschen
Kriegsgräber besichtigen wollten, militärisch vernichtend geschlagen wurde,
sondern anschließend mitsamt Frauen und Kindern, wohl 80.000 Menschen, in die
wasserlose und absehbar den Tod bringende Omaheke- Wüste getrieben worden ist
[…]“207
Es wundert also nicht, dass der Hererojunge gegenüber den Weißen misstrauisch ist.
Wenn Andreas Wackwitz samt mit seinem Freund Gerhard gedankenlos einen
grausamen Witz in die Tat umsetzen will, geht im Kopf des Jungen nur ein Gedanke
203
Wackwitz 2003, S. 213.
ebd., S. 213.
205
Ebd., S.217.
206
Mehr dazu in: Stahnke, Tim (2004, 11. August): Herero-Aufstand. Die Schlachtung am Waterberg.
Politik: Deutschland, Ausland, Historie. STERN.DE:
http://www.stern.de/politik/historie/:Herero-Aufstand-Die-Schlachtung-Waterberg/528233.html
(Zugriff am 01.Mai 2009); Krüger, Ralf E: (2004, 06.Januar): Herero-Aufstand. Sturm über DeutschWest. Politik: Deutschland, Ausland, Historie. STERN.DE:
http://www.stern.de/politik/historie/:Herero-Aufstand-Sturm-%FCber-DeutschS%FCdwest/518364.html (Zugriff am 01.Mai 2009); Rienhardt, Joachim (2004, 12.August): Namibia.
„Die Weißen haben das Land geklaut“. Politik: Deutschland, Ausland, Historie. STERN.DE:
http://www.stern.de/politik/ausland/:Namibia-Die-Wei%DFen-Land/528151.html?p=3&postid=3
(Zugriff am 01.Mai 2009).
207
Wackwitz 2003, S. 218.
204
50
herum, d.h. „einen nachträglichen Schreck einzujagen und ihnen gleichsam die
Dämonen seines Landes mit ihm gegen sie verbündet darstellen.“208 Der Kampf mit
Kobra wendet sich teilweise zum Schlechten für die Weißen. Ihre Prahlereien verlieren
an der Bedeutung schon am nächsten Tag. Nur durch eine blitzartige Reaktion der
Familie Flotow ist es gelungen, das Gespenst einer Katastrophe zu verhindern. Der
Hererojunge trumphiert demnach über die Deutschen. Er hat sehr gut gewusst, dass die
Schlange noch angreifen konnte. Der Junge hat nämlich Kobra gesehen, wie sie erstens
aus dem Schuppen herausgekommen war, zweitens wie sie sich zwischen den weißen
Männern durchgeschlichen hat und drittens wie sie im Garten verschwunden ist. Sein
Schweigen folgt einfach aus der persönlichen Genugtuung für einen primitiven Streich
der Europäer. Es erteilt auch eine gewisse Lehre: „Tue nichts Böses, so widerfährt dir
nichts Böses“.209
Ein anderes Beispiel, das für die intradiegetisch-heterodiegetische Ebene des Erzählens
steht, geht die Legende von Eva Mandzla an, die auch als die „Jeanne d’Arc von
Seibersdorf“210 genannt wird. Diese sonderbare Binnenerzählung oszilliert zwischen
dem faktualen und fiktionalen Erzählen211:
„Was nun geschah, ist von der Legende auf eine übernatürliche Version
zurückgeführt worden. Die Jeanne d’Arc von Seibersdorf hieß Eva Mandzla.
Dieses Mädchen, über das sonst nichts bekannt ist und von dem man anhand der
vorliegenden Geburtsregister nicht einmal nachwiesen kann, dass es wirklich gab,
<hatte eines Tages beim Gebet eine merkwürdige Erscheinung.>“212
Aus diesem Fragment tritt ein vielversprechendes Bild von einem jungen Mädchen
hervor. Anfangs erscheint es als ein gewöhnliches, durchschnittliches Wesen, „über das
sonst nichts bekannt ist“213. Die vom Narrator betonte Feststellung „von dem man
anhand der vorliegenden Geburtsregister nicht einmal nachwiesen kann“ suggeriert
doch, dass solche Geschichte durch ein unzuverlässiges Erzählen214 gekennzeichnet ist,
indem der Leser durch den Narrator irregeführt werden kann. Das Leitmotiv dieser
Legende bestimmt folgender Satz: <hatte eines Tages beim Gebet eine merkwürdige
208
Wackwitz 2003, S. 218.
Vgl. Zitat aus der Bibel, JES SIR 7, 1-2.
210
Wackwitz 2003, S. 69.
211
Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2002, S. 9ff.
212
Wackwitz 2003, S. 69.
213
ebd., S. 69.
214
Siehe ausführlich dazu: Allrath, Gaby/Nünning, Ansgar: (Un-)Zuverlässigkeitsurteile aus
literaturwissenschaftlichen Sicht: Textuelle Signale, lebensweltliche Bezugsrahmen und Kriterien für
die Zuschreibung von (Un-)Glaubwürdigkeit in fiktionalen und nichtfiktionalen Erzählungen. In:
Dernbach/Meyer (Hrsg.): Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Interdisziplinäre Perspektiven. Wiesbaden:
VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 185-187.
209
51
Erscheinung>215. Seine Dimension wird im weiteren Verlauf der Erzählung
ausgedrückt:
„Sie sah in ihrer Kammer das Evangelienbuch liegen, und aufgeschlagen war die
Stelle aus Matthäus: <Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid,
ich will euch erquicken>. Über dem Ganzen erstrahlte in hellstem Glanze der
Name <Urbanus>.“216
Mit Hilfe dieser Textpassage wird offensichtlich, dass die Erzählung die Form des
faktualen Erzählens annimmt. Es gibt in diesem Textabschnitt eine spezifische
Atmosphäre, die eher einer erfundenen als einer realen Geschichte näher ist. Die
erzählte Welt deutet in hohem Mäße auf einen religiös-mystischen Aspekt hin, der
wiederum zu den übernatürlichen Tatbeständen veranlässt: „Über dem Ganzen
erstrahlte in hellstem Glanze der Name <Urbanus>.“217 In diesem Satz sieht man
gewissermaßen eine Ankündigung des göttlichen Eingreifens. Man kann jedoch dabei
nicht vergessen, dass der Narrator sich von Anfang an skeptisch darüber ausspricht.
Wenn diese Geschichte fortgesetzt wird, dann erweist sich, dass die angebliche
Prophezeiung, auf die Eva Mandzla ihre Hoffnung so stark gesetzt hat, durch das
Alltagsleben ersetzt wurde. Obwohl die Legende von jetzt an mehr an das faktuale
Erzählen gebunden ist, lässt sich nicht übersehen, dass Mandzla immer wieder ihrer
Gesinnung treu bleibt:
„Aber er ging vorüber, ohne dass Rettung kam. So ging es viele Jahre, und den
Seibersdorfern wurde es immer schwerer, an Hilfe zu glauben. Fast dreißig Jahre
waren seit jenem Tage der Urbanus-Erscheinung vergangen, aber Eva Mandzla
verlor die Hoffnung nicht. Sie hatte inzwischen geheiratet und einem Sohn
bekommen, und als der katholische Pfarrer ihm ungebeten den Namen Urbanus
gab, da glaubte sie mit neuem Mut daran, dass dieser Name den Seibersdorfern
noch Glück bringen werde.“218
Die vom Narrator geschilderte „Jeanne d’Arc von Seibersdorf“219 ruft widersprüchliche
Gefühle hervor. Einerseits wundert ihre religiöse Besessenheit, andererseits erregt sie
große Neugier und Hochachtung. Dieses Mädchen kumuliert in sich unterschiedliche
Seiten der Persönlichkeit, indem sie geist- und ideenreich ist. Seine Überzeugung von
der zukünftigen Zelebration des Urbanitages schließt zugleich nicht seinen Glauben an
das gute Muttersein aus. Die Bewertung dieser Gestalt verweist im Endeffekt auf ihre
Komplexität.
215
Wackwitz 2003, S. 69.
ebd., S. 69.
217
ebd., S. 69.
218
Ebd., S. 70f.
219
Ebd., S. 69.
216
52
5.5
Zur Perspektivenstruktur im Rahmen der Fokalisierung
Selbstverständlich wird, dass eine Erzählung mit Hilfe der Distanz und der
unterschiedlichen Perspektiven inszeniert werden kann. Sie rekurriert sowohl auf den
Blickwinkel eines Erzählers, als auch auf den der Figuren und auf eine neutrale, bzw.
unpersönliche
Perspektive.220
Insgesamt
differenziert
Monika
Fludernik
vier
Sichtweisen: 1) eine persönliche Sicht, 2) eine unpersönliche Sicht, 3) eine externe
Sicht, 4) eine interne Sicht.221 Dadurch dass die erste Ebene „in einer anthropomorphen
Instanz verankert ist“222, wird die Perspektive durch das Bewusstsein dieser Instanz
geprägt. Daraus resultiert auch, dass eine persönliche Instanz in der Lage ist, über sich
selbst auszusprechen. Solches Vermögen ist im Fall des „ungewöhnlichen“ Objektes
nicht machbar. Was den persönlichen Erzähler betrifft, kommt er einerseits auf
extradiegetische (externe), andererseits auf diegetische (interne) Ebene“223 vor. Eine
neutrale Sicht kann hingegen nur extern lokalisiert werden.
Der von den Deutschen verwendeten Ausdruck Erzählperspektive funktioniert in der
angelsächsischen Kultur als point of view224. Dabei stützt man sich vorwiegend auf dass
Bewusstsein der Reflektorfigur, das als ein Filter einer Geschichte fungiert. An diesem
Punkt lohnt sich auf die Auseinandersetzung zwischen Stanzel, Genette und Mieke Bal
anzudeuten. Stanzel plädiert für eine Zusammensetzung von Außen-, Innensicht samt
mit dem Erzähler- und Reflektormodus.225 Mit anderen Worten fügt er die Termini
Perspektive (wer sieht?) und Stimme (wer spricht?) zusammen.226
Diese Lösung ist doch mit den Theorien von Genette und Bal227 unvereinbar. Die
Bezeichnung point of view wurde von ihnen durch den Begriff Fokalisierung ersetzt.
220
Vgl. Fludernik, Monika: Erzähltheorie. Eine Einführung. 2008, S. 48.
Vgl. Just, Katrin: Wir-Perspektive und problematische Identität: Universität in Stuttgart. Institut für
die Literaturwissenschaft 2008, S. 5ff.
222
Fludernik, Monika: Erzähltheorie. Eine Einführung. 2008, S. 48
223
Siehe dazu ausführlich: Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2002, S.
75f.
224
Genette, Gerard: Die Erzählung 2. München: Fink Verlag 1998, S. 136.
225
Vgl. Fludernik, Monika: Erzähltheorie. Eine Einführung. 2008, S. 49. Siehe auch dazu: Stanzel, Franz:
Linguistische und literarische Aspekte des erzählenden Diskurses. Wien: Verlag der Österreichischen
Akademie der Wissenschaften 1984, S. 22 und S. 33.
226
Blödorn, Andreas; Langer, Daniela; Scheffel, Michael: Stimme im Text? In: Blödorn/Langer/Scheffel
(Hrgs.): Stimm(e) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen. Berlin und New York: Walter de
Gruyter GmbH 2006, S. 1-5, hier S. 1f.
227
Mieke Bal ist eine niederländische prominente Literaturwissenschaftlerin, die mit der Theorie von
Gerard Genette polemisiert hat. Im Endeffekt hat sie fast eine neue Problemstellung geschaffen. Es
lohnt siech darauf hinzuweisen, dass Ball einen Standpunkt vertritt, dass der „Fokalisator“ als ein
spezifisches Subjekt zwischen dem Erzähler und der Figur platziert werden sollte. Relevant dabei ist,
dass diesem Subjekt die Literaturwissenschaftlerin seine eigene Aktivität bestimmt. Mehr dazu in:
221
53
Der neue Terminus basiert auf einem Modell, wo es klare Differenzierung zwischen
Perspektive und Stimme gibt. Die Fokalisierung gilt also an dieser Stelle als ein
Dilemma der Perspektivierung des Erzählten.228
Wenn dieses Thema weiter verfolgt wird, dann stellt sich heraus, dass der
Familienroman auf eine spezifische Kombination von Person der Stimme und
Perspektive verweist. Dabei muss angedeutet werden, dass sich dieses Zusammenspiel
auf die Fokalisierungstypen nach Genette bezieht. In Anlehnung daran lässt sich
feststellen, dass als primäre Typen des Buches „Ein unsichtbares Land“ die so genannte
Nullfokalisierung und die fixierte interne Fokalisierung fungieren229. Diese gestalten
wiederum die Erscheinung Polymodalität230. Im Fall der externen Fokalisierung ist es
zu markieren, dass sie sich eher in der Innenweltdarstellung aktiviert, wo sie samt mit
ihrer internen Variante einen großen Wert auf den kognitiven Charakter der
Erinnerungen (Feld-Erinnerungen und Beobachter-Erinnerungen231) legt.
Bevor der Schwerpunkt des Begriffs Polymodalität dargestellt und erläutert wird, wird
Rücksicht auf die Begriffe Nullfokalisierung und interne Fokalisierung genommen.
Beide Komponenten lassen sich nach folgenden Merkmalen erkennen:
 Nullfokalisierung (=auktorial)232- der Erzähler tritt in der 3. Person Singular bzw.
Plural. Er weiß mehr als die Figur, indem er über eine Übersicht in der Erzählung
verfügt. Die Wahrnehmung ist auf keine konkrete Figur angewiesen. Kennzeichnend
für diesen Typ sind Angaben im Text, die über das Wissen der Protagonisten
überragen.
Schmitz, Barbara: Prophetie und Königtum: eine historisch-narratologische Methodologie. Tübingen:
Mohr Siebeck Verlag 2008, S. 46-48.
228
Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2002, S. 63.
229
Der Blickwinkel sollte darauf gerichtet werden, dass falls die „interne Fokalisierung“ in der
Erzählung überwiegt, noch zwei Ebenen d.h „fixierte interne Fokalisierung“ und „variable interne
Fokalisierung“ beachtet werden sollten. Dabei lohnt sich zu erwähnen, dass im Sonderfall der zweiten
Form die so genannte „multiple interne Fokalisierung vorgesehen wird.
Fixierte interne Fokalisierung= die Wahrnehmung hängt mit einer Figur zusammen.
Variable interne Fokalisierung= die Fokalisierung unterliegt dem Wechsel. Es wird doch eine
chronologische Ordnung gehalten.
Multiple interne Fokalisierung= dasselbe Geschehen wird aus dem Gesichtspunkt mehrerer Figuren
erzählt.
Mehr dazu in: Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2002, S. 66-67.
230
ebd., S. 67.
231
Mehr dazu in: Neumann, Birgit: Erinnerung-Identität-Naration. Gattungstypologie und Funktionen
kanadischer Fictions of memory. Berlin: Walter de Gruyter 2005, S. 173.
232
Vgl. Matias, Martinez/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2002, S. 64. Zitiert nach:
Genette, Gerard: Die Erzählung. 1994, S. 273f. Siehe auch vertiefend dazu: Schmid, Wolf: Elemente
der Narratologie. 2005, S. 117f.
54
Im Familienroman von Stephan Wackwitz wird diese Form beispielsweise unter
Anwendung von der folgenden Textpassage illustriert:
„Krakau war im Mittelalter und bis in die Renaissance hinein so etwas wie New
York oder Buenos Aires im neunzehnten Jahrhundert: eine durch kunstsinnige und
ein bisschen wurschtige Könige von ihrem florentinschen Musenhof auf einem
Hügel überm Fluss eher wohlwollend beaufsichtigte als wirklich beherrschte
Vielvölkerstadt deutscher, flamischer und italienischer Kaufleute, spanischer Juden
und polnischer Adelsgeschlechter […] Dieser Teil Europas war einmal eine Utopie,
das einzige Pendant zur Freiheit und Unternehmerselbständigkeit des
amerikanischen Westens in der Alten Welt.“233
Die vom Narrator dargelegte Wahrnehmung richtet sich auf keine bestimmte Figur. Der
Erzähler veranschaulicht sich hier dank seiner Position der Übersicht. Sein Wissen
ermöglicht ihm sich über die folgenden Fakten zu äußern: “Krakau war im Mittelalter
und bis in die Renaissance hinein so etwas wie New York oder Buenos Aires im
neunzehnten Jahrhundert“ oder „Dieser Teil Europas war einmal eine Utopie, das
einzige Pendant zur Freiheit und Unternehmerselbständigkeit des amerikanischen
Westens in der Alten Welt“. Der Narrator fokussiert sich bloß auf die Beschreibung.
Diese zeichnet sich eher durch einen summarischen Charakter aus.
Der auktoriale Charakter der Fokalisierung lässt sich auch auf dem anderen, genauso
relevanten Beispiel verfolgen: „Sie wurden bloß und versonnen, und wenn sie auf
Posten zogen, stand ihr Blick unbeweglich in der Richtung ihres Gewehrs auf dem
Niemandsland.“234 In diesem kurzen, aber viel sagenden Abschnitt knüpft der Erzähler
wegen seiner Überblickskapazität an eine spezifische Gruppe von Menschen. Es geht
ihm denn um die deutschen Kriegsveteranen, die sich in der neuen Nachkriegsrealität
wieder zu finden versuchen. Diesen „persönlichen Kampf“ nehmen sie einerseits durch
die Teilnahme an den Parteien, andererseits durch die Arbeit und durch die
Verdrängung der Erinnerungen auf, die sich ihnen stets mit dem Angsthaben bzw. der
Angriffswut assoziieren. Gerade diese innere Diskrepanz verursacht, dass sie „bloß und
versonnen“ sind und „wenn sie auf Posten zogen, stand ihr Blick unbeweglich in der
Richtung ihres Gewehrs auf dem Niemandsland“.235
 Interne Fokalisierung (=aktorial)- der Erzähler weiß nicht mehr als die Figur, was
bedeutet, dass seine Rolle zur Mitsicht in der Erzählung begrenzt wird. Die
Wahrnehmung ist in diesem Fall mit der konkreten Figur verbunden. Es werden hier
233
Wackwitz 2003, S. 61.
Vgl. Ebd., S. 133.
235
ebd., S. 133.
234
55
vor allem die Angaben über das“ Innenleben“ eines Protagonisten bzw. einer
Protagonistin weitergeleitet.
„Andreas Wackwitz war skeptisch (worauf er in der Ruckschau großen Wert legt).
Aber zugleich regte sich die Hoffnung, dass die verräterische Republik nicht das
letzte Wort der deutschen Geschichte bleiben würde, dass Anhalt wieder deutsch,
dass das Land wieder groß (dass sie afrikanischen Kolonien wieder unser) werden
könnten.“236
Dabei wird gezeigt, wie der Erzähler hinter der Figur Andreas Wackwitz zurücktritt und
wie er Wackwitz’s Gedanken und Hoffnungen angesichts der Hitlers Ernennung zum
Reichskanzler eingeleuchtet. Mit anderen Worten referiert Die Position des Erzählers
kann demnach als „Mitsicht“ bezeichnet werden. Er mischt sich nicht in die erzählende
Geschichte ein, was durch den Mangel an den Kommentaren und den Bewertungen
bestätigt wird.
Wenn der Terminus Polymodalität im Zusammenhang von Null- und interner
Fokalisierung erwägt wird, dann wird es selbstverständlich, dass beide Formen
nebeneinander bestehen. Präziser gesagt, handelt es sich darum, dass in manchen
Textpassagen Gedanken einer Person oft in personaler Erzählhaltung gehalten werden.
Die eindeutige Differenzierung zwischen den Erzählformen (d.h. Ich-Form und ErForm) erweist sich demzufolge irrelevant zu sein.237 Die gleiche Stufe betrifft ebenso
den Erzähler wie seine Figur. Das sieht man besonderes an dieser Textstelle:
„Man kann mit fünfundzwanzig die Vogelschwärme noch nicht sehen, die an
Wintertagen im Morgengrauen zusammen mit den Lebensträumen über das Haus
wegfliegen. Und Andreas hatte mit fünfzig noch nicht begriffen, dass hinter den
Lebensträumen das wirkliche Legen weitergeht, ohne uns. Aber vielleicht ist alles
auch ganz anders gewesen […]. Und so bleibt mir heute nichts, als auf den
zahlreichen zwiebelschalendünnen Blättern jener Kladden nachzulesen, warum es
meinem Großvater zu Lebzeiten eigentlich gegangen ist; wovon er geträumt hat
und warum er so enttäuscht war.“238
Es steht hier außer Zweifel, dass beide Formen der Fokalisierung gewissermaßen
verzahnt sind. Der Narrator verfügt zwar über das Wissen, das innerhalb der
auktorialen Sicht platziert werden kann („Und Andreas hatte mit fünfzig noch nicht
begriffen, dass hinter den Lebensträumen das wirkliche Legen weitergeht, ohne
uns“239), aber er bringt sich auch zugleich selbst im Spiel, indem er nur das wissen,
bzw. sagen kann, was eine Figur weiß oder sagt („Und so bleibt mir heute nichts, als
236
Wackwitz 2003, S. 204.
Vgl. Quack, Josef: Wolfgang Koeppen. Erzähler der Zeit. Würzburg: Verlag Königshausen &
Neumann 1997, S. 238.
238
Wackwitz 2003, S. 108.
239
ebd., S. 108.
237
56
auf den zahlreichen zwiebelschalendünnen Blättern jener Kladden nachzulesen, warum
es meinem Großvater zu Lebzeiten eigentlich gegangen ist“240).
5.6
Zur Innenweltdarstellung
Das im Familienroman generierte Erinnerungsprinzip wird durch zwei Formen der
Fokalisierung markiert, d.h. erstens durch interne Fokalisierung, zweitens durch externe
Fokalisierung. Während die erste Komponente an den Feld-Erinnerungen gebunden ist,
steht die zweite in enger Korrelation mit den Beobachter-Erinnerungen.241
Im Rahmen der Feld-Erinnerungen verweist der Erzähler auf seine eigenen
Lebenserfahrungen. In hohem Maße funktionieren sie als eine Reproduktion von
Gedächtnisinhalten. Es ist dabei zu signalisieren, dass dieser Form der Erinnerungen
gewöhnlich sinnliche Eindrücke bzw. Emotionen begleiten. Diese werden hingegen
durch detaillierte Beschreibungen und durch typische für das kommunikative
Gedächtnis Art der Verbalisierung bzw. der Narrativisierung242 gekennzeichnet:
„Es sind kleine, gleichgültige und meistens eigentlich nicht besonders appetitliche
Einzelheiten, die mir vom der äußeren Erscheinung meines Großvaters in
Erinnerung geblieben sind: die sehr großen Ohren des alten Mannes; das
gedampfte, sozusagen nass klappernde Geräusch, dass sein Gebiss machte, wenn er
aß; jene verdrossene Ton- und die erkünstelte Hilflosigkeit am Frühstückstisch; der
Geruch seines Rasierwassers; die Art, wie sein weißer Schnurrbart sich beim
Sprechen manchmal sträubte; die komplizierte Aufhängung seiner Uhrkette in
einem Westenknopfloch, in das auch der Knopf mit hineinmusste […]; das
Geräusch, das seine eiserne Stockspitze auf den Feld- und Waldwagen machte,
wenn ich gelegentlich mit ihm spazieren ging […]“243
Aus diesem Fragment lässt sich herausstellen, dass der Narrator stark in den damaligen
Ereignissen verankert ist. Die Emotionalität seiner Wahrnehmung zeigt sich durch eine
Reihe der spezifischen Ausdrücke: „nass klappernde Geräusch“, „verdrossene Ton- und
die erkünstelte Hilflosigkeit am Frühstückstisch“, „der Geruch seines Rasierwassers“,
„das Geräusch, das seine eiserne Stockspitze auf den Feld- und Waldwagen machte“.
Dadurch entsteht einen Eindruck, als wäre die Intensität der gefühlsbetonten Gedanken
beim Erzähler stets auf einem hohen Grad.
Den ganz anderen Verhaltenstyp präsentiert der Erzähler auf der externen Ebene der
Fokalisierung. Seine Domäne sind die Beobachter-Erinnerungen, die Bezug auf den
240
Wackwitz 2003, S. 108.
Vgl. Schacter, L. Daniel: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit. 2001, S. 45.
242
Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 173. Mehr dazu in:
Stanzel, Franz: Theorie des Erzählens. 1979, S. 169.
243
Wackwitz 2003, S. 38.
241
57
zeitlichen Abstand des erlebenden Ichs nehmen. Die von Stephan Wackwitz
beschriebenen vergangenen Ereignisse werden im Lichte der gegenwärtigen
Erkenntnisse positioniert. Daraus folgt eine reflektierende Auseinandersetzung des
Narrators gegenüber dem Großvater:
„Was ich auf diese Weise aus seinem eigenen Familienroman über meinen
Großvater erfahren habe, was für mich erstaunlich und unheimlich- vor allem
deshalb, weil sich herausstellte, wie ähnlich mein Leben dem eines Mannes
inzwischen geworden ist [...] Es gibt mehr und wichtigere Parallelen, als dass wir
beide gern Zigarette rauchen und dass Enkel wie Großvater ihrem Beruf im
Ausland nachgehen. Die kleinen, scheinbar zufälligen ebenso wie die bedeutenden
Ähnlichkeiten, die kein Zufall sein können, haben sich gegen meinen Willen
hergestellt.“244
Dieser Textabschnitt legt den Grundstein auf die Relation zwischen dem Großvater und
dem Enkel. Sie wird aus der gegenwärtigen Position des Erzählers bewertet, was
bedeutet, dass sie aus der anderen, d.h. mehr distanzierten und objektiven Perspektive
des Narrators beschrieben wird. Aus diesem Grund akzentuiert man nicht so stark die
emotionale Eindringlichkeit der Erinnerung.245 Für diese Art der Aussage ist eher eine
reflektierende Anmerkung als ein intensiver Gefühlsausbruch charakteristisch: “Was
ich auf diese Weise aus seinem eigenen Familienroman über meinen Großvater
erfahren habe, was für mich erstaunlich und unheimlich- vor allem deshalb, weil sich
herausstellte, wie ähnlich mein Leben dem eines Mannes inzwischen geworden ist.“246
Weiter schreibt auch der Erzähler über „mehr und wichtige Parallelen“247 und über „die
kleinen, scheinbar zufälligen ebenso wie die bedeutenden Ähnlichkeiten“248, die in der
Tat nach dem Erzähler nicht geschehen sollten, aber zum Trotz seines Willens zustande
gekommen sind. Selbstverständlich wird demzufolge hier, dass der Narrator die
konkreten Schlussfolgerungen zieht. Er fasst seine vergangenen Erinnerungen
zusammen, die letztlich sie als “nüchterne Fakten“ gelten. Es lässt sich dabei doch nicht
leugnen, dass gerade ihre Präsenz gravierend die Lebenshaltung des erlebenden Ichs
geformt hat. Am nachdrücklichsten zeugt davon die nächste Textpassage:
„Es wollte mir beim Lesen manchmal scheinen, als hätten sich über die Jahrzehnte
mein Leben und das Leben meines Großvaters hinter meinem Rücken miteinander
verständigt. Fast ein halbes Jahrhundert, sage ich mir manchmal und sehe
244
Wackwitz 2003, S. 35.
Vgl. Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen
Inszenierung. München: Verlag C. H Beck 2007, S. 86f.
246
Wackwitz 2003, S. 35.
247
ebd., S. 35.
248
ebd., S. 35.
245
58
kopfschüttelnd von dem vergilbten Durchschlagpapier auf, habe ich gebraucht, um
ihnen auf die Schlichte zu kommen.“249
Wie das Ich bemerkt, musste die Jahrzehnte vergehen, um für es klar werden zu
können, dass sein Leben mit dem Leben seines Großvaters in gewissem Sinne similar
ist. Sowohl der Großvater als auch der Enkel vertreten den ähnlichen Lebensstil, der
nach dem Erzähler sich „miteinander verständigt“250 haben könnte. Solches Fazit kann
vom Ich erst nach fast einem halben Jahrhundert konstruiert werden. So viele Zeit hat
er jedoch gebraucht, um mit „dem vergilben Durchschlagspapier“ seines Großvaters
zurechtzukommen, bzw. auf ihre „Schlichte zu kommen“.251 Der Narrator bedient sich
hier zweifellos der observer memories.252 Sein Rückblick auf die Erinnerung wird
durch seine distanzierte Haltung determiniert, indem er fähig ist, gewisse vergangene
Aspekte dank „frischem“ Blick neu anzusehen.
5.7
Zum ‚Wie’ der Darstellung
Wie Martinez und Scheffel bemerken, sollte die Erzähltheorie unter dem Aspekt Wie
(dem „Erzählen“) und Was (dem „Erzählten“) berücksichtigt werden. Während das
„Erzählte“ entspricht der Handlung, bzw. der erzählten Welt, betrifft das Wie der
bestimmten Darstellungsverfahren. Aus diesem Grund wird das Erzählen im Text durch
eine entsprechende Reihenfolge geäußert. Als eine der wichtigsten Phänomene gilt hier
die Zeit. Aus Rücksicht auf die Tatsache, dass „Erzählen immer <ein Erzählen von
etwas> bedeutet“253, werden zwei Zeitvorgänge d.h. Erzählzeit und erzählte Zeit
gegenübergestellt. Es muss dabei exponiert werden, dass man nach dieser Thematik
schon in den 1940er Jahren aufgegriffen hat. Die besondere Position hat in diesem
Bereich Günther Müller254 genommen. In seiner Hinsicht ist die Erzählzeit eine Form
der Zeit, die „der Erzähler braucht, um die Erzählung wiederzugeben bzw. der Leser im
ganzen braucht, um die Geschichte zu lesen.“255 Das Wesentliche besteht darin, das sich
249
Wackwitz 2003, S. 35.
Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2005, S. 35.
251
Vgl. ebd., S. 35.
252
Anders gesagt: die „Beobachter-Erinnerungen”. Dazu ausführlich schreibt: Schacter, L. Daniel:
Searching for memory. The brain, the mind and the past. New York: Basic Books, 1996, S. 21.
253
Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2005, S. 30.
254
Vgl. Karoussa, Nadia: Entstehung und Ausbildung des personalen Erzählens in der Mitte des 19.
Jahrhunderts. Grundfragen einer Narrativik deutschsprachiger fiktionaler Texte unter besonderer
Berücksichtigung der Erzähltechnik Theodor Storms. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms
Verlag 1983, S. 75.
255
Vgl. ebd., S. 75. Zitiert nach: Müller, Günther: Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst. In: Ders.
Morphologische Poetikgesammelte Aufsätze von Günther Müller, Helga Egner, Elena Müller
Mitwirkende Personen Elena Müller. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1968, S. 269-286.
250
59
diese zeitliche Ebene durch den Seitenumfang bemisst. Der zweite Zeitvorgang d.h. die
erzählte Zeit wird hingegen durch konkrete Zeitangabe bezeichnet. Diese Korrelationen
werden präzise am Beispiel von Stephan Wackwitz’ „Ein unsichtbares Land“
verdeutlicht. Während die Erzählzeit hier 286 Seiten entspricht, umfasst die erzählte
Zeit einen Zeitraum von zirka fünfzig Jahren. Es ist an dieser Stelle hinzudeuten, dass
das Buch aus zwei verschiedenen Perspektiven erzählt wird. Es hat gewissermaßen zwei
Ich-Erzählers. Der Haupterzähler, Stephan Wackwitz, erzählt vorwiegend über die
Nachkriegsrealität, also über die Zeit, in der er aktiv beteiligen konnte. Die von ihm
beschriebenen historischen Tatbestände aus der Vorkriegs-, und Kriegsrealität dienen
hier dagegen nur als ein gewisser Kommentar dazu, was er sich von seinem Großvater
(Andreas Wackwitz) und teilweise von seinem Vater (Gustav Wackwitz) erkundigt.
Es loht sich an dieser Stelle auf Gerard Genette zu berufen. Dieser systematisiert das
Verhältnis zwischen der Zeit der Formen Wie und Was mit Hilfe folgender drei
Parameter: 1) Ordnung (Reihenfolge das Geschehen in einer Erzählung), 2) Dauer
(zeitliche Dauer eines Geschehens in einer Erzählung), 3) Frequenz (Wiederholung
eines Geschehens in einer Erzählung).256
Im Hinblick auf die erste Komponente muss veranschaulicht werden, dass es eng mit
der „Gesamtheit dessen, was erzählt wird“257 verbunden ist. Die Handlung besteht aus
folgenden Elementen: 1) aus dem Ereignis, 2) aus dem Geschehen, 3) aus der
Geschichte.
Während
das
„Geschehen“
durch eine Reihe von bestimmten
Erzählereignissen in Form der Einheit in eine Geschichte einbezogen wird, muss eine
„Geschichte“ zusätzlich auf den chronologischen bzw. kausalen Zusammenhang der
Ereignisfolge verweisen.258 Im Fall des Buches „Ein unsichtbares Land“ spricht man
von einer Familiengeschichte, die sich doch aus mehreren Episoden, d.h. aus relativ
abgeschlossenen Teilhandlungen besteht. Insgesamt setzt sich der Familienroman aus
18 Kapiteln zusammen. Die Chronologie der Ereignisse wird hier abgebrochen, indem
das Buch durch eine „narrative Anachronie“259 gekennzeichnet wird. Diese
256
Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2005, S. 32-36 und 45.
Ebd., S. 189.
258
Vgl. Ebd., S. 25.
259
Vgl. Blum, David: Anachronie des Erzählens. München: GRIN Verlag 2008, S. 8-10.
257
60
anachronische Darstellung wird durch zwei Formen inszeniert: 1) durch Analepse bzw.
Rückwendung, 2) Prolepse bzw. Vorausdeutung.260
Es ist zu bedenken, dass sich der Familienroman von Stephan Wackwitz verschiedener
zeitlichen Ebenen bedient. Die Gegenwartsebene folgt ihre vergangene Form
nebeneinander und umgekehrt. Solches Verfahren hat zum Ziel, verschiedene zeitliche
Register zusammenzusetzen. Interessant dabei ist, dass jedes Kapitel im Buch in medias
res beginnt. Nach der Auffassung von Carsten Gansel bedeutet solcher Textanfang
einen bestimmten Zeitpunkt, der mitten in der Geschichte gewählt wird. In solcher
Form gilt er als Beginn für das Erzählen.261 Wenn diese Feststellung weiter verfolgt
wird, dann erweist sich, dass sie eine Basis für die so genannte aufbauende
Rückwendung262 bildet. Diese Form der Analepse ermöglicht dem Erzähler, die
„Hintergründe einer zunächst unvermittelt präsentierten Situation“263 näher zu bringen.
Stephan Wackwitz akzentuiert dieses Darstellungsverfahren unter anderem im Kapitel
„Unverhofftes Wiedersehen“: „Es was ein merkwürdiges Einschreiben, das mein Vater
an einem Frühlingstag des Jahres 1993 an der Tür seines Hauses am Bodensee zu
quittieren hatte.“264 Der Narrator erwähnt hier absichtlich über „ein merkwürdiges
Einschreiben.“265 Es gilt als ein spezifischer Zeitpunkt, unter dem sich eine
geheimnisvolle familiäre Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg versteckt. Präziser
gesagt geht es um das „unverhofftes Wiedersehen“ mit der Kamera, die schon nach
vielen Jahren einen eingelegten und belichteten Film enthält. Der von dem Erzähler
verwendete Anfang in medias res verursacht, dass der Leser sich selbst eine
Chronologie dieses Ereignisses zusammenstellen muss. Erst dann kann er die konkreten
Zusammenhänge einsehen und sie zugleich verstehen.266 Die aufbauende Analepse
veranschaulicht der Erzähler auch im Kapitel „Ein unsichtbares Land“
„Besuch in Anhalt: Der Blick von der Autobahn aus geht über ein tief liegendes
Marsch- und Sumpfland, in dem niedrige Birken, Eichen und Kiefern wachsen, in
feuchten Senken Riedgras; Wiesen, Zaune, Teiche und Busche. Eine
Eisenbahnlinie am Horizont, das Schwungrad eines Forderturms in der Ferne, im
Vordergrund weiße Baustofftanks der Firma Dyckerhoff.“267
260
Vgl. Blum, David: Anachronie des Erzählens. 2008, S.11-13. Zitiert nach Genette, Gerard: Die
Erzählung 2 1998, S. 23. Siehe dazu auch: Lämmert, Eberhard: Bauformen des Erzählens. Stuttgart:
Metzler Verlag 1955, S. 100-108 und 139-141.
261
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur 1999, S. 74.
262
Mehr dazu in: Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 1999, S. 30-32.
263
ebd., S. 30-32S.
264
Wackwitz 2003, S. 12.
265
ebd., S. 12.
266
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur 1999, S. 74.
267
Wackwitz 2003, S. 134.
61
Diese untypische Einführung mitten in der Geschichte verknüpft sich mit der
Enthüllung eines familiären Erinnerungsdiskurses. Das zeigt sich doch im weiteren
Verlauf der Geschichte. Die am Anfang des Textes betonte Feststellung „Besuch in
Anhalt“ lässt sich eher als eine gewisse Art der mentalen Zeitreise erkennen, die sich
sowohl für den Ich-Erzähler als auch für seinen Vater (Gustav) als ein kostbares und
ein unvergessliches Erlebnis herausgestellt hat. In diesem Kontext muss das
Generationengedächtnis berücksichtigt werden. Dieses kreist wiederum um die
„Gespenster der Vergangenheit“, die auf verschiedene Art und Weise vom Erzähler
gezeigt wird. Der Narrator äußert sich aus der Perspektive einer erwachsenen Person.
Obwohl er 51 Jahre ist, kann er sich ganz gut an seine Kindheit und Adoleszenz
erinnern. Auf die Spuren seiner Familie kommt er vor allem dank dem Kriegstagebuch
des Großvaters. Seine detaillierten Beschreibungen gestalten das Bildnis der
verwirrenden politischen Zeiten des 20. Jahrhunderts. Über seinen Ablauf spricht
Andreas Wackwitz in der folgenden Textpassage:
„Das alles und noch mancherlei ist im Telegrammstil und streng chronologisch
nach dem Kalenderablauf in zwei dicken Heften aufgezeichnet, und zwischen den
Seiten liegen Konzertprogramme, Gefechts-Skizzen, Bataillonsbefehle, dienstliche
Gefechtsberichte, Fahrscheine, getrocknete Blätter, Federn von Wildenten, ein
Verwundetenzettel, drei reizende Briefe einer jungen Französin, eine blonde Locke
mit rotem Band […]“268
Aus dieser Aussage tritt ein Bild eines peinlichen und zugleich pedantischen Mannes
hervor. Offensichtlich wird hier, dass sein Hang zur Ordnung auch seine Mentalität und
Lebensprinzip ist. Als Schlüsselbegriffe gelten solche Wörter bzw. Ausdrücke wie:
„Telegrammstil“, „streng chronologisch nach dem Kalenderablauf“. Nach dem Inhalt
des Tagesbuches lässt sich festhalten, dass es nicht nur auf politische Reflexionen
sondern auch auf den Alltag eingestellt wird. Davon zeugen: “Konzertprogramme“,
„getrocknete Blätter“, „Federn von Wildenten“, „drei reizende Briefe einer jungen
Französin“ oder „eine blonde Locke mit rotem Band“.269 Solcher Charakter des
Tagebuches folgt aus Wackwitz’ Überzeugung, dass über den Ernst des Krieges, seines
Grauens und seiner Problematik nicht zu oft besprochen werden sollte. Das Tagebuch
spielt eher eine Rolle der Abwehreaktion von der schrecklichen Wirklichkeit. Es ist
sozusagen „eine Art der Panzer“.270 Es muss dabei eine wichtige Anmerkung gemacht
werden. Wie Stephan Wackwitz signalisiert, kommt auch vor, dass manche
268
Wackwitz 2003, S. 84.
ebd., S. 84.
270
Ebd., S. 85.
269
62
Tagebuchstelle seines Großvaters erst nach vielen Jahren mit den Kommentaren
ausgestattet werden. Als ein gutes Beispiel gilt das Fragment aus dem Tagebuch, das
Bezug auf 1918 nimmt. Relevant dabei ist, dass Andreas Wackwitz’ Kommentar dazu
erst von 1956 ist. Daraus ergibt sich eine zeitliche Spanne von 38 Jahren. Dieser
Unterschied scheint wie eine tiefe Kluft zu sein. 1918 war Wackwitz ein junger Mann,
in 1933 war er vierzig und in 1956- sechsunddreißig. Damals schon, wie der Erzähler
berichtet, saß er „stumm und weinerlich am Frühstückstisch“.271 1918 hat er auf
folgende Art und Weise kommentiert:
„Ich habe das Gefühl, dass eine Revolution fällig ist, und schreibe ins Tagebuch:
<Was soll werden?> Zu fragen, ist Blödsinn […] Mag das Reich
auseinanderbrechen, wir richten ein neues auf, der deutsche Geist muss wieder
siegen […] Es war die Sorge um die Erhaltung der Volkssubstanz und auf die
inneren Kräfte im deutschen Volk.- Die Revolution kam dann ja bald, aber ohne
Geist mit roten Fahnen, schmutzigen Händen und dummen Hetzreden.
Rückschauend frage ich wiederum: ist es ein Wunder, daß alle, die wie ich sie
erwartet hatten und von ihr dann bitter enttäuscht wurden, - und das waren wir
alten Frontsoldaten fast alle- 15 Jahre später dann glaubten, nun sei es soweit?“272
Wie diese Bemerkungen zeigen, lassen sie sich trotz des Verlaufs der Jahre durch
Emotionalität und Expressivität erkennen. Es wird hier besonders zu bemerken, dass
die Hitlers Propaganda eine äußerst effektive Rolle abgespielt hat. Die von der
Regierung angekündigten Veränderungen im Land haben nämlich große Neugier mitten
in der deutschen Gesellschaft erregt. Ihre Hauptparole war „Revolution mit dem Geist“.
In der Tat erweist sie sich doch eine Revolution „mit roten Fahnen, schmutzigen
Händen und dummen Hetzreden“273 zu sein. Erstaunlich dabei ist, dass dieses nationale
Konzept immer wieder im Kopf von Andreas Wackwitz und seiner Generation lebt.
Entscheidend ist hier die Feststellung: „Es war die Sorge um die Erhaltung der
Volkssubstanz und auf die inneren Kräfte im deutschen Volk.“274 Nach Wackwitz ist
die Vision des „deutschen Geistes“ und der „deutschen Volkssubstanz“ höchst
unerlässlich und berechtigt Letztlich bleibt ihn doch eine Reflexion, die zugleich eine
rhetorische Frage ist: „ ist es ein Wunder, dass alle, die wie ich sie erwarten hatten und
von ihr dann bitter enttäuscht wurden, - und das waren wir alten Frontsoldaten fast alle15 Jahre später dann glaubten, nun sei es soweit?“ Offensichtlich wird hier, dass der
Misserfolg des deutschen Systems die Lebenserwartung von Andreas Wackwitz nicht
verändert hat. Durch den Rest seines Lebens wird er denn tief davon überzeugt, dass
271
Wackwitz 2003, S. 105.
Ebd., S. 104.
273
ebd., S. 104.
274
ebd., S. 104.
272
63
seine Heimat noch ein neues deutsches Reich gerichtet wird, wo der deutsche Geist als
Sieger triumphiert werden könnte. Wackwitz’ Glaube an den Sieg war eine der
wichtigsten Ursachen, für die er sich entschieden hat, freiwillig und von Anfang an
zuerst an der galizischen Front, dann an den flandrischen Schützengräben und
schließlich an den Schlachten teilzunehmen.275 In der Perspektive des Erzählers war das
für seinen Großvater viel wichtiger als seine Studienzeit oder intellektuelle bzw.
künstlerische
Erfahrungen.276
Aus
diesem
Engagement
im
Krieg
entstehen
unterschiedliche oft dramatische bzw. traumatische Erlebnisse, die in Form der
Reflexionen und der Überlegungen im Tagebuch ausgedrückt werden. An dieser Stelle
sollte ein Fragment „Zwei Überlebende“ aus dem Kapitel „Vier Kriege“ angeführt
werden:
„Am 3.Juli 1915 rücken wir vormittags in unseren Angriffsraum, liegen und essen
in einem Wald zuerst vor. Die russische Artillerie flankierte uns von links mit
Schrapnells, und es gab allerlei Verluste […] Ich erhalte einen scharfen Schlag
gegen das linke Knie und knicke zusammen […] Das Knie fängt an, wie Feuer zu
brennen. Ich merke, dass sich der Stiefel mit warmen Blut fällt […] Ich hatte viel
Blut verloren und nahm nur oberflächlich wahr, daß noch andere Sanitäts- Soldaten
da waren, die sich um den einen der beiden Verwundeten meiner Gruppe
bemühten. Der arme Kerl hatte 3 Schrapnellkugeln in Brust, Arm und Bein
erhalten. Der andere hatte nur eine Handverletzung, er konnte mit eigener Kraft
zum Truppenverbandsplatz […] Um das Herz zu stützten, spritzte er 4 ccm. Oleum
camphori und gab mir zur Schmerzlinderung- denn ich schrie laut, als er in der
Wunde rumfummelte- 0,02 ccm. Morphium […]“277
Es stellt sich an diesem Punkt heraus, dass Andreas Wackwitz nicht imstande ist, vor
der Kriegsproblematik und ihrem Grauen zu flüchten. Zwar hat er in seinem Tagebuch
über „eine gesunde Abwehrreaktion“278 geschrieben, aber in diesem Fall geht es um die
spezifischen Lebenserfahrungen, die durch den dramatischen Charakter ihres Ablaufs
im Wackwitz’ Gedächtnis als Trauma bewahrt wurden. Dieses wird hier aufgrund von
plastischen Bildern fixiert: „Ich erhalte einen scharfen Schlag gegen das linke Knie und
knicke zusammen“279, „Das Knie fängt an, wie Feuer zu brennen. Ich merke, dass sich
der Stiefel mit warmen Blut fällt“280, „Der arme Kerl hatte 3 Schrapnellkugeln in Brust,
Arm und Bein erhalten“281 oder „Um das Herz zu stützten, spritzte er 4 ccm. Oleum
camphori und gab mir zur Schmerzlinderung- denn ich schrie laut, als er in der Wunde
275
Vgl. Wackwitz 2003, S.41.
ebd., S. 41.
277
Ebd., S. 90f.
278
Ebd., S. 84.
279
Ebd., S. 90
280
ebd, S. 90.
281
ebd. S. 90.
276
64
rumfummelte- 0,02 ccm. Morphium“.282 In diesem Zusammenhang hält man fest, dass
Wackwitz’ Bemerkung über die Menschen, die die Panzer nicht kannten, äußerst
unzutreffend ist. Nach seiner Meinung sind denn solche Personen schwach, feige oder
schwermütig.283 Wenn man sich genau dem Krieg bzw. seinem Bild des Schreckens
ansieht, kommt in den Sinn keine Feigheit bzw. keine Schwermut eines Soldaten. Die
Kriegsrealität wird eher als einen heroischen Kampf seiner Beteiligten gesehen. Dieser
realisiert sich vorwiegend durch den „inneren Kampf“, der im Endeffekt viel
komplizierter als die Sachkenntnisse ist.
Abgesehen von Andreas Wackwitz’ Teilbriefen lässt sich festhalten, dass die
anachronische Dimension der Zeitdarstellung vor allem durch Stephan Wackwitz, d. h
durch den erzählenden Protagonist präsentiert wird. Seine Zeitsprünge verbinden sich
mit bestimmten Ereignissen. Diese beeinflussen wiederum seine Familiengeschichte, in
der er auch seine Teilnahme hat. In Bezug darauf erinnert er sich an folgende Zeit: „Es
war ein bedeckt- windiger Sommertag im Jahr 2000“284 Dieses Fragment des Textes
nimmt Bezug auf das Kapitel „Ein unsichtbares Land“. Es handelt sich um eine
Begegnung zwischen zwei Generationen, d.h. zwischen dem Sohn (Stephan) und dem
Vater (Gustav). Beide treffen sich in Anhalt. Sowohl Stephan als auch Gustav erfahren
in gewissem Sinne eine sentimentale Zeitreise. Es ist doch dabei zu bemerken, dass sie
anders beim Vater als beim Sohn verläuft. Die spezifischen Orte aus Anhalt wie
Gebäude, Bäume und Straßen werden von Gustav Wackwitz als Zeit seiner Jugend
empfunden. Für seinen Sohn, Stephan, haben sie schon nicht so große Bedeutung. Er
kennt ihre Geschichte nur aus den Photos und aus den Erinnerungen seines Vaters und
Großvaters. Die gemeinsame Suche nach den vergangenen Spuren erweist sich doch für
beide eine Reise im Innersten. Der Ich-Erzähler beschreibt diese Situation mit
folgenden Worten:
„In zwei Stunden, die wir am Nachmittag in Anhalt waren, schob sich die
Erinnerung auf Schritt und Tritt vor die- dadurch seltsam erwarteten und etwas
unbestimmt Gespenstisches annehmenden-zeitgenössischen Überreste der
friderizianischen Weberkolonie Anhalt […] und mehr als einmal ergab sich für
Vater und Sohn Gelegenheit, darüber nachzudenken, ob die so genannte
Wirklichkeit, die uns meistens als etwas unbestreitbar Festes, Undurchdringliches
und Körperhaftes erscheint, nicht vielmehr eher ein lockeres und veränderliches
Gewebe aus Erinnerungen, Geistern, Stimmungen ist und erst in zweiter Linie aus
Tatsachen und Gegenständen besteht.“285
282
Wackwitz 2003, S. 91.
Vgl. Ebd., S. 84.
284
Ebd., S. 134.
285
Ebd., S. 136.
283
65
Der ausgesprochene Charakter dieser Aussage besteht darin, dass sie auf spezifische
Beziehungen zwischen dem Vater und dem Sohn verweist. Obwohl beide Männer die
Repräsentanten verschiedener Generationen sind, werden sie als das „Ganze“
wahrgenommen. Es gibt hier keine Missverständnisse und keine gegenseitigen
Streitigkeiten. Sowohl der Vater als auch der Sohn wollen nur darüber nachdenken, „ob
die so genannte Wirklichkeit, die uns meistens als etwas unbestreitbar Festes,
Undurchdringliches und Körperhaftes erscheint, nicht vielmehr eher ein lockeres und
veränderliches Gewebe aus Erinnerungen, Geistern, Stimmungen ist und erst in zweiter
Linie aus Tatsachen und Gegenständen besteht.“286 Interessant dabei wird, dass solcher
Umgang zur Frage der Erinnerung durch einen kurzen Aufenthalt (zwei Stunde) in
einem Ort inspiriert wurde. Das ist nur ein Beweis dafür, dass das menschliche
Erinnerungsvermögen stets dem Raum und der Zeit unterstellt ist.
Wenn das Durchbrechen der chronologischen Ordnung weiter verfolgt wird, dann stellt
sich heraus, dass das Kapitel „Im Palast des Kaisers“, im Gegensatz zur späteren
Episode „Ein unsichtbares Land“, über die Ereignisse aus dem 2001 behandelt. Der
Ich-Erzähler fokussiert sich an diesem Punkt des Buches auf das ungewöhnliche gelbe
Heft, das aus 1959 stammt:
„So bin ich im Frühling 2001, das gelbe Heft mit den seit 1959 schon ein bisschen
aufgelösten, verwischt und weich gewordenen Kohlepapierlettern in der Hand,
lange im tropfenden und duftenden Garten meines Urgroßvaters gestanden.287
In dieser Textpassage spielt die Zeitspanne eine besondere Rolle. Obwohl der Narrator
auf seine gegenwärtige Position hindeutet, wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf das
Datum 1959 gelenkt. Dieses Jahr hängt eng mit den Ursprüngen der familiären
Aufzeichnungen und zugleich des kulturellen Archivs zusammen. Das wichtigste liegt
doch darin, dass es drei, sich scheinbar einander abschließende Generationen ringsum
sich versammelt und verbindet. Es lässt sich demnach in diesem Fall festhalten, dass
die Geschichte ihre weiteren Kreise zieht.
Wenn die Ordnung unter dem Aspekt der Vorausdeutung berücksichtigt wird, muss
darauf Wert gelegt werden, dass im Familienroman von Stephan Wackwitz die so
genannte einführende Vorausdeutung und zukunftsungewisse Vorausdeutungen
286
287
Wackwitz 2003, S. 136.
Ebd., S. 123.
66
288
dargestellt werden. Die erste Form offenbart sich im Buch schon durch den kurzen
Inhaltsangabe
und
durch
den
Kapitelüberschriften:
„Geister“,
„Unverhofftes
Wiedersehen“, „Das Schweigen“, „Chamelon Years“, „Die Transusigkeit“, „Eine
erfundene Geschichte“, „Vier Kriege“, „Im Palast des Kaisers“, „Eine Insel im
südlichen Pazifik“, „Ein unsichtbares Land“, „Fünf Professoren/Träume von Jürgen
Habermas“,
„Verlassene
Zimmer“,
„Die
Jacaranden
von
Madeira“,
„Schlangengeschichte“, „Mord“, „Kleine Propheten“, „Die Toten“, „Schiffbruch“.
Besonders beachtenswert ist das Kapitel: „Ein unsichtbares Land“. Dieses ist auch ein
Buchtitel, der wiederum sich auf die relevanten historisch-politischen Ereignisse
bezieht. In diesem Zusammenhang spricht man über die wilhelminische Ideologie, über
zwei Weltkriege, über die Etablierung der BRD.289 In dieser Wirklichkeit wird Andreas
Wackwitz verankert. Diese nostalgische Erinnerung an ein „unsichtbares bzw. an ein
untergegangenes Land“ steht doch in Opposition zu anderem Weltbild, das mit der
Generation der 1968er Jahre assoziiert wird. Darunter wird vor allem Stephan
Wackwitz’ Studienzeit gemeint. Das Weltbild der ehemaligen Zeiten basiert auf der
Überzeugung, dass die Bundesrepublik stets an Faschismus orientiert ist. Es ist schon
ein gewisses Schandmal dieses Staates, das letztlich ihn zur seinen Dämonisierung
führt.290 Angesichts dieser Fakten scheint ein Disput zwischen den „älteren“ und
„jüngeren“
Generationen
immer
wieder
kontrovers
zu
sein.
Im
Fall
der
zukunftsungewissen Vorausdeutungen verweist der Erzähler einerseits auf „scheinbar
zukunftsweisende Träume“291 andererseits auf die Prophezeiungen, die in hohem Masse
mit Rudi Dutschke292 verbunden sind. Die vom Stephan Wackwitz beschriebenen
Träume resultieren aus den Erfahrungen seiner Familienmitglieder. Eine der
wichtigsten Personen ist hier die Mutter. Diese, wie der Erzähler andeutet, „war nur
288
Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2005, S. 38. Mehr dazu in:
Vogt, Jochen: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie.
München: C. Bertelsmann Verlag 1972, S. 52-54.
289
Vgl. Eigler, Friederike: Gedächtnis der kulturellen und familiären Archive: Ein unsichtbares Land von
Stephan Wackwitz. In: Betten/Anne; Steinecke, Hartmut/ Wenzel, Horst (Hrgs.): Gedächtnis und
Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. Philologische Studien und Quellen. Heft 192.
Berlin: Erich Schmidt Verlag 2005, S. 186; Siehe auch dazu: Assmann, Aleida: Geschichte im
Gedächtnis von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung 2007, S. 84-86.
290
Vgl. Eigler, Friederike: Gedächtnis der kulturellen und familiären Archive: Ein unsichtbares Land von
Stephan Wackwitz. 2005, S. 186.
291
Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2005, S. 38.
292
Rudi Dutschke nahm an den West-Berliner Studentenbewegung in der 1960er Jahre teil. E war dort
vor allem ein Wortführer. Mehr dazu in: Kraushaar, Wolfgang (2007, 20. August): Rudi Dutschke und
der bewaffnete Kampf. Die Geschichte der RAF. Bundeszentrale für politische Bildung:
http://www.bpb.de/themen/AWRK73,0,0,Rudi_Dutschke_und_der_bewaffnete_Kampf.html (Zugriff
am 21.Mai 2009).
67
vierundvierzig, als sie zum ersten Mal den Tod sah“293 1944 wurde sie während eines
Tieffliegerangriffs verletzt. Viel Zeit hat sie im Krankenhaus verbracht, wo sie sich in
einem Zustand zwischen Leben und Tod befunden hat. Über ihren ungewöhnlichen
Traum hat sie erst nach einigen Jahren erzählt:
„Es klingelte im Traum an der Tür des Hauses am Esslinger Zollberg, das mein
Großvater 1926 mit dem Erlosen seines erfolgreichsten Patents gebaut hat. Sie
öffnete, und auf den Travertinplatten, zwischen den großen Rosenbuschen des
Vorplatzes, stand schweigend der Tod, ein Skelett im schwarzen Randmantel, die
Sense über der Schulter. Meine Mutter warf die Tür zu und versteckte sich in der
Speisekammer. Und statt ihrer ging im Traum meine Tante, die damals in
Wirklichkeit als Luftwaffenhelferin in Norddeutschland war und von der Familie
wochenlang keine Nachricht gehabt hatte, zur Tür machte sie auf und sagte <Geh
weg. Du hast hier nichts zu suchen.“294
Dieser Traum zeichnet sich durch einen bildlichen Charakter aus. Der Erzähler
beschreibt ihn akribisch. Bevor der Leser zur eigentlichen Thematik hinzugeführt wird,
bildet der Narrator ihre räumliche Kulisse. Das heißt, dass er im Text solche Einheiten
wie Ort, Zeit platziert: „ […] Tür des Hauses am Esslinger Zollberg, das mein
Großvater 1926 mit dem Erlosen seines erfolgreichsten Patents gebaut hat.“295 Danach
konzentriert sich der Erzähler auf die Einzelheiten: „zwischen den großen
Rosenbuschen des Vorplatzes, stand schweigend der Tod, ein Skelett im schwarzen
Randmantel, die Sense über der Schulter“296 Der wichtigste Aspekt dieser Geschichte
rekurriert doch auf ein ganz unerwartetes Wiedersehen von Wackwitz’ Tante, die „von
der Familie wochenlang keine Nachricht gehabt hatte“297. Diese macht einfach die Tür
auf und sagt zu ihrer Schwester: „<Geh weg. Du hast hier nichts zu suchen.>“ 298 Wie
sich später erweist, haben diese Worte eine prophetische Dimension Die Mutter wird
wieder gesund. Nach zwei Wochen erscheint hingegen ihre liebe jüngere Schwester, die
in gewissem Sinne schon früher ihre Heimkehr angekündigt hat. Als der nächste,
bedeutsame Traum gilt Andreas Wackwitz’ „Ein Traum von Osten“. Dieser verbindet
sich nicht nur mit einer gewissen Form der Prophezeiung, sondern auch mit der
besonderen Art des Ausdrucks von Gefühlen:
„Als ich einmal nachts von 3-4 Uhr als Wache am Zuge entlang patrouillierte,
überfiel mich das Erlebnis der schneebedeckten, ebenen Weite der Landschaft, in
der die Dörfer elend, geduckt und armselig zerstreut schweigend im Sternlicht
dalagen, mit großer Gewalt. Es war der Osten, der mir zum ersten Mal richtig ins
293
Wackwitz 2003, S. 94.
Ebd., S. 97.
295
ebd., S. 97.
296
ebd., S. 97.
297
ebd., S. 97.
298
ebd., S. 97.
294
68
Blickfeld kam. So fremd er vor mich hintrat, so spürte ich doch auch eine
unerklärlich-geheimnisvolle Lockung von ihm ausgehen. War es der unbewusste
Drang in die freie Weite, den ich später so oft in Südafrika fühlte, war es der Sog
des auf Tat und Unterwerfung wartenden Ostlandes, dem die mittelalterlichen
Vorfahren gefolgt waren, oder war es die polnische Großmutter, die in mir
rumorte?“299
Aus dieser spezifischen Wahrnehmungsweise tritt ein Mensch hervor, der verschiedene
Bedanken hat. Er weißt nicht in Wirklichkeit, was ihn im Osten antreffen kann. Es gibt
nur „das Erlebnis der schneebedeckten, ebenen Weite der Landschaft, in der die Dörfer
elend, geduckt und armselig zerstreut schweigend im Sternlicht dalagen, mit großer
Gewalt.“300 Wackwitz ist nur davon überzeugt, dass der Osten völlig fremd für ihn ist.
Paradox erweist sich zugleich dieses Land für ihn als eine „unerklärlich,
geheimnisvolle Lockung“301. Diese innere Diskrepanz ruft eine Reihe von eher
rhetorischen Fragen hervor: „War es der unbewusste Drang in die freie Weite, den ich
später so oft in Südafrika fühlte, war es der Sog des auf Tat und Unterwerfung
wartenden Ostlandes, dem die mittelalterlichen Vorfahren gefolgt waren, oder war es
die polnische Großmutter, die in mir rumorte?“302 Im Kontext der deutsch-polnischen
Beziehungen ist die letzte Frage von besonderer Bedeutung. Die von Wackwitz
benutzte Formulierung „die polnische Großmutter, die in mir rumorte“ zeigt, dass das
Verhältnis des deutschen Soldaten zum Osten noch unbestimmt ist. Der Mann macht
einen Eindruck, als fühle er sich verwirrt. Man kann doch vermuten, dass dieses Land
gewissermaßen positive Empfindungen beim ihm hervorrufen. Andreas Wackwitz’
Konfrontation mit der östlichen Realität wird im Kapitel „Ein unsichtbares Land“
gezeigt. Diese wurde in Form eines Ausschnitts aus dem Tagebuch gefasst:
„Dort bin ich angekommen. Ich wollte sagen, dass diese ganze Landschaft um
Anhalt herum den Frieden einer stillen, kleinbäuerlichen Welt atmete. Die Toten
lagen im Schatten der Kirche und hatten ihre Ruhe, und die Lebenden gingen
ihrem bescheidenen Lebensunterhalt in bäuerlicher Arbeit nach, in die die
moderne Technik noch nicht eingedrungen war. Die bäuerliche
Existenzgrundlage war schmal, in Anhalt hatte jeder Wirt seit den Anfangszeiten
der Kolonie nur 3.5 h in Eigenbesitz, in Gatsch war es etwas mehr, und deshalb
gingen viele Männer zur Eisenbahn auf die Grube. Die Wohnungen waren eng
und die Familien meist zahlreich, und ich war immer wieder erstaunt, in welchem
Frieden und in mit welchem Geduld die Leute miteinander lebten […].“303
An dieser Stelle muss angedeutet werden, dass Anhalt infolge der Entscheidungen nach
dem Ersten Weltkrieg ein polnisches Dorf wurde. Andreas Wackwitz ist in das Dorf als
299
Wackwitz 2003, S. 98.
ebd., S. 98.
301
ebd., S. 98.
302
ebd., S. 98.
303
Ebd., S. 146.
300
69
ein junger Vikar nach den dramatischen Ereignissen gekommen. Historisch gesehen
wurde das deutschsprachige Dorf von polnischen Aufständischen verwüstet und
abgebrannt. Manche Nachkommen sind dabei ums Leben gekommen. Viele haben ihr
Vieh und ihre Häuser verloren.304 Der Erzähler verweist dabei noch auf einen anderen
Aspekt, der im Zusammenhang mit diesem „deutsch-polnischen Dorf“ wichtig ist:
„[…] niemand konnte daran glauben, dass Anhalt/Hołdunów siebzig Jahre später noch
immer polnisch sein würde. Und auf keinen Fall hat Andreas Wackwitz eine Ahnung
davon gehabt, dass er die Lebensformen des expatriot nicht nur an seinen Sohn,
sondern auch an einem Enkel weitervererben würde.“305 Das Dorf überrascht den
Priester. Die menschliche Existenz wird hier durch eine friedliche Stimmung und durch
die tägliche Arbeit bestimmt. Obwohl es an einer modernen Technik fehlt, hat jeder
Wirt seinen Eigenbesitz, der wiederum von jedem mit großer Vorliebe und Ehre
behandelt wird. Das, was Andreas Wackwitz in Erstaunen versetzt, ist die gegenseitige
Menschenfreundlichkeit
unter
den
Bewohnern.
Trotz
der
extremen
Wohnungsverhältnisse glauben sie ununterbrochen an das biblische Gebot: „Liebe
deine Nächste wie dich selbst“.306 Im Hinblick auf die spezifische Art der
Vorausdeutung muss noch hinzugefügt werden, dass sich eine der wichtigsten
„Prophezeiungen“ des Erzählers im Kapitel „Der Schlangegeschichte“ befindet. Dort
notiert der Narrator über folgende Fakten:
„[…] so unzweifelhaft weiß sein Enkel im Jahr 2001, dass das Böse, dass ihm
damals, ohne dass er wusste, so lang und so hartnäckig nah gewesen ist [….] dass
das Böse, dessen unverstellter Realität und Konsequenz sein Leben lang immer
wieder um Haaresbreite entgangen ist, in Wirklichkeit zu Hause auf ihn gewartet
hat.“307
Dieser Reflexion verweist auf eine Reihe von unerwarteten Ereignissen, die für immer
Andreas Wackwitz’ Leben verändert haben. Diese, im Unterschied zu den
afrikanischen Abenteuern, haben in der Tat gezeigt, was sich unter „dem Bösen“
versteckt hat. Wie der Erzähler andeutet, hat das Böse „in Wirklichkeit zu Hause auf
ihn gewartet“308. Im metaphorischen Sinne handelt es sich hier um Wackwitz’ Land,
also Deutschland. Das Böse, dass „so lang und so hartnäckig nah gewesen ist“309, hat
ihn de facto durch seine Internierung in England und durch seine Trennung von der
304
Vgl. Wackwitz 2003, S. 143.
Ebd., S. 46f.
306
Vgl. Das Evangelium nach Mathäus, Kapitel 19, Vers 19 bzw. Kapitel 22, Vers 39.
307
Wackwitz 2003, S. 222.
308
ebd., S. 222.
309
ebd., S. 222.
305
70
Familie erreicht.310 Wackwitz’ eigentlicher Kampf um das Leben hat sich demnach erst
begonnen.
Die zeitliche Dauer des Geschehens, mithin die Übereinstimmung von Erzählzeit und
erzählter Zeit311 wird in der Perspektive von Martinez und Scheffel durch erstens durch
zeitdeckendes Erzählen (Szene), zweitens durch zeitdehnendes Erzählen (Dehnung),
drittens durch zeitraffendes Erzählen (Raffung), viertens durch Zeitsprung (Ellipse) und
fünftens durch Pause ausgedrückt. Aus literarischer Sicht tritt jedoch der erste Typ
selten auf. Diese Form hängt am häufigsten mit einer Raffung zusammen. Im
Familienroman „Ein unsichtbares Land“ kommt sie im letzten Kapitel vor:
(1) „<Wie lange wird es dauern, Herr Kapitän?>
<Bis Weihnachten und langer. Was rauchen Sie da, Docteur?
<Dannemann. Auch eine? Es dauert länger.>
<Danke, riecht gut. Die rauche ich morgen.>
<Wenn alles von Bord ist>
<In welchem Boot sitzen Sie, Docteur?>
<Wenn ich drin sitze- dem Boot mit der größten Wasserverdrängung!>
(2) Burfeind nickte. Ich hörte zu. Die verstanden sich.
<Vielleicht kommen wir ins gleiche Lager>, sagte der Kapitän
<Bis wir nach Hamburg kommen, können Sie Doppelkopp>, sagte Lehfeld.“312
Diese Figurenrede stammt aus einem Manuskript, das von Gustav Wackwitz angefertigt
wurde. Dieses ist eine eigentümliche Form der persönlichen Aufzeichnungen.
Wackwitz beschreibt hier eine schwierige Situation des Schiffes <Adolph Woermann>,
das auf der See von den Engländern angegriffen und aufgebracht wurde. Wenn dieses
Fragment unter dem Aspekt des Erzähltempos berücksichtigt wird, dann zeigt sich, dass
Erzählzeit und erzählte Zeit zuerst auf ein zeitdeckendes Erzählen (1) hindeuten. Es
gibt hier keine Erzählerkommentare. Im Vordergrund steht ein Gespräch zwischen
Kapitän Burfeind und dem Fahrgast Lehfeld. Unter dem Vorwand einer prosaischen
Rede
verstecken
sich
doch
konkrete
Gefühle,
die
wiederum
aus
einer
Figurenperspektive präsentiert werden. Dieser Erzähltyp wird doch bald durch einen
Kommentar gekennzeichnet (2). Diese Unterbrechung beeinflusst den Vorlauf des
Gesprächs, wobei deutlich darauf gemacht werden muss, dass die Figurenrede von jetzt
an durch das zeitraffende Erzählen d.h. Raffung charakterisiert wird. Man weiß nicht,
wie lange Kapitän Burfeind genickt hat und wie lange der Erzähler, der hier an der
Szene teilnimmt, zugehört hat. Das konnte entweder ein paar Sekunden oder einige
310
Wackwitz 2003, S. 222.
Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2005, S. 39.
312
Wackwitz 2003, S. 281.
311
71
Minuten dauern. Aus diesem Grund kann man die Schlussfolgerungen ziehen, dass
Erzählzeit kürzer als erzählte Zeit ist.
Die zweite Form, d.h. Dehnung313 kommt dann vor, wenn Erzählzeit länger ist, als das
Ereignis, das in Wirklichkeit in Anspruch genommen wird. Es entsteht etwas wie eine
Zeitlupe, dank der zumeist die Vorgänge zwischen der äußeren und inneren
Wirklichkeit beobachten werden können. Im Familienroman tritt doch dieser Typ nicht
auf. Die vereinzelten Teilbriefe und Abschnitte aus dem Tagebuch, wie „Zwei
Überlebende“ aus dem Kapitel „Vier Kriege“ oder die Beschreibung des Wohnorts von
Andreas Wackwitz im Kapitel „Im Palais des Kaisers“ können zwar einen Eindruck
machen, als wären sie ein Ausdruck des zeitdehnenden Erzählens, aber in Wirklichkeit
dienen sie ganz anderen Zielen. Beide Fragmente kreieren eine bestimmte
Wahrnehmungskulisse, die hingegen Bezug auf ein spezifisches Umfeld und auf eine
gezielte Raumdarstellung nimmt. Das Erzählen wird im Familienroman vorwiegend
durch Raffungen und Ellipse akzentuiert. Während die erste Komponente Stunden,
Tagen, Jahren mit Hilfe eines einzigen Satzes resümiert, lässt das zweite vereinzelte
Zeitabschnitte des präsentierten Geschehens in der erzählerischen Inszenierung frei. In
Anlehnung an das Buch liegt das zeitraffende bzw. summarische Erzählen in folgender
Stelle vor: „Nach einigen Tagen vergeblichen Wartens auf einen Leoparden
beschlossen wir, zur Springbockjagd in die Flache zu reiten.“314 Die Raffung resultiert
an dieser Stelle aus Verwendung der Präposition „nach“. Ziel solches Verfahren ist es,
eine unnötige Dehnung zu vermeiden. Die Raffung erkennt man auch im Kapitel „Die
Toten“. Der Ich-Erzähler knüpft an ein Ereignis aus den 1970er Jahren an. Damals
wurde er zusammen mit seinen Freunden wegen des Todes ihrer Kollegin vernommen
Über dieses Geschehen schreibt er: „In den nun folgenden fünf oder sechs Stunden
verstärkte sich ein Zittern, das mich schon im Polizeiauto erfasst hatte […]“315 Es ist
hier die Unsicherheit einer handelnden Person spürbar. Der Narrator weiß schon nicht,
wie viel Zeit diese Vernehmung gedauert hat. Sie konnte sich über fünf oder sechs
Stunden abgespielt haben. Das Wesentliche liegt doch nicht auf dieser Ebene. Aus
diesem Grund bedient sich der Erzähler gerade dieses summarischen Aspektes des
Erzählens. Im letzten Kapitel des Buches d.h. „Schiffbruch“ wurde noch diese zeitliche
313
Vgl. Ackermann, Susanne: Die Ordnung der Zeit bei Gerard Genette und Eberhard Lämmert. Ein
Vergleich. Ein Studienbuch. München: Grin Verlag 2008, S. 6 und 18.
314
Wackwitz 2003, S. 55.
315
Ebd., S. 252.
72
Tendenz deutlicher gezeigt. Gustav Wackwitz, Stephan Wackwitz’ Vater, berichtet in
seinem Manuskript: „Ich verlor ihn dann eine Weile aus den Augen. Eine Weile,
vielleicht fünf Monate“316. In dieser summarischen Darstellung erinnert sich der
Erzähler an Lehfeld, d.h. an einen Mann, der samt mit ihm sich auf dem Schiff
<Adolph Woermann> befunden hat. Im Laufe der Geschichte erfährt sich der Leser,
dass sie sich viele Jahre später wieder sehen. Diesmal in Kanada, in einem Lager, wo
Lehfeld eine Schule gründet. Dort, ziemlich unerwartet für alle, wurde er eine große
Autorität:
„Wir hatten großartige Lehrer. Geliebt haben wir Lehfeld, den Ursus, das Nilpferd,
den hässlichsten Koloß unter der Sonne, den Ritter von der komischen Gestalt,
zähneknirschend, zitternd, Herkules im Augiasstall. Und er liebte uns. Wie
Sokrates den Alkibiades […].“317
Die Präsenz dieser ungewöhnlichen Persönlichkeit wirkt als ein Beruhigungsmittel auf
zerrütteten Nerven. Lehfeld verursacht, dass der Aufenthalt im Lager mehr erträglich
ist. Die von ihm gegründete Schule in extremen Lebensverhältnissen fungiert als ein
gewisses Sprungbrett von der brutalen Kriegsrealität. Sie lässt teilweise über die Angst
und über die Sehnsucht vergessen. Im desselben Kapitel wird noch einen anderen
Bezug auf das summarische Erzählen genommen. Stephan Wackwitz fasst es mit
diesen Worten zusammen:
“Als ich vor zwei Jahren bei meinem Vater in seinem Haus am Bodensee war,
schenkte er mir die aus dem Krieg zurückgekommene Kamera, auf deren Rückseite
er im November 1939 mit dem Taschenmesser die Worte <Wackwitz Windhuk> in
die schwarze Pappe des Gehäuses geschnitten hat.“318
Die zeitliche Angabe beschränkt sich hier auf die Feststellung, dass sich etwas „vor
zwei Jahren“319 ereignet hat. Es gibt in diesem Fall keine Notwendigkeit, sich streng
chronologisch an dem Datum festzuhalten. Viel wichtiger ist der Tatbestand, dass die
alte Kamera von „Hand zu Hand“ geht. Dieses untypische familiäre Erbe hat eher einen
symbolischen Charakter. Je lieber die familiäre Tradition kultiviert wird, desto länger
wird das Generationen-Gedächtnis fortgesetzt.
Eine ebenso wichtige Rolle spielen die Zeitsprünge, d.h. Ellipse. Schon ihre Vielzahl
suggeriert, dass der Familienroman unter ihrem besonderen Einfluss steht. Als ein gutes
Beispiel kann an dieser Stelle ein Textabschnitt aus dem Kapitel „Fünf
Professoren/Träume von Jürgen Habermas“ gelten: „Dann war es Sommer in Krakau.
316
Wackwitz 2003, S. 284.
Ebd., S. 285f.
318
Ebd., S. 274.
319
ebd., S. 274.
317
73
Es war fünfundzwanzig Jahre später, das letzte Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich
war fast fünfzig Jahre alt.“320 Der Ich-Erzähler beginnt etwas Neues in seinem Leben.
Es sind viele Jahre vergangen. Jetzt ist er fast fünfzig Jahre alt und seine damalige
Existenz bewertet er aus einem gewissen Zeitabstand. Er erinnert sich an seinen
Großvater und zugleich reflektiert er über seine Ausflüge nach Anhalt und
Auschwitz.321 Dieser letzte Ort erzeugt eine besondere Aufregung. Der Narrator
flüchtet nicht vor diesem unbequemen Thema, obwohl es immer wieder ein „wunder
Punkt“ im deutschen Kollektivgedächtnis ist. Direkt schreibt er über die die
Geheimhaltungspolitik der Mordbürokratie322 und über die „Frankfurter- Auschwitz
Prozesse“, derer Ursprünge in den Jahren 1963-1965 liegen. Wie der Erzähler feststellt,
haben erst diese Prozesse den Menschen vor Augen geführt, dass gerade in Auschwitz,
„von 1943 an zwischen eine und zwei Millionen Menschen industriell ermordet worden
waren und ihre Körper, durch Verbrennung entsorgt, als Niederschlag über der Gegend
niedergingen[…]“323 Abgesehen von diesem Hinweis wird über einen Zeitsprung ein
Bezug zur Person von Rudi Dutschkes aufgebaut.
„Rudi Dutschke aber, der vier Jahre alt war, als der Lückenwalder Polizist zu
meinem Großvater kam, trat 34 Jahre später auf dem Dornhaldenfriedhof meiner
Heimatstadt Stuttgart mit erhobener Faust an das offene grab des toten Propheten
Holger Meins […] und rief aus, dass der Kampf weitergehen sollte.“324
Aus diesem Textabschnitt lassen sich Fakten aus dem Leben von Dutschke ablesen.
Rudi Dutschke hat ab 1966 an unterschiedlichen Demonstrationen teilgenommen. Er
hat sich gegen den Vietnamkrieg, gegen die Bildung der Großen Koalition und gegen
die Notstandsgesetze ausgesprochen.325 Dank dem Motto „ohne Provokation werden
wir überhaupt nicht wahrgenommen“ hat er innerhalb der Studentenbewegung mehrere
politische Initiativen gegen das „Establishment“ arrangiert.326 Dutschke war vor allem
von seiner Rede bekannt. Der Autor des Familienromans „Ein unsichtbares Land“
macht gerade auf diesen Aspekt aufmerksam. Seine Stimme bestimmt er als „eine
Stimme aus dem Exil, eine Stimme, die dem Sprecher gar nicht bewusste Färbungen
320
Wackwitz 2003, S. 163.
Siehe dazu: Castagli, Simone: Unverhofftes Wiedersehen. Erscheinungsformen des deutschen Ostens
in der Gegenwartsliteratur. In: Cambi, Fabrizio (Hrsg.): Gedächtnis und Identität. Die deutsche
Literatur nach der Vereinigung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 283f.
322
Wackwitz 2003, S. 138.
323
Ebd., S. 140.
324
Ebd., S. 249f.
325
DHM, Deutsches Historisches Museum: Rudi Dutschke, Soziologe und Studentenführer:
http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/DutschkeRudi/ (Zugriff am 26.Mai 2009)
326
Vgl. ebd.,
321
74
der Dissidenz genommen hat.“327 Weiter schreibt er über sein Charisma, das teilweise
aus seiner Redekunst folgt: “Dutschkes Stimme wirkt, als sei sie auf einer
spiritistischen Sitzung aufgenommen. Schon als er lebte, klang Rudi Dutschke, als rede
in der Sprache der Toten.“328 Nach dem Erzähler gilt er also gewissermaßen als ein
Medium. Dieses vergleicht wiederum der Narrator zu vergessenen Theorien, die samt
mit ihren Schöpfern und ihren Sprechen entweder brutal ermordet wurden oder im Exil
ihren Platz gefunden haben.329 Mit anderen Worten symbolisiert Dutschkes Phänomen
ein gewisser Bote. Wackwitz geht noch in seinen Ansichten weiter und bezeichnet den
Deutschen im Endeffekt als „Engel“. Wenn Ellipse und Pause miteinander konfrontiert
werden, dann zeigt sich, dass das Erzähltempo bei der zweiten Grundform der
zeitlichen Ebene wesentlich verringert wird. Obwohl das Geschehen still steht, geht die
Erzählung weiter. Dazu kommen noch zusätzliche Kommentare, Beschreibungen und
Reflexionen. Diese werden nicht in die Zeit der erzählten Geschichte involviert. Es
wird hier demnach selbstverständlich, dass sie nicht aus der Perspektive einer
handelnden Figur im Text eingeschoben werden.330 Bei Wackwitz (2003) gibt es doch
anders. Wie schon der Untertitel seines Buches suggeriert, ist das ein Familienroman.
Die sich im Text erscheinenden unterschiedlichen Kommentare oder Reflexionen
erfolgen
aus
der
Perspektive
des
Autors,
der
zugleich
eine
handelnde
Figur seiner Geschichte ist.
Frequenz, die letzte Ebene der Zeitkonstruktion, wird im Wackwitz Buch unter dem
Aspekt „sich wiederholendes oder nicht wiederholendes Geschehen in der
Erzählung“331 berücksichtigt. Diese Wiederholungskapazität wird nach Martinez und
Scheffel durch drei Möglichkeiten ausgedrückt: a) durch singulatives Erzählen
(„einmal erzählen, was sich einmal ereignet hat“) b) durch repetitives Erzählen
(„wiederholt erzählen, was sich schon einmal ereignet hat“) und c) durch iteratives
Erzählen („einmal erzählen, was sich schon wiederholt hat“). Der erste Typ lässt sich
auf den Kapiteln „Schlangengeschichte“ und „Schiffbruch“ verfolgen:
(1) „Als wir einmal in Karibb abends vor der Tür saßen- bei unseren Freunden M.ssagte plötzlich jemand:< Da liegt ja eine Schlange im Zimmer!>“332
(2) „Einmal habe ich, in England, in London, Lehfeld leiden hören, nachts um
drei!“333
327
Wackwitz 2003, S. 256.
ebd., S. 256.
329
Vgl. ebd., S.256.
330
Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2005, S. 43f.
331
Vgl. ebd., S. 43f.
332
Wackwitz 2003, S. 220.
328
75
In beiden Fällen wurde das Adverb „einmal“ verwendet. Solches Verfahren verweist
eindeutig auf den einmaligen Charakter eines Geschehens. Es wird demnach an dieser
Stelle „einmal erzählen was sich einmal ereignet hat“334 Wenn die Variante der
Frequenz weiter analysiert werden, dann lässt sich feststellen, dass der Familienroman
auf das repetitive Erzählen großen Wert legt. Es wird vor allem durch drei Elemente
veranschaulicht. Als erster Aspekt gilt der „Traum von Osten“. Er wurde vom Erzähler
in folgenden Buchstellen platziert: im Kapitel „Vier Kriege“ auf der Seite 98; im
Kapitel „Verlassene Zimmer“ auf der Seite 190 („noch einmal) und im Kapitel „Die
Jacarden von Madeira“ auf der Seite 210, wo der Narrator durch den Ausdruck „zum
dritten Mal“ die repetive Dimension betont. Zu der nächsten, ebenso relevanten
Komponente des Erzählens gehört die familiäre Geschichte, die mit dem Ausbruch des
Zweiten Weltkrieges und seinen Konsequenzen zusammenhängt. Das im Kapitel
„Unverhofftes Wiedersehen“ skizzierte Bild der damaligen, dramatischen Ereignisse
wird wieder im Kapitel „Schlangengeschichte“ erzählt. Dabei wird vor allem der
Angriff der Engländer auf das Schiff und die Gefangenschaft seiner Passagiere gemeint.
Eine Schlüsselrolle erfüllt auch hier die Gestalt vom Dr. Lehfeld. Der Mann wird durch
zwei Personen, d.h. durch Andreas und durch Gustav Wackwitz porträtiert. Es muss
doch dabei hinzufügen, dass während der erste Mann den Doktor aus der
eindimensionalen Sicht behandelt hat, der zweite entschlossen seine mehrdimensionale
Natur aufgefasst hat. Es gibt hier nicht nur bloße Bemerkungen wie: „<Donnerwetter,
Lehfeld, da werde ich Ihnen nie vergessen!>“335, sondern solche wie: „Wir hatten einige
sehr gute Lehrer- aber was wäre ich ohne Lehfeld geworden?“.336 Diese Faszination mit
Lehfelds Persönlichkeit ist bestimmt für den Siebzehnjährigen etwas mehr als eine
gewöhnliche Danksagung für eine Zigarre. Trotzt seiner anfänglichen Abneigung gegen
Lehfeld wurde er für ihn und für seine Leidengenosse die größte Autorität. Dieser hat
doch ihnen immer wieder wiederholt, dass die Tücken des Schicksals nur eine
Übergangszeit sind. Es lohnt sich stets an die Menschen und die Humanität zu glauben.
Der letzte Typ der Frequenz, d.h. iteratives Erzählen veranschaulicht sich in den
folgenden Fragmenten des Familienromans:
(1) „Als ich klein war, habe ich oft darüber nachgedacht, dass all die Möbel,
Kleider, Bucher, das Geschirr, das meine Großmutter und das Hauspersonal
333
Wackwitz 2003, S. 286.
Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie 2005, S.45.
335
Wackwitz 2003, S. 32.
336
Ebd., S. 285.
334
76
mühsam und tagelang in Zeitungspapier eingewickelt und in Holzkisten
verpackt hatten […]“337
(2) „[…] und manchmal habe ich das Gefühl, dass sie die Einzige von uns allen ist,
die in ihrem Leben wirklich Erfolg gehabt hat.“338
(3) „Dafür war sie neulich, wie in den Jahren zuvor schon mehrmals, bei mir.“339
(4) „Jedes Mal weht ein kalter und farbloser Wind in ihr, eine traurige und
unheimliche Gespensterluft.“340
(5) „Unser Land entstand noch einmal neu.“341
(6) „Dann saßen wir im Garten, tranken Wein und der alte Mann erzählte mir, zum
ersten Mal, von seinen Erinnerungen an den aus Sumatra zurückkehrenden
Studiendirektor Lehfeld […]“342
Alle diese Beispiele zeichnen sich durch ein gemeinsames Bindeelement aus. Das sind
Temporaladverbien, die die Wiederholung einer Tätigkeit, eines Geschehens
bezeichnen: „oft“, „manchmal“, „mehrmals“. Über den iterativen Charakter des
Erzählten entscheiden auch solche Ausdrücke wie „jedes Mal“ und „zum ersten Mal“.
Diese deuten auf die Tatsache hin, dass einmal erzählt wird, was sich schon wiederholt
hat343. Mit gemischten Gefühlen wird wiederum eine Textpassage aus der Seite 1948
aufgenommen, wo der Erzähler sich an ein geheimnisvolles Verhalten seiner
Großmutter erinnert:
„Aber erst heute ist mir klar, wie merkwürdig und eigentlich haarsträubend es ist,
dass meine Großmutter kein einziges Mal erwähnt hat, was in dieser Landschaft
zehr Jahre später dann passiert war […]“344
Durch die Feststellung „kein einziges Mal“ suggeriert der Narrator, dass diese Aussage
weder auf singulatives noch auf repetitives und iteratives Erzählen rekurriert. Der
Erzähler bedient sich doch dabei eines Temporaladverbiens „heute“, das sich auf die
Bezeichnung eines Zeitabschnitts bezieht. Logischerweise wird demnach darüber
erzählt, was sich schon ereignet hat.
5.8
Zur Raumkonstruktion
Um der erzählte Raum korrekt aufgeteilt werden zu können, muss Bezug auf zwei
Aspekte genommen werden: a) auf die Handlung, b) auf die Figuren. Der Kern der
literarischen Raumkonstruktion wird hier präzis durch Lexikon Literatur- und
Kulturtheorie bestimmt. In dieser Hinsicht wird sie als einen „Oberbegriff für die
337
Wackwitz 2003, S. 28.
Ebd., S. 93.
339
ebd., S. 93.
340
Ebd., S. 204.
341
Ebd., S. 153.
342
Ebd., S. 274f.
343
Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2005, S. 43f.
344
Wackwitz 2003, S. 148.
338
77
Konzeption, Struktur und Präsentation der Gesamtheit von Schauplätzen, Landschaft,
Naturerscheinungen und anderen Gegenständen“ verstanden.345 Wenn diese Definition
unter dem Aspekt „Erinnerungsinszenierung“ betrachtet wird, dann hält sich fest, dass
hier unterschiedliche Kulturbezüge berücksichtigen werden. Dabei lohnt sich auf vier
Besonderheiten des Raumes von Elisabeth Ströker zu beziehen. 346 Das, was alle
Modelle verbindet, ist der gemeinsame Ausgangspunkt d.h. die Empfindung
lebensweltlicher Erfahrungen. Im phänomenologischen Sinne wird es also nach den
Individuen und ihrer Wahrnehmung des Raumes in der „wirklichen Wirklichkeit“
gefragt.347 Angesichts dieser Tatbestände wird der Familienroman „Ein unsichtbares
Land“ nach folgenden Typen analysiert:
 Gestimmter Raum- es wird hier die atmosphärische Dimension des Raumes
gestaltet. Die Stimmung hängt mit zwei Faktoren zusammen. Während sich objektive
Aspekte im Buch durch einen institutionellen Charakter des Raumes (Andreas
Wackwitz’ Wohnzimmer, Schlosspark von Laskowitz, Schiff „Adolph Woermann“,
Konzentrationslager) veranschaulichen, machen die subjektive aufmerksam auf die
Figur oder den Erzähler selbst. Darunter werden vor allem das individuelle, das
kulturelle und das Generationen-Gedächtnis verstanden. Diese entscheiden wiederum
über eine Art der persönlichen, oft dramatischen Aufzeichnungen von Familie
Wackwitz.
Als
primäre
Gedächtnismedien
gelten
hier
Familienfotografien,
spezifische Orte und topographische Konstellationen.348 Das Familienarchiv wird im
Buch erstens durch das Tagebuch und die Erinnerungshefte von Andreas Wackwitz
(Großvater des Narrators), zweitens durch die Briefe von Onkel Ernst Gustav, drittens
durch die Erzählung von Stephan Wackwitz’ Vater (Gustav) und viertens durch die
Auszüge aus dem Leben des Erzählers präsentiert. Wenn es sich um die mündlichen
Überlieferungen geht, muss darauf hingedeutet werden, dass sie mit Ausnahme von
Kriegserinnerungen der Mutter oder Erinnerungen des Ich- Erzählers an das
345
346
347
348
Ansgar, Nünning: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart/Weimar: Metzlerische J. B
Verlag 2001, S. 536.
Vgl. Ströker, Elizabeth: Philosophische Untersuchungen zum Roman. Frankfurt a. M: Klostermann
Verlag 1965, S. 18ff.
Siehe nach der Verbindung zwischen Literatur und Phänomenologie in: Rist, Katharina: GedächtnisRäume als literarische Phänomene in den Kurzgeschichten von Elisabeth Bowen. Würzburg:
Königshausen & Neumann 1999, S. 5f.
Eigler, Friederike: Gedächtnis der kulturellen und familiären Archive: Ein unsichtbares Land von
Stephan Wackwitz. 2005, S.193.
78
Alltagsleben der Juden und ihre spätere „Endlösung“ (das Opfer-Täter Gedächtnis) in
Auschwitz eine sekundäre Rolle spielen.349
 Aktionsraum- mit anderen Worten handelt es sich an diesem Punkt um den
Handlungsraum der Figuren. Es ist schon kennzeichnend, dass er sich so verhält, als
wäre er lebhaft. Es kommt auch vor, dass die Protagonisten auf verschiedenen
Gebieten miteinander wechselwirken. Im Stephan Wackwitz’ Familienroman sieht
man sehr gut aus, wie sich Aktionsräume in den vereinzelten Kapiteln bewegen.
Einerseits fokussiert sich der Erzähler auf München (Besuch in der Münchener
Staatsbibliothek, Studienzeit), Stuttgart (Wohnort und Studienzeit des Narrators),
Laskowitz (Andreas Wackwitz’ Kindheit und Jugend) andererseits kehrt er seine
Gedanken in der Richtung von Tokio („Träume von Jürgen Habermas“- ein Kongress
am
17/18.10.1993),
Südafrika
(Namib
und
Kapstadt,
Jagdritt
und
Schlangengeschichte Andreas Wackwitz’), Kraków (Krakauer Wohnung des
Erzählers) und Oświęcim/Auschwitz (Massenmorden an den Juden) wieder.
 Anschauungsraum- der Blick und das Sehen, als zwei dominierende Formen der
Raumgestaltung, bedienen sich der Beschreibungen von konkreten Gegenständen,
kulturellen Orten und Denkmälern. Dadurch dass diese Bilder am häufigsten
detailliert und akribisch sind, geben sie auch eine gewisse Überschau über die
Figuren, die doch ein relevanter Bestandteil des Erzählten sind. Diese Voraussetzung
bewährt sich im Fall von Andreas Wackwitz. Der Narrator verweist im Roman auf
seine außergewöhnliche Kapazität. Dieser, ähnlich wie die älteren Menschen, verfügt
über eine Detailgenauigkeit, dank derer Hilfe er in der Lage ist, sein familiäres Haus
samt mit ganzen Interieurs zu rekonstruieren. Es ist so, „dass ihm während des
Erinnerns und Schreibens offenbar in jedem Detail zu einem Inbild einer Ordnung
geworden ist, deren Erhaltung er sein Leben widmen wollte und die ihm im Laufe des
Jahrhunderts verloren gegangen ist.“350 Diese Wahrnehmungskapaziät wurde im Buch
zweidimensional aufgefasst.
(1) „Es enthielt unten außer dem Hausflur, den man von der Veranda aus betrat,
ein Wohnzimmer, des Vaters Arbeitszimmer und zwei schmale Gastzimmer.
[…] Im Oberstock war das große Schlafzimmer der Eltern, davor das erwähnte
Giebelzimmer, in dem wir Kinder zunächst gemeinsam, später ich allein
wohnten, ein Mädchenkammer und ein später noch ausgebautes Gastzimmer,
349
Eigler, Friederike: Gedächtnis der kulturellen und familiären Archive: Ein unsichtbares Land von
Stephan Wackwitz. 2005, S.193f.
350
Wackwitz 2003, S. 116.
79
dazu Bodenräume und Oberboden, im ganzen neun Zimmer, von denen drei
sehr klein war.“351
(2) „In diesem Wohnzimmer verbrachten die Eltern regelmäßig ihre Abende. Kam
der Vater aus dem Forstamt oder aus dem Walde im Winterhalbjahr nachhaus,
so setzte er sich in einem Sessel, zog Hausschuhe an, rauchte die lange Pfeife
und las die Schlesische Zeitung und seine Jagd- und Forstzeitschriften. Neben
ihm stand das Glas mit dem Grog, dessen Zubereitung ein besonderes Ritual
erforderte. Gegenüber saß die Mutter und las die Zeitung, die HausfrauenZeitschriften, und darin vorzugsweise die Fortsetzungsromane.“352
Wie das erste Beispiel zeigt, fokussiert sich Wackwitz nur scheinbar auf eine bloße
Verteilung des Hauses. Die Vielzahl der Räume (ein Wohnzimmer, ein Arbeitszimmer,
zwei schmale Gastzimmer, ein Schlafzimmer, ein Giebelzimmer, ein Mädchenkammer
und noch ausgebautes Gastzimmer, Bodenräume und Oberboden.353) lässt von der
Annahme ausgehen, dass sich Wackwitz’ Familie durch einen hohen Lebensstandart
ausgezeichnet hat. Die Bestätigung dieser These findet man im zweiten Beispiel. Es
werden hier familiäre Rituale und Bräuche beschrieben, die auf jeden Fall nicht für alle
zugänglich waren. Gewissermaßen wurde hier ein idyllisches Bild skizziert. Es herrscht
die Ruhe. Während der Vater in seinem Sessel sitzt, seine lange Pfeife raucht und seine
Lieblingszeitschriften liest, konzentriert sich die Mutter auf ihre schon ritualen
Tätigkeiten. Interessant dabei wird, dass die von Andreas Wackwitz präsentierten
Auszüge aus der Vergangenheit äußerst plastisch sind. Es wurde von ihm alles so
beschrieben, als befände er sich stets in seinem Laskowitzer Haus.
 kontrastierender Raum- die so genannte räumlichen Kontrastierungen zeigen sich
im Fall des Familienromans „Ein unsichtbares Land“ vorwiegend durch eine
Zusammenstellung von Heimat und. Fremde (Deutschland-Polen). Besonders
beachtenswert ist hier Andreas Wackwitz’ Stellung zu anderen Nationen. Diese richtet
sich nämlich oft auf die rassistisch- fremdfeindlichen Vorurteile. Wenn Wackwitz den
Wochenmarkt der Juden beschreibt, benutzt er solche Formulierungen wie „das
primitive Leben und Treiben, der Schmutz, die Kaftanjuden mit Kappen, Pajes,
Samthüten, die schwarzen und roten Bärte“354 Es steht hier außer Zweifel, dass alle
diese Ausdrücke absichtlich im pejorativen Sinne verwendet wurden. Ein
merkwürdiges Verhältnis tritt er wiederum gegenüber dem polnischen Volk auf.
Wackwitz verleugnet nicht, dass Polen 1939 brutal durch den Hitler-deutschen
351
Wackwitz 2003, S. 116f.
Ebd., S. 120.
353
Ebd., S. 116.
354
Ebd., S. 177.
352
80
Einmarsch angegriffen wurde. Wackwitz drückt sogar sein Bedauern aus („Als ich
1940 Oberschlesien besuchte, war ich entsetzt darüber.“355) Unsinnig und absurd
scheinen doch dabei seine späteren Anspielungen angesichts des entlaufenen Hundes.
Hier meint schon Wackwitz, dass das Tier wahrscheinlich von einem Polen zuerst
gefangen und dann gefressen wurde.356 Sein panischer und zugleich provokativer Ton
trifft auch die Negerproblematik an. Der Erzähler stellt zwei unterschiedliche
Kulturphänomene gegenüber, aus denen sich hingegen eine bestimmte Mentalität
ergibt. Dabei wird den Wert auf das so genannte Selbst- und Fremdbild gelegt. Da
Wackwitz sich „typische deutsche“ Charakterzüge wie Hang zur Ordnung,
Pflichtbewusstsein, Autoritätshörigkeit zuschreibt, irritieren ihn andere Lebensformen
und Prinzipien.357 Wenn dieser soziokulturelle Aspekt mit der afroamerikanischen
Kultur verglichen wird, dann erweist sich, dass Wackwitz’ Abneigung gegen die
Unordnung und die Verwahrlosung der „Neger“ teilweise rechtgefertigt werden kann.
Im Rahmen der Raumkonstellation lohnt sich noch auf Carsten Gansel zu stützen. Nach
seiner Position lässt sich einen geografisch-physikalischen Schauplatz differenzieren.
Dieser verknüpft sich sowohl mit einer spezifischen Tageszeit und Jahreszeit als auch
mit einem bestimmten Wetter.358 Diese Korrelationen werden im Buch durch folgende
Textabschnitte veranschaulicht:
(1) „Die Nacht war schwarz wie selten, die Verwirrung bei der Ablösung, durch
bajuwarische Grobheit sowieso schon schwierig, war groß und wir hatten
mehrere schmerzliche Verluste.“359
(2) „Es war zunehmender Mond und das Wetter, wie immer in dieser Gegend,
schön. Am 21. November, bald nach Hellwerden, wurde voraus ein Schiff
gesehen […] Das fremde Schiff kam rasch näher und hatte uns gegen 9 oder 10
Uhr eingeholt. Es war den englische Dampfer <Weimarana>.“360
(3) „Es war ein schöner, warmer und ruhiger Sommer. Die Aufständischen waren
weit weg am Annaberg, und ich saß abends oft mit den Lehrern Niemietz und
Schäfer unter den Linden im Garten […] und wir bekakelten die politischen
Ereignisse und Aussichten.“361
(4) „An einem apokalyptisch verregneten und verdüsterten Aprilmorgen im Jahr
2001- es war kalt wie im Spätherbst und unter den tief hängenden Wolken
schien es von sechs Uhr bis weit in den Vormittag hinein nicht richtig hell
355
Wackwitz 2003, S. 176.
Vgl. ebd., S. 176.
357
Vgl. Żyliński, Leszek: Typisch deutsch? Zwischen Selbst- und Fremdbild. In: Lewaty, Andreas
(Hrsg.)/Orłowski, Hubert (Hrsg.): Deutsche und Polen: Geschichte, Kultur, Politik. München: C. H
Beck 2003, S. 293ff.
358
Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxisbuch für den Unterricht. 1999,
S. 41.
359
Wackwitz 2003, S. 100.
360
Ebd., S. 31.
361
Ebd., S. 178.
356
81
werden zu wollen- bin ich mit dem Auto nach Laskowitz bei Breslau
gefahren“362
(5) „Es ist in einem der tropisch heißen, zugleich urwaldhaften und metropolitan
eleganten Sommertage in Tokio gewesen. Meine Frau und ich fuhren mit dem
Rad nach Kanda, um dort einen Samstagnachmittag in den Buchhandlungen zu
verbringen.“363
Jede von diesen Textpassagen präsentiert einen bestimmten Zustand der Tageszeit, der
Jahreszeit und des Wetters. Der Raum wird hier mit Hilfe konkreter Wörter inszeniert.
Da sie so zusammengestellt wurden, beeinflussen sie die Aussage eines jeweiligen
Textabschnitts. Während sich das erste, das zweite und das dritte Fragment auf das
Kriegstagebuch von Andreas Wackwitz bezieht, werden die Ereignisse aus der vierten
und der fünften Textstelle aus der Perspektive von Stephan Wackwitz beschrieben.
Offensichtlich dabei wird, dass die Anfangssätze eine Form des Einstiegs in die
eigentliche Handlung sind. Über den hohen Grad der Spannung entscheidet hier die
Verwendung solcher Formulierungen wie: „Die Nacht war schwarz wie selten […]“364,
„Es war zunehmender Mond und das Wetter […]“365, „An einem apokalyptisch
verregneten und verdüsterten Aprilmorgen im Jahr 2001- es war kalt wie im Spätherbst
[…]“366 Neutral klingen dagegen die Sätze aus dem dritten und dem fünften Punkt, d.h.
„Es war ein schöner, warmer und ruhiger Sommer“367 und „Es ist in einem der tropisch
heißen, zugleich urwaldhaften und metropolitan eleganten Sommertag in Tokio
gewesen.“368
5.9
Zur paratextuellen Gestaltung
Nach der Position von Gerarad Genette hängen Texte mit Paratexten zusammen.
Während ein Text auf „mehr oder weniger lang[e] Abfolge mehr oder weniger
bedeutungstragender Äußerungen“ verweist, wird ein Paratext durch jene „verbale[e]
oder nicht-verbale[n] Produktionen- Autorname, Titel, Gattungsangabe, Vorwort,
Widmung, Motto, Illustrationen, Buchgestaltung im weitesten Sinne“369 ausgedrückt
Dadurch dass er eng mit dem Haupttext verbunden ist, kann er eine Reihe von
unterschiedlichen Funktionen erfüllen. Am häufigsten bedient er sich der Form des
362
Wackwitz 2003, S. 110.
Ebd., S. 150.
364
Ebd., S. 100.
365
Ebd., S. 31.
366
Ebd., S. 110.
367
Ebd., S. 178.
368
Ebd., S. 150.
369
Stanitzek, Georg: Texte, Paratexte, in Medien: Einleitung. In: Kreimeier, Klaus (Hrsg.)/Stanitzek,
Georg (Hrsg.): Paratexte im Literatur, Film, Fernsehen. Berlin: Akademie Verlag 2004, S. 6.
363
82
Kommentars, der Steuerung und der Ergänzung. Jeder Paratext wird hier dabei mit
Hilfe folgenden Fragen systematisiert: „Wo?“, „Wie?“, „Von wem?“, „An wem?“.370
Die Peritexte, die zusammen mit den Epitexten371 einen Paratext bilden, gelten bei
Genette als der Ausgangspunkt für die weiteren paratextuellen Diskursen. Sie verweisen
einerseits auf die Entfernung bzw. auf den Abstand vom Haupttext, andererseits zeigen
sie in Anlehnung an ihn eine gewisse Form der Nähe.372 Der stoffliche Charakter der
Paratexte („Wie?“), äußert sich durch schriftliche bzw. verbale Texte und drei
spezifische
Erscheinungsformen
d.h.
bildliche
(Illustrationen),
materielle
(typographische Entscheidungen wie Buchformat oder Material) und faktische
(entsprechende Kommentare in Form der Kontext-Informationen).373 Die letzte Frage,
die unter dem Begriff „Von wem?“ oder „An wem?“ bekannt wird, lässt sich nach zwei
Ebenen unterscheiden: a) nach dem Kommunikationsinstanz, b) nach dem Adressat.374
Wenn der erste Bestanteil betrachtet wird, dann zeigt sich, dass er im Buch in der
Gestalt von Kapitelüberschriften oder Klappentexten auftritt. Es kommt jedoch auch
manchmal vor, dass sich diese Instanz durch ein Vorwort von den so genannten dritten
Personen veranschaulicht. Im Fall des Adressats werden hingegen in Betracht
öffentliche, private und intime Aspekte genommen, d.h. a) Buchkritik, b) Briefe bzw.
Gespräche in einem bestimmten Kreis, c) Tagebücher375. Wenn die paratextuelle
Gestaltung hinsichtlich des Buches von Stephan Wackwitz behandelt wird, dann lässt
sich erkennen, dass sein Untertitel d.h. „Familienroman“ problematisch scheint zu sein.
Manche Kritiker machen diesem Werk Vorwürfe, dass es in der Tat keine Art eines
Familienromans ist. Es gibt hier keine chronologische Ordnung. Statt dessen werden
vom Erzähler konkrete Ereignisse aus dem Leben seiner Familie zunächst
370
Stanitzek, Georg: Texte, Paratexte, in Medien: Einleitung. In: Kreimeier, Klaus (Hrsg.)/Stanitzek,
Georg (Hrsg.): Paratexte im Literatur, Film, Fernsehen. Berlin: Akademie Verlag 2004, S. 7.
371
Peritext= Motto, Titel, Vor-, Nachwort. Gattungsangabe
Epitext= Tagebuch, Interview, Buchkritik in einer Magazine, Debatten. Siehe mehr dazu: Genette,
Gerard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt/New York: Suhrkamp Verlag 1989,
S. 13ff.
372
Vgl. Ebd., S. 7.
373
Vgl. Ebd., S.14. Siehe vertiefend auch dazu: Roswitha, Skare: Christa Wolfs „Was bleibt“ KontextParatext-Text. Münster: LIT Verlag 2008, S. 17.
374
Genette, Gerard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt/New York: Suhrkamp
Verlag 1992, S. 81f. Siehe auch dazu: Bleicher, Joan Kristen: Programmverbindungen als Paratexte
des Fernsehens. In: In: Kreimeier, Klaus (Hrsg.)/Stanitzek, Georg (Hrsg.): Paratexte im Literatur,
Film, Fernsehen. Berlin: Akademie Verlag 2004, S. 245ff.
375
Vgl. Genette, Gerard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. 1992, S. 81ff.
83
zusammengefasst und dann aneinander locker gefügt.376 Wackwitz’ Konzept bezieht
sich auf jeden Fall auf die autobiographischen Motive. Diese betreffen sowohl ihn als
auch seinen Großvater und den Vater. Jegliche Verschiebungen, Verdrängungen oder
Wunschvorstellungen müssen schon gewissermaßen in den autobiographisch-familiären
Geschichten einkalkuliert werden. Es sollten hier demnach keine Diskurse über ein
fiktionales
Textgenre
oder
über
eine
absichtliche
Vermischung
zwischen
autobiographischen und fiktionalen Komponenten geführt werden.377 Abgesehen von
den biographischen Aspekten des Roman lässt sich noch markieren, dass als die nächste
ebenso wichtige Form der Inszenierung von Erinnerung das kulturelle Gedächtnis gilt.
Es wird von Wackwitz mit Hilfe intertextueller und intermedialer Bezügen auf die
Zitate recherchiert, die wiederum abwechselnd auf die literarische und die
philosophische Dimension der Aussage verweisen. Mit dem Zitat fangen fast alle
Kapitelüberschriften an, d.h.: „Chamelon Years“ (Lew Tołstoi, ein Fragment aus dem
russischen Roman „Krieg und Frieden“); die „Transusugkeit“ (L.P Hartley, ein
Textabschnitt aus dem englischen Roman „The Go-Between“); „Im Palast des Kaisers“
(Franz Kafka, eine Textpassage aus der Erzählung „Beim Bau der chinesischen
Mauer“); „Fünf Professoren/ Träume von Jürgen Habermas“ (Richard Rorty und seine
Widmung in dem Werk „Kontingenz, Ironie und Solidarität“); „Die Jacaranden von
Madeira“ (Yasashi Inou, Zitat aus der Erzählung „Die Bergazaleen auf dem
Hiragipfel“); „Schlangengeschichte“ (Edward Mörike, ein Ausschnitt aus der Erzählung
„Der Spuk im Pfarrhaus von Cleversulzbach“); „Mord“ (William Shakespeare, ein
Motto aus der englischen Tragödie „Hamlet. Prinz von Dänemark“); „Kleine
Propheten“ (Petronius, ein Fragment aus dem römischen Roman „Das Gastmahl des
Trimalchio“), „Die Toten“ ( Rudi Dutschkes Aussage). Vom paratextuellen Charakter
des Textes zeugen hier auch: Liedausschnitte (Paul Simon &Art Garfunkel: „We’ve
come on a ship they call the mayflower/ We’ve come at the age’s most uncertain
hour/And sing an american tune“378), Märchenpassage (Brüder Grimm und ihr Märchen
„Die zwei Bruder“) und Bezüge auf einen Film (Pseudodokumentarfilm von Woody
Allen „Zelig“). Dieser letzte kulturelle Bestandteil wurde vom Erzähler gezielt
376
Hillebrandt, Claudia (2006, 11.June): Ein unsichtbares Land. Familienroman- Weh dir, daß du ein
Enkel bist! Rezensionen. Kultur Picknick:
http://www.kai-tossing.de/picknick//index.php?option=com_content&task=view&id=28&Itemid=27
(Zugriff am 11.June 2009).
377
Vgl. Eigler, Friederike: Gedächtnis der kulturellen und familiären Archive: Ein unsichtbares Land von
Stephan Wackwitz. 2005, S. 189.
378
Wackwitz 2003, S. 195.
84
hervorgehoben. Er ruft nämlich diesen spezifischen Film hervor, um ihn mit dem Leben
seines Großvaters, d.h. Andreas Wackwitz, zu konfrontieren. Dabei lohnt sich zu
erläutern, dass „Zelig“ hier als eine gewisse Art der Kontrastfolie für die Biographie des
Kriegsveterans fungiert.379 Mit Nachdruck auf den „beunruhigenden Zug“ des
Großvaters ironisiert Wackwitz über diese Zufälligkeit im Verhältnis zu bestimmten
Personen, Ereignissen und historisch relevanten Orten.380 Endgültig reflektiert der
Erzähler über sein eigenes Zustandswissen bzw. über seinen eigenen Wissenshorizont:
„Auf diese Weise habe ich inzwischen auf eine nicht ganz geheuere Weise ein
familiäres Verhältnis zu einigen zentralen Ereignissen des letzten Jahrhunderts
gewonnen.“381 Darunter meint er die Hitlerzeit, den Aufenthalt seines Großvaters im
Südafrika (außergewöhnliche Abenteuer, wie Schlangengeschichte), in Anhalt, in der
Nähe von Auschwitz (massive Morden an den Juden), die Lückenwalder Realität der
1940er Jahre (Tötung der so genannten „lebensunwerten Lebens“) und die 1968erGeneration, zu der er selbst gehört hat. Abschließend sollte noch die epitextuelle Seite
des Buches besprochen werden. Stephan Wackwitz’ Familienroman hat große Neugier
mitten in der Welt von Medien und in der Gesellschaft ausgelöst. Es wurde viele
Rezensionen veröffentlicht. Dabei haben sich fast alle deutschen Zeitungen und
Magazinen engagiert. Eigene Meinung haben auch zahlreiche Gruppen von Menschen
mit Hilfe der Kommentare im Internet geäußert. Mit anderen Worten wurden dem Buch
zahlreiche Debatten und Buchkritiken gewidmet. Als besonders beachtenswert scheinen
folgende Äußerungen zu sein:
(1) „Besprochen hatten wir von Stephan Wackwitz „Ein unsichtbares Land“; als
Familienroman wird das untertitelt, was wohl fast alle Anwesenden als sehr
irreführend empfanden […] Es ist kein Buch, das man schnell oder
zwischendurch lesen kann; dazu ist es zu sperrig, ist es auch zu anstrengend zu
sein.“382
(2) „Es herrscht in diesem Buch vielmehr eine feine Melancholie vor, ab und an
auch feiner Spott. Deutlich ist auch der gelassene, erwachsene Wille, die Dinge
so zu sehen, wie sie sind. So intelligent wie bei Stephan Wackwitz ist dort, wo
Großvater war, selten Ich geworden.“383
379
Vgl. Eigler, Friederike: Gedächtnis der kulturellen und familiären Archive: Ein unsichtbares Land von
Stephan Wackwitz. 2005, S. 209.
380
Vgl. ebd., S.209.
381
Wackwitz 2003, S. 47.
382
Das Zitat stammt aus der Internetseite: LESELUST. Es wurde von Daniela, am 07. Oktober 2005,
geschrieben. Die ganze Aussage kann man an der folgenden Seite finden:
http://www.die-leselust.de/buch/1066.html (Zugriff am 12.Juni 2009).
383
Knipphals, Dirk (2003, 20. März): Opas Gespenster. Es spukt im Palast der Erinnerung: In „Ein
unsichtbares Land“ erzählt Stephan Wackwitz einen Familienroman. Archiv aus der Tageszeitung
(TAZ.DE): http://www.taz.de/index.php?id=archivseite&dig=2003/03/20/a0263 (Zugriff am 12.Juni
2009).
85
(3) „Das Genre Familienroman ist so ästhetisch dehnbar, ubiquitär und populärsein Hauptprinzip, das Erzählen entlang einer Generationenfolge, die
Auslegung des familiären Mikrokosmos als Fallbeispiel historischer
Zeitgeschichte, ist durchweg jedem vertraut, auch dem, der beim Namen
Bellheim auf Anhieb weiß, wer gemeint ist, beim Namen Buddenbrook nur,
dass er ihn schon mal gehört hat- wie tendenziell verbraucht.“384
(4) „Ein unsichtbares Land" ist ein schönes, melancholisches und gehaltvolles
Buch, das den Leser in die Erkundung einbezieht. Es ist aber in den
selbstquälerischen Bekenntnissen zugleich schrecklich deutsch […] Wer die
absurd erscheinenden Metamorphosen der Achtundsechziger im Spektrum von
staatstragenden Ministern bis zu deutschnationalen oder rechtsradikalen
Protagonisten verstehen will, muß dieses Buch lesen.“385
(5) „Dieses Buch ist kein Abrechnungsbuch. Den Titel Familienroman trägt es
nicht ironisch. Der Enkel sucht nach Verbindungslinien zwischen sich selbst
und dem „Auslandsdeutschtum” des Großvaters, zwischen dessen KappPutsch- Teilnahme und der eigenen Mitgliedschaft in einer kommunistischen
Studentengruppe in den Siebzigern. Aus der Einbettung dieser GroßvaterEnkel-Geschichte in die Geschichte des politischen Enthusiasmus in
Deutschland gehen die stärksten Passagen des Buches hervor. Allzu häufig gibt
Stephan Wackwitz der Versuchung nach, seinen Familienroman weltliterarisch
zu nobilitieren […]Auch ohne diese snobistischen Ornamente würde dieser
erhellende, bisweilen beklemmende Familienroman deutscher Ausgewanderter
den Leser in seinen Bann zu ziehen.“386
Wie diese Beispiele beweisen, ist der Familienroman von Stephan Wackwitz ein Buch,
an dem man nicht gleichgültig vorbeigeht. Selbstverständlich dabei wird, dass es
unterschiedliche Gefühle und Sinneseindrücke hervorgerufen wird. Nach Dirk
Knipphals ist eher dieser Familienroman eine Anhäufung von „feiner Melancholie“ und
„feinerem Spott“. Apel Friedmar bewertet dieses Werk als „ein schönes,
melancholisches und gehaltvolles Buch“, das doch durch den „schrecklichen
deutschen“ Gesichtspunkt geprägt wird.387 In der kritischen Hinsicht spricht sich
wiederum Lothar Muller aus, der zu den Schlussfolgerungen kommt, dass das Buch
unbenötigt durch „snobistische Ornamente“ (Zitate) gekennzeichnet wurde. Am
zutreffendsten wäre es hier zu sagen, dass Wackwitz’ „Ein unsichtbares Land“ kein
384
385
386
März, Ursula (2003, 30.April 2004): Erforschen oder Nacherzählen. Stephan Wackwitz und Simon
Werle zeigen, wie verschiedene Familienroman heute sein können. Romane: ZEIT ONLIVE; Nr. 19.
http://www.zeit.de/2003/19/L-Wackwitz_2fWerle (Zugriff am 12.Juni 2009)
Apel, Friedmar (2003, 18.März): Einmal dänischer Prinz zu sein, in Deutschland am Rhein.
Schiffbruch mit Zigarre: Stephan Wackwitz sucht das Land seiner Großväter und findet sich. BücherRezensionen-Belletristik. Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ.NET):
http://www.faz.net/s/Rub79A33397BE834406A5D2BFA87FD13913/Doc~EC68016F936AC451A86
1DCDB4B4C960D1~ATpl~Ecommon~Scontent.html?rss_googlefeed_feuilleton (Zugriff am 12.Juni
2009).
Müller, Lothar (2003, 17. März 2003): STEPHAN WACKWITZ: Ein unsichtbares Land.
Familienroman. Rezensionsnotiz zur Süddeutsche Zeitung:
http://sz-shop.sueddeutsche.de/mediathek/shop/Produktdetails/Buch+Ein unsichtbares Land+ Stephan
Wackwitz/666223.do?extraInformationShortModus=false (Zugriff am 12.Juni 2009).
86
literarischer Text ist, den „man schnell oder zwischendurch lesen kann.“ Wie Daniela
weiter schreibt, ist er einfach dazu zu sperrig und zu anstrengend.
87
6 Schlussmerkungen
In dieser vorliegenden Magisterarbeit wurden die wichtigsten Aspekte bzw.
Forschungsstände bezüglich des Gedächtnisprinzips berücksichtigt. Im theoretischen
Teil der Arbeit wurde der Schwerpunkt zuerst auf das Konzept von Gedächtnis und
Erinnerung, dann auf die Problematik des Gedächtnisses im Kontext der
Kognitionswissenschaft und schließlich auf den Zusammenhang von LiteraturErinnerung-Identität gelegt. In dieser Hinsicht wurden die unterschiedlichen
wissenschaftlichen Abhandlungen, Auseinandersetzungen und Diskursen präsentiert
und besprochen. Es wurden hier demnach die kulturwissenschaftlichen, soziologischen
und psychologischen Theorien von Jan und Aleida Assmann, Maurice Halbwachs,
Markowitsch und Walzer, Daniel Schacter, Birgit Neumann und Astrid Erll näher
herangebracht. Ihre Betrachtungsweise verweist auf das breite Spektrum des
behandelten Phänomens. Die Suche nach den Korrelationen zwischen literarischen
Formen des Gedächtnisses und der Erinnerung erwies sich dabei als zentrale Frage der
Gegenwartsliteratur zu sein. Während sich Jan und Aleida Assmann auf die
Differenzierung von kommunikativen und kulturellen Gedächtnis fokussieren, legt
Maurice Halbwachs den Wert auf mémoire collective (das kollektive Gedächtnis). Als
ein besonders beachtenswerter Aspekt gilt hier das Motiv des menschlichen Erinnernsund Vergessensvermögen. Dieses wurde durch Markowitsch/Walzer und Daniel
Schacter eindeutig definiert und dazu noch klassifiziert. Über seine Komplexivität
zeugen: a) das autobiographische Gedächtnis, b) die so genannten Wahren und falschen
Erinnerungen, c) die Feld- und Beobachter- Erinnerungen und d) die Erscheinung
Erinnern und Wissen im Kontext der subjektiven Erinnerungen. Es lässt sich auf jeden
Fall festhalten, dass Gedächtnis und Erinnerung auf die komplizierten Prozesse
verweisen. Um das zu zeigen, wurde im theoretischen Teil ein Überblick über drei
scheinbar unterschiedliche Ebenen verschaffen. Diese stehen paradox im engen
Zusammenhang und verfügen über ungeheuere Eigenschaften des menschlichen
Geistes. Die in der Magisterarbeit präsentierten Ansätze beweisen, dass das
Zusammenspiel zwischen Gedächtnis-Erinnern-Vergessen sowohl auf der individuellen
als auch der kollektiven Ebene des Gedächtnisses basiert. Es ist dabei zu bedenken, wie
man die Authentizität von Erinnerungen berücksichtigt. Diese Betrachtungen wurden
doch schon von Soziologen, Kulturwissenschaftler und Neurologen angestellt und in
Form interessanter Theorien eingeleuchtet. Nach der Position von Harald Welzer
88
betrachtet man das Gedächtnis als ein konstruktives System, das für Einspeichern,
Aufbewahren und Abruf verantwortlich ist.388 Darunter versteht man einen Vorgang,
auf den man in hohem Maße keinen Einfluss hat. Dabei unterscheidet Welzer drei
Ebenen, d.h. Ultrakurzzeit-, Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis. Die Spezifik des ersten
Gedächtnissystems besteht darin, dass es nur durch Millisekunden aktiv ist. In hohem
Maße weist es auf die neuronalen Vorgänge des Wahrnehmungssystems eines
Individuums hin.389 Wenn das Gedächtnis ihre nächste zeitliche Form d.h. das
Kurzzeitgedächtnis oder nach der neueren Literatur das Arbeitsgedächtnis übernimmt,
bleibt es über einige Sekunden bis wenige Minuten tätig. Auf solche Art und Weise
werden die wichtigsten Informationen verschlüsselt. Primär dabei sind erste sieben
Informationseinheiten, die „online“ präsent fixiert werden können.390 Andere, zeitlich
hinausgehende Gedächtnisfunktionen lassen sich als Langzeitgedächtnis bestimmen.
Dazu zählt Welzer folgende Formen: das Episodische Gedächtnis, das Semantische
Gedächtnis und das Prozedurale Gedächtnis. Ihre Funktionen wurden im zweiten
Kapitel beschrieben. Es lässt sich daraus Schlussfolgerungen ziehen, dass alle diese
Komponenten das Gedächtnis gestalten und wesentlich die Erinnerungen beeinflussen,
die hingegen durch den Gegenwartsbezug, einen selektiven und einen perspektivischen
Charakter geprägt werden. Sie sind demnach ein bewusster Prozess, dank dem die
Vergangenheit subjektiv perzipiert werden kann. Das, was selten erinnert wird, gerät in
Vergessenheit. Daraus folgt, dass Erinnern und Vergessen ein kohärentes System
bilden. Ohne Erinnerungsfähigkeit wäre es kein Selbstbewusstsein. Wenn es am
Selbstbewusstsein fehlte, spräche man nicht über die Kommunikation, die doch
Rücksicht auf das Prinzip der gemeinsamen Identität nimmt. Resümierend lässt sich
feststellen, dass erst das Erinnerungsvermögen Menschen zu Menschen macht. 391 Diese
Feststellung geht in hohem Maße das Generationen- Gedächtnis an. In diesem Fall
lohnt sich an konkrete bzw. lebensspezifische Erinnerungen und Erfahrungen zu
388
Vgl. dazu ausführlich: Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung.
München: C.H Beck Verlag 2002, S. 20. Siehe zu diesen Fragen vertiefend auch: Assmann, Jan:
Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Assmann, Jan/Hölscher, Tonio (Hrsg.): Kultur und
Gedächtnis, Frankfurt a. Main 1988; Assmann, Aleida: Wie wahr sind Erinnerungen? In: Welzer,
Harald (Hrgs.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: Hamburger
Edition HIS Verlag 2001; Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen. Wissen.
Ethik. Jahrgang 13/2002; Neumann, Birgit: Literatur, Erinnerung, Identität. In: Erll, Astrid /Nünning,
Ansgar /Gymnich, Marion (Hrgs.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische
Grundauslegung und Anwendungsperspektiven. Berlin: de Gruyter Verlag 2005.
389
Vgl. ebd., S. 20.
390
Vgl. ebd., S. 20f.
391
Vgl. Assmann, Aleida: Wie wahr sind Erinnerungen? 2001, S. 103.
89
erinnern und sie gleichzeitig zu tradieren. Diese, wie Stephan Wackwitz bemerkt, sind
auch eine gute Gelegenheit, um mit den „Gespenstern der Vergangenheit“ abzurechnen.
Mit Hilfe der regelmäßigen Interaktionen, gemeinsamen Lebensformen und geteilten
Erfahrungen392 hat das Gedächtnis eine Chance sich zu bewähren und als ein
unschätzbares familiäres Andenken und Archiv zu gelten. Was muss hinsichtlich des
analytischen Teils festgestellt werden, ist die Tatsache, dass an diesem Punkt vor allem
ein Überblick über: a) die biographischen Angaben zum Autor, b) den Inhalt des
Familienromans, c) die erzählerische Vermittlung [Typologie der Erzählsituation], d)
das Verhältnis der Erzählebenen [Stellung des Erzählers zum Geschehen, Ort des
Erzählens393],
e)
die
Perspektivenstruktur
im
Rahmen
der
Fokalisierung
[Nullfokalisierung, die interne Fokalisierung394], f) die Innenweltdarstellung [die Feldund Beobachter- Erinnerungen], g) Zeitgestaltung [„Wie“ der Darstellung395], h)
Raumkonstruktion [Gestimmter Raum, Aktionsraum, Anschauungsraum396] und i) die
paratextuelle Gestaltung vorgenommen wurde. Die zur Analyse bestimmen Elementen
wurden durch primäre Anhaltspunkte unterstützt, d.h. als Basis für weitere
wissenschaftliche Studie wurden hier die Positionen nach Franz Stanzel, Jürgen
Petersen, Gerard Genette, Carsten Gansel und Monika Fludernik beachtet.
392
Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. 2002, S. 13.
Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2002, S. 76ff.
394
Vgl. Ebd., S. 64. Zitiert nach: Genette, Gerard: Die Erzählung. 1994, S. 273f. Siehe auch vertiefend
dazu: Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. 2005, S. 117f.
395
Vgl. Ebd., S. 35ff.
396
Siehe dazu: Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur 1999, S. 42.
393
90
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7.1
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