Zur Inszenierung von Erinnerung im Stephan Wackwitz’ Familienroman "Ein unsichtbares Land" (2003) Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung ....................................................................................................................... 3 2 Zu Konzepten von Gedächtnis und Erinnerung ............................................................. 6 2.1 Das kulturelle und das kommunikative Gedächtnis: Jan und Aleida Assmann...... 6 2.2 Vom individuellen zum kollektiven Gedächtnis: Maurice Halbwachs .................. 9 3 Problematik des Gedächtnisses im Kontext der Kognitionswissenschaft ................... 12 3.1 Das autobiographische Gedächtnis in Anlehnung an Markowitsch und Welzer .. 12 3.2 Daniel Schacters Position nach Gedächtnis und Persönlichkeit ........................... 14 4 Zu Grundfragen von Literatur, Erinnerung und Identität ............................................ 18 4.1 „Fictions of memory“ in Bezug auf Birgit Neumann ........................................... 18 4.2 Erzähltheoretische Besonderheiten nach Astrid Erll ............................................ 20 4.2.1 Erfahrungshaftiger vs. monumentaler Modus ............................................... 21 4.2.2 Historisierender Modus.................................................................................. 25 4.2.3 Antagonistischer Modus ................................................................................ 26 4.2.4 Reflexiver Modus........................................................................................... 29 5 Zur Inszenierung von Erinnerung in Stephan Wackwitz’ „Ein unsichtbares Land“ ... 33 5.1 Biographische Angaben zum Autor ...................................................................... 33 5.2 Zum Inhalt des Familienromans „Ein unsichtbares Land“ ................................... 34 5.3 Erzählerische Vermittlung .................................................................................... 35 5.4 Zum Verhältnis der Erzählebenen ........................................................................ 44 5.5 Zur Perspektivenstruktur im Rahmen der Fokalisierung ...................................... 53 5.6 Zur Innenweltdarstellung ...................................................................................... 57 5.7 Zum ‚Wie’ der Darstellung ................................................................................... 59 5.8 Zur Raumkonstruktion .......................................................................................... 77 5.9 Zur paratextuellen Gestaltung ............................................................................... 82 6 Schlussmerkungen ....................................................................................................... 88 7 Literatur........................................................................................................................ 91 7.1 Primärliteratur ....................................................................................................... 91 7.2 Sekundärliteratur ................................................................................................... 91 7.3 Internetseite ........................................................................................................... 97 2 1 Einleitung Nach der Position von Paweł Zimniak sollte jedes interdisziplinär angesprochene Thema, das zugleich äußerst relevante Geschichtserfahrungen von Individuen und Kollektiven zum Gegenstand der Diskussion macht, durch unterschiedliche Gesichtspunkte und noch dazu kontextuelle Einbettungen festgelegt werden.1 Daraus folgt, dass die Erinnerungskultur im Sinne einer Geschichtskultur nur dann besprochen werden kann, wenn sie nicht auf „geschichtsblinde“ und „a-historische“ Aspekte verweist, sondern wenn sie „dem Menschen komplexe geschichtliche Relationen anbietet und ihn zur Reflexionen anregt.“2 Die vorliegende Arbeit wird versuchen zu zeigen, wie die vereinzelten Aspekte des Prinzips von Gedächtnis und Erinnerung das Wahrnehmungssystem eines Menschen kreieren. Offensichtlich dabei wird, dass Gedächtnis und Erinnerung, als zwei ungewöhnliche Phänomene, einen integralen Teil des menschlichen Daseins bilden. Es wundert also nicht, dass sie das wachsende Interesse an verschiedenen Gebieten der Wissenschaft hervorrufen. Beachtenswert ist, dass sich mit dieser Erscheinung sowohl die Kulturanthropologie, die Neurowissenschaft als auch Psychosoziologie beschäftigen. Die Vielzahl von Forschungsprogrammen rekurriert jedoch auf die medizinischen, naturwissenschaftlichen und technischen Faktoren. Um näher diesem Kuriosum zu sein, muss man sich genauer der Auffassungen von Jan, Aleida Assmann und Maurice Halbwachs angesehen. Als Grundstein wird hier die spezifische Gedächtnisdifferenzierung dienen. Zum Untersuchungsgegenstand wird sowohl das individuelle als auch kollektive Gedächtnis gemacht. An dieser Stelle muss hinzugefügt werden, dass mit speziellem Nachdruck die Unterschiede zwischen dem kulturellen und kommunikativen Gedächtnis erklärt werden. Der weitere theoretische Teil der Arbeit fokussiert sich auf das Gedächtnis im Kontext der Kognitionswissenschaft. Wenn dieser Aspekt weiter verfolgt wird, dann erweist sich, dass sein Antlitz durch Systemtransformation Ende des 20. Jahrhunderts gekennzeichnet wurde.3 Darunter 1 Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. Literarische Fallstudien. Wrocław/Dresden: Neisse Verlag 2007, S. 7. 2 Vgl. ebd., S. 7. Zitiert nach: Reulecke, Jürgen: Antimodernismus und Zivilisationskritik. Die Heimatbewegung aus historisch-gesellschaftlicher Perspektive. In: Regionaler Fundamentalismus? Hg. von Museumsdorf Cloppenburg, Kulturamt der Stadt Oldenburg, Stadtmuseum Oldenburg. Oldenburg 1999, S. 12-21, hier S. 13f. 3 Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Stuttgart: Klett 2005, S. 25. Zitiert nach Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hrsg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität - Historizität - Kulturspezifität 3 versteht man das allgemein verbreitete Interesse zum Thema Gedächtnis und Erinnerung, das sich vor allem aus „dem altersdemographischen Veränderungen in den meisten westlichen Gesellschaften“ ergibt.4 Signifikant ist, dass die Kognitionswissenschaft als ziemlich junger Wissenschaftszweig mehrdimensionale Gebiete der wissenschaftlichen Disziplinen umfasst. Es ist zu bedenken, dass sie die Korrelationen zwischen Wahrnehmung, Denken, Motorik und Sprache untersucht. Daraus resultieren neue, interessante, wissenschaftliche Befunde, die die Welt der Psychologie, Neurowissenschaft oder Linguistik revolutionieren. Auf solche Art und Weise verfügt die Verarbeitungsformen zeitgenössische von Wissenschaft Gedächtnisaktivitäten, eine über Reihe „unterschiedlichste unterschiedlicher Gedächtnissysteme und über Ansatzpunkte für bessere medizinische Intervention von der Mikrochirurgie bis hin zur Therapie von Alzheimer- Patienten oder Epileptikern“.5 Im folgenden Teil der Arbeit wird demnach einen großen Wert auf das autobiographische Gedächtnis von Markowitsch/Walzer gelegt. Eine sonderbare Rolle spielt auch Daniel Schacters Position nach Gedächtnis und Persönlichkeit. Bei der Frage nach dem Zusammenhang von Literatur, Erinnerung und Identität wird es versuchen zu begründen, ob das menschliche Gedächtnis in der Tat auf seine individuelle und kollektive Ebene verweist. Im weiteren Abschnitt der Magisterarbeit wird Rücksicht auf die Bestimmung der Aufgabe von Literatur im Prozess der Gedächtnisbildung genommen. Mit Blick darauf lohnt sich zu artikulieren, dass man den Zusammenhang von Literatur und ihren außerliterarischen Dimensionen als einen idiosynkratischen Dialog erkennt. In diesem theoretischen Teil wird demnach primär das literarische Leistungsvermögen in der Erinnerungskultur besprochen.6 Es wird auch gezeigt, wie Literatur als Symbolsystem die Kongruenz von Erinnerung und Identität prägt und wie diese Bezugsrahmen durch gedächtnistheoretische Befunde formuliert werden. Um sich dieses Wissen anzueignen, werden bestimmte Genre von Romanen in Bezug auf Birgit Neumann und ihre Fictions of memory präsentiert, d.h. die autobiographischen Gedächtnisromane, b) die autobiographischen Erinnerungsromane, c) die kommunalen Gedächtnisromane und d) die soziobiographischen Romane. Das Ziel solcher (=Medien und kulturelles Gedächtnis 1). Berlin: de Gruyter 2004. In diesem Kontext ist zu betonen, dass im Mittelpunkt der Erwägungen die politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Ereignisse aus den 1980er Jahren stehen. Diese fanden in den meisten westlichen Ländern statt. Sie trugen zu großen Systemtransformationen bei. Dank ihnen beginnt man sich für die eigene Identität, d.h für das Prinzip Gedächtnis und Erinnerung zu interessieren. 4 ebd., S. 25. 5 Ebd., S. 26. 6 Vgl. Neumann, Birgit: Literatur, Erinnerung, Identität. 2005, S. 163. 4 spezifischen Zusammenstellung ist es zu untersuchen, auf welche Art und Weise solche Subgattungen durch die Vorführung von Erinnerung, Identität und die zu ihnen gehörenden fiktionalen Gestaltungsmöglichkeiten relevante Spuren in der Erinnerungskultur hinterlassen. Der letzte Aspekt, der im Kontext von Grundfragen zu Literatur, Erinnerung und Identität beachtet werden muss, bezieht sich auf die erzähltheoretischen Besonderheiten nach Astrid Erll. Es werden hier die wichtigsten Voraussetzungen hinsichtlich der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses berücksichtigt. Als Ansatzpunkte werden auf diesem Gebiet folgende Darstellungsformen angesehen: 1) die Selektionsstruktur, 2) die paratextuelle Gestaltung, 3) Intertextualität, 4) Intermedialität, 5) die erzählerische Vermittlung, 6) Innenweltdarstellung, 7) Raum-, Zeitdarstellung.7 Die vorher erwähnten literarischen Verfahren konstituieren fünf Modi der Erinnerung (den erfahrungshaftigen Modus, den monumentalen Modus, den historisierenden Modus, den antagonistischen Modus und den reflexive Modus), die prinzipiell über das Wesentliche der Literatur als Gedächtnismedium entscheiden.8 Im letzten Teil der vorliegenden Magisterarbeit wird die konkrete Analyse des Buches durchführen. Dadurch sollte die Spezifik des Generationen-Gedächtnisses veranschaulicht werden. An dieser Stelle lohnt sich darauf aufmerksam zu machen, dass sie durch konkrete Erinnerungen und Erfahrungen geprägt wird. Diese werden hingegen aus dem Gesichtspunkt der Enkelgeneration erzählt, kommentiert und im Endeffekt bewertet. 7 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart, Weimar: Metzler 2005, S. 170173. 8 Vgl. Ebd., S. 168. 5 2 Zu Konzepten von Gedächtnis und Erinnerung 2.1 Das kulturelle und das kommunikative Gedächtnis: Jan und Aleida Assmann Den Zusammenhang von Erinnerung und Gedächtnis diskutiert man seit dem Ende der 1980er Jahre. Eine bedeutende Rolle bei der Erforschung von Gedächtnisprozessen haben Jan und Aleida Assmann gespielt. Die Wissenschaftler haben den kulturwissenschaftlichen Gedächtnisdiskurs maßgeblich geprägt. Eine zentrale Rolle im Gedächtnisdiskurs spielt der Begriff des kollektiven Gedächtnisses, dessen Ursprung in den angelsächsischen Cultural Studies liegen.9 Man geht davon aus, dass der Begriff der mémoire collective zum ersten Mal vom französischen Soziologen Maurice Halbwachs verwendet wurde. Das Wesentliche dieses Phänomens bezieht sich auf zwei Vergangenheitsregister, anders gesagt, auf zwei Gedächtnis- Rahmen Mit Blick auf diese Betrachtungsweise konstatiert man, dass es einen Unterschied ausmacht, ob das kollektive Gedächtnis Bezug auf die Alltagskommunikation nimmt oder mit offiziellen, symbolischen Gütern, Kodierungen und Objektivationen verbunden ist. Das kommunikative Gedächtnis verweist auf die Alltäglichkeit. Es umfasst die Erinnerungen, die durch Gespräche mit Freunden, Erfahrungen in der Familie oder der Gruppe erworben wurden. Anders gesagt, handelt es sich um die rezente Vergangenheit.10 Die Träger des Gedächtnisses entscheiden über seine Form und Werte. Man nimmt doch Rücksicht auf die Tatsache, dass das kommunikative Gedächtnis zeitlich begrenzt ist. Das Gedächtnis einer Gesellschaft unterliegt ganz verständlichen Wandlungen, die durch den Wechsel der Generation gekennzeichnet werden. Jeder Generationswechsel dauert ca. 40 Jahren. Nach dieser Periode verändert sich merklich das Erinnerungsprofil einer Gesellschaft, wodurch das kommunikative Gedächtnis informell und wenig durchstrukturiert ist.11 Das kulturelle Gedächtnis gilt bestimmt als krasse Opposition zum früher besprochenen Vergangenheitsregister. Nach der Position von Jan Assmann versteht man darunter 9 Frei, Norbert (2006, 28. September): Ich erinnere mich. Politisches Buch: ZEIT ONLINE; Nr. 40. http://www.zeit.de/2006/40/P-Assmann (Zugriff am 10.März 2009). 10 Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und polnische Identität in frühen Hochkulturen. München: C. H Beck 1992, S. 50. 11 Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. 2002, S. 13. 6 „einen Sammelbegriff für den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten […] in deren <Pflege> sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt“.12 Das kulturelle Gedächtnis ist an „feste Objektivationen“ gebunden. Im Gegensatz zum kulturellen Gedächtnis ist es offiziell gestiftet. Für seine Hauptaufgabe hält man den Transport von Erfahrungen und Wissen über die Generationenschwelle. Notwendig erweisen sich externe Datenspeicher und Institutionen zu sein, die für Gedächtnispflege und Wissenvermittlung verantwortlich sind. Ein komplexer Überlieferungsbestand, wie Artefakte, Texte, Bilder oder Skulpturen, wird infolge des historischen Wandels ständig erneuert, angepasst und weiter tradiert. Bemerkenswert ist, dass unentbehrlich für diese Gedächtnisform solche Komponenten wie Konservierung und Pflege sind.13 Im Gegenteil zum kommunikativen Gedächtnis, wo sich die Lebenserfahrungen auf individuelle Biographien beziehen, zieht das kulturelle Gedächtnis mythische Urgeschichte in Betracht Die Vergangenheit wird kulturell fixiert auf verschiedene Art und Weise, d.h. durch Stimme, Körper, Mimik, Gestik, Tanz, Schrift, Buch, Film. Riten und Feste gelten doch als primäre Organisationsformen, dank denen die kulturelle Identität vor allem bei den schriftlosen Gesellschaften gestiftet wurde.14 Daraus resultiert, dass das kulturelle Gedächtnis typische „Alltagsferne“ erweist, während seine Opposition- „Alltagsnah“. Das kommunikative Gedächtnis umfasst 3-4 Generationen, also etwa 80-100 Jahre. Sein Vergangenheitsbezug ändert sich, weil er durch persönliche Erfahrungen und Erinnerungen von Gruppenmitgliedern wie Familie oder Bekanntenkreis bestimmt ist. Das kommunikative Gedächtnis wird ständig durch regelmäßige Interaktionen, gemeinsame Lebensformen und geteilte Erfahrungen geprägt.15 Es kommt noch hinzu, dass es einen spezifischen Zeithorizont braucht. Im Fall des kulturellen Gedächtnisses ist er doch viel breiter. Das kulturelle Gedächtnis ist weder zeitlos noch kontextgebunden. Die Gruppengeschichte hängt von den aktuellen Bedürfnissen und Lebensumständen konkreter Gruppe. An diesem Punkt sollte man hinzufügen, dass die Medien der Archivierung und Kommunikation formgebend und 12 Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. 1988, S. 9-19, hier S. 15. Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. 2002, S. 17. 14 Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und polnische Identität in frühen Hochkulturen. 1992, S. 56. 15 Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. 2002, S. 13. 13 7 sinnstiftend wirken. Auf keinen Fall gelten sie als neutrale Behälter oder Transportmittel.16 Die Architektur des kulturellen Gedächtnisses wird durch zwei Modi der Erinnerung bestimmt. Das Funktionsgedächtnis und das Speichergedächtnis, anders gesagt das bewohnte und das unbewohnte Gedächtnis balancieren zwischen dem Wesentlichen und Wissenswerten.17 Der Hauptunterschied zwischen ihnen besteht darin, dass die erste Komponente Rücksicht auf die Alltagskommunikation nimmt, wodurch es die Wir- und Ich-Identität von Menschen prägt. Die zweite Ebene ist eher mit dem ungeordneten Archiv verbunden. Im Gegensatz zum Funktionsgedächtnis, das vor allem selektiv verfährt, sammelt das Speichergedächtnis alle Informationen. Während sich das bewohnte Gedächtnis auf eine Gruppe, eine Institution oder ein Individuum fokussiert, ist das unbewohnte Gedächtnis mit keinem konkreten Träger verbunden. Wie schon angedeutet wurde, kennt sich das Funktionsgedächtnis gut in drei zeitlichen Ebenen aus. Die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bilden eigentümliche Brücke, was für das Speichergedächtnis unmöglich ist. Dieser Teil des kulturellen Gedächtnisses betrachtet man als eine Sammlung von den ungeordneten Elementen, die die materiellen Spuren der kulturellen Vergangenheit in Form der visuellen und verbalen Dokumente versichern.18 Verdienstvoll ist, dass zwischen dem bewohnten und dem unbewohnten Gedächtnis, also zwischen zwei immanenten Bestandteilen des kulturellen Gedächtnisses, keine klare hermetische Grenze gibt. Es ist nicht zufällig, dass gewisse Elemente des Funktionsgedächtnisses an Interesse verlieren und einen neuen Platz im Speichergedächtnis finden. Dasselbe betrifft die Elemente aus dem Archiv, die in den aktiven Teil des Gedächtnisses zurückgeholt werden. Mit Blick auf diese Tatsache muss betont werden, dass das kulturelle Gedächtnis, das sich oberhalb des kollektiven Gedächtnisses befindet, den Bürgern einer Gesellschaft eine langfristige Kommunikation im Hinblick auf historische Perspektive versichert.19 Man muss noch hinzugeben, dass die Polarität zwischen beiden Vergangenheitsregister, die sich im Rahmen des kollektiven Gedächtnisses vollzieht, vor allem auf solche Aspekte wie Fest, Alltag rekurriert. Die beiden Formen unterscheiden sich durch ihre spezifische 16 Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. 1988, S. 9-19. Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H Beck Verlag 1999, S. 130-133. 18 Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. 2002, S. 17. 19 Vgl. ebd., S. 17. 17 8 Geformtheit und Zeremonialität. Diese Faktoren beeinflussen unverkennbar das Selbstbewusstsein und die Identität der Gruppen von Menschen. 2.2 Vom individuellen zum kollektiven Gedächtnis: Maurice Halbwachs Es ist zu berücksichtigen, dass die Relationen zwischen den vereinzelten Elementen des Gedächtnisses werden auf verschiedene Art und Weise von Soziologen untersucht, indem man immer wieder auf die Vergangenheit und ihre soziale Konstruktion zurückgreift.20 Mit diesem Phänomen beschäftigt sich Maurice Halbwachs, der französische Soziologe und Philosoph. Er versucht zu begründen, warum es sich lohnt, mit dem kollektiven Gedächtnis zu beschäftigen. Der Begriff mémoire collective d.h. das kollektive Gedächtnis wurde von ihm in den 1920er Jahren eingeführt. Beachtenswert ist, dass er Schüler von Henri Bergson und Emile Durkheim war. Wenn diesen Faktor unter die Lupe genommen wird, muss berücksichtigt werden, dass ihre Lehre auf Maurice Halbwachs einen wesentlichen Einfluss ausübte. Der von Durkheim entwickelte Begriff Kollektivbewusstsein ließ Halbwachs stereotypisches Denken überwinden und neue Auslegung für das Gedächtnis finden.21 Der Franzose stellt die These auf, dass es einen bestimmten Zusammenhang zwischen dem individuellen und kollektiven Gedächtnis gibt. Halbwachs macht vor allen auf soziale Rahmenbedingungen des Gedächtnisses aufmerksam: „Es gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden.“22 In diesem Kontext spricht man vom Sozialisationsprozess. Man muss darauf hinweisen, dass die persönlichen Erinnerungen mit dem Kollektiv zusammenhängen, d.h. ein soziales Milieu, in dem man lebt, prägt jede individuelle Erinnerung, die aus der Kommunikation und Interaktion innerhalb einer sozialen Gruppe resultiert.23 Die Menschen erinnern sich nämlich nicht nur das, was sie selbst erleben, sondern auch das, was sie von anderen erfahren. Anders gesagt handelt es sich darum, dass sich menschliche Erinnerungen durch einen mehrdimensionalen Charakter auszeichnen. Halbwachs verweist in seiner Erwägungen auf mannigfaltige Erscheinungsformen des 20 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und polnische Identität in frühen Hochkulturen. 1992, S. 34. 21 Ebd., S. 35. 22 Halbwachs 1985a, S. 121. 23 Vgl. Neumann, Birgit: Literatur als Medium (der Inszenierung) kollektiver Erinnerungen und Identitäten. In: Literatur, Erinnerung, Identität. Theoriekonzepten und Fallstudien, Trier: WVT 2003, S. 52. 9 kollektiven Gedächtnisses. In Betracht zieht er solche Gruppengedächtnisse wie Familie, religiöse Gemeinschaften oder Berufsgruppen. Wenn die Kultur als Gedächtnisphänomen betrachtet wird, muss berücksichtigt werden, dass sie vor allem symbolische Sinnwelten konstruiert und tradiert.24 An dieser Stelle kann man sich eines Beispiels bedienen. In der Perspektive von Maurice Halbwachs wird das kollektive Familiengedächtnis als besonders gültige Form des Gedächtnissystems angesehen. Er beschreibt diese Erscheinung mit folgenden Worten: „Die Erinnerungen einer Familie entwickeln sich tatsachlich im Bewusstsein der verschiedenen Mitglieder der Familiengruppe als auf ebensovielen verschiedenen Boden; selbst wenn sie beisammen sind, erst recht aber wenn sie im Leben voneinander getrennt sind, erinnert sich jeder von ihnen auf seine Weise an die gemeinsame Familienvergangenheit.“25 Aus dieser Aussage tritt außergewöhnliches Bild des Gruppengedächtnisses hervor. Sein Phänomen stützt sich darauf, dass es durch bestimmte Struktur und Organisation gekennzeichnet wird. Die ältesten Familienangehörigen gestalten das kollektive Familiengedächtnis, das später im Verlauf der Ritten, Bräuche, Sitten und mündlicher Erzählungen von den jüngeren Generationen angeeignet und beibehalten wird. In diesem Zusammenhang betrachtet man familiär gefärbte Erinnerungen als „Lehrstücke“, also als Elemente, deren Ziel ist, die Grundeinstellung einer Gruppe zu präsentieren. Darüber hinaus bedenkt der Soziologe, ob die Reproduktion der Vergangenheit als das wichtigste Kriterium in den Erinnerungen wahrgenommen werden sollte. Halbwachs optiert eher für eine Auseinandersetzung, dass das, was am wesentlichsten ist, vor allem auf die Bestimmung der Wesenart, Eigenschaften und Schwächen der Erinnerungen rekurriert. Es loht sich zu markieren, dass die soziale Konstruktion der Vergangenheit auf verschiedenen Ebenen verläuft. Wenn Raum- und Zeitbezug unter die Lupe genommen wird, muss berücksichtigt werden, dass „Kollektive das Gedächtnis ihrer Glieder bestimmen“26, wodurch dieses Gedächtnis dynamisch und anpassungsfähig ist. Die Vergangenheitsebenen werden mit den Gegenwartsebenen verflochten, was zeugt davon, dass die Vergangenheit von den sich wandelnden Bezugsrahmen der Gegenwart immer wieder reorganisiert.27 Die logische Konsequenz daraus ist, dass das Gedächtnis, das aus der Vergangenheit zurückgerufen wird, mit den aktuellen Bedürfnissen in der Gegenwart 24 Vgl. Neumann, Birgit: Literatur, Erinnerung, Identität. 2005, S. 160. Halbwachs 1985, S. 203. 26 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und polnische Identität in frühen Hochkulturen. 1992, S. 36. 27 Vgl. Ebd., S. 42. 25 10 zusammenhängt. Halbwachs betont deutlich, dass die nächsten Generationen keine neuen Ideen suchen, die als Ersatzmittel für ihre Vergangenheit gelten. Sie brechen auf keinen Fall mit ihrer Tradition oder mit ihren Wurzeln. Sie überleben die Vergangenheit einfach anders. Jede Erinnerungsgemeinschaft nimmt zwei Aspekte in Betracht, a) die Eigenart und b) die Dauer.28 Wenn es um den Begriff Selbstbild geht, muss berücksichtigt werden, dass sich die erinnerten Ereignisse vor allem auf Analogie, Gemeinsamkeiten und Stetigkeit beziehen. Zu den Faktoren, die über die Identität und Individualität einer sozialen Gruppe entscheiden, gehören Selektivität, Perspektivität, Subjektivität. Im Hinblick auf den zweiten Aspekt konstatiert man, dass jede Erinnerungsgruppe nach Dauer strebt. Zu diesem Zweck plädiert sie dafür, dass Wandlungen nach Möglichkeit nivelliert werden sollten. Resümierend stellt man fest, dass sich die Identität einer Gruppe im Prozess des Erinnerns vollzieht. Ihr kollektiver Charakter ergibt sich aus der gemeinsamen Vergangenheitsinterpretation. Das Individuelle und das Kollektiv, zwei gegenseitige Komponenten der Erinnerung, stehen demnach in einem engen Zusammenhang. Die Kohäsion von Kollektivgedächtnis, Selbstbild einer Gruppe und sozialer Funktion wird von Halbwachs an der Hierarchie des Feudalsystems dargestellt. Wappen und Titeln vs. Rechte und Privilegien. Rang der Familie vs. Wissen über eigene Vergangenheit.29 Wissenschaftlich gesehen steht das Individuum im Vordergrund der Reflexionen über Gedächtnis und Erinnerung Die Individualität verbindet sich jedoch mit mannigfaltigen Faktoren, d.h. mit Rahmen, die im Endeffekt wesentlich die Form und Struktur der Erinnerung beeinflusst. Das führt zu der Schlussfolgerung, dass wenn das Erinnern so sehr von den sozialen, kulturellen und historischen Rahmenbedingungen geprägt wird, dasselbe auch des Vergessens betrifft. Erinnern und Vergessen sind nur scheinbar oppositionelle Komponenten. Beide sind „Tätigkeiten“, die das Gedächtnis gestalten. Das bestätigt nur die Theorie, dass es keine Konstanz gibt. Das menschliche Gedächtnis zeigt deswegen auch Unzuverlässigkeit und „Launenhaftigkeit“ auf. 28 Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und polnische Identität in frühen Hochkulturen. 1992, S. 40. 29 Neumann, Birgit: Literatur, Erinnerung, Identität. 2005, S. 160-161. 11 3 Problematik des Gedächtnisses im Kontext der Kognitionswissenschaft 3.1 Das autobiographische Gedächtnis in Anlehnung an Markowitsch und Welzer Psychologisch gesehen ist das autobiographische Gedächtnis eine der wichtigsten Komponenten im Prozess des Erinnerns und des Vergessens. Es gibt gewisse Merkmale, die auf eine Orientierungsleistung dieses Phänomens aufweisen. In diesem Zusammenhang lohnt sich anzudeuten, dass man besonders die Theorie von zwei deutschen Sozialpsychologen hoch schätzt. H. J. Markowitsch, Professor für Physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld30 und Harald Welzer, Forschungsprofessor für Sozialpsychologie an der Universität Witten/Herdeck31, belegen in ihren Betrachtungen über die autobiographischen Motive im Prozess der Einspeicherung, Aufbewahrung und beim Abruf von Erinnerungen, dass das immer wieder zurückkommende Thema auf sie ein imposantes Kuriosum ist. Markowitsch und Welzer berücksichtigen in ihren wissenschaftlichen Auseinandersetzungen solche Elemente, die den Schwerpunkt des autobiographischen Gedächtnisses festlegen. Nach ihren Positionen wird diese Form durch den Faktor, dass sie „den Menschen zum Menschen macht und vom Tier unterscheidet“32, geformt. In Bezug auf diese Annahme muss hervorgehoben werden, dass es sich um die Fähigkeit des Menschen „Ich“ zu sagen geht. Unter diesem Aspekt versteht man ein Individuum, das eine eigenständige Person ist, die erstens über eine besondere Lebensgeschichte verfügt, zweitens Gegenwart und Zukunft bewusst empfindet und imstande ist, beide Elemente zu gestalten.33 Das autobiographische Gedächtnis gibt demzufolge nach Halbwachs und Welzer solchem Menschen das Vermögen die persönliche Existenz in 30 Universität Bielefeld, Homepages (2009): Prof. Dr. Hans Markowitsch. http://www.uni-bielefeld.de/psychologie/personen/ae14/markowitsch.html (Zugriff am 14.März 2009). 31 ZiF- Zentrum für interdisziplinäre Forschung (2007): Emotionen als bio-kulturelle Prozesse, Prof. Dr. Harald Welzer. http://www.uni-bielefeld.de/ZIF/FG/2004Emotions/welzer.html (Zugriff am 14.März 2009). 32 Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung 2005, S. 11. 33 Vgl. ebd., S. 11. 12 einem Raum-Zeit-Kontinuum zu situieren und auf eine Vergangenheit zurückzublicken zu können, die der Gegenwart vorausgegangen ist.34“ In diesem Kontext ist es zu beachten, dass die oben erwähnte Fähigkeit die so genannte mentalen Zeitreisen35 aktiviert, indem zukünftiges Handeln platziert werden kann. Aus dem sozialpsychologischen Gesichtspunkt müssen drei Voraussetzungen erfüllt werden, damit die Rede von Effizienz der Orientierungsleistung sein werden könnte. Markowitsch und Welzer verweisen auf diese Bedingtheit folgendermaßen: a) die Erinnerungen müssen sich auf einen Ich-Bezug stützen, um folgerichtig gebraucht werden zu können, b) die autobiographische Dimension der Erinnerungen muss durch den so genannten emotionalen Index dargelegt werden, d.h. die autobiographischen Erinnerungen stehen mit den konträren Gefühlen in Wechselbeziehung zueinander, c) die autobiographischen Erinnerungen sind als autonetisch positioniert. Mit anderen Worten haben sie einen Hang zum „Verwechseln vom Geschehnissen und der Quellen von Ereignissen“.36 Paradox werden die von jemandem gelesenen oder gehörten Ereignisse und Erlebnisse zum autobiographischen Gedächtnis assimiliert. Daraus folgt, dass man sich in divergente vergangene Situationen zurückversetzt, ohne irgendwelchen Einfluss darauf zu haben. Die schon früher abgeschlossene Handlung kann von einem Individuum manipuliert und auf neue Art und Weise erlebt werden. Wenn dieses Faktum einer Analyse unterzogen wird, muss herausgestellt werden, dass die Gedächtnisprozesse kontinuierlich modifiziert werden. Dem Menschen als einem Denkwesen wurde im Laufe der Zeit ein vorzügliches Phänomen angeeignet. In evolutionärer Hinsicht signifiziert man es als einen Anpassungsvorteil. Diese Eigenschaft wird in der Perspektive von Markowitsch und Welzer mit diesen Worten definiert: „Über ein autobiographisches Gedächtnis zu verfügen, bedeutet in evolutionärer Perspektive einen enormen Anpassungsvorteil: Es schafft die Möglichkeit, sich bewusst und reflexiv zu dem zu verhalten, was einem widerfahren ist und wie man darauf reagieren hat.“37 Die Autoren verweisen auf das hervorragende Vermögen, das jedem Menschen angeboren ist. Man muss darauf aufmerksam machen, dass der Mensch in der Tat 34 Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung 2005, S. 11. 35 Dieser Begriff wurde von Endel Tulving eingeführt. Er ist ein kanadischer Neurowissenschaftler und Psychologe. Sein Hauptforschungsgebiet ist das episodische Gedächtnis. 36 Vgl. Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis. und biosoziale Entwicklung. 2005, S. 26. 37 Markowitsch und Welzer 2005, S. 11. 13 imstande ist, sich bewusst und reflexiv auf das beziehen, was schon einmal passiert ist. Unabdingbar scheint es in diesem Bereich die Aufgabe des reflexiven Gedächtnisses zu sein. Ohne es wäre es keine Kohärenz zwischen solchen Gedächtnisaktivitäten wie Reiz und Reaktionen, Anforderungen und Antworten.38 Alle diese Bestandteile würden damals keine Bedeutungsträger. Wie die Untersuchungen zeigen, hängt das Entwicklungsalter des autobiographischen Gedächtnisses mit dem Spracherwerb zusammen. Markowitsch und Welzer unterstreichen doch, dass sein Entwicklungszyklus auch des jungen Erwachsenenalters und der späten Adoleszenz betrifft.39 3.2 Daniel Schacters Position nach Gedächtnis und Persönlichkeit Man muss darauf hinweisen, dass nach der Kognitionswissenschaft das menschliche Gedächtnis als eine Art Datenverarbeitungsmaschine gilt. Es ist wie ein Computer, der verschiedene Informationen speichert, aufbewahrt und abruft.40 Daniel Schacter, Direktor des Department of Psychology an der Harvard-Universität/Cambridge, sensibilisiert jedoch dafür, dass das menschliche Gedächtnis im Gegensatz zum Computer Erlebnisse nicht auf die Festplatte einbrennt.41 Der Mensch ist nämlich gerade nicht in der Lage, gewisse Elemente aus dem Gedächtnis abzurufen: „Vielmehr interpretieren wir Ereignisse der Vergangenheit immer wieder neu, je nachdem wie wir uns heute fühlen oder in welcher Situation wir uns befinden.“42 Nach Schacter trägt jeden Mensch in sich die Reste seiner Erinnerungen. Diese binden ihn an die Vergangenheit. Es gibt zwar Orte und Menschen, die seit längerer Zeit vergangen sind, aber es lässt sich nicht leugnen, dass sie weiter in den Erinnerungen eines Individuums oft als geisterhafte Erinnerungen existieren.43 Der einzigartige Charakter des Erinnerns zeichnet sich durch seine Subjektivität und Selektivität aus, d.h. die dieselben Ereignisse können auf verschiedene Art und Weise interpretiert 38 Vgl. Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis. und biosoziale Entwicklung. 2005, S. 12. 39 Vgl. ebd., S. 12. 40 Vgl. Schacter, L. Daniel: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2001, S. 39. 41 FOCUS Magazin (2001, 05. November): Die Vergangenheit zurechtbiegen. FOCUS ONLINE; Nr. 45. http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/gehirn/medizin-die-vergangenheitzurechtbiegen_aid_191748.html (Zugriff am 16.März 2009). 42 Schacter, im Gespräch mit FOCUS Magazin (Nov. 2001) 43 Vgl. Schacter, L. Daniel: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit. 2001, S. 37f. 14 werden. Ihre jede Auslegung kreiert ein gewisses Bild, das sich aus den Sinneseindrücken einer Gruppe von Menschen ergibt. Die Erinnerungen sind demzufolge im Verhältnis zu jedem Mensch unverwechselbar, indem sie mit Anderen nicht gleichgestellt werden können. Offensichtlich ist, das die Erinnerungsfähigkeit den vielfältigen Wandlungsprozessen und Neuerfindungen in der Gedächtnisforschung unterliegen. Beim Prozess des Erinnerns aktivieren sich wiederkehrende Fehler und Probleme, die das neurowissenschaftliche Phänomen Wahre und falsche Erinnerungen auslöst. Problematisch scheinen folgende Punkte zu sein: 1) das Verblassen von Erinnerungen, 2) Moment der Einspeicherung, 3) der Abruf von Erinnerungen, 4) Irrtümer, Verwechslungen der Quellen, 5) Quellenamnesien, Suggestibilität, 6) verzerrte Erinnerungen im Kontext von Kategorisierungen, und 7) Persistenz von Erinnerungen, die sich vor allem durch traumatische Erfahrungen und depressive Erkrankungen äußert.44 Schacter deutet auf drei Gedächtnissysteme hin, die wesentlich den Prozess des Erinnerns affizieren. Diese drei Komponenten bezeichnet er als das prozedurale, das semantische und das episodische Gedächtnis.45 Wenn die erste Ebene beachtet wird, muss berücksichtigt werden, dass man mit seiner Hilfe alle möglichen Fertigkeiten erlernt und Gewohnheiten erwerbt. Die menschlichen Handlungen werden automatisch gestaltet, ohne bewusste Reflexion zu bewahren.46 Wie die Untersuchungen zeigen, erreichen die so genannten routinisierten körperlichen Fertigkeiten nie das Potential „symbolischer Vermittlung“, die wiederum für das semantische Wissen kennzeichnend ist.47 In der Perspektive von Schacter nimmt man Bezug auf die verschieden Formen des Priming-Effekts, der von den Psychologen als den Kontext-Effekt angesehen wird.48 Diese assoziative Gedächtnisaktivierung rekurriert auf die Wiedererkennung eines Reizes, der vom Gedächtnis zu einem konkreten, früheren Zeitpunkt unbewusst registriert wurde. Das betrifft sowohl der Randbereiche der menschlichen Aufmerksamkeit als auch der Zuständen von Bewusstlosigkeit wie der Schlaf oder die Narkose.49 44 Vgl. Markowitsch, Hans J./Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. 2005, S. 28-32. 45 Ebd., S. 40. 46 Vgl. ebd., S. 40. 47 Vgl. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. 2002, S. 27. 48 Das Psychologie- Lexikon: Priming- Effekt. Psychology48.com. http://www.psychology48.com/deu/d/priming-effekt/priming-effekt.htm (Zugriff am 17.März 2009). 49 Vgl. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. 2002, S. 27. 15 Im Fall des zweiten Gedächtnissystems, also des semantischen Gedächtnisses, macht Schacter vor allem auf die Aufbewahrung des begrifflichen und faktischen Wissens aufmerksam. Dieses System" stützt sich im Unterschied zum prozeduralen Wissen auf das gelernte, symbolisch repräsentierte Wissen. Seinen Kern bestimmt Schacter als knowing- that, d. h als zeit- und kontextfreie Kenntnis, die in der Schule oder beim Fernsehen angeeignet wird.50 Es lohnt sich dabei hinzufügen, dass das semantische Gedächtnis in einem engen Zusammenhang mit der dritten Komponente des Gedächtnissystems d. h mit dem episodischen Gedächtnis steht. Nach Auffassung von Schacter betrachtet man es als ein System, dank dem einzelne Kontexte aus der Vergangenheit mit den persönlichen Erlebnissen (Lebenserfahrung), anders gesagt mit lebensgeschichtlichen Episoden, die so genannte eigene Vergangenheit prägen51. Daraus folgen mentale Zeitreisen, die stark emotial gefärbt sind. Diese ermöglichen einer erinnerten Person, die Einschränkungen von Zeit und Raum aufzuheben, sich in der Vergangenheit nach Belieben fortzubewegen und sich die Zukunft einzubilden.52 Es steht außer Frage, dass die kognitive Psychologie der 60er und 70er Jahre keinen großen Nachdruck der subjektiven Erfahrungen verlieh. Mit dieser wissenschaftlichen Dimension begann sich erst der kanadische Neurowissenschaftler und Psychologe Endel Tulving auseinanderzusetzn. Er verfügte doch über keine konkreten Befunde, die seine Tätigkeit beschleunigen konnte. Für die zeitgenössische Kognitionspsychologie ist die Frage nach der subjektiven Erfahrungen kein großes Dilemma. Dank der zahlreichen Untersuchungen hat sie einen Einblick in die innere Welt des Erinnerns. Manche ihre Ergebnisse überraschen und tragen dazu bei, dass manche Ansichten revidiert werden müssen. Nach Schacter differenziert man zwei Typen von Erinnerungen: Feld- und BeobachterErinnerungen.53 Der Hauptunterschied zwischen beiden Elementen liegt darin, dass das erinnerte Geschehen anders rezipiert wird. Die Feld-Erinnerungen richten den Fokus auf emotionale Intensität zum vergangenen Geschehen, was bedeutet, dass man sich etwas mit eigenen Augen erinnert, d.h. man sich so verhält, als wäre man dort sein. Solche Art der Erinnerung tritt vorwiegend bei jüngeren Erinnerungen auf. Wenn es sich um Beobachter-Erinnerungen handelt, muss festgestellt werden, dass sie Distanz 50 Vgl. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. 2002, S. 24. Vgl. ebd., S. 24. 52 Vgl. Schacter, L. Daniel: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit. 2001, S. 41. 53 Vgl. ebd., S. 41. 51 16 zum vergangenen Geschehen nehmen. Da sie oft in älteren Erinnerungen platziert werden, deuten sie erstens für geringere Gefühlsbeteiligung, zweitens für wenigere Intensität von gegenwärtiger Gefühlserregung hin.54 Es kommt auch vor, dass sich der Erinnerungsakt der Feld-Erinnerungen zum Vorteil der Beobachter-Erinnerungen und umgekehrt verändert. Es ist deswegen anzunehmen, dass die emotionale Intensität einer Erinnerung teilweise mit den Modalitäten des Erinnerungsaktes zusammenhängt55. Der letzte Aspekt, der besprochen werden sollte, nimmt Bezug auf zwei Formen der subjektiven Erfahrungen, nämlich auf Erinnern und Wissen. Der erste Bestandteil verweist auf visuelle Vorstellungen des physischen Umfelds eines Ereignisses, wodurch einerseits die Situationen besser abgerufen werden können, andererseits die Gedächtnismanipulation hervorgerufen werden kann. In Anlehnung an die zweite Form lenkt man darauf Aufmerksam, dass sie sich mit dem Auf-der-Zunge-liegen-Phänomen verbindet. Man weiß zwar etwas, aber das ist nur ein Teil des Ganzen. Eine Person ist in der Tat nicht imstande, an den ursprünglichen Zeitpunkt oder die Situation zu erinnern. Solcher Zustand entsteht durch Ablenkung oder durch die Beschäftigung sich mit etwas anderem zum Moment des Geschehens. In solcher Situation können also Assoziationen und Verknüpfungen nicht hergestellt werden. Die Vergegenwärtigung dieser Prozesse vollzieht sich demnach nur während des Erinnerns. Die oben besprochene Problematik des Gedächtnisses im Kontext der Kognitionswissenschaft zeugt eindeutig davon, dass das Prinzip Gedächtnis und Erinnerung ein faszinierendes und mehrdimensionales Thema ist, das in hohem Maße den psychologischen und neurowissenschaftlichen Ebenen dient. Die von der Kognitionswissenschaft durchgeführten Forschungen und Untersuchungen im Bereich der menschlichen Psyche revolutionieren sowohl die Welt der Wissenschaft, als auch das alltägliche Leben eines durchschnittlichen Menschen, wodurch er mehr auf seine Identität und Gedächtnisprozesse gerichtet ist. 54 55 Vgl. Schacter, L. Daniel: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit. 2001, S. 45-48. Ebd., S. 47f. 17 4 Zu Grundfragen von Literatur, Erinnerung und Identität 4.1 „Fictions of memory“ in Bezug auf Birgit Neumann Man geht davon aus, dass man sich an gewisse Inhalte mit Hilfe verschiedener Medien erinnert. Auf solche Art und Weise funktioniert das menschliche Gedächtnis, das dank den Ressourcen sowohl der individuellen als auch der kollektiven Erinnerungen eine Identität stiftet. Die Korrelationen zwischen diesen Komponenten forscht die Literatur, die als ein Medium fungiert. Es lohnt sich anzudeuten, dass sich immer häufiger die literarischen Texte mit dem Gedächtnisdiskurs auseinandersetzen. Daraus resultieren abwechslungsreiche Inszenierungen, die in Form von Fictions of memory „den Zusammenhang von Erinnerung und Identität in ästhetisch verdichteter Form darstellen“.56 Neumann verweist auf die Spezifik dieser literarischen Erscheinung. Bezeichnend ist, dass Fictions of memory durch ihre Struktur und Form, d. h durch ihre narrative Offenheit, Vielstimmigkeit, Mehrdeutigkeit und Selbstreflexivität neue Erinnerungskonzeptionen und Identitätsvariante skizzieren.57 Bedeutungsvoll sind auch solche literarische Techniken wie die Raumdarstellung und die Intertextualität. Ihr Phänomen bezieht sich darauf, dass sie durch eine Reihe von Symbolen für konkrete Anwendung der individuellen und kollektiven Erinnerungen im Rahmen der Inszenierung von Erinnerung prädestinieren. In der Perspektive von Birgit Neumann wird der Raum vor allem als sinnbildlicher Ausdrucksträger gesehen. Daraus folgt, dass dieses Verfahren zum Erinnerungsort simplifiziert wird.58 Wenn es um die Intertextualität bzw. Intermedialität geht, wird von der Autorin hervorgerufen, dass beide Komponenten zu dem textuellen und medialen Vorhandensein des Vergangenen standardisieren, indem die Signifikanz von Gedächtnismedien in Form der Überlieferung von kollektiven Erinnerungen dokumentiert wird. Fictions of memory verfügen somit über ein reiches Spektrum von Verfahren, mit deren Hilfe das Prinzip Erinnerung und Identität realisiert werden kann. Diese Vielfalt wird durch a) die individuelle und kollektive Vergangenheitsaneignung, b) Stabilisierung und Destabilisierung von Identität, c) gemeinschaftliche 56 Gedächtnisbildung, d) Neumann, Birgit: Fictions of memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen Gegenwartsromanen. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, Heft 4/2004, S. 337. 57 Vgl. Ebd., S. 356. 58 Vgl. Ebd., S. 341. 18 Auseinandersetzung antagonistischer Erinnerungen illustriert.59 Neumann thematisiert diese Bezüge nach gattungstypologischen Erscheinungsformen. Es lohnt sich dabei zu erwähnen, dass Zeitbezug eine besondere Rolle spielt. Dieser ermöglicht nämlich, die hervortretenden Prozesse zwischen Gedächtnis und Erinnerung zu differenzieren und gleichzeitig die Erzählebenen zu konstruieren. Der Hauptunterschied besteht darin, dass das Gedächtnis auf das Vergangene gerichtet ist, indem seine Dominanz auf der diegetischen `Ebene einer zurückliegenden Handlung basiert. Die Erinnerung wird hingegen durch die Gegenwart präsentiert. Daraus ergibt sich ihre Handlungsfähigkeit in der extradiegetischen Form.60 Die Korrelationen zwischen Erinnerung und Identität werden noch durch andere, genauso signifikante und gravierende Dimension des Phänomens Fictions of memory ausgedrückt. Man nennt sie als eine geschlossene Perspektivestruktur, infolgedessen die kommunale Erfahrung aus der Perspektive der Ausblickspunkte61 wahrgenommen wird. Im Hinblick auf diese Kategorien stellt Neumann vier Romantypen aus: 1) der autobiographische Gedächtnisroman, 2) der autobiographische Erinnerungsroman, 3) der kommunale Gedächtnisroman, 3) der soziobiographische Erinnerungsroman. Der Gedächtnisroman umfasst „das sinn- und identitätsstiftende Potential von Gedächtniserzahlungen“62 darstellt. Anders gesagt macht dieser Typ darauf aufmerksam, dass die individuellen Erfahrungen uneinheitlich sind. Dank der erzählerischen Vermittlung festigen sie eine geschlossene und folgerichtige Identität. Das auffälligste Merkmal dieser Form ist jedoch die Tatsache, dass sie der individuellen Erfahrungsverarbeitung die Sinnstiftungsmodelle zusichert.63 Dieser Faktor ist schon nicht so offensichtlich für den autobiographischen Erinnerungsroman. Die Sinnstiftung erweist sich hier ein Dilemma zu sein. Außergewöhnlich ist, dass diese Erscheinungsform der Fictions of memory nach den neuen, offenen Ideen und Varianten von Identität suchen. Im Rahmen der autobiographischen Erinnerungen geben die Erinnerungserzählungen nie eine endgültige Antwort auf das Thema des Gewordenseins innerhalb der 59 Vgl. Neumann, Birgit: Fictions of memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen Gegenwartsromanen. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, Heft 4/2004, S. 342. 60 Die Termine diegetisch und extradiegetisch beziehen sich auf die Theorie von Gerard Genette. Präziser gesagt handelt es sich um den Ort des Erzählens. 61 Mit diesem Begriff bedient sich Maurice Halbwachs. 62 Neumann, Birgit: Fictions of memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen Gegenwartsromanen. 2004, S. 356. 63 Vgl. ebd., S. 356. 19 individuellen Erfahrung. Das Wesentliche liegt darin, dass sie pernament nach innovativen Erzählungen streben. Aus diesem Grund sind sie mit der Offenheit und Polyvalenz des Sinnstiftungsprozesses einverstanden. In der Erinnerungskultur können sie deswegen als reflexiver Metadiskurs gelten.64 In Anlehnung an den kommunalen Roman muss festgehalten werden, dass sein Funktionspotential durch „marginalisierte und nicht-sanktionierte Erinnerungen“65 gekennzeichnet wird. Mit anderen Worten bringt er zusätzlich schon vernachlässigte und verbotene Inhalte an. Es formiert sich dadurch ein einmaliger Gegendiskurs, der dazu führt, dass schon die früher von der Gesellschaft aufgenommenen Normen neuen Perspektiven unterliegen. Das, was den letzten Roman typisiert und von anderen Elementen der Fictions of memory differenziert, tituliert Neumann als kulturell getrennte Erinnerungsversionen.66 Diese Alternativen hängen paradox mit der Authentizität und Tragfähigkeit zusammen. Logischerweise werden sie von den Menschen bewahrt und als ein integratives Vergangenheitsregister rezipiert. 4.2 Erzähltheoretische Besonderheiten nach Astrid Erll Es steht außer Zweifel, dass sich das kollektive Gedächtnis der vielfältigen Medien bedient. Für ein besonders repräsentatives Mittel gilt die Literatur, die sich sowohl mit den fiktionalisierten Biographien, Autobiographien als auch Memoiren beschäftigt. Auf ihre unterschiedlichen Varianten und Kategorien verweist Astrid Erll. Diese ermöglichen in erster Linie a) historische Romane von Zeitromanen zu differenzieren, nächstens b) Vergangenheitsinszenierung in Novellen und short-story zu recherchieren und schließlich c) narrative Aspekte in Balladen und Dramen zu verifizieren. 67 Unter diesen Bedingungen verwirklicht sich das Prinzip der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses. Es muss dabei signifiziert werden, dass literarische Form mit gedächtnismedialer Funktion nur innerhalb der bestimmten Erinnerungskultur berücksichtigt werden kann. Die Leitfrage, die gestellt werden muss, richtet sich auf konkrete ästhetische Verfahren. Ihre Spezifik bezieht sich auf die Annahme, dass sie ein 64 Vgl. Neumann, Birgit: Fictions of memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen Gegenwartsromanen. 2004, S. 356. 65 ebd., S. 356f. 66 Ebd., S. 357. 67 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen 2005, S. 167. Siehe auch: Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar (Hrgs.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Berlin: Walter de Gruyter 2005, S. 267-270. 20 literarisches Werk zu einem Medium des kollektiven Gedächtnisses macht.68 Wenn man darauf Rücksicht nimmt, muss aufgewiesen werden, dass nicht ohne Bedeutung der Rezeptionsprozess beim Leser ist: „Entscheidend wird in jedem Fall sein, welche Erwartungen und Sinnstiftungsstrategien die Leserschaft an die Lektüre heranträgt und ob sie das gedächtnismediale Potential des Symbolssystem Literatur im Rezeptionsprozess aktualisiert. Neben individuellen und kollektiven Rezeptionsstrategien spielen dabei Verfahren der erinnerungskulturellen Institutionalisierung und (nicht zu unterschatzen) die massenmediale Diskussion und Bewerbung von Literatur eine Rolle.“69 Astrid Erll beweist, dass eine Lektüre auf verschiedene Art und Weise aufgenommen werden kann. Ihr Erfolg hängt ebenso von den Erwartungen, Sinnstiftungsstrategien der Leserschaft, wie von Gedächtnisbildung und von Kanonisierungsprozessen ab. Wenn man diese Tatsache weiter verfolgt, dann kommt man zum Schluss, dass die Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses, die die konkreten narrativen Verfahren für Erforschung, Darstellung und Darlegung der Erinnerung verwendet, zu antworten versucht, wie literarische Texte als Medien funktionieren und wie sie von den Rezipienten wahrgenommen werden. Bezeichnend dabei ist, dass sie sich zu diesem Zweck auf fünf Modi beruft, die prinzipiell durch literarische Techniken konstruiert werden. 4.2.1 Erfahrungshaftiger vs. monumentaler Modus Wie Astrid Erll bemerkt, verfügt die Literatur über ein Spektrum literarischer Darstellungsverfahren. Diese inszenieren kulturell-autobiographische Erinnerungen und entscheiden über ihren kulturellen oder kommunikativen Charakter. Die literarischen Texte suchen nach Vergangenheitsregister, die sich durch religiöse oder ethnischnationale Ursprünge der Mythen ausdrücken. Wenn sie ihren Blick auf kulturelle Nuance lenken, konstruieren sie die Wirklichkeit im Fernhorizont der Kultur. Durch die Generationsliteratur veranschaulichen sie hingegen kommunikative Aspekte des Gedächtnisses, die als eine Form der Inszenierung von menschlichen Geschichtserfahrungen gelten. Die Literatur ist also ein Medium, das im Rahmen des kollektiven Gedächtnisses operiert. Einerseits bildet es die Identität und perpetuiert die Selbstverständigung innerhalb der Generationen, andererseits richtet es den Focus auf 68 69 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen 2005, S. 167. ebd., S. 167. 21 das Trauma, das als ein Spiegelbild von individuell-autobiographischen menschlichen Tragödien und grausamen Schicksalen identifiziert wird.70 Der Schwerpunkt beider Modi liegt auf ihren zwei Kriterien, d. h auf „Erfahrungshaftigkeit“71 und "Monumentalität". Der Hauptunterschied zwischen ihnen besteht darin, dass während der erfahrungshaftige Modus mit dem literarischen Realismus verknüpft ist, indem er auf „lebensweltliche Details und spezifische Erfahrungen“72 orientiert ist, der monumentale Modus die Monumenten, bzw. die Zeichen involviert, dank denen die Kultur gepflegt wird. In der Perspektive von Erll ist doch diese Differenz nicht so sehr offenbar. Es gibt in der Tat keine klaren Grenzen. Die Ebenen des kulturellen Gedächtnisses wirken auf „Erfahrungshaftigkeit“ ein. Die Elemente des kommunikativen Gedächtnis werden in Form von „lebendiger Geschichte“ in das kulturelle Gedächtnis transpositioniert. Um zu wissen, auf welchen Aspekt den Text Bezug nimmt, muss man sich einer Reihe von literarischen Darstellungsverfahren bedienen. Astrid Erll differenziert folgende Formen73: Selektionsstruktur- im Zentrum steht die Frage, ob die dargestellten Dinge, d.h. Personen, Ereignisse eines bestimmten Textrepertoires auf das kommunikative oder auf das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft basieren.74 paratextuelle Gestaltung- es handelt sich darum, dass man sich der Zitate (Bibelsprüche, Shakespearezitate) bedienen, dank denen a) die ganze kulturelle Überlieferung samt mit ihrer Bedeutung hervorgerufen wird, b) die Verbindung an außerliterarische, lebensweltliche Bezüge verdeutlicht wird.75 Intertextualität- darunter versteckt sich ein literarisches Darstellungsverfahren, das um die Autorität und Authentizität der literarischen Texte möglich zu machen, den Anspruch auf schon anerkannte Literatur, d.h. auf kanonische oder klassische Werke 70 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 169. Siehe auch: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar/Birk, Hanne: Gedächtnisromane: Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren. Trier: WVT 2003. 71 Mehr dazu in: Nünning, Vera/Nünning, Ansgar: Produktive Grenzüberschreitungen: transgenerische, intermediale und interdisziplinäre Ansätze in der Erzähltheorie. In: Dies (Hrgs.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier: Wiss. Verl. Trier 2002, S. 1-23, hier S. 6. Zitiert nach Fludernik, Monika: Einführung in die Erzähltheorie 2006, S. 122ff. 72 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 169. 73 Siehe auch dazu: Erll, Astrid/Nünning, Ansgar: Literatur und Erinnerungskultur. Eine narratologische und funktionsgeschichtliche Theorieskizze mit Fallbeispielen aus der britischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Oesterle, Günter (Hrgs.): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, S. 200205. 74 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 170. 75 Vgl. ebd., S. 170. 22 erhebt. Wie Aleida Assmann bemerkt, weisen sie gewisse Regelmäßigkeit auf. Sie eignen sich Zitate, Symbole, sprachliche Varianten oder charakteristische Figuren aus der Bibel an und behandeln sie zum Teil als „eigene Autorität“. Auf den anderen Aspekt deutet dabei Jan Assmann hin. Die Literatur besitzt die Abilität, selbst das kulturelle Gedächtnis zu stiften.76 Solches Vermögen fördert hauptsächlich einen monumentalen Modus. Interdiskursivität- diese Form lässt sich zweierlei verstehen. Wenn sprachliche Besonderheiten und die Aufnahme alltagssprachlicher, gruppenspezifischer Begriffe im Vordergrund stehen, tritt zweifellos der erfahrungshaftiger Modus auf. Oppositionell dazu stehen schematische und veraltete Wendungen, die von der Sprache des Monuments also von dem monumentalen Charakter der Literatur zeugen.77 Intermedialität- die Differenzen zwischen beiden Modi liegen in Details. Wie Astrid Erll andeutet, sind sie in den Medien stark verankert. Während doch der erfahrungshaftige Modus seinen Blick auf die kommunikative Dimension des Gedächtnisses, d.h. auf Fotos, Tonbandaufnahmen, wirft, beschäftigt sich der monumentale Modus mit den kulturellen Aspekten des Gedächtnisses. Dazu zählt man heilige Schriften oder Denkmäler.78 erzählerische Vermittlung- das Wesentliche besteht darin, dass man sich auf ganz andere erzählerische Instanzen rekurriert. Dem monumentalen Modus, also dem kulturellen Gedächtnis entspricht auktorialer Erzähler79. Dem erfahrungshaftigen Modus also dem kommunikative Gedächtnis hingegen: Ich- Erzähler und personaler Erzähler80. Wenn diese Aspekte weiter vertieft werden, lohnt sich darauf aufmerksam zu machen, dass beide Erzählinstanzen durch eine Reihe von Merkmalen gekennzeichnet sind. Für einen wichtigen Anhaltspunkt im Bereich der Erzählsituation gilt die Stimme des Erzählers. Ausgehend davon konstatiert man, dass für den auktorialen Erzähler offizielle, distanzierte Stimme typisch ist. Mit anderen Worten überblickt, interpretiert und bewertet er konkrete Ereignisse, Geschehnisse oder Figuren, ohne in die dargestellte Welt involviert zu werden. Ganz andere Haltung nimmt Ich-Erzähler und personaler Erzähler an. Ihre Stimme sind subjektiv, 76 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 170f. Vgl. Ebd., S. 171. 78 Vgl. ebd., S. 171. 79 Nach der Auffassung von Franz Karl Stanzel (1979). 80 Vgl. Ebd., 77 23 emotional gefärbt. Das narrative Wissen ergibt sich aus der Lebenserfahrung, die zusammen mit alltagsweltlichen und sozialen Erinnern homodiegetischen Erzähler81 visualisieren. Den Ich-Erzähler und personalen Erzähler betrachtet man folglich gewissermaßen als „Zeugen des Erzählten“. Nach der Auffassung von Erll spielen dabei der I-as-witness Erzähler und der autodiegetische Erzähler82 eine entscheidende Rolle. Während die erste Instanz für Augenzeugenschaft und Selbsterlebtes steht, dient der zweite Vermittler wegen seiner Erfahrungen als ein Leitbild, das nah an dem Kollektiv ist.83 Innenweltdarstellung- diese literarische Form verbindet sich prinzipiell mit zwei Themenkomplexen. Einerseits ist das interne Fokalisierung, andererseits- Gedankenberichte, erlebte Rede, innerer Monolog.84 Ihre Formel und Funktion ist genügend anschaulich, damit es konzipiert werden könnte, welche Modi als Medien der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses fungieren. Dabei lohnt sich auf die FeldErinnerungen zu stützen. In der psychologischen Hinsicht sind sie „die Spezifität individueller Lebenserfahrungen, Details, sinnliche Eindrücke und Emotionen, Wahrnehmung von den Ereignissen <aus den Augen> daran Beteiligten […]“85 Diese Bedingungen deuten auf jeden Fall auf den erfahrungshaftigen Modus. Es ist nicht zufällig, dass Astrid Erll mehrmals auf seinen Kern zurückfährt, der sich vor allem durch subjektive und emotionale Wahrnehmung von Erfahrungen verdeutlicht. Als besonders extreme Situation signifiziert man dabei die traumatischen Erlebnisse, die oftmals erst durch die Anwendung von Gedankenberichten, erlebter Rede oder inneren Monologe zustande kommen. Raum-Zeitdarstellung- wenn diese Kategorie in Rücksicht genommen wird, dann wird es klar, dass die zeitlichen und räumlichen Kulissen als „ineinander greifende Formen des literarischen Vergangenheitsbezugs“86 koexistieren. Raum und Zeit, zwei Wahrnehmungsräume, fasst man also in diesem Sinne als eine Art der Modalität auf, die sich insbesondere durch „Erinnerungsrahmen“ d.h. durch konkrete Verortung von Erfahrungen erkennbar macht. Aus diesem Grund gibt es keine festgelegte Grenze zwischen dem erfahrungshaftigen als auch monumentalen Modus. Der Raum kann in der Tat sowohl mit Hilfe der Atmosphäre, Stimmung als auch des pathetischen „Stellung der Erzählers zum Geschehen” nach Gerard Genette (1972). Vgl. Gerard Genette 1972. 83 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 172. 84 Vgl. Ebd., S. 173. 85 Vgl. ebd., S. 173. 86 Vgl. Ebd., S. 175. 81 82 24 „mythischen Gedächtnisraumes“ ausgedrückt werden87, indem den Übergang zwischen Modi als reale und authentische Kapazität beurteilt werden kann. 4.2.2 Historisierender Modus Es ist schon bezeichnend, dass man nach verschiedenen Prinzipien und Ideen greift, um die Geschichte in die Literatur, d.h. in die historische Romane gemäß den Erwartungen einzufügen. Angesichts dieses Faktors muss betont werden, dass der historisierende Modus als ein Bindeelement rezipiert wird. Kennzeichnend für ihn ist, dass er eher dem Wissen als dem „identitätskonkreten Erinnern“ dient.88 Daraus ergibt sich, dass dieser Modus in Opposition sowohl zum erfahrungshaftigen als auch monumentalen Modus steht. Anstatt Bezug auf die autobiographischen Aspekte des Gedächtnisses einer Kultur zu nehmen, ist er als „Bestandteil des kulturellen Wissenssystem“ vorhanden.89 Dieser Hang nach Fakten veranschaulicht sich durch „die wissenschaftliche Geschichtsschreibung“. Wie Astrid Erll bemerkt, beginnt die „gemeinsame Geschichte“ zwischen historisierenden Modus und historischen Romanen mit dem Anfang des 19. Jahrhunderts. Das Wesentliche liegt doch auf der Tatsache, dass sich dieser Modus durch „spezifisches, modernes, […] verknüpftes Zeitbewusstsein“90 auszeichnet. Solches Denkmuster bezieht sich auf die Voraussetzung, dass die Geschichte als eine unabänderliche, definitive Vergangenheit gesehen wird. Zu den typischen Darstellungsverfahren des historisierenden Modus gehören nach Astrid Erll: Rhetorik des Damals-und-Heute91: literarische Methode, mit derer Hilfe das spezifische, historische Zeitbewusstsein hervorgerufen und dokumentiert wird Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung: das Präsentierte wird in Form der Belege in den Fußnoten geäußert. Es werden auch Hinweise auf Quellen und geschichtswissenschaftliche Studie in den Paratexten92 87 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 175. Vgl. Ebd., S. 177. 89 Vgl. ebd., S. 177. 90 Vgl. ebd., S. 177. Dazu äußert sich auch: Weber, Wolfgang: Geschichte und Nation. Das ‚nationale Princip’ als Determinante der deutschen Historiographie 1840-1880. In: Fulda, Daniel/ Tschopp, Silvia Serena (Hrsg.): Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Berlin/New York: Walter de Gruyter 2002, S. 343-358. 91 Der Begriff wurde von Peter Demetz geprägt. 92 In Anlehnung an Gerard Genette versteht man einen Paratext als ein Kommentar zum Haupttext, der in der Regel in Form des Mottos, des Nachworts, der Widmung ausgedrückt wird. Siehe dazu: Genette, Gerard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Campus Verlag: Frankfurt a. Main 1992, S. 9. 88 25 wie Klappentext oder Buchrücken gezeigt. Im Mittelpunkt steht die wissenschaftliche Richtigkeit der Vergangenheitsinszenierung.93 Einbeziehung historischer Einzelheiten: die „Erfahrungsspezifität“ einer Epoche, die schon vorbei ist, spielt keine tragende Rolle. Es wird vor allem ihre Fremdheit berücksichtigt.94 Es muss dabei einer Sache Bedeutung beigemessen werden. Der historische Roman und der historisierende Modus stellen denn auf keiner derselben Ebene. Ein historisches Erzählen, um erfolgreich zu sein, benötigt unterschiedliche Vergangenheitsregister. Wenn es keinen erfahrungshaftigen und Modus keine „identitätsstiftende Monumentalisierung“ gibt, fehlt einfach an der Vergangenheitsdarstellung.95 4.2.3 Antagonistischer Modus Selbstverständlich ist, dass die Vergangenheit nach gezielten Untersuchungsgegenständen systematisiert wird. Sie kann ebenso mit Hilfe des kommunikativen Gedächtnisses wie des kulturellen und wissenschaftlichen Gedächtnisses zum Ausdruck gebracht werden. Wenn der Focus auf den antagonistischen Modus gerichtet wird, erweist sich, dass sich die Literatur in präsente „Erinnerungskonkurrenzen“ engagiert und sich der Bestrebungen nach „Erinnerungshegemonie“ bedient.96 Als Medien der Erinnerungskonkurrenzen lassen sich dabei solche literarische Werke verstehen, die einen Überblick über GegenErinnerungen geben. Daraus bildet sich das Gedächtnis der so genannten marginalisierten bzw. nebensächlichen Gruppen heraus, das samt mit weiteren Selbsterkenntnissen und Werthierarchien dominante Formen in der Erinnerungskultur symbolisiert. Darüber hinaus sollte man bedenken, wie die Medialität des Vergangenen im Bereich des antagonistischen Modus realisiert wird. Es ist klar, dass dieses Verfahren auf den Erinnerungen konkreter 93 Gemeinschaften und ihrer Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 177. Vgl. Ebd., S. 178. Mehr dazu in: Birk, Hanne: „Kulturspezifische Inszenierungen kollektiver Gedächtnismedien in autochthonen Literaturen Kanadas: Alootook Ipellies Arctic Dreams and Nightmares und Ruby Slipperjacks Weesquachak and the Lost Ones.“ In: Erll, Astrid / Nünning, Ansgar unter Mitarbeit von Birk, Hanne/Neumann, Birgit/ Schmidt, Patrick (Hrsg.): Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität. Berlin: Walter de Gruyter 2005, S. 217-234, hier. 217-225. 95 Vgl. ebd., S. 178. 96 Vgl. ebd., S. 178. 94 26 Identitätskonzepte, Geschichtsbilder basiert.97 Der antagonistische Charakter bildet sich aus seiner anhaftenden „Selektivität, Standortgebundenheit und Perspektivität“98 heraus. Astrid Erll macht darauf aufmerksam, dass die Inszenierung von Identität und Alterität99, die sich hauptsächlich auf dem komparatistischen und postkolonialen Wissensgebiet bewegt, neue Alternativen und Möglichkeiten zur Verfügung stellt und neue Identifizierungen zum Ziel setzt. Das narrative Verfahren des antagonistischen Modus wird durch eine Reihe von Elementen gekennzeichnet. Der schon oben erwähnte Zusammenhang zwischen Identität und Alterität rekurriert auf eine Konstruktion, die wiederum nach Fludernik auf spezifische Phänomene orientiert ist: „Identitäts- und Alteritätskonstruktionen werden im Text auf verschiedenste Art produziert: durch imagologische Topoi […]; durch die gezielte Auswahl und Anordnung des Schauplatz-, Handlungs- und Figurenkomplexen; durch die Wahl der stilistischen und insbesondere nationalsprachlichen bzw. regionalen idiolektischen Register; durch die Modi der Fokalisierung sowie die systematische Regulierung des Zugriffs auf die Innenwelt strategisch ausgewählter Romanfiguren; durch die Wahl des Erzählerstandpunkts (Klassen-, Geschlechts-, etc. Zugehörigkeit […]); und durch die Einbindung in, bzw. Abgrenzung von anderen Identitäts- und Alteritätsdiskursen.“100 Die von Monika Fludernik präsentiertes breites Spektrum narrativer Prozesse beweist, dass die Erinnerungskonkurrenzen auf vielfältigen Ebenen verortet sind. Sie finden ihre Aussage sowohl durch den nationalen Aspekt des Antagonismus, als auch durch eine Vielfalt der Vergangenheitsversionen mitten in den Gruppen. Relevant dabei ist, dass sich dank der Gedächtnisvarietäten von Klassen, Geschlechtern oder religiösen Gemeinschaften und Generationen die „Fronten“ antagonistischer Werke entwickeln.101 An dieser Stelle lohnt sich eine Reflexion über weitere literarische Darstellungsverfahren des antagonistischen Modus einzufügen. Von Bedeutung sind solche literarische Formen wie: Selektionsstruktur- ihre zentrale Aufgabe zielt auf die Feststellung, welche konkurrierende Gedächtnisstrukturen sich gegenüberstehen lassen. Es muss auch dabei beantwortet werden, welche Bereiche der Erinnerungen ausgelassen werden 97 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 179. Vgl. ebd., S. 179 99 Der Begriff verweist auf eine philosophiegeschichtliche Dimension. Er nimmt Bezug auf poststrukturalistische Theorie (z.B Psychoanalyse oder Dekonstruktion), die sich auf die Dichotomie von Alterität und Erinnerung als einander bedingende Momente bezieht: http://www.fremdwort.de/suche.php?term=Alterit%E4t (Zugriff am 23.März 2009). 100 Fludernik 1999, S. 71f. 101 Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 179. 98 27 können und von welchen sozialen Gruppen lohnt sich zu sprechen. Entscheidend ist hier doch das Fakt, dass der ganze Prozess zur Auf- und Abwertung des Kollektivs führt.102 literarische Konfiguration- es werden hier Kontrast- und Korrespondenzrelationen bevorzugt. Der antagonistischen Konfrontierung von Menschen und ihren Erinnerungen dient die „kontrastierende Raumdarstellung“, die als eine Art der Kombination zwischen Heimat und Fremde expliziert wird.103 die Figurenkonstellation- in den Vordergrund rücken vereinzelte soziale Gruppen. Es muss differenziert werden, welche Gemeinschaften mit “wahren“ Erinnerungen assoziiert werden können und welche nicht.104 die Perspektivenstruktur- sie zeichnet sich durch eine relativ geschlossene Eigenart aus. Mit ihrer Hilfe werden Identitätskonzepte, Werte, Nomen vorgestellt, priorisiert und beurteilt.105 die erzählerische Vermittlung- ihre Basis formt die „Stimme einer Gemeinschaft“, bzw. Wir-Erzähler. Daraus ergibt sich aufeinander folgende Reihe mehrerer IchErzähler. Wie Astrid Erll markiert, gibt es auch bestimmte „explizite Leseanrede“, deren Ziel ist, den Leser für sich oder für die betreffende Gruppe zu behalten. Als die nächste wichtige Komponente gilt communal voice, die als ein „Mittel der Selbstautorisierung und der Ermächtigung Aussprache von Erinnerungen in marginalisierten Autoren“106 die den konkurrierenden Erinnerungskulturen unterstützt. Mit Hilfe der impliziten Verfahren werden zuerst gewisse kollektive Motive ausgelassen, dann aktuelle Plotstrukturen verwendet und schließlich die Vergangenheitsversionen gesammelt und umgeschrieben. Die Idee des antagonistischen Modus fokussiert sich auf das „Eingreifen in das gesellschaftliche Ringen um Erinnerungshoheit“107 Das heißt, dass sie mit literarischer Methode zusammenarbeitet, die hingegen die narratologischen Komponenten des Gedächtnisses entweder bejahend intensiviert, oder umstürzlerisch auflöst und mit den neuen Strukturen ausgestattet. 102 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 179. Vgl. Ebd., S. 180. 104 Vgl. ebd., S. 180. 105 Vgl. ebd., S. 180. 106 Ebd., S. 181. 107 Ebd., S. 182. 103 28 4.2.4 Reflexiver Modus Die Spezifik des reflexiven Modus stützt sich auf einen Perspektivenwechsel. Dabei lohnt sich Bezug auf den erfahrungshaftigen vs. monumentalen Modus, den historisierenden und antagonistischen Modus zu nehmen. Der prinzipielle Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass während die ersten vier Elemente der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses strikt mit dem Gedächtnibildung zusammenhängen, der reflexive Modus eher zur Gedächtnisreflexion auffordert.108 Astrid Erll sieht dieses literarische Verfahren als ein gewisses Phänomen, das durch seine Multifunktionalität sowohl die Selektionsstruktur als auch den literarischen Status des reflexiven Modus prägt. Genauer gesagt geht es um „den paradigmatischen Aspekt der Selektion“109 und um „den syntagmatischen Aspekt der narrativen Konfiguration“.110 Wenn die erste Ebene weiter analysiert wird, lassen sich folgende Rückschlüsse gezogen werden: Selektivität unterliegt der Steigerung, indem die Auswahlmechanismen berücksichtigt werden. Diese erweisen sich unentbehrlich für die Gestaltung von Vergangenheit.111 die gesellschaftlichen Formen deuten Referenzen auf die Diskussionen, Medien und Organisationen der Erinnerungskultur hin.112 Ebene aktueller Gedächtnisreflexion wie der kognitiven Psychologie, Psychoanalyse und der Geschichtstheorie werden durch intertexuelle Bezugsnahmen fixiert.113 Selbstreflexionen beeinflussen die Literatur und ihre Konstitution als Medium.114 Der syntagmatische Charakter der narrativen Konfiguration wird durch zwei Ausprägungen gekennzeichnet. Erll bezeichnet sie als „die implizite Inszenierung der Beobachtung von Erinnerungskultur“ und als „die explizite Thematisierung“115. Im Rahmen der ersten literarischen Besonderheit wird Metaphorik und Multiperspektivität verdeutlicht. Es wird auch gezeigt, wie das kollektive Gedächtnis auf der Handlungsebene gestaltet wird. Um das zu erreichen, führen die Figuren Gespräche 108 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 184. ebd., S. 184 (Paradigma= Musterbeispiel). 110 ebd., S. 184 (Syntagma= Zusammenstellung). 111 Vgl. ebd., S. 184. 112 Vgl. ebd., S. 184f. 113 Vgl. Ebd., S. 185. 114 Vgl. ebd., S. 185. 115 Vgl. ebd., S. 185. 109 29 über die gemeinsame Vergangenheit. Auf diese Art wird erstens der Rezipient auf bestimmte Reaktion stimuliert, zweitens wird aufmerksam auf konkrete Monumente, Denkmäler und Rituale gemacht. Explizite Reflexionen beschäftigen sich hingegen mit dem Zusammenhang von Gedächtnis und Kultur. Er äußert sich sowohl durch die Erzählinstanzen, als auch durch die Figuren und durch die angemessene Bewusstseinsdarstellung.116 Auf ein reflexives Potential verweist in hohem Maße die erzählerische Vermittlung. Die in ihr enthaltenen Verfahren sind auf folgende Inhalte positioniert: Ich-Erzählungen – sie treten in Form von homo- und autodiegetischen Texten auf. Darunter werden Autobiographien, Memoiren verstanden, mit deren Hilfe die individuellen Erinnerungen konkretisiert werden. Durch die Differenzierung auf ein erlebendes und erzähltes Ich werden die Erinnerungsprozesse narrativ inszeniert. In Bezug auf die Handlung, muss gesagt werden, dass sie sich auf die spezifische Wahrnehmungskulisse eines Individuums konzentriert. Da die Erinnerungen in dem Kollektiv auch verankert sind, werden sie in kommentierenden, analysierenden Rückschau gesehen. Daraus folgt, dass es keine Stimmigkeit zwischen Erfahrung und die Erinnerung gibt. Beide Ebene werden u.a nach Konstruktivität, Perspektivität kritisch behandelt.117 unzuverlässiges Erzählen118- kennzeichnend für dieses Verfahren sind seine „interne Unstimmigkeiten und Widersprüche“.119 Die gegenwärtige Perspektive beeinflusst das Vergangenheitsbild, indem es einem Wandel unterliegt, d.h. es verzerrt wird. Wesentlich dabei ist, dass im Prozess des Abrufs am meistens die so genannte „Authentisierungsstrategie“ hoch geschätzt wird. Das Vergessen samt mit dem Verdrängen bildet schließlich eine elementare Komponente der menschlichen Erinnerung.120 Multiperspektivität- eine der wichtigsten Instanzen des reflexiven Modus. Dank der internen Fokalisierung121 gibt sie öffentliche und private Ereignisse aus der Vergangenheit weiter. 116 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 185. Vgl. Ebd., S. 186. 118 Vgl. Nünning /Surkamp/Zerweck 1998. 119 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 186. 120 Vgl. Ebd., S. 187. 121 Vgl. Genette 1972. 117 30 Ein unbestrittener Vorzug des reflexiven Modus ist, dass man mit seiner Hilfe die Erinnerungskultur observiert und zugleich ihre Mechanismen und Funktionen kritisch hinterfragt. In dieser Hinsicht ähnelt er des antagonistischen Modus, dem wiederum die zeitgenössische Erinnerungspolitik am Herzen liegt. Resümierend lassen sich die Schlussfolgerungen ziehen, dass sich die von Astrid Erll beschriebene Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses auf die Kooperation unterschiedlicher Modi bezieht. Der erfahrungshaftige Modus gilt dabei als Basis für den monumentalisierenden antagonistischen Modus und den beinhalteten historisierenden Antagonismen Modus. auf die Um die effiziente im und überzeugende Weise realisiert werden zu könnten, muss eine prinzipielle Bedingung erfüllt werden. Der Text sollte im Endeffekt die Vergangenheit in Form von Nah- oder Fernhorizont vermitteln.122 Diese Prozedur wird stets schon in Verbindung mit den zuvor bezeichneten Modi gebracht. Wenn es um den letzen Modus, d.h. den reflexiven Modus geht, muss exponiert werden, dass man hier den großen Wert auf antagonistische Einbezüge legt. In diesem Zusammenhang konzipiert man, dass die fünf Modi differente „Optionen der erinnerungskulturellen Funktionalisierung von Literatur“123 anbieten. In der Perspektive von Erll a) gilt sie als Medium der Entfaltung und der Modifikation von kulturellen Gedächtnis, b) füllt sie das kommunikative Gedächtnis mit ästhetischen Verfahren, c) setzt sie Mythos und präsente Alltagserfahrung exemplarisch zusammen, d) formt sie teilweise Darstellungen von Geschichten, e) trennt sie entstehende Vergangenheitsversionen, f) verankert sie Gegen-Erinnerungen in das kollektive Gedächtnis und g) impliziert sie die kritische Betrachtung hinsichtlich der Problematik des kollektiven Gedächtnisses. Im Rahmen der Diskussionen zu Erinnerungskulturen hat Jan Assmann betont, dass die Vergangenheit auf keinen Fall „an sich“ selbst existiert. Sie ist nicht das geschlossene Ganze, das für alle Zeiten unveränderlich ist.124 Sie lebt dank den Generationen, Institutionen und Medien, deswegen es ist so wichtig, damit die Kultur unter dem Aspekt des kommunikativen und des kulturellen Gedächtnis beachtet werden könnte. Während der erste Bestandteil den Nachdruck einer Alltagsinteraktion verleiht und einen begrenzten Zeithorizont besitzt, ist das zweite 122 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 189. ebd., S. 189. 124 Universität in Essen (2004): Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (1992). http://www.uni-essen.de/literaturwissenschaft-aktiv/Vorlesungen/ausblick/kult_gedaechtnis.htm (Zugriff am 18.April 2009). 123 31 Gedächtnissystem mit „festen Objektivationen“ verbunden. Wie Jan Assmann bemerkt, sind sie „hochgradig gestiftet und zeremonialisiert“125. Diese Überlegung ist zu unterstützen, denn auch Welzer spricht von „Objektivationen des Erinnerns“126, die wesentlich die Vergangenheit beeinflussen und „zum Leben“ abrufen. 125 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 1992, S. 52. 126 Vgl. Welzer, Harald: Das soziale Gedächtnis. Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: Hamburger Edition HIS Verlag 2001b, S. 9-21, hier S. 11. 32 5 Zur Inszenierung von Erinnerung in Stephan Wackwitz’ „Ein unsichtbares Land“ 5.1 Biographische Angaben zum Autor Stephan Wackwitz wurde 1952 als Sohn von Gustav und Margot Wackwitz geboren. Er studierte Germanistik und Geschichte in München und in Stuttgart. Zu Anfang der 70er Jahre, also in seiner Studienzeit, war er politisch links eingestellt und in marxistischen Studentenbund MSB Spartakus engagiert. Es muss dabei unterstrichen werden, dass er Zögling des Theologischen Seminars war.127 Die Promotion erlangte Wackwitz mit der Abhandlung über Hölderlin. Als er sein Studium beendete, begann er als Lektor für Deutsch zuerst am King’s College in London, dann für das Goethe-Institut in Frankfurt am Main, Neu Delhi, Tokio und München zu arbeiten. Durch 8 Jahre (1999-2007) fungiert Wackwitz als Leiter des Goethe-Instituts in Krakau. Gegenwärtig arbeitet er als Programm-Leiter für das Goethe-Institue in New York.128 Wackwitz’s schriftstellerische Karriere verbindet sich mit der Essayistik. Während seiner Mitarbeit mit Goethe-Institute nahm er an den verschiedenen Reisen und Auslandsaufenthalten teil. Auf diese Weise wurde er gewissermaßen zu einem Kenner der Kultur. Stephan Wackwitz schrieb zahlreiche Essays, journalistische Arbeiten und kritische Abhandlungen, die in anerkannten Zeitschriften wie „Merkur“, „Lettre international“ oder „Der Alltag“ publiziert wurden.129 Bedeutsam ist, dass der Autor seine Erzählungen auch in den Büchern „Tokyo. Beim Näherkommen durch die Straßen“ (Essays, 1994) und „Kleine Reisen“ (1997) publizierte. Wackwitz nutzt grundsätzlich eigene Erlebnisse und akzentuiert das Verhältnis zwischen dem Eigenen und dem Fremden stark. Der Schriftsteller äußert nämlich die Meinung, dass „wenn man reist, Vgl. Munziger – Archiv (2003): Stephan Wackwitz, deutscher Schriftsteller; (Internationales Biographisches Archiv 36/2003 vom 25. August. 2003, ergänzt um Nachrichten durch MA-Journal bis KW 16/2008); http://www.munzinger.de/search/portrait/Stephan+Wackwitz/0/24508.html (Zugriff am 16.April 2009). 128 Vgl. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main (2009): Stephan Wackwitz. http://www.fischerverlage.de/autor/Stephan_Wackwitz/5705 (Zugriff am 16.April 2009). 129 Vgl. Munziger – Archiv (2003): Stephan Wackwitz, deutscher Schriftsteller; Dr.phil. (Internationales Biographisches Archiv 36/2003 vom 25. August. 2003, ergänzt um Nachrichten durch MA-Journal bis KW 16/2008); MUNZIGER ONLINE. http://www.munzinger.de/search/portrait/Stephan+Wackwitz/0/24508.html (Zugriff am 16.April 2009). 127 33 kann man auch ein bisschen Abstand von dem nehmen, was man normalerweise ist.“130 Eine besondere Beachtung erlangte sein Familienroman „Ein unsichtbares Land“ (2003). Der Schriftsteller sucht nach den Spuren seiner Familie.131 Seine Suche verbindet sich gleichzeitig mit dem Bedürfnis der so genannten mentalen Zeitreise, die Wackwitz’s Vergangenheit und Identität determiniert. Nicht ohne Bedeutung ist die Tatsache, dass dieser Roman kontroverse Probleme anspricht, besonders im Kontext der zwischenmenschlichen Beziehungen, der Nazizeit, des Holocaust und Deutschland im „Nullpunkt“, d.h. auf dem „Sonderweg der Bußzerknischung“.132 Es verwundert also nicht, dass das Buch ambivalente Gefühle in der Leserschaft hervorgerufen hat. Wackwitz bewertet seinen Text selbst als eine Art der Abrechnung mit der Vergangenheit. Diese ermöglicht ihm, eine klare Haltung zur älteren Generation wie zum Onkel, Vater und zu den damaligen traumatischen Ereignissen einzunehmen und mit der Geschichte abzurechnen. Offensichtlich wird, dass der Familienroman „Ein unsichtbares Land“ eine lehrreiche Lektüre verspricht. Der Roman kann nicht nur als eine Form der privaten Aufzeichnungen gelten, sondern auch als ein Zeugnis von menschlichen Schicksalen, die durch die Vergangenheit auf den Karten der familiären Geschichte geschrieben wurden. 5.2 Zum Inhalt des Familienromans „Ein unsichtbares Land“ Stephan Wackwitz, Autor und gleichzeitig erzählender Protagonist des Familienromans, schildert die ungewöhnliche Geschichte seiner Familie, die sich mit einem gewissen unerhofften Wiedersehen verknüpft. Im Vordergrund steht eine No.1a Pocket KodakKamera, die nach vielen Jahren unerwartet wieder gefunden wird. Sie enthält einen eingelegten und belichteten Film, der Bezug auf die 1930er Jahre nimmt und strikt mit den Erfahrungen vom Großvater (Andreas Wackwitz) und vom Vater (Gustav Wackwitz) des Enkels (Stephan Wackwitz) verbunden ist. Es gibt zu bedenken, dass gerade diese veraltete und altmodische Kamera eine bedeutsame Rolle im Prozess der Erinnerung und des Gedächtnisses spielt. Dank diesem Apparat kommt der Erzähler auf 130 Dieses Zitat stammt aus dem Gespräch, das mit Stephan Wackwitz im Hessischen Rundfunk durchgeführt wurde (am 20.Juli 1994). 131 Vgl. Welzer, Harald: Die Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen. In: Radebold, Hartmut/Zinnecker, Jürgen (Hrgs.): Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten: Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen. Essen: Juventa Verlag 2008, S. 87. 132 Wackwitz, Stephan: Ein unsichtbares Land. Ein Familienroman. Frankfurt a. Main: S. Fischer Verlag 2003, S. 153. 34 die eigentliche Spur seiner wahren Familiengeschichte. Diese betrifft vor allem Andreas Wackwitz, der als Pastor und Veteran des Ersten Weltkrieges samt mit seiner Familie die Gegend in der Nähe von Auschwitz, d.h. vom galizischen Grenzgebiet zwischen Polen, Österreich-Ungarn und Oberschlesien bewohnte133. 1933 wanderte er als junger Mann in das Südwestafrika aus, das damals als die deutsche Kolonie galt. Infolge des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges erwies sich die Rückkehr nach Deutschland unmöglich zu sein. Das Schiff <Adolph Woermann>, mit dem Andreas Wackwitz zusammen mit seiner Familie reiste, wurde von den Engländern angegriffen und endgültig aufgebracht. Der Siebzehnjährige Gustav verlor seine Kamera, die von einem britischen Marinneooffizier konfisziert wurde. Der Junge verbrachte zirka 6 Jahre lang in Kanada, wo er im Rahmen der Kriegsgefangenschaft Bäume fällte. Inzwischen befand sich der Apparat in verschiedenen Händen. Erstaunlich ist, dass er sich bewährte. Die Kamera war zuerst in ein Depot in London, dann in Berlin. Es musste ein halbes Jahrhundert vergehen, um die Kamera heimzukehren könnte, d.h. zur Familie. Von jetzt an hatten Gustav und Stephan Wackwitz im Geiste nur eine, sehr frappierende Frage: Welche Bilder werden sich auf dem über sechzig Jahre alten Film finden?134 Dieses Dilemma ist gewissermaßen ein Grundstein der ganzen Familiengeschichte. Stephan Wackwitz kreiert auf jeden Fall ein akribisches und ausführliches Bild drei Generationen, das einerseits durch familiäre Liebe, Achtung, andererseits durch Ordnungsprinzip, absolute Gehorsamkeit und gegenseitige Animositäten gekennzeichnet wird. 5.3 Erzählerische Vermittlung Um das Vergangene und das Gegenwärtige konstruiert werden zu können, muss einen großen Wert auf die Erzählinstanz gelegt werden. Im Familienroman „Ein unsichtbares Land“ ist sie außer Zweifel ein wichtiges Orientierungszentrum. In der Perspektive von Carsten Gansel erfüllt der Erzähler eine Reihe von Funktionen. Der Erzähler als Vermittlungsinstanz „führt in die Geschichte ein, er stellt die Figuren vor und charakterisiert sie, er macht Angaben zu Raum und Zeit, er schildert die Handlungen und Figuren“.135 Daraus folgt, dass sich der Erzähler durch übermenschliche Fähigkeiten auszeichnet. Er hat einen Überblick über den gesamten Handlungsverlauf, 133 Wackwitz, Stephan: Ein unsichtbares Land. Ein Familienroman. 2003, S. 2. Vgl. ebd., S. 2. 135 Gansel, Carsten: Moderne und Jugendliteratur. Ein Praxishandbuch für den Unterricht. Berlin: Cornlesen Verlag.1999, S. 27. 134 35 er kann gleichzeitig an verschiedenen Orten sein und noch dazu auf das Innen und Außen der Figuren verweisen136. Im Folgenden wird Typologie der Erzählsituation nach F. K. Stanzel präsentiert und analysiert. Der Literaturwissenschaftler unterscheidet drei typische Erzählsituationen137: die auktoriale Erzählsituation- die Aufgabe des Erzählers besteht darin, dass er erstens über die vergangenen oder gegenwärtigen Geschehnisse berichtet, zweitens er bestimmte Situationen, Verhaltensweise der Figuren bewertet und kommentiert, drittens er sich an die Leser direkt wendet, indem er imstande ist, die fiktionale und faktuale Welt darzustellen, Es loht sich darauf hinzuweisen, dass der auktoriale Erzähler vor allem durch die Außenperspektive konstituiert wird.138 Aus diesem Grund bleibt seine „Blick auf die Bewusstseinzustände von außen bestimmt und daher begrenzt“.139 Die Bedeutung des Begriffs „ Allwissenheit“ kann demnach in diesem Fall als ein problematisches und relatives Phänomen wahrgenommen werden. In Anlehnung an den Familienroman von Stephan Wackwitz lässt sich herausstellen, dass dieser Typ der Erzählinstanz tritt hin und wieder auf. Das Erzählte wird ungewöhnlich im Fernhorizont der vergangenen, epochalen, Ereignissen verortet: „Und trotzdem ist es schwierig für einen modernen Betrachter, nicht unwillkürlich ein bisschen stolz zu sein auf die Seibersdorfer Protestanten, wie sie am Sonntagmorgen mit Sensen, Knüppeln und Messern bewaffnet die katholische Kirche am Weg liegen lassen und in den Wald ziehen, um nach ihrer Fasson selig zu werden.“140 Es wird hier verdeutlicht, dass der Erzähler sehr gut weiß, wovon er spricht. Er kennt die Geschichte des Beskidenvorlands und hat einen Überblick über den religiösen Konflikt zwischen den Protestanten und den Katholiken des damaligen Seibersdorfes.141 Als bezeichnend erweist sich schon das erste Kapitel, wo der auktoriale Erzähler den Leser über ein merkwürdiges und gespenstisches Geschehnis informiert: „Im neunzehnten und noch bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein hat es in der Gegend um die alte galizische Residenzstadt Auschwitz viel gespukt […] Noch in den dreißiger Jahren hat man sich zum Beispiel von unheimlichen Tieren im Lobnitzer Judengrund erzählt, die in Adventsnachten erschienen, oder von gespenstischen Bergen und Wäldern in der Nahe von Bielitz, in die man durch Irrlichter gelockt wurde und aus denen man nicht mehr herausfand.“142 136 Vgl. Gansel 1999, S. 27. Vgl. Stanzel 1987/1995/2001; zit. nach Gansel 1999, S.28ff und Monika Fludernik 2008, S. 104 ff. 138 Vgl. Fludernik, Monika: Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt: WBG 2008, S. 106. 139 Gansel, Carsten: Moderne Kinder und Jugendliteratur. 1999, S. 30 140 Wackwitz 2003, S.67 141 Gegenwärtig wird dieses Dorf unter dem Namen „Kozy“ bekannt. 142 Wackwitz 2003, S. 7f. 137 36 Offensichtlich wird hier, dass der Erzähler über technische Funktionen, wie Ort, Zeit verfügt. Mit ihrer Hilfe veranschaulicht er eine außergewöhnliche, eher fiktionale Geschichte, die in engem Zusammenhang mit dem menschlichen Aberglauben steht. Der Erzähler gehört nicht zu dieser Welt an. Er steht „über“ ihr143, und verfügt über eine distanzierte Sicht. Ich-Erzählsituation- der Erzähler ist ein integraler Teil der Geschichte. Er gehört zur Welt der Figuren und funktioniert aktiv am konkreten Geschehen als erlebendes Ich. Kennzeichnend für ihn sind Autobiographien, wo er entweder als Hauptfigur oder als Nebenfigur vorkommt. Wenn der Ich-Erzähler im Rahmen der Nebenfigur angesehen wird, dann wird er die Ereignisse aus einer gewissen Perspektive, als „neutraler Beobachter“144 in Betracht gezogen. Das, was diese Erzählinstanz begrenzt, ist gleichzeitig das wichtigste Kriterium, das über ihre Präsenz entscheidet. Die Bewusstseindarstellung in der Ich-Struktur beschränkt sich darauf, was eigentlich „das Ich denkt und fühlt“145. Wenn es um das Wissen des Ich-Erzählers geht, lässt sich feststellen, dass es limitiert im Bereich der Handlung und des Raumes ist. Es gibt auch keine Rede über die zeitlichen Sprünge. Nur innerhalb der Vergangenheit besitzt der Ich-Erzähler eine Kapazität, eine glaubwürdige Aussage zu bilden. “Ein unsichtbares Land“ von Stephan Wackwitz verweist am häufigsten auf diese Form. Schon der Untertitel Familienroman suggeriert, dass das Leitmotiv dieses Buches um Autobiographisches kreist. Der Ich-Erzähler tritt als Nebenfigur auf. Er erinnert sich als Erwachsener sowohl an seine Kindheit, Adoleszenz, Jugend, als auch an seine familiären Beziehungen, mit dem Nachdruck auf den Großvater (Andreas Wackwitz), der dank seinen zahlreichen Aufzeichnungen (z.B das Tagebuch), den Briefen und der Persönlichkeit als Hauptfigur verzeichnet wird. Der Narrator beteiligt ohne Zweifel an der von ihm erzählenden Geschichte. Als erlebendes Ich berichtet er über verschiedene Aspekte seiner Suche nach der eigenen Identität. Diese, wie sich erweist, sind nicht immer problemlos und unkompliziert. Mehrmals ziehen sie den Ich-Erzähler zu den unerwarteten Schlussfolgerungen: „Auch frühere Ungeschicklichkeiten, Unzulänglichkeiten, Unzuständigkeiten, Seinsweisen irreparabel und fast nicht auszulotender Transusig- und Ehrlosigkeit sind mir sowohl atmosphärisch wie auch episodisch im Gedächtnis geblieben und haben mein Unverhältnis zu meinem Großvater für immer bestimmt, obwohl seine 143 Fludernik 2008, S. 106. Gansel 1999, S. 30. 145 Vgl. Ebd., S. 32. 144 37 praktische Nüchternheit, seine Abenteuerlust, sein Freiheitsdrang, sein Sinn für die Natur, sein Mut, sein Selbstbewusst, jene steinerne oder projektilartige Geschlossenheit seiner Meinungen und Handlungen unter anderen politischen Umständen ein Vorbild hätten sein können, das ich dringend gebraucht hätte. Aber wie die Dinge lagen, grauste ekelte es mich […]“146 Diese Aussage deutet eindeutig darauf hin, dass der Erzähler auch eine Figur ist. Die vom Erzähler vermittelte Reflexion hat einen persönlichen Charakter. Auf solche Art und Weise äußert sich eine Person, die selbst etwas erlebt, miterlebt oder beobachtet hat.147 Dabei muss doch hinzugefügt werden, dass ein erzählendes Ich und ein erlebendes Ich als zwei unterschiedliche Formen verstanden werden können. Nach der Position von Carsten Gansel ist das „frühere Selbst“ des Ich-Erzählers für die erlebende Dimension des Ichs typisch. Beide Strukturen werden auch nach solchen Kriterien wie zeitliche Abstand und Lebens-, Welterfahrung differenziert148. Die spezifischen Korrelationen zwischen beiden Formen lassen sich auf der folgenden Textpassage verfolgen: „Ich kann mich eigentlich nicht erinnern, dass mein Großvater zu Lebzeiten öfter als zwei Dutzend mal das Wort an mich gerichtet hat- jedenfalls nicht in bedeutenderen Angelegenheiten als <Gib mir doch mal das Salz rüber> oder <Badestube ist frei> oder <Jetzt sei mal bitte still, Junge>.“149 In diesem Kontext ist der Erzähler dessen bewusst, dass seine Erinnerungsfähigkeit zeitlichen Wandlungen unterliegt. Sein Rückblick auf das erlebende Ich, d.h. auf die Zeit, als er noch ein Kind war, ist nur ein Teilerfolg. Dieses Gefühl wird durch die Worte: „Ich kann mich eigentlich nicht erinnern […]“150 verstärkt. Eine krasse Opposition dazu bildet jene Situation, in der der Ich-Erzähler den Focus auf die zeitliche Distanz, die eigene Lebenserfahrung und den bewussten Wissenshorizont legt, um die vergangenen Ereignisse im neuen Licht zu sehen. Anders gesagt bewertet und interpretiert er aus der neuen Sichtweise: „Ein paar Jahre später aber, als ich selber schon an der Schwelle zum Erwachsensein stand, hatte ich das Interesse an den familiären Erstarrungszuständen meines Großvaters längst verloren. Sein Leiden an und war mir jetzt egal. Was er zu sagen haben möchte, wenn er etwas sagen würde- ich hatte es nicht mehr wissen wollen.“151 In diesem Fall verhält sich der Ich-Erzähler ganz anders. Er macht den Eindruck, als wäre er mit den schwierigen für sich Fakten einverstanden und als möchte er definitiv 146 Wackwitz 2003, S. 56f. Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. München: C.H. Beck 2005, S. 90. Zitiert nach Stanzel, Franz: Typische Formen des Romans. Göttingen 1964, S. 16. 148 Vgl. Gansel 1999, S. 30. 149 Wackwitz 2003, S. 19. 150 ebd., S. 19. 151 Ebd., S. 21. 147 38 seine Erinnerungen aus der Vergangenheit verdrängen. Der Narrator schließt eine gewisse, schmerzliche Zeitspanne aus seinem Leben ab. Seine distanzierte Haltung ergibt sich sowohl aus dem zeitlichen Abstand („Ein paar Jahre später“ als eine Form des Zeitsprungs) als auch aus der gesammelten Erfahrung und dem Wissen, die dazu beigetragen haben, dass sich der Ich-Erzähler für solche unverwechselbare Haltung ausspricht. In Anlehnung an „Ein unsichtbares Land“ muss festgehalten werden, dass hier noch hinzu kommt, dass der Narrator aus der unzuverlässigen Perspektive berichtet. Diese Position wird besonders gut in folgenden Textabschnitten gesehen: „Die Erinnerungen meines Großvaters über den Rückzug aus Frankreich am Ende des Ersten Weltkriegs habe ich inzwischen so oft gelesen, dass die Gedanken und Formulierungen des zweiundzwanzigjährigen Leutnants so etwas wie meine eigenen geworden sind, etwas, von dem ich nicht mehr weiß, ob ich es erlebt, gelesen oder als Kind gehört habe- oder ob es nicht in Wirklichkeit mit anderen Erbanlagen, Fehlern und Begabungen auf mich gekommen sein könnte: eine große Nase, eine Vorliebe für Havanna-Zigarren, eine Neigung zu frühen Grauwerden und ein Weltkrieg.“152 Die Unsicherheit des Erzählers beeinflusst seine unzuverlässige Erinnerung: „[…] so etwas wie meine eigenen geworden sind, etwas, von dem ich nicht mehr weiß, ob ich es erlebt gelesen oder als Kind gehört habe.“153 Die vereinzelten Erwägungen des Narrators richten sich auf seine Innenwelt. Er stellt sich unterschiedliche Fragen, die im Zusammenhang mit seiner Person, seinem Wahrnehmungssystem und seinem Erinnerungsvermögen. Dieses verweist jedoch auf „falsche Erinnerungen“. Genauso läuft die Handlung im Kapitel „Kleine Propheten“ vor: „Ich weiß es nicht. Man kann über diese Dinge ja fast nicht wissen. Es muss im Februar oder März 1978 gewesen sein, ein halbes Jahr nach dem <Deutschen Herbst> und auf dem Höhepunkt des prophetischen Halluzinierens über das wirkliche Gesicht des deutschen Staates.“154 Bevor der Erzähler auf ein konkretes vergangenes Geschehen zurückblickt, bringt er zum Ausdruck seine Unsicherheit. Er stellt fest: „Ich weiß es nicht“155 Bald nimmt er eine Rechtsfertigungsprobe auf: „Man kann über diese Dinge ja fast nicht wissen“156. Endgültig versucht sich selbst der Erzähler zu korrigieren: „Es muss im Februar oder März 1978 gewesen sein, ein halbes Jahr nach dem <Deutschen Herbst> und auf dem Höhepunkt des prophetischen Halluzinierens über das wirkliche Gesicht des deutschen 152 Wackwitz 2003, S. 101f. Ebd., S. 102. 154 Ebd., S. 250. 155 ebd., S. 250. 156 ebd., S. 250. 153 39 Staates“157. Erst dann ist der Narrator in der Lage, über den geheimnisvollen Tod eines Mädchens aus dem Kreis des MSB Spartakus158 zu erzählen. Obwohl der Erzähler einen Eindruck macht, als würde er seine Übersicht über seine Erinnerungen verlieren, gestaltet er eine bestimmte Atmosphäre. Es ist denn nicht so einfach, über die politischen Systeme zu debattieren. Wie doch der Erzähler ein paar Seiten weiter beweist, lohnt sich eine konstruktive Auseinandersetzung zu führen. Durch einen Satz „Auch damals lebten wir in einem ganz anderen, heute unsichtbaren Land“159 macht er aufmerksam auf die Generation der 1970er Jahre. die personale Erzählsituation (personaler Erzähler)- der Erzähler ist hier nicht mehr ein Vermittler des Geschehens. Solche Darbietungsweisen wie Lesenanreden oder Kommentaren werden von ihm abgelehnt. Charakteristisch ist, dass hier der „Modus des Reflektors“160 als eine dominierende Form angesehen wird. Eine Person, die in dieser Erzählsituation auftritt, fungiert als eine Reflektorfigur, „durch deren Bewusstsein die Geschichte sozusagen reflektiert ist“.161 Im Endeffekt wird die Geschichte anonym und neutral gezeigt. Der Erzähler tritt hinter die Figuren, indem er die Wirklichkeit mit ihren Augen wahrnimmt. Sein Vorhandensein wird in der Regel durch Erlebte Rede, den inneren Monolog und den Bewusstseinstrom konkretisiert. Im Fall des Familienromans von Stephan Wackwitz bleibt doch diese Erzählsituation eine Streitfrage. Der Narrator behält seine „Ich-Form“, obwohl manche Stellen des Textes auf das personale Verhalten des Erzählers verweisen können. „Nach etwa 6-8 Minuten schließlich kam es zu derartigen Angstzuständen, dass der gesamte Hormonhaushalt des Organismus durcheinander geriet. Nach 10-15 Minuten schließlich musste man den Versuch abbrechen, weil sich das Blut aufzulosen begann […] in dem aus dem Gefängnis geschmuggelten Kassiber Ulrike Meinhofs ist die Rede von dem <Gefühl, es explodierte einem der Kopf (das Gefühl, die Schädeldecke musste eigentlich zerreißen, abplatzen)- das Gefühl, es wurde einem das Rückenmark ins Gehirn gepreßt…, das Gefühl, man stünde ununterbrochen, unmerklich, unter Strom, man wurde ferngesteuert, das Gefühl, 157 Wackwitz 2003, S. 250. MSB Spartakus = der Marxistische Studentenbund Spartakus in der BRD (1971-1990). Siehe dazu vertiefend auch: Zolling, Peter (1997, 01. September): Rote Umwege. Wie die kommunistischen APOErben das Proletariat suchten und im Establishment landeten. Politik: ZEITGESCHICHTE. FOCUS ONLINE Magazin; Nr. 36. (Zugriff am 25.Mai.2009). 159 Wackwitz 2003, S. 260. 160 Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. Berlin: Walter de Gruyter GmbH &Co. KG 2005, S. 114. Zitiert nach Stanzel, Franz: Typische Formen des Romans. 1979 (die Auflage aus dem 1979 enthält die jüngste Version der Erzählsituation. Stanzel schreibt dort über drei Oppositionen: 1) Opposition der Person, 2) Opposition der Perspektive, 3) Opposition des Modus (Erzähler vs. Reflektor). 161 Fludernik, Monika: Erzähltheorie. Eine Einführung. 2008, S. 108. Siehe zu dieser Frage vertiefend auch: Genette, Gerard: Die Erzählung. München: Fink 1998, S. 270ff. 158 40 man pißte sich die Seele aus dem Leib, als wenn das Wasser nicht halten kann- das Gefühl, die Zelle fährt.“162 Dabei wird gezeigt, wie der Erzähler hinter die politischen Gefangenen zurücktritt und wie er ihre Gefühle und Gedanken im Verhältnis zu der so genannten „Sonderforschung“163 eingeleuchtet. Die Position des Erzählers stützt sich an dieser Stelle auf eine spezifische Beschreibung eines ungewöhnlichen Verfahrens, das durch die Psychiatrische Abteilung der Universitätsklinik in Hamburg praktiziert wird. Die bestimmten Reflexionen werden im Laufe des Lesens hervorgerufen. Irgendwelche anderen Kommentare scheinen unnötig zu sein. Davon zeugen unter anderem folgende Fragmente: „Nach etwa 6-8 Minuten schließlich kam es zu derartigen Angstzuständen, dass der gesamte Hormonhaushalt des Organismus durcheinander geriet […]“164 oder „das Gefühl, es wurde einem das Rückenmark ins Gehirn gepreßt…, das Gefühl, man stünde ununterbrochen, unmerklich, unter Strom, man wurde ferngesteuert, das Gefühl, man pißte sich die Seele aus dem Leib, als wenn das Wasser nicht halten kann“.165 Abgesehen davon lässt sich herausstellen, dass es im Buch noch weitere Beispiele gibt, die auf eine unklare Erzählsituation hindeuten. Im Hinblick darauf muss markiert werden, dass die Präsenz des Erzählers oft durch eine dramatische Geschichte lokalisiert wird. An dieser Stelle wurde ein Textabschnitt aus dem Kapitel „Kleine Propheten“ angefügt: „Der Mann war halb verhungert. Er wusste, dass er schreckliche Dinge angestellt hatte, und musste deshalb seine Gegner und Opfer in Nazis und Schweine umlugen. Und er war noch Politiker genug, die Höllenmaschine aus Schuldgefühlen und Konsequenzdemagogie zu bedienen, die ihn, seine Mitkampfer und Sympathisanten überhaupt erst in diese fürchterliche Lage gebracht hatte.“166 Der Erzähler nimmt hier Bezug auf das tragische Schicksal eines jungen Mannes, der infolge seiner politischen Tätigkeit ins Gefängnis kommt. Im Rahmen des Protestes gegen die schlechten Haftbedingungen beginnt er einen Hungerstreik, der ihn letztlich zum Tod bringt.167 Der Erzähler veranschaulicht auf jeden Fall präzis die schwierige Situation des politischen Gefangenen. Es wurde sowohl sein psychischer Zustand („Er 162 Wackwitz 2003, S. 245. Die Sonderforschung war im Rahmen der „Folter in der BRD” realisiert. 164 Wackwitz 2003, S. 245. 165 ebd., S. 245. 166 Ebd., S. 249. 167 Der Erzähler nimmt hier Rücksicht auf Holger Meins, d.h auf einen deutschen Studenten, der der Roten Armee Fraktion angehört hat. 1974 ist er wegen des Hungerstreiks in der U-Haft JVA Wittlich gestorben. Mehr dazu in: STARBUCK Holger Meins: http://www.starbuck-holger-meins.de/personen_hkm.htm (Zugriff am 23.April 2009). 163 41 wusste, dass er schreckliche Dinge angestellt hatte, und musste deshalb seine Gegner und Opfer in Nazis und Schweine umlugen“168) als auch seine physische Erschöpfung gezeigt („Der Mann war halb verhungert“169). Wenn dieser Faktor unter die Lupe genommen wird, dann wird es ganz selbstverständlich, dass sich der Erzähler so verhält, als wäre er mitten in der Geschichte. Das heißt, dass er auf solche Art und Weise berichtet, als hätte er alles selbst erlebt. Im Hinblick auf Jürgen H. Petersen lohnt sich darauf aufmerksam zu machen, dass seine Erzähltheorie nach den bestimmten Kategorien differenziert wird. Er spricht erstens für die Erzählform, dann für das Erzählverhalten, den Standort des Erzählers, und schließlich für die Erzählperspektive und die Erzählhaltung.170 In Bezug auf die Erzählform konstatiert man, dass es sich um den Erzähler handelt. Es muss hier eine Frage gestellt werden: Wer als Erzähler erzählt die Geschichte? Wer berichtet? 171 Petersen verweist auf zwei Formen: 1) auf die Er-Form, 2) auf die Ich - Form. Das Wesentliche bezieht sich darauf, dass die erste Erzählinstanz immer in der 3. Person (Er-, bzw. Sie - Form)172 erzählt. Oppositionell dazu benimmt sich der Ich-Erzähler. Dieser berichtet in der typischen für ihn 1. Person. Der Erzähler ist demnach nicht nur das erzählende Medium, sondern auch eine handelnde Person173, die mit Hilfe eines zeitlichen Abstands (Analepse) das damalige Geschehen thematisiert und beurteilt. „Und es ist wahrscheinlich die so verschwiegene wie abgrundtiefe Depression des Weltkriegsveteranen gewesen, die ich schon als Kind in der Gegenwart meines Großvaters gespürt habe, obwohl ich damals nicht zu sagen gewusst hätte, warum er so traurig, so kalt, so unempfindlich, warum er so unheimlich war. Auf dem zwiebelschalendünnen Papier seiner Aufzeichnungen erkenne ich seine Traurigkeit jetzt wieder.“174 Der Ich-Erzähler erinnert sich an seine Kindheit aus der Perspektive des Erwachsenen. Er ist schon in der Lage, über eigene Erinnerungen nachzudenken und mit den eigenen Emotionen und dem Zeitgeist zurechtzukommen. Unbestritten ist doch, dass der Narrator immer wieder diese vergangene Situation tief im Gedächtnis haftet. Ihre Wirkung prägte ihn in der Tat noch gegenwärtig ein. Im Rahmen dieser Erzählform wird auch ein erneuter Ich-Erzähler in der Ich-Erzählung gezeigt. Darunter werden vor allem 168 Wackwitz 2003, S. 249. ebd., S. 249 170 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur 1999, S. 35. Zitiert nach: Petersen, Jürgen/Wagner-Egelhaaf, Martina: Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft. Ein Arbeitsbuch. Berlin: Erich Schmidt Verlag GmbH & Co. 2006, S. 46 ff. 171 Gansel 1999, S. 35. 172 ebd., S. 35. 173 ebd., S. 35. 174 Wackwitz 2003, S. 106. 169 42 die Teilbriefe aus dem Tagebuch von Andreas Wackwitz verstanden. Logischerweise werden dadurch die räumliche und die zeitliche Kulisse konstruieren, die doch zum relevanten Vergangenheitsregister der Geschichte prädestinieren. Wenn es um das Verhalten des Narrators zum Erzählten nach Petersen geht, zeichnet er drei Typen aus: 1) das auktoriale Erzählverhalten, 2) das personale Erzählverhalten, 3) das neutrale Erzählverhalten. Als weitere, dermaßen relevante Kriterien der Erzähltheorie dienen: a) der Standort bzw. der Blickpunkt des Erzählers (allwissend vs. begrenzt); b) die Erzählperspektive (Außen-, vs. Innensicht) und c) die Erzählhaltung, also „wertende Einstellung des Erzählers zum Geschehen“175, die auf neutrale, kritische, humorvolle und andere Bewertungen verweist. Es ist zu bedenken, dass sich die Theorien von Stanzel und Petersen durch ein paar Einzelheiten unterscheiden. Während Stanzel für den Terminus Erzählsituation plädiert, bezeichnet ihn Petersen als Erzählverhalten. Nach diesem Erzähltheoretiker schlägt Stanzel zu komplizierte narratologischen Konzepte vor. Der von Stanzel verwendete Schlüsselbegriff trennt nämlich die Ich-Erzählsituation von der auktorialen und personalen Sicht ab. Die Erzählform hat im Grunde genommen zwei Arten des Verhaltens, d.h. einen überschauenden (auktorialen) und personalen (aus der Perspektive der Figur) Charakter, was bedeutet, dass eine auktoriale Ich-Erzählsituation nur bei Petersen vorgesehen ist. Bei ihm kann sich „das erzählende Ich kritisch über das erlebende Ich“ berichten176. Solche Relation wird auch treffend im „Ein unsichtbares Land“ illustriert: „Das Ende der Nachkriegszeit in Deutschland ist gerade an solchen Nebensachlichkeiten sichtbar geworden: dass Familien sonntags manchmal zum Mittagessen ins Restaurant gingen; dass Frauen so kurze Röcke trugen, als wären sie kleine Mädchen und dass Männer mit Kindern spielten. Mein Großvater aber wollte nichts mit mir zu tun haben. So konnte ich ihn beobachten, und ich beobachtete ihn genau und herzlos. Er war komisch, stellte ich schließlich fest, als ich vierzehn oder fünfzehn war; unfreiwillig komisch.“177 Der im Text auftreffende Narrator fokussiert sich auf die politisch-gesellschaftliche Nachkriegsrealität. Er reflektiert über diese spezifische Wirklichkeit im Sinne eines erweiterten historischen Wissenshorizonts. In Anlehnung daran versucht der IchErzähler das Verhalten seines Großvaters zu deuten, obwohl das sich mit vielen bitteren Überlegungen verbindet. Es lässt sich jedoch dabei erkennen, dass sein auktorialer 175 Gansel 1999, S. 36. Vgl. Ebd., S. 35. 177 Wackwitz 2003, S. 22. 176 43 Charakter begrenzt ist. Er weißt nicht in Wirklichkeit, warum sein Großvater mit ihm nichts zu tun haben will. In Konsequenz kann er nicht allwissend sein. Der Narrator stellt eigene Vermutungen an, die nach seiner Ansicht ein bestimmtes Verhaltensmuster erklären können: „So konnte ich ihn beobachten, und ich beobachtete ihn genau und herzlos. Er war komisch, stellte ich schließlich fest, als ich vierzehn oder fünfzehn war; unfreiwillig komisch“178. Erst nach einigen Jahren berichtet der Ich-Erzähler über seine Enthüllung: „Mein Erwachsenwerden verdarb ihm die Laune und die Lust auf das Leben der Männer vollends“179. In diesem Fall verhält sich der Erzähler auktorial. Er verfügt über das Wissen um die Figur sowohl im Bereich der Außen- als auch der Innensicht. Sein Erzählverhalten ist doch dabei. eher neutral als kritisch. Beim Bericht bewährt er denn eine zeitliche Distanz, ohne sich in explizite Einschätzungen zu vertiefen. 5.4 Zum Verhältnis der Erzählebenen Wenn der Familienroman unter dem Aspekt Stellung des Erzählers zum Geschehen180 analysiert wird, muss herausgestellt werden, dass an dieser Stelle Bezug auf Gerard Genette genommen wird. Dieser französischer Literaturwissenschaftler zeichnet zwei Typen vom Erzähler aus: 1) einen homodiegetischen Erzähler, der „an der von ihm erzählten Geschichte als Figur beteiligt ist“181 und 2) einen heterodiegetischen Erzähler, der sich außer dieser textuellen Wirklichkeit befindet. In Anlehnung an „Ein unsichtbares Land“ lässt sich bemerken, dass die erste Form d.h. der homodiegetische Erzähler bzw. der autodiegetische Erzähler“182 als dominante Erzählinstanz existiert. Der Narrator nimmt Rücksicht auf seine zum Teil nicht aufgearbeiteten Erinnerungen, die streng mit seiner Familiengeschichte verbunden sind. Durch ihre Thematisierung ist er imstande, über sie aus der gegenwärtigen Perspektive zu reflektieren: „Und ich begann schon die Arbeit an unserem Familienroman im Bewusstsein, dass ich auf der Suche nach jenem Geheimnis in sehr merkwürdige Gegenden, in mehr als ein unsichtbares Land und in beängstigend fremde Zeiten würde vordringend müssen. Nicht nur dort, wo mein Großvater arbeitete, bevor er nach Afrika kam, und wo mein Vater geboren ist […] Ich würde mich auch in der Geschichte des Weltkrieges verlieren müssen den wir den Ersten nennen, die Briten aber- mit mehr und angemessenerem Respekt für die Bedeutung dieses Konflikts- für uns alle und heute noch: ‚The Great War’.“183 178 Wackwitz 2003, S. 22. Ebd., S. 24. 180 Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2002, S. 80. Zitiert nach: Genette, Gerard: Die Erzählung. 1998, S. 203ff. 181 Vgl. Ebd., S. 81. 182 Der Erzähler gehört zur fiktionalen Welt. Zugleich ist er ihre Hauptfigur. 183 Wackwitz 2003, S. 59. 179 44 Aus diesem Fragment ergibt sich, dass der homodiegetische Erzähler seine Erinnerungen mit den Erinnerungen seines Großvaters gegenüberstellt Diese gelten als ein relevanter Anhaltspunkt auf der Suche nach der Rekonstruktion der Vergangenheit, die im Rahmen sowohl der eigenen als auch der familiären Identität des Erzählers realisiert wird. Der homodiegetische Charakter des Familienromans veranschaulicht sich auch durch die Biographien der historischen Berühmtheiten. Die Position des Erzählers scheint anfangs heterodiegetisch zu sein, d.h. der Narrator präsentiert die Tatbestände, die wiederum ein einartiges kulturelles Archiv skizzieren: „Später, als Erwachsener, im frühen neunzehnten Jahrhundert, ist Schleiermacher Fichtes Feind gewesen. Es ist nicht zu übertrieben, von Hass zwischen den beiden berühmten preußischen Professoren zu sprechen. [...] Fichte hat behauptet, den Ursprung des Deutschseins im Nationalcharakter gefunden zu haben, in der Sprache, in einer völkischen Substanz, die weder die Römer erobern konnten noch Napoleon dauerhaft besiegt hat. Schleiermacher dagegen hat versucht, dem Unsicherheitserlebnis treu zu bleiben […]“184 Dank dieser Textpassage schildert er eine äußerst viel sagende Geschichte. Johann Gottlieb Fichte, ein deutscher Vertreter des Idealismus, und Friedrich Schleiermacher, ein deutscher Theologe und Philosoph, gelten als zwei diametral entgegensetzte Persönlichkeiten. Ihre detaillierte Beschreibung ist vom Erzähler beabsichtigt. Dank solches Verfahrens wird der historische Hintergrund dokumentiert. Das Adverb „später“ weist hier auf einen Zeitsprung, bzw. Ellipse. Es ist dabei noch zu markieren, dass in der Tat der Narrator als homodiegetischer Erzähler funktioniert. Diese Stellung wird durch folgende Aussage nachgewiesen: „Ich habe über diese Feindschaft und ihre Gründe in den Bibliotheken, die ich während der Abfassung meines Familienromans fast jede Woche und oft ganze Nachmittage lang besucht habe, nicht viel gefunden. Aber ich glaube trotzdem zu wissen, dass es damals zwischen beiden um etwas Wichtiges, um zwei grundlegend verschiedene Möglichkeiten deutscher Tradition gegangen ist.“185 Die vom Erzähler dargestellte Stellung zum Verhalten der deutschen Persönlichkeiten ist nur eine Bestätigung, dass er hier als beteiligter Beobachter186 der von ihm erzählten Geschichte fungiert. Mit anderen Worten nimmt er gewissermaßen an der Figurenwelt teil. Sein Interesse für diese Geschichte bringt ihn dazu, dass er irgendwelche Informationen über diese Feindschaft und ihre Gründe in den Bibliotheken versucht zu finden. Obwohl er keine guten Resultate erzielt, ist er davon überzeugt, „dass es damals 184 Wackwitz 2003, S. 179. ebd., S. 179. 186 Mehr dazu in: Martinez, Mattias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 1999, S. 82. 185 45 zwischen beiden um etwas Wichtiges, um zwei grundlegend verschiedene Möglichkeiten deutscher Tradition gegangen ist.“187 Wenn die Frage der Stellung des Erzählers zum Geschehen weiter vertieft wird, dann zeigt sich, dass seine Teilnahme am konkreten Geschehen durch den unterschiedlichen Grad des Engagements bestimmt wird. Daraus folgt unter anderem der homodiegetische Erzähler, der eine der Hauptfiguren der Geschichte ist.188: „Je mehr ich damals über die Trostlosigkeit nachdachte, die meine Schwester, meine Cousine und ich in ihm auslösten, desto deutlicher verstand ich, dass das Schweigen meines Großvaters ebenso wie sein gelegentlich ausbrechender Zorn über uns ein Vorwurf an die Frauen war; ohne die wir ja nicht da gewesen wären.[…] Wir verhießen ihm keine Zukunft. Wir deprimierten ihn bloß; […] Die Familientraurigkeit meines Großvaters, fand ich, war eine merkwürdige, die natürliche Ordnung der Dinge zwischen Kindern und Erwachsenen irgendwie auf den Kopf stellende Abweichung.“189 Aus dem Text stellt sich eindeutig heraus, dass sich die Spezifik der familiären Beziehungen nicht nur auf die Relation Enkel-Großvater beschränkt. Der Erzähler macht auf seine Schwester und auf seine Cousinen aufmerksam. Es ist auch kein Zufall, dass der Narrator über die „Dinge zwischen Kindern und Erwachsenen“190 spricht, die doch die Atmosphäre der Familientraurigkeit charakterisiert. Beachtenswert ist auch andere Stellung, nach der der Erzähler positioniert wird. Ihre Außergewöhnlichkeit besteht in der autodiegetischen Sicht des Narrators, die einerseits durch die Kriegsgeschichte seines Vaters (Gustav) und andererseits durch die merkwürdige Lebenshaltung seines Großvaters (Andreas) festgelegt wird: „Im September 1939- die deutsche Wehrmacht war gerade in Polen einmarschiertwurde mein Vater, ein siebzehnjähriger Junge, als Passagier des Dampfes <Adolph Woermann“> mit seinen Eltern und seinen vier Geschwistern und der Fahrt vom ehemaligen Deutsch- Südwestafrika nach Bremerhaven vom Zweiten Weltkrieg überrascht, durch einen britischen Kreuzer gefangen genommen und in der Folge für sechs Jahre in Kanada festgesetzt- ein Zufall, der ihm den Russenfeldzug erspart und wahrscheinlich das Leben gerettet hat.“191 Der Erzähler verweist hier auf eine faktuale Ereignis, das Bezug auf eine reale und zugleich äußerst relevante für den Ich-Erzähler bzw. für den homodiegetischen Erzähler Person nimmt d.h. auf den Vater. Solche Geschichte wie diese übt einen großen Einfluss auf alle Mitglieder der Familie aus. Besonders nah ist sie Stephan Wackwitz, d.h. dem Erzähler dieses Familienromans. Dank solchen Projektionen aus 187 Wackwitz 2003, S. 179. Martinez, Mattias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 1999, S. 82. 189 Wackwitz 2003, S. 21. 190 ebd., S. 21. 191 Ebd., S. 13. 188 46 der Vergangenheit enthüllt er die familiären Geheimnisse, in denen er in hohem Maße auch aktiv beteiligt ist. Dabei lohnt sich ins Gedächtnis einen kulturellen Aspekt der Erinnerung zurückgerufen, der doch ermöglicht, konkrete Erfahrungen und Wissen über die Generationenschwellen zu tradieren.192 Die von Gustav Wackwitz beschriebenen Erlebnisse gelten also gewissermaßen als Erlebnisse des Ich-Erzählers mit denen er sich identifiziert. Wenn es um die Lebenshaltung von Andreas Wackwitz geht, muss konzipiert werden, dass sie aus der persönlichen Sicht des Erzählers präsentiert wird. Das veranschaulicht sich in folgendem Fragment des Textes: „Mein Großvater war noch jung und stark und trotzdem schon so enttäuscht wie ein alter Mann. Erst elf Jahre später, in einer anderen Art von Zwischenreich, in dem wieder alles möglich schien, sind ihm die unbestimmten Träume und Vorstellungen und Phantasmen von 1914 noch einmal zum Greifen nahe gekommen.“193 Es wurde zweifellos in dieser Textpassage gezeigt, dass sich der Ich-Erzähler sehr gut an der Vorliebe seines Großvaters orientiert. Die Aufmerksamkeit des Lesers lenkt sich entschlossen auf den ersten Satz: “Mein Großvater war noch jung und stark und trotzdem schon so enttäuscht wie ein alter Mann.“194 Solche Aussage gibt bestimmt zu bedenken. Zu diesem Zweck nimmt der Narrator Bezüge auf die Vergangenheit d. h Rückblende. Daraus ergibt sich, dass Andreas Wackwitz wieder nach elf Jahre „die unbestimmten Träume und Vorstellungen und Phantasmen von 1914“ erfährt. An dieser Stelle beweist der Erzähler, dass er eine Übersicht über die Gefühlswelt und Innenwelt seines Großvaters besitzt. Es wird hier demzufolge klar, dass Andreas Wackwitz’ Gedanken auch Gedanken seines Enkels (des Erzählers) sind. Die weitere Analyse der Stellung des Erzählers zum Geschehen195 steht in Verbindung mit dem Ort des Erzählens196. Nach Genette gibt es drei grundsätzliche Ebene des Erzählens: 1) extradiegetische Ebene (der Erzählakt erster Stufe), 2) intradiegetische Ebene (die vom Erzähler präsentierten Ereignisse verläufen auf der zweiten Stufe, z.B eine Binnenerzählung, d.h. eine Erzählung in der Erzählung), 3) metadiegetische Ebene (das Erzählen auf der dritten Stufe, also „eine Erzählung in der Erzählung der 192 Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. 2002, S. 17. Wackwitz 2003, S. 108. 194 ebd., S. 108. 195 Genette 1998, S. 203. 196 Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2002, S. 75ff. Zitiert nach: Genette, Gerard: Die Erzählung. 1994, bes. S. 151-188, sowie S. 249-256. 193 47 Erzählung“197). In Anlehnung daran nimmt der Erzähler eine konkrete Stellung zum Geschehen. Insgesamt hat er vier Erzählmöglichkeiten. Der extradiegetischheterodiegetische Erzähltyp verlangt den Erzähler erster Stufe. Dieser erzählt eine Geschichte, an der er nicht beteiligt ist. Der extradiegetisch-homodiegetische Erzähltyp kommt in der ersten Stufe vor. Seine Aufgabe besteht darin, dass er über eigene Geschichte bzw. Erfahrungen erzählt. Als dritte Möglichkeit gilt der intradiegetischheterodiegetische Erzähltyp. Darunter wird der so genannte „Erzähler zweiter Stufe“198 verstanden. Er fokussiert sich auf eine Geschichte, in der er selbst nicht involviert wird. Der letzte Instanz, d.h. der intradiegetisch-homodiegetische Erzähler unterscheidet sich von seinem Vorgänger dadurch, dass er in Betracht eigene Lebensgeschichte nimmt. Der Familienroman von Stephan Wackwitz deutet hauptsächlich auf zwei Typen des Erzählens hin: 1) auf die extradiegetisch-homodiegetische Ebene und auf die intradiegetisch-heterodiegetische Ebene. Der erste Erzähltyp erinnert sich an seine vergangenen Jahre, d.h. an die Kindheit, Jugend und Adoleszenz. Im Vordergrund stehen die Ereignisse, in denen der Erzähler als Figur beteiligt war. Die 1970er, 1980er Jahre sind in diesem Fall von großer Bedeutung: „Dreißig oder vierzig Jahre vergingen. Ich war 1977 fünfundzwanzig, so naiv und beeinflussbar wie in diesem Alter nur ein Junge aus bildungsbürgerlichen Haus sein kann, der sein Lebtag lang nichts gesehen und erfahren hat als Schulräume und Universitätshörsäle […] Morde, über die niemand ein Wort verloren hatte, als sie begangen worden waren, meldeten sich damals mit verspäteten und wunderlichen Stimmen zu Wort […] In der hinter dem Schein gelegenen wirklichen Welt, irgendwo im inneren Herzen der Wirklichkeit (des Grauens) ging das Morden und Qualen immer noch vor sich, die Verwandlung von Menschen in Leichen nicht nur in Südamerika, sondern auch hinter den Türen der deutschen Gefängnisse, Polizeivereine, Universitätskliniken.“199 Der Erzähler markiert hier explizit seine Präsenz. Er macht das durch die Feststellung: „Dreißig oder vierzig Jahre vergingen. Ich war 1977 fünfundzwanzig […]“200 Beachtenswert dabei ist es, dass er nur fünfundzwanzig ist. Trotzdem ist er bereit dazu, sich selbst kritisch zu behandeln: “[…]so naiv und beeinflussbar wie in diesem Alter nur ein Junge aus bildungsbürgerlichen Haus sein kann, der sein Lebtag lang nichts gesehen und erfahren hat als Schulräume und Universitätshörsäle.“201 Der Narrator erzählt offen über die deutsche Nachkriegsrealität. Mit der bitteren Reflexion kommt er zum Schluss: “Morde, über die niemand ein Wort verloren hatte, als sie begangen 197 Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2002, S. 76. Vgl. Ebd., S. 81. 199 Wackwitz 2003, S. 243. 200 ebd, S. 243. 201 ebd., S. 243. 198 48 worden waren, meldeten sich damals mit verspäteten und wunderlichen Stimmen zu Wort“. Es gibt hier keine Rechtfertigungsproben. Der Erzähler zeigt eher eine „unbequeme Wahrheit“, mit der sich noch Deutschland nicht zu Ende abgefunden hat: „In der hinter dem Schein gelegenen wirklichen Welt, irgendwo im inneren Herzen der Wirklichkeit (des Grauens) ging das Morden und Qualen immer noch vor sich, die Verwandlung von Menschen in Leichen nicht nur in Südamerika, sondern auch hinter den Türen der deutschen Gefängnisse, Polizeivereine, Universitätskliniken.“202 Es lohnt sich dabei zu ergänzen, dass der Ich-Erzähler sich wie ein heterodiegetischer Erzähler verhält. Solchen Eindruck hat mindestens der Leser. In seiner Perspektive würde hier ein überschauendes Erzählen dominieren. Im Gegensatz dazu verhält sich der intradiegetisch-heterodiegetische Erzähltyp. Die von dem Narrator beschriebenen Geschehnisse werden nicht auf seine persönlichen Lebenserfahrungen bezogen. Stephan Wackwitz berichtet demzufolge über die Geschichten, die ihn nicht direkt betroffen haben. Zu diesem Zweck bedient er sich der Ausschnitte aus dem Tagebuch von Andreas Wackwitz (Großvater). Es muss dabei hinzugefügt werden, dass gerade mit Hilfe dieses Memoires die wichtigsten Informationen aus der unterschiedlichen Zeitspanne geliefert werden können. Als besonders relevante Denkmäler werden folgende historische und zugleich kulturelle Orte bezeichnet: Anhalt, ein Dorf knapp 10 km nördlich von Auschwitz (Wohnort von Andreas Wackwitz) Oświęcim/Auschwitz (Alltagsleben der Juden und ihre spätere „Endlosung“) Laskowice (das Schlosspark und das Haus von Andreas Wackwitz) Hamburg (die Hamburger Landeskirche) der märkische Luckenwald (Realität der 1940er Jahre: Verschwinden vertrauter Nachbarn, Versklavung unbekannter Menschen, Massenmorde; Andreas Wackwitz als Pastor und Generalsuperintendent) Namib, Küstenwüsten im früheren Deutsch-Südafrika (Jagdritt) Kapstadt (Wackwitzs Wehrdienst) Antonienhütte (Mord an den deutschen Landjägern) Bunzlau, Ohlau, Dorf Jeltsch und Eisenbahn Breslau-Laskowitz-Carlsmarkt-Oppeln (sorglose Kindheit von Andreas Wackwitz) 202 Wackwitz 2003, S. 243. 49 Berlin (Hitler und Nazizeit) Eine der wichtigsten Erzählungen ist unleugbar die Schlangengeschichte. Diese nimmt Bezug auf 1938. Sie betrachtet über eine unerwartete Begegnung am Waterberg zwischen Andreas Wackwitz und der Schlange. Der Erzähler bezeichnet sie einerseits als „eine der denkwürdigen Jagdbegebenheiten“203, andererseits als „ein Modell des Lebens“ und als „das Zusammenspiel zwischen einer dämonischen Bedrohung und einer göttlicher Fügung“.204 Von der Glaubwürdigkeit dieser Geschichte zeugt Andreas Wackwitz. Es werden hier seine einzelnen Fragmente aus dem Tagebuch veröffentlicht: “Die ganze Geschichte klingt so unglaublich wie unheimlich, aber ich versichere nochmals, sie ist Wort für Wort wahr und genau passiert wie hier aufgezeichnet.“205 Waterberg, ein Tafelberg in Namibia spielt hier eine bedeutsame Rolle. Abgesehen von der ungewöhnlichen Schlangengeschichte geht es um eine außergewöhnliche blutige Schlacht, die sich zwischen den Deutschen (Kolonisten) und dem afrikanischen VolkHereo am 11.April.1904 abgespielt hat. Man vermutet, dass zirka 60 Prozent dieses spezifischen Volks ums Leben gebracht wurden.206 Gerade diese Tatsache wurde vom Narrator in die Geschichte seines Großvaters eingeflochten: „Denn man muss sich klar machen, dass dieser Mann zu den letzten Angehörigen eines großen, selbstbewussten und berühmten Kriegsvolkes gehörte, dass dreißig Jahre zuvor von den deutschen Schutztruppen in dem einzigen Krieg, den das wilhelminische Deutschland vor 1914 geführt hat, nicht nur an ebendem Waterberg, wo der Ingenieur Gerhard und mein Großvater die deutschen Kriegsgräber besichtigen wollten, militärisch vernichtend geschlagen wurde, sondern anschließend mitsamt Frauen und Kindern, wohl 80.000 Menschen, in die wasserlose und absehbar den Tod bringende Omaheke- Wüste getrieben worden ist […]“207 Es wundert also nicht, dass der Hererojunge gegenüber den Weißen misstrauisch ist. Wenn Andreas Wackwitz samt mit seinem Freund Gerhard gedankenlos einen grausamen Witz in die Tat umsetzen will, geht im Kopf des Jungen nur ein Gedanke 203 Wackwitz 2003, S. 213. ebd., S. 213. 205 Ebd., S.217. 206 Mehr dazu in: Stahnke, Tim (2004, 11. August): Herero-Aufstand. Die Schlachtung am Waterberg. Politik: Deutschland, Ausland, Historie. STERN.DE: http://www.stern.de/politik/historie/:Herero-Aufstand-Die-Schlachtung-Waterberg/528233.html (Zugriff am 01.Mai 2009); Krüger, Ralf E: (2004, 06.Januar): Herero-Aufstand. Sturm über DeutschWest. Politik: Deutschland, Ausland, Historie. STERN.DE: http://www.stern.de/politik/historie/:Herero-Aufstand-Sturm-%FCber-DeutschS%FCdwest/518364.html (Zugriff am 01.Mai 2009); Rienhardt, Joachim (2004, 12.August): Namibia. „Die Weißen haben das Land geklaut“. Politik: Deutschland, Ausland, Historie. STERN.DE: http://www.stern.de/politik/ausland/:Namibia-Die-Wei%DFen-Land/528151.html?p=3&postid=3 (Zugriff am 01.Mai 2009). 207 Wackwitz 2003, S. 218. 204 50 herum, d.h. „einen nachträglichen Schreck einzujagen und ihnen gleichsam die Dämonen seines Landes mit ihm gegen sie verbündet darstellen.“208 Der Kampf mit Kobra wendet sich teilweise zum Schlechten für die Weißen. Ihre Prahlereien verlieren an der Bedeutung schon am nächsten Tag. Nur durch eine blitzartige Reaktion der Familie Flotow ist es gelungen, das Gespenst einer Katastrophe zu verhindern. Der Hererojunge trumphiert demnach über die Deutschen. Er hat sehr gut gewusst, dass die Schlange noch angreifen konnte. Der Junge hat nämlich Kobra gesehen, wie sie erstens aus dem Schuppen herausgekommen war, zweitens wie sie sich zwischen den weißen Männern durchgeschlichen hat und drittens wie sie im Garten verschwunden ist. Sein Schweigen folgt einfach aus der persönlichen Genugtuung für einen primitiven Streich der Europäer. Es erteilt auch eine gewisse Lehre: „Tue nichts Böses, so widerfährt dir nichts Böses“.209 Ein anderes Beispiel, das für die intradiegetisch-heterodiegetische Ebene des Erzählens steht, geht die Legende von Eva Mandzla an, die auch als die „Jeanne d’Arc von Seibersdorf“210 genannt wird. Diese sonderbare Binnenerzählung oszilliert zwischen dem faktualen und fiktionalen Erzählen211: „Was nun geschah, ist von der Legende auf eine übernatürliche Version zurückgeführt worden. Die Jeanne d’Arc von Seibersdorf hieß Eva Mandzla. Dieses Mädchen, über das sonst nichts bekannt ist und von dem man anhand der vorliegenden Geburtsregister nicht einmal nachwiesen kann, dass es wirklich gab, <hatte eines Tages beim Gebet eine merkwürdige Erscheinung.>“212 Aus diesem Fragment tritt ein vielversprechendes Bild von einem jungen Mädchen hervor. Anfangs erscheint es als ein gewöhnliches, durchschnittliches Wesen, „über das sonst nichts bekannt ist“213. Die vom Narrator betonte Feststellung „von dem man anhand der vorliegenden Geburtsregister nicht einmal nachwiesen kann“ suggeriert doch, dass solche Geschichte durch ein unzuverlässiges Erzählen214 gekennzeichnet ist, indem der Leser durch den Narrator irregeführt werden kann. Das Leitmotiv dieser Legende bestimmt folgender Satz: <hatte eines Tages beim Gebet eine merkwürdige 208 Wackwitz 2003, S. 218. Vgl. Zitat aus der Bibel, JES SIR 7, 1-2. 210 Wackwitz 2003, S. 69. 211 Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2002, S. 9ff. 212 Wackwitz 2003, S. 69. 213 ebd., S. 69. 214 Siehe ausführlich dazu: Allrath, Gaby/Nünning, Ansgar: (Un-)Zuverlässigkeitsurteile aus literaturwissenschaftlichen Sicht: Textuelle Signale, lebensweltliche Bezugsrahmen und Kriterien für die Zuschreibung von (Un-)Glaubwürdigkeit in fiktionalen und nichtfiktionalen Erzählungen. In: Dernbach/Meyer (Hrsg.): Vertrauen und Glaubwürdigkeit. Interdisziplinäre Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 185-187. 209 51 Erscheinung>215. Seine Dimension wird im weiteren Verlauf der Erzählung ausgedrückt: „Sie sah in ihrer Kammer das Evangelienbuch liegen, und aufgeschlagen war die Stelle aus Matthäus: <Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken>. Über dem Ganzen erstrahlte in hellstem Glanze der Name <Urbanus>.“216 Mit Hilfe dieser Textpassage wird offensichtlich, dass die Erzählung die Form des faktualen Erzählens annimmt. Es gibt in diesem Textabschnitt eine spezifische Atmosphäre, die eher einer erfundenen als einer realen Geschichte näher ist. Die erzählte Welt deutet in hohem Mäße auf einen religiös-mystischen Aspekt hin, der wiederum zu den übernatürlichen Tatbeständen veranlässt: „Über dem Ganzen erstrahlte in hellstem Glanze der Name <Urbanus>.“217 In diesem Satz sieht man gewissermaßen eine Ankündigung des göttlichen Eingreifens. Man kann jedoch dabei nicht vergessen, dass der Narrator sich von Anfang an skeptisch darüber ausspricht. Wenn diese Geschichte fortgesetzt wird, dann erweist sich, dass die angebliche Prophezeiung, auf die Eva Mandzla ihre Hoffnung so stark gesetzt hat, durch das Alltagsleben ersetzt wurde. Obwohl die Legende von jetzt an mehr an das faktuale Erzählen gebunden ist, lässt sich nicht übersehen, dass Mandzla immer wieder ihrer Gesinnung treu bleibt: „Aber er ging vorüber, ohne dass Rettung kam. So ging es viele Jahre, und den Seibersdorfern wurde es immer schwerer, an Hilfe zu glauben. Fast dreißig Jahre waren seit jenem Tage der Urbanus-Erscheinung vergangen, aber Eva Mandzla verlor die Hoffnung nicht. Sie hatte inzwischen geheiratet und einem Sohn bekommen, und als der katholische Pfarrer ihm ungebeten den Namen Urbanus gab, da glaubte sie mit neuem Mut daran, dass dieser Name den Seibersdorfern noch Glück bringen werde.“218 Die vom Narrator geschilderte „Jeanne d’Arc von Seibersdorf“219 ruft widersprüchliche Gefühle hervor. Einerseits wundert ihre religiöse Besessenheit, andererseits erregt sie große Neugier und Hochachtung. Dieses Mädchen kumuliert in sich unterschiedliche Seiten der Persönlichkeit, indem sie geist- und ideenreich ist. Seine Überzeugung von der zukünftigen Zelebration des Urbanitages schließt zugleich nicht seinen Glauben an das gute Muttersein aus. Die Bewertung dieser Gestalt verweist im Endeffekt auf ihre Komplexität. 215 Wackwitz 2003, S. 69. ebd., S. 69. 217 ebd., S. 69. 218 Ebd., S. 70f. 219 Ebd., S. 69. 216 52 5.5 Zur Perspektivenstruktur im Rahmen der Fokalisierung Selbstverständlich wird, dass eine Erzählung mit Hilfe der Distanz und der unterschiedlichen Perspektiven inszeniert werden kann. Sie rekurriert sowohl auf den Blickwinkel eines Erzählers, als auch auf den der Figuren und auf eine neutrale, bzw. unpersönliche Perspektive.220 Insgesamt differenziert Monika Fludernik vier Sichtweisen: 1) eine persönliche Sicht, 2) eine unpersönliche Sicht, 3) eine externe Sicht, 4) eine interne Sicht.221 Dadurch dass die erste Ebene „in einer anthropomorphen Instanz verankert ist“222, wird die Perspektive durch das Bewusstsein dieser Instanz geprägt. Daraus resultiert auch, dass eine persönliche Instanz in der Lage ist, über sich selbst auszusprechen. Solches Vermögen ist im Fall des „ungewöhnlichen“ Objektes nicht machbar. Was den persönlichen Erzähler betrifft, kommt er einerseits auf extradiegetische (externe), andererseits auf diegetische (interne) Ebene“223 vor. Eine neutrale Sicht kann hingegen nur extern lokalisiert werden. Der von den Deutschen verwendeten Ausdruck Erzählperspektive funktioniert in der angelsächsischen Kultur als point of view224. Dabei stützt man sich vorwiegend auf dass Bewusstsein der Reflektorfigur, das als ein Filter einer Geschichte fungiert. An diesem Punkt lohnt sich auf die Auseinandersetzung zwischen Stanzel, Genette und Mieke Bal anzudeuten. Stanzel plädiert für eine Zusammensetzung von Außen-, Innensicht samt mit dem Erzähler- und Reflektormodus.225 Mit anderen Worten fügt er die Termini Perspektive (wer sieht?) und Stimme (wer spricht?) zusammen.226 Diese Lösung ist doch mit den Theorien von Genette und Bal227 unvereinbar. Die Bezeichnung point of view wurde von ihnen durch den Begriff Fokalisierung ersetzt. 220 Vgl. Fludernik, Monika: Erzähltheorie. Eine Einführung. 2008, S. 48. Vgl. Just, Katrin: Wir-Perspektive und problematische Identität: Universität in Stuttgart. Institut für die Literaturwissenschaft 2008, S. 5ff. 222 Fludernik, Monika: Erzähltheorie. Eine Einführung. 2008, S. 48 223 Siehe dazu ausführlich: Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2002, S. 75f. 224 Genette, Gerard: Die Erzählung 2. München: Fink Verlag 1998, S. 136. 225 Vgl. Fludernik, Monika: Erzähltheorie. Eine Einführung. 2008, S. 49. Siehe auch dazu: Stanzel, Franz: Linguistische und literarische Aspekte des erzählenden Diskurses. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1984, S. 22 und S. 33. 226 Blödorn, Andreas; Langer, Daniela; Scheffel, Michael: Stimme im Text? In: Blödorn/Langer/Scheffel (Hrgs.): Stimm(e) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen. Berlin und New York: Walter de Gruyter GmbH 2006, S. 1-5, hier S. 1f. 227 Mieke Bal ist eine niederländische prominente Literaturwissenschaftlerin, die mit der Theorie von Gerard Genette polemisiert hat. Im Endeffekt hat sie fast eine neue Problemstellung geschaffen. Es lohnt siech darauf hinzuweisen, dass Ball einen Standpunkt vertritt, dass der „Fokalisator“ als ein spezifisches Subjekt zwischen dem Erzähler und der Figur platziert werden sollte. Relevant dabei ist, dass diesem Subjekt die Literaturwissenschaftlerin seine eigene Aktivität bestimmt. Mehr dazu in: 221 53 Der neue Terminus basiert auf einem Modell, wo es klare Differenzierung zwischen Perspektive und Stimme gibt. Die Fokalisierung gilt also an dieser Stelle als ein Dilemma der Perspektivierung des Erzählten.228 Wenn dieses Thema weiter verfolgt wird, dann stellt sich heraus, dass der Familienroman auf eine spezifische Kombination von Person der Stimme und Perspektive verweist. Dabei muss angedeutet werden, dass sich dieses Zusammenspiel auf die Fokalisierungstypen nach Genette bezieht. In Anlehnung daran lässt sich feststellen, dass als primäre Typen des Buches „Ein unsichtbares Land“ die so genannte Nullfokalisierung und die fixierte interne Fokalisierung fungieren229. Diese gestalten wiederum die Erscheinung Polymodalität230. Im Fall der externen Fokalisierung ist es zu markieren, dass sie sich eher in der Innenweltdarstellung aktiviert, wo sie samt mit ihrer internen Variante einen großen Wert auf den kognitiven Charakter der Erinnerungen (Feld-Erinnerungen und Beobachter-Erinnerungen231) legt. Bevor der Schwerpunkt des Begriffs Polymodalität dargestellt und erläutert wird, wird Rücksicht auf die Begriffe Nullfokalisierung und interne Fokalisierung genommen. Beide Komponenten lassen sich nach folgenden Merkmalen erkennen: Nullfokalisierung (=auktorial)232- der Erzähler tritt in der 3. Person Singular bzw. Plural. Er weiß mehr als die Figur, indem er über eine Übersicht in der Erzählung verfügt. Die Wahrnehmung ist auf keine konkrete Figur angewiesen. Kennzeichnend für diesen Typ sind Angaben im Text, die über das Wissen der Protagonisten überragen. Schmitz, Barbara: Prophetie und Königtum: eine historisch-narratologische Methodologie. Tübingen: Mohr Siebeck Verlag 2008, S. 46-48. 228 Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2002, S. 63. 229 Der Blickwinkel sollte darauf gerichtet werden, dass falls die „interne Fokalisierung“ in der Erzählung überwiegt, noch zwei Ebenen d.h „fixierte interne Fokalisierung“ und „variable interne Fokalisierung“ beachtet werden sollten. Dabei lohnt sich zu erwähnen, dass im Sonderfall der zweiten Form die so genannte „multiple interne Fokalisierung vorgesehen wird. Fixierte interne Fokalisierung= die Wahrnehmung hängt mit einer Figur zusammen. Variable interne Fokalisierung= die Fokalisierung unterliegt dem Wechsel. Es wird doch eine chronologische Ordnung gehalten. Multiple interne Fokalisierung= dasselbe Geschehen wird aus dem Gesichtspunkt mehrerer Figuren erzählt. Mehr dazu in: Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2002, S. 66-67. 230 ebd., S. 67. 231 Mehr dazu in: Neumann, Birgit: Erinnerung-Identität-Naration. Gattungstypologie und Funktionen kanadischer Fictions of memory. Berlin: Walter de Gruyter 2005, S. 173. 232 Vgl. Matias, Martinez/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2002, S. 64. Zitiert nach: Genette, Gerard: Die Erzählung. 1994, S. 273f. Siehe auch vertiefend dazu: Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. 2005, S. 117f. 54 Im Familienroman von Stephan Wackwitz wird diese Form beispielsweise unter Anwendung von der folgenden Textpassage illustriert: „Krakau war im Mittelalter und bis in die Renaissance hinein so etwas wie New York oder Buenos Aires im neunzehnten Jahrhundert: eine durch kunstsinnige und ein bisschen wurschtige Könige von ihrem florentinschen Musenhof auf einem Hügel überm Fluss eher wohlwollend beaufsichtigte als wirklich beherrschte Vielvölkerstadt deutscher, flamischer und italienischer Kaufleute, spanischer Juden und polnischer Adelsgeschlechter […] Dieser Teil Europas war einmal eine Utopie, das einzige Pendant zur Freiheit und Unternehmerselbständigkeit des amerikanischen Westens in der Alten Welt.“233 Die vom Narrator dargelegte Wahrnehmung richtet sich auf keine bestimmte Figur. Der Erzähler veranschaulicht sich hier dank seiner Position der Übersicht. Sein Wissen ermöglicht ihm sich über die folgenden Fakten zu äußern: “Krakau war im Mittelalter und bis in die Renaissance hinein so etwas wie New York oder Buenos Aires im neunzehnten Jahrhundert“ oder „Dieser Teil Europas war einmal eine Utopie, das einzige Pendant zur Freiheit und Unternehmerselbständigkeit des amerikanischen Westens in der Alten Welt“. Der Narrator fokussiert sich bloß auf die Beschreibung. Diese zeichnet sich eher durch einen summarischen Charakter aus. Der auktoriale Charakter der Fokalisierung lässt sich auch auf dem anderen, genauso relevanten Beispiel verfolgen: „Sie wurden bloß und versonnen, und wenn sie auf Posten zogen, stand ihr Blick unbeweglich in der Richtung ihres Gewehrs auf dem Niemandsland.“234 In diesem kurzen, aber viel sagenden Abschnitt knüpft der Erzähler wegen seiner Überblickskapazität an eine spezifische Gruppe von Menschen. Es geht ihm denn um die deutschen Kriegsveteranen, die sich in der neuen Nachkriegsrealität wieder zu finden versuchen. Diesen „persönlichen Kampf“ nehmen sie einerseits durch die Teilnahme an den Parteien, andererseits durch die Arbeit und durch die Verdrängung der Erinnerungen auf, die sich ihnen stets mit dem Angsthaben bzw. der Angriffswut assoziieren. Gerade diese innere Diskrepanz verursacht, dass sie „bloß und versonnen“ sind und „wenn sie auf Posten zogen, stand ihr Blick unbeweglich in der Richtung ihres Gewehrs auf dem Niemandsland“.235 Interne Fokalisierung (=aktorial)- der Erzähler weiß nicht mehr als die Figur, was bedeutet, dass seine Rolle zur Mitsicht in der Erzählung begrenzt wird. Die Wahrnehmung ist in diesem Fall mit der konkreten Figur verbunden. Es werden hier 233 Wackwitz 2003, S. 61. Vgl. Ebd., S. 133. 235 ebd., S. 133. 234 55 vor allem die Angaben über das“ Innenleben“ eines Protagonisten bzw. einer Protagonistin weitergeleitet. „Andreas Wackwitz war skeptisch (worauf er in der Ruckschau großen Wert legt). Aber zugleich regte sich die Hoffnung, dass die verräterische Republik nicht das letzte Wort der deutschen Geschichte bleiben würde, dass Anhalt wieder deutsch, dass das Land wieder groß (dass sie afrikanischen Kolonien wieder unser) werden könnten.“236 Dabei wird gezeigt, wie der Erzähler hinter der Figur Andreas Wackwitz zurücktritt und wie er Wackwitz’s Gedanken und Hoffnungen angesichts der Hitlers Ernennung zum Reichskanzler eingeleuchtet. Mit anderen Worten referiert Die Position des Erzählers kann demnach als „Mitsicht“ bezeichnet werden. Er mischt sich nicht in die erzählende Geschichte ein, was durch den Mangel an den Kommentaren und den Bewertungen bestätigt wird. Wenn der Terminus Polymodalität im Zusammenhang von Null- und interner Fokalisierung erwägt wird, dann wird es selbstverständlich, dass beide Formen nebeneinander bestehen. Präziser gesagt, handelt es sich darum, dass in manchen Textpassagen Gedanken einer Person oft in personaler Erzählhaltung gehalten werden. Die eindeutige Differenzierung zwischen den Erzählformen (d.h. Ich-Form und ErForm) erweist sich demzufolge irrelevant zu sein.237 Die gleiche Stufe betrifft ebenso den Erzähler wie seine Figur. Das sieht man besonderes an dieser Textstelle: „Man kann mit fünfundzwanzig die Vogelschwärme noch nicht sehen, die an Wintertagen im Morgengrauen zusammen mit den Lebensträumen über das Haus wegfliegen. Und Andreas hatte mit fünfzig noch nicht begriffen, dass hinter den Lebensträumen das wirkliche Legen weitergeht, ohne uns. Aber vielleicht ist alles auch ganz anders gewesen […]. Und so bleibt mir heute nichts, als auf den zahlreichen zwiebelschalendünnen Blättern jener Kladden nachzulesen, warum es meinem Großvater zu Lebzeiten eigentlich gegangen ist; wovon er geträumt hat und warum er so enttäuscht war.“238 Es steht hier außer Zweifel, dass beide Formen der Fokalisierung gewissermaßen verzahnt sind. Der Narrator verfügt zwar über das Wissen, das innerhalb der auktorialen Sicht platziert werden kann („Und Andreas hatte mit fünfzig noch nicht begriffen, dass hinter den Lebensträumen das wirkliche Legen weitergeht, ohne uns“239), aber er bringt sich auch zugleich selbst im Spiel, indem er nur das wissen, bzw. sagen kann, was eine Figur weiß oder sagt („Und so bleibt mir heute nichts, als 236 Wackwitz 2003, S. 204. Vgl. Quack, Josef: Wolfgang Koeppen. Erzähler der Zeit. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 1997, S. 238. 238 Wackwitz 2003, S. 108. 239 ebd., S. 108. 237 56 auf den zahlreichen zwiebelschalendünnen Blättern jener Kladden nachzulesen, warum es meinem Großvater zu Lebzeiten eigentlich gegangen ist“240). 5.6 Zur Innenweltdarstellung Das im Familienroman generierte Erinnerungsprinzip wird durch zwei Formen der Fokalisierung markiert, d.h. erstens durch interne Fokalisierung, zweitens durch externe Fokalisierung. Während die erste Komponente an den Feld-Erinnerungen gebunden ist, steht die zweite in enger Korrelation mit den Beobachter-Erinnerungen.241 Im Rahmen der Feld-Erinnerungen verweist der Erzähler auf seine eigenen Lebenserfahrungen. In hohem Maße funktionieren sie als eine Reproduktion von Gedächtnisinhalten. Es ist dabei zu signalisieren, dass dieser Form der Erinnerungen gewöhnlich sinnliche Eindrücke bzw. Emotionen begleiten. Diese werden hingegen durch detaillierte Beschreibungen und durch typische für das kommunikative Gedächtnis Art der Verbalisierung bzw. der Narrativisierung242 gekennzeichnet: „Es sind kleine, gleichgültige und meistens eigentlich nicht besonders appetitliche Einzelheiten, die mir vom der äußeren Erscheinung meines Großvaters in Erinnerung geblieben sind: die sehr großen Ohren des alten Mannes; das gedampfte, sozusagen nass klappernde Geräusch, dass sein Gebiss machte, wenn er aß; jene verdrossene Ton- und die erkünstelte Hilflosigkeit am Frühstückstisch; der Geruch seines Rasierwassers; die Art, wie sein weißer Schnurrbart sich beim Sprechen manchmal sträubte; die komplizierte Aufhängung seiner Uhrkette in einem Westenknopfloch, in das auch der Knopf mit hineinmusste […]; das Geräusch, das seine eiserne Stockspitze auf den Feld- und Waldwagen machte, wenn ich gelegentlich mit ihm spazieren ging […]“243 Aus diesem Fragment lässt sich herausstellen, dass der Narrator stark in den damaligen Ereignissen verankert ist. Die Emotionalität seiner Wahrnehmung zeigt sich durch eine Reihe der spezifischen Ausdrücke: „nass klappernde Geräusch“, „verdrossene Ton- und die erkünstelte Hilflosigkeit am Frühstückstisch“, „der Geruch seines Rasierwassers“, „das Geräusch, das seine eiserne Stockspitze auf den Feld- und Waldwagen machte“. Dadurch entsteht einen Eindruck, als wäre die Intensität der gefühlsbetonten Gedanken beim Erzähler stets auf einem hohen Grad. Den ganz anderen Verhaltenstyp präsentiert der Erzähler auf der externen Ebene der Fokalisierung. Seine Domäne sind die Beobachter-Erinnerungen, die Bezug auf den 240 Wackwitz 2003, S. 108. Vgl. Schacter, L. Daniel: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit. 2001, S. 45. 242 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 173. Mehr dazu in: Stanzel, Franz: Theorie des Erzählens. 1979, S. 169. 243 Wackwitz 2003, S. 38. 241 57 zeitlichen Abstand des erlebenden Ichs nehmen. Die von Stephan Wackwitz beschriebenen vergangenen Ereignisse werden im Lichte der gegenwärtigen Erkenntnisse positioniert. Daraus folgt eine reflektierende Auseinandersetzung des Narrators gegenüber dem Großvater: „Was ich auf diese Weise aus seinem eigenen Familienroman über meinen Großvater erfahren habe, was für mich erstaunlich und unheimlich- vor allem deshalb, weil sich herausstellte, wie ähnlich mein Leben dem eines Mannes inzwischen geworden ist [...] Es gibt mehr und wichtigere Parallelen, als dass wir beide gern Zigarette rauchen und dass Enkel wie Großvater ihrem Beruf im Ausland nachgehen. Die kleinen, scheinbar zufälligen ebenso wie die bedeutenden Ähnlichkeiten, die kein Zufall sein können, haben sich gegen meinen Willen hergestellt.“244 Dieser Textabschnitt legt den Grundstein auf die Relation zwischen dem Großvater und dem Enkel. Sie wird aus der gegenwärtigen Position des Erzählers bewertet, was bedeutet, dass sie aus der anderen, d.h. mehr distanzierten und objektiven Perspektive des Narrators beschrieben wird. Aus diesem Grund akzentuiert man nicht so stark die emotionale Eindringlichkeit der Erinnerung.245 Für diese Art der Aussage ist eher eine reflektierende Anmerkung als ein intensiver Gefühlsausbruch charakteristisch: “Was ich auf diese Weise aus seinem eigenen Familienroman über meinen Großvater erfahren habe, was für mich erstaunlich und unheimlich- vor allem deshalb, weil sich herausstellte, wie ähnlich mein Leben dem eines Mannes inzwischen geworden ist.“246 Weiter schreibt auch der Erzähler über „mehr und wichtige Parallelen“247 und über „die kleinen, scheinbar zufälligen ebenso wie die bedeutenden Ähnlichkeiten“248, die in der Tat nach dem Erzähler nicht geschehen sollten, aber zum Trotz seines Willens zustande gekommen sind. Selbstverständlich wird demzufolge hier, dass der Narrator die konkreten Schlussfolgerungen zieht. Er fasst seine vergangenen Erinnerungen zusammen, die letztlich sie als “nüchterne Fakten“ gelten. Es lässt sich dabei doch nicht leugnen, dass gerade ihre Präsenz gravierend die Lebenshaltung des erlebenden Ichs geformt hat. Am nachdrücklichsten zeugt davon die nächste Textpassage: „Es wollte mir beim Lesen manchmal scheinen, als hätten sich über die Jahrzehnte mein Leben und das Leben meines Großvaters hinter meinem Rücken miteinander verständigt. Fast ein halbes Jahrhundert, sage ich mir manchmal und sehe 244 Wackwitz 2003, S. 35. Vgl. Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München: Verlag C. H Beck 2007, S. 86f. 246 Wackwitz 2003, S. 35. 247 ebd., S. 35. 248 ebd., S. 35. 245 58 kopfschüttelnd von dem vergilbten Durchschlagpapier auf, habe ich gebraucht, um ihnen auf die Schlichte zu kommen.“249 Wie das Ich bemerkt, musste die Jahrzehnte vergehen, um für es klar werden zu können, dass sein Leben mit dem Leben seines Großvaters in gewissem Sinne similar ist. Sowohl der Großvater als auch der Enkel vertreten den ähnlichen Lebensstil, der nach dem Erzähler sich „miteinander verständigt“250 haben könnte. Solches Fazit kann vom Ich erst nach fast einem halben Jahrhundert konstruiert werden. So viele Zeit hat er jedoch gebraucht, um mit „dem vergilben Durchschlagspapier“ seines Großvaters zurechtzukommen, bzw. auf ihre „Schlichte zu kommen“.251 Der Narrator bedient sich hier zweifellos der observer memories.252 Sein Rückblick auf die Erinnerung wird durch seine distanzierte Haltung determiniert, indem er fähig ist, gewisse vergangene Aspekte dank „frischem“ Blick neu anzusehen. 5.7 Zum ‚Wie’ der Darstellung Wie Martinez und Scheffel bemerken, sollte die Erzähltheorie unter dem Aspekt Wie (dem „Erzählen“) und Was (dem „Erzählten“) berücksichtigt werden. Während das „Erzählte“ entspricht der Handlung, bzw. der erzählten Welt, betrifft das Wie der bestimmten Darstellungsverfahren. Aus diesem Grund wird das Erzählen im Text durch eine entsprechende Reihenfolge geäußert. Als eine der wichtigsten Phänomene gilt hier die Zeit. Aus Rücksicht auf die Tatsache, dass „Erzählen immer <ein Erzählen von etwas> bedeutet“253, werden zwei Zeitvorgänge d.h. Erzählzeit und erzählte Zeit gegenübergestellt. Es muss dabei exponiert werden, dass man nach dieser Thematik schon in den 1940er Jahren aufgegriffen hat. Die besondere Position hat in diesem Bereich Günther Müller254 genommen. In seiner Hinsicht ist die Erzählzeit eine Form der Zeit, die „der Erzähler braucht, um die Erzählung wiederzugeben bzw. der Leser im ganzen braucht, um die Geschichte zu lesen.“255 Das Wesentliche besteht darin, das sich 249 Wackwitz 2003, S. 35. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2005, S. 35. 251 Vgl. ebd., S. 35. 252 Anders gesagt: die „Beobachter-Erinnerungen”. Dazu ausführlich schreibt: Schacter, L. Daniel: Searching for memory. The brain, the mind and the past. New York: Basic Books, 1996, S. 21. 253 Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2005, S. 30. 254 Vgl. Karoussa, Nadia: Entstehung und Ausbildung des personalen Erzählens in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Grundfragen einer Narrativik deutschsprachiger fiktionaler Texte unter besonderer Berücksichtigung der Erzähltechnik Theodor Storms. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms Verlag 1983, S. 75. 255 Vgl. ebd., S. 75. Zitiert nach: Müller, Günther: Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst. In: Ders. Morphologische Poetikgesammelte Aufsätze von Günther Müller, Helga Egner, Elena Müller Mitwirkende Personen Elena Müller. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1968, S. 269-286. 250 59 diese zeitliche Ebene durch den Seitenumfang bemisst. Der zweite Zeitvorgang d.h. die erzählte Zeit wird hingegen durch konkrete Zeitangabe bezeichnet. Diese Korrelationen werden präzise am Beispiel von Stephan Wackwitz’ „Ein unsichtbares Land“ verdeutlicht. Während die Erzählzeit hier 286 Seiten entspricht, umfasst die erzählte Zeit einen Zeitraum von zirka fünfzig Jahren. Es ist an dieser Stelle hinzudeuten, dass das Buch aus zwei verschiedenen Perspektiven erzählt wird. Es hat gewissermaßen zwei Ich-Erzählers. Der Haupterzähler, Stephan Wackwitz, erzählt vorwiegend über die Nachkriegsrealität, also über die Zeit, in der er aktiv beteiligen konnte. Die von ihm beschriebenen historischen Tatbestände aus der Vorkriegs-, und Kriegsrealität dienen hier dagegen nur als ein gewisser Kommentar dazu, was er sich von seinem Großvater (Andreas Wackwitz) und teilweise von seinem Vater (Gustav Wackwitz) erkundigt. Es loht sich an dieser Stelle auf Gerard Genette zu berufen. Dieser systematisiert das Verhältnis zwischen der Zeit der Formen Wie und Was mit Hilfe folgender drei Parameter: 1) Ordnung (Reihenfolge das Geschehen in einer Erzählung), 2) Dauer (zeitliche Dauer eines Geschehens in einer Erzählung), 3) Frequenz (Wiederholung eines Geschehens in einer Erzählung).256 Im Hinblick auf die erste Komponente muss veranschaulicht werden, dass es eng mit der „Gesamtheit dessen, was erzählt wird“257 verbunden ist. Die Handlung besteht aus folgenden Elementen: 1) aus dem Ereignis, 2) aus dem Geschehen, 3) aus der Geschichte. Während das „Geschehen“ durch eine Reihe von bestimmten Erzählereignissen in Form der Einheit in eine Geschichte einbezogen wird, muss eine „Geschichte“ zusätzlich auf den chronologischen bzw. kausalen Zusammenhang der Ereignisfolge verweisen.258 Im Fall des Buches „Ein unsichtbares Land“ spricht man von einer Familiengeschichte, die sich doch aus mehreren Episoden, d.h. aus relativ abgeschlossenen Teilhandlungen besteht. Insgesamt setzt sich der Familienroman aus 18 Kapiteln zusammen. Die Chronologie der Ereignisse wird hier abgebrochen, indem das Buch durch eine „narrative Anachronie“259 gekennzeichnet wird. Diese 256 Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2005, S. 32-36 und 45. Ebd., S. 189. 258 Vgl. Ebd., S. 25. 259 Vgl. Blum, David: Anachronie des Erzählens. München: GRIN Verlag 2008, S. 8-10. 257 60 anachronische Darstellung wird durch zwei Formen inszeniert: 1) durch Analepse bzw. Rückwendung, 2) Prolepse bzw. Vorausdeutung.260 Es ist zu bedenken, dass sich der Familienroman von Stephan Wackwitz verschiedener zeitlichen Ebenen bedient. Die Gegenwartsebene folgt ihre vergangene Form nebeneinander und umgekehrt. Solches Verfahren hat zum Ziel, verschiedene zeitliche Register zusammenzusetzen. Interessant dabei ist, dass jedes Kapitel im Buch in medias res beginnt. Nach der Auffassung von Carsten Gansel bedeutet solcher Textanfang einen bestimmten Zeitpunkt, der mitten in der Geschichte gewählt wird. In solcher Form gilt er als Beginn für das Erzählen.261 Wenn diese Feststellung weiter verfolgt wird, dann erweist sich, dass sie eine Basis für die so genannte aufbauende Rückwendung262 bildet. Diese Form der Analepse ermöglicht dem Erzähler, die „Hintergründe einer zunächst unvermittelt präsentierten Situation“263 näher zu bringen. Stephan Wackwitz akzentuiert dieses Darstellungsverfahren unter anderem im Kapitel „Unverhofftes Wiedersehen“: „Es was ein merkwürdiges Einschreiben, das mein Vater an einem Frühlingstag des Jahres 1993 an der Tür seines Hauses am Bodensee zu quittieren hatte.“264 Der Narrator erwähnt hier absichtlich über „ein merkwürdiges Einschreiben.“265 Es gilt als ein spezifischer Zeitpunkt, unter dem sich eine geheimnisvolle familiäre Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg versteckt. Präziser gesagt geht es um das „unverhofftes Wiedersehen“ mit der Kamera, die schon nach vielen Jahren einen eingelegten und belichteten Film enthält. Der von dem Erzähler verwendete Anfang in medias res verursacht, dass der Leser sich selbst eine Chronologie dieses Ereignisses zusammenstellen muss. Erst dann kann er die konkreten Zusammenhänge einsehen und sie zugleich verstehen.266 Die aufbauende Analepse veranschaulicht der Erzähler auch im Kapitel „Ein unsichtbares Land“ „Besuch in Anhalt: Der Blick von der Autobahn aus geht über ein tief liegendes Marsch- und Sumpfland, in dem niedrige Birken, Eichen und Kiefern wachsen, in feuchten Senken Riedgras; Wiesen, Zaune, Teiche und Busche. Eine Eisenbahnlinie am Horizont, das Schwungrad eines Forderturms in der Ferne, im Vordergrund weiße Baustofftanks der Firma Dyckerhoff.“267 260 Vgl. Blum, David: Anachronie des Erzählens. 2008, S.11-13. Zitiert nach Genette, Gerard: Die Erzählung 2 1998, S. 23. Siehe dazu auch: Lämmert, Eberhard: Bauformen des Erzählens. Stuttgart: Metzler Verlag 1955, S. 100-108 und 139-141. 261 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur 1999, S. 74. 262 Mehr dazu in: Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 1999, S. 30-32. 263 ebd., S. 30-32S. 264 Wackwitz 2003, S. 12. 265 ebd., S. 12. 266 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur 1999, S. 74. 267 Wackwitz 2003, S. 134. 61 Diese untypische Einführung mitten in der Geschichte verknüpft sich mit der Enthüllung eines familiären Erinnerungsdiskurses. Das zeigt sich doch im weiteren Verlauf der Geschichte. Die am Anfang des Textes betonte Feststellung „Besuch in Anhalt“ lässt sich eher als eine gewisse Art der mentalen Zeitreise erkennen, die sich sowohl für den Ich-Erzähler als auch für seinen Vater (Gustav) als ein kostbares und ein unvergessliches Erlebnis herausgestellt hat. In diesem Kontext muss das Generationengedächtnis berücksichtigt werden. Dieses kreist wiederum um die „Gespenster der Vergangenheit“, die auf verschiedene Art und Weise vom Erzähler gezeigt wird. Der Narrator äußert sich aus der Perspektive einer erwachsenen Person. Obwohl er 51 Jahre ist, kann er sich ganz gut an seine Kindheit und Adoleszenz erinnern. Auf die Spuren seiner Familie kommt er vor allem dank dem Kriegstagebuch des Großvaters. Seine detaillierten Beschreibungen gestalten das Bildnis der verwirrenden politischen Zeiten des 20. Jahrhunderts. Über seinen Ablauf spricht Andreas Wackwitz in der folgenden Textpassage: „Das alles und noch mancherlei ist im Telegrammstil und streng chronologisch nach dem Kalenderablauf in zwei dicken Heften aufgezeichnet, und zwischen den Seiten liegen Konzertprogramme, Gefechts-Skizzen, Bataillonsbefehle, dienstliche Gefechtsberichte, Fahrscheine, getrocknete Blätter, Federn von Wildenten, ein Verwundetenzettel, drei reizende Briefe einer jungen Französin, eine blonde Locke mit rotem Band […]“268 Aus dieser Aussage tritt ein Bild eines peinlichen und zugleich pedantischen Mannes hervor. Offensichtlich wird hier, dass sein Hang zur Ordnung auch seine Mentalität und Lebensprinzip ist. Als Schlüsselbegriffe gelten solche Wörter bzw. Ausdrücke wie: „Telegrammstil“, „streng chronologisch nach dem Kalenderablauf“. Nach dem Inhalt des Tagesbuches lässt sich festhalten, dass es nicht nur auf politische Reflexionen sondern auch auf den Alltag eingestellt wird. Davon zeugen: “Konzertprogramme“, „getrocknete Blätter“, „Federn von Wildenten“, „drei reizende Briefe einer jungen Französin“ oder „eine blonde Locke mit rotem Band“.269 Solcher Charakter des Tagebuches folgt aus Wackwitz’ Überzeugung, dass über den Ernst des Krieges, seines Grauens und seiner Problematik nicht zu oft besprochen werden sollte. Das Tagebuch spielt eher eine Rolle der Abwehreaktion von der schrecklichen Wirklichkeit. Es ist sozusagen „eine Art der Panzer“.270 Es muss dabei eine wichtige Anmerkung gemacht werden. Wie Stephan Wackwitz signalisiert, kommt auch vor, dass manche 268 Wackwitz 2003, S. 84. ebd., S. 84. 270 Ebd., S. 85. 269 62 Tagebuchstelle seines Großvaters erst nach vielen Jahren mit den Kommentaren ausgestattet werden. Als ein gutes Beispiel gilt das Fragment aus dem Tagebuch, das Bezug auf 1918 nimmt. Relevant dabei ist, dass Andreas Wackwitz’ Kommentar dazu erst von 1956 ist. Daraus ergibt sich eine zeitliche Spanne von 38 Jahren. Dieser Unterschied scheint wie eine tiefe Kluft zu sein. 1918 war Wackwitz ein junger Mann, in 1933 war er vierzig und in 1956- sechsunddreißig. Damals schon, wie der Erzähler berichtet, saß er „stumm und weinerlich am Frühstückstisch“.271 1918 hat er auf folgende Art und Weise kommentiert: „Ich habe das Gefühl, dass eine Revolution fällig ist, und schreibe ins Tagebuch: <Was soll werden?> Zu fragen, ist Blödsinn […] Mag das Reich auseinanderbrechen, wir richten ein neues auf, der deutsche Geist muss wieder siegen […] Es war die Sorge um die Erhaltung der Volkssubstanz und auf die inneren Kräfte im deutschen Volk.- Die Revolution kam dann ja bald, aber ohne Geist mit roten Fahnen, schmutzigen Händen und dummen Hetzreden. Rückschauend frage ich wiederum: ist es ein Wunder, daß alle, die wie ich sie erwartet hatten und von ihr dann bitter enttäuscht wurden, - und das waren wir alten Frontsoldaten fast alle- 15 Jahre später dann glaubten, nun sei es soweit?“272 Wie diese Bemerkungen zeigen, lassen sie sich trotz des Verlaufs der Jahre durch Emotionalität und Expressivität erkennen. Es wird hier besonders zu bemerken, dass die Hitlers Propaganda eine äußerst effektive Rolle abgespielt hat. Die von der Regierung angekündigten Veränderungen im Land haben nämlich große Neugier mitten in der deutschen Gesellschaft erregt. Ihre Hauptparole war „Revolution mit dem Geist“. In der Tat erweist sie sich doch eine Revolution „mit roten Fahnen, schmutzigen Händen und dummen Hetzreden“273 zu sein. Erstaunlich dabei ist, dass dieses nationale Konzept immer wieder im Kopf von Andreas Wackwitz und seiner Generation lebt. Entscheidend ist hier die Feststellung: „Es war die Sorge um die Erhaltung der Volkssubstanz und auf die inneren Kräfte im deutschen Volk.“274 Nach Wackwitz ist die Vision des „deutschen Geistes“ und der „deutschen Volkssubstanz“ höchst unerlässlich und berechtigt Letztlich bleibt ihn doch eine Reflexion, die zugleich eine rhetorische Frage ist: „ ist es ein Wunder, dass alle, die wie ich sie erwarten hatten und von ihr dann bitter enttäuscht wurden, - und das waren wir alten Frontsoldaten fast alle15 Jahre später dann glaubten, nun sei es soweit?“ Offensichtlich wird hier, dass der Misserfolg des deutschen Systems die Lebenserwartung von Andreas Wackwitz nicht verändert hat. Durch den Rest seines Lebens wird er denn tief davon überzeugt, dass 271 Wackwitz 2003, S. 105. Ebd., S. 104. 273 ebd., S. 104. 274 ebd., S. 104. 272 63 seine Heimat noch ein neues deutsches Reich gerichtet wird, wo der deutsche Geist als Sieger triumphiert werden könnte. Wackwitz’ Glaube an den Sieg war eine der wichtigsten Ursachen, für die er sich entschieden hat, freiwillig und von Anfang an zuerst an der galizischen Front, dann an den flandrischen Schützengräben und schließlich an den Schlachten teilzunehmen.275 In der Perspektive des Erzählers war das für seinen Großvater viel wichtiger als seine Studienzeit oder intellektuelle bzw. künstlerische Erfahrungen.276 Aus diesem Engagement im Krieg entstehen unterschiedliche oft dramatische bzw. traumatische Erlebnisse, die in Form der Reflexionen und der Überlegungen im Tagebuch ausgedrückt werden. An dieser Stelle sollte ein Fragment „Zwei Überlebende“ aus dem Kapitel „Vier Kriege“ angeführt werden: „Am 3.Juli 1915 rücken wir vormittags in unseren Angriffsraum, liegen und essen in einem Wald zuerst vor. Die russische Artillerie flankierte uns von links mit Schrapnells, und es gab allerlei Verluste […] Ich erhalte einen scharfen Schlag gegen das linke Knie und knicke zusammen […] Das Knie fängt an, wie Feuer zu brennen. Ich merke, dass sich der Stiefel mit warmen Blut fällt […] Ich hatte viel Blut verloren und nahm nur oberflächlich wahr, daß noch andere Sanitäts- Soldaten da waren, die sich um den einen der beiden Verwundeten meiner Gruppe bemühten. Der arme Kerl hatte 3 Schrapnellkugeln in Brust, Arm und Bein erhalten. Der andere hatte nur eine Handverletzung, er konnte mit eigener Kraft zum Truppenverbandsplatz […] Um das Herz zu stützten, spritzte er 4 ccm. Oleum camphori und gab mir zur Schmerzlinderung- denn ich schrie laut, als er in der Wunde rumfummelte- 0,02 ccm. Morphium […]“277 Es stellt sich an diesem Punkt heraus, dass Andreas Wackwitz nicht imstande ist, vor der Kriegsproblematik und ihrem Grauen zu flüchten. Zwar hat er in seinem Tagebuch über „eine gesunde Abwehrreaktion“278 geschrieben, aber in diesem Fall geht es um die spezifischen Lebenserfahrungen, die durch den dramatischen Charakter ihres Ablaufs im Wackwitz’ Gedächtnis als Trauma bewahrt wurden. Dieses wird hier aufgrund von plastischen Bildern fixiert: „Ich erhalte einen scharfen Schlag gegen das linke Knie und knicke zusammen“279, „Das Knie fängt an, wie Feuer zu brennen. Ich merke, dass sich der Stiefel mit warmen Blut fällt“280, „Der arme Kerl hatte 3 Schrapnellkugeln in Brust, Arm und Bein erhalten“281 oder „Um das Herz zu stützten, spritzte er 4 ccm. Oleum camphori und gab mir zur Schmerzlinderung- denn ich schrie laut, als er in der Wunde 275 Vgl. Wackwitz 2003, S.41. ebd., S. 41. 277 Ebd., S. 90f. 278 Ebd., S. 84. 279 Ebd., S. 90 280 ebd, S. 90. 281 ebd. S. 90. 276 64 rumfummelte- 0,02 ccm. Morphium“.282 In diesem Zusammenhang hält man fest, dass Wackwitz’ Bemerkung über die Menschen, die die Panzer nicht kannten, äußerst unzutreffend ist. Nach seiner Meinung sind denn solche Personen schwach, feige oder schwermütig.283 Wenn man sich genau dem Krieg bzw. seinem Bild des Schreckens ansieht, kommt in den Sinn keine Feigheit bzw. keine Schwermut eines Soldaten. Die Kriegsrealität wird eher als einen heroischen Kampf seiner Beteiligten gesehen. Dieser realisiert sich vorwiegend durch den „inneren Kampf“, der im Endeffekt viel komplizierter als die Sachkenntnisse ist. Abgesehen von Andreas Wackwitz’ Teilbriefen lässt sich festhalten, dass die anachronische Dimension der Zeitdarstellung vor allem durch Stephan Wackwitz, d. h durch den erzählenden Protagonist präsentiert wird. Seine Zeitsprünge verbinden sich mit bestimmten Ereignissen. Diese beeinflussen wiederum seine Familiengeschichte, in der er auch seine Teilnahme hat. In Bezug darauf erinnert er sich an folgende Zeit: „Es war ein bedeckt- windiger Sommertag im Jahr 2000“284 Dieses Fragment des Textes nimmt Bezug auf das Kapitel „Ein unsichtbares Land“. Es handelt sich um eine Begegnung zwischen zwei Generationen, d.h. zwischen dem Sohn (Stephan) und dem Vater (Gustav). Beide treffen sich in Anhalt. Sowohl Stephan als auch Gustav erfahren in gewissem Sinne eine sentimentale Zeitreise. Es ist doch dabei zu bemerken, dass sie anders beim Vater als beim Sohn verläuft. Die spezifischen Orte aus Anhalt wie Gebäude, Bäume und Straßen werden von Gustav Wackwitz als Zeit seiner Jugend empfunden. Für seinen Sohn, Stephan, haben sie schon nicht so große Bedeutung. Er kennt ihre Geschichte nur aus den Photos und aus den Erinnerungen seines Vaters und Großvaters. Die gemeinsame Suche nach den vergangenen Spuren erweist sich doch für beide eine Reise im Innersten. Der Ich-Erzähler beschreibt diese Situation mit folgenden Worten: „In zwei Stunden, die wir am Nachmittag in Anhalt waren, schob sich die Erinnerung auf Schritt und Tritt vor die- dadurch seltsam erwarteten und etwas unbestimmt Gespenstisches annehmenden-zeitgenössischen Überreste der friderizianischen Weberkolonie Anhalt […] und mehr als einmal ergab sich für Vater und Sohn Gelegenheit, darüber nachzudenken, ob die so genannte Wirklichkeit, die uns meistens als etwas unbestreitbar Festes, Undurchdringliches und Körperhaftes erscheint, nicht vielmehr eher ein lockeres und veränderliches Gewebe aus Erinnerungen, Geistern, Stimmungen ist und erst in zweiter Linie aus Tatsachen und Gegenständen besteht.“285 282 Wackwitz 2003, S. 91. Vgl. Ebd., S. 84. 284 Ebd., S. 134. 285 Ebd., S. 136. 283 65 Der ausgesprochene Charakter dieser Aussage besteht darin, dass sie auf spezifische Beziehungen zwischen dem Vater und dem Sohn verweist. Obwohl beide Männer die Repräsentanten verschiedener Generationen sind, werden sie als das „Ganze“ wahrgenommen. Es gibt hier keine Missverständnisse und keine gegenseitigen Streitigkeiten. Sowohl der Vater als auch der Sohn wollen nur darüber nachdenken, „ob die so genannte Wirklichkeit, die uns meistens als etwas unbestreitbar Festes, Undurchdringliches und Körperhaftes erscheint, nicht vielmehr eher ein lockeres und veränderliches Gewebe aus Erinnerungen, Geistern, Stimmungen ist und erst in zweiter Linie aus Tatsachen und Gegenständen besteht.“286 Interessant dabei wird, dass solcher Umgang zur Frage der Erinnerung durch einen kurzen Aufenthalt (zwei Stunde) in einem Ort inspiriert wurde. Das ist nur ein Beweis dafür, dass das menschliche Erinnerungsvermögen stets dem Raum und der Zeit unterstellt ist. Wenn das Durchbrechen der chronologischen Ordnung weiter verfolgt wird, dann stellt sich heraus, dass das Kapitel „Im Palast des Kaisers“, im Gegensatz zur späteren Episode „Ein unsichtbares Land“, über die Ereignisse aus dem 2001 behandelt. Der Ich-Erzähler fokussiert sich an diesem Punkt des Buches auf das ungewöhnliche gelbe Heft, das aus 1959 stammt: „So bin ich im Frühling 2001, das gelbe Heft mit den seit 1959 schon ein bisschen aufgelösten, verwischt und weich gewordenen Kohlepapierlettern in der Hand, lange im tropfenden und duftenden Garten meines Urgroßvaters gestanden.287 In dieser Textpassage spielt die Zeitspanne eine besondere Rolle. Obwohl der Narrator auf seine gegenwärtige Position hindeutet, wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf das Datum 1959 gelenkt. Dieses Jahr hängt eng mit den Ursprüngen der familiären Aufzeichnungen und zugleich des kulturellen Archivs zusammen. Das wichtigste liegt doch darin, dass es drei, sich scheinbar einander abschließende Generationen ringsum sich versammelt und verbindet. Es lässt sich demnach in diesem Fall festhalten, dass die Geschichte ihre weiteren Kreise zieht. Wenn die Ordnung unter dem Aspekt der Vorausdeutung berücksichtigt wird, muss darauf Wert gelegt werden, dass im Familienroman von Stephan Wackwitz die so genannte einführende Vorausdeutung und zukunftsungewisse Vorausdeutungen 286 287 Wackwitz 2003, S. 136. Ebd., S. 123. 66 288 dargestellt werden. Die erste Form offenbart sich im Buch schon durch den kurzen Inhaltsangabe und durch den Kapitelüberschriften: „Geister“, „Unverhofftes Wiedersehen“, „Das Schweigen“, „Chamelon Years“, „Die Transusigkeit“, „Eine erfundene Geschichte“, „Vier Kriege“, „Im Palast des Kaisers“, „Eine Insel im südlichen Pazifik“, „Ein unsichtbares Land“, „Fünf Professoren/Träume von Jürgen Habermas“, „Verlassene Zimmer“, „Die Jacaranden von Madeira“, „Schlangengeschichte“, „Mord“, „Kleine Propheten“, „Die Toten“, „Schiffbruch“. Besonders beachtenswert ist das Kapitel: „Ein unsichtbares Land“. Dieses ist auch ein Buchtitel, der wiederum sich auf die relevanten historisch-politischen Ereignisse bezieht. In diesem Zusammenhang spricht man über die wilhelminische Ideologie, über zwei Weltkriege, über die Etablierung der BRD.289 In dieser Wirklichkeit wird Andreas Wackwitz verankert. Diese nostalgische Erinnerung an ein „unsichtbares bzw. an ein untergegangenes Land“ steht doch in Opposition zu anderem Weltbild, das mit der Generation der 1968er Jahre assoziiert wird. Darunter wird vor allem Stephan Wackwitz’ Studienzeit gemeint. Das Weltbild der ehemaligen Zeiten basiert auf der Überzeugung, dass die Bundesrepublik stets an Faschismus orientiert ist. Es ist schon ein gewisses Schandmal dieses Staates, das letztlich ihn zur seinen Dämonisierung führt.290 Angesichts dieser Fakten scheint ein Disput zwischen den „älteren“ und „jüngeren“ Generationen immer wieder kontrovers zu sein. Im Fall der zukunftsungewissen Vorausdeutungen verweist der Erzähler einerseits auf „scheinbar zukunftsweisende Träume“291 andererseits auf die Prophezeiungen, die in hohem Masse mit Rudi Dutschke292 verbunden sind. Die vom Stephan Wackwitz beschriebenen Träume resultieren aus den Erfahrungen seiner Familienmitglieder. Eine der wichtigsten Personen ist hier die Mutter. Diese, wie der Erzähler andeutet, „war nur 288 Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2005, S. 38. Mehr dazu in: Vogt, Jochen: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie. München: C. Bertelsmann Verlag 1972, S. 52-54. 289 Vgl. Eigler, Friederike: Gedächtnis der kulturellen und familiären Archive: Ein unsichtbares Land von Stephan Wackwitz. In: Betten/Anne; Steinecke, Hartmut/ Wenzel, Horst (Hrgs.): Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. Philologische Studien und Quellen. Heft 192. Berlin: Erich Schmidt Verlag 2005, S. 186; Siehe auch dazu: Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung 2007, S. 84-86. 290 Vgl. Eigler, Friederike: Gedächtnis der kulturellen und familiären Archive: Ein unsichtbares Land von Stephan Wackwitz. 2005, S. 186. 291 Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2005, S. 38. 292 Rudi Dutschke nahm an den West-Berliner Studentenbewegung in der 1960er Jahre teil. E war dort vor allem ein Wortführer. Mehr dazu in: Kraushaar, Wolfgang (2007, 20. August): Rudi Dutschke und der bewaffnete Kampf. Die Geschichte der RAF. Bundeszentrale für politische Bildung: http://www.bpb.de/themen/AWRK73,0,0,Rudi_Dutschke_und_der_bewaffnete_Kampf.html (Zugriff am 21.Mai 2009). 67 vierundvierzig, als sie zum ersten Mal den Tod sah“293 1944 wurde sie während eines Tieffliegerangriffs verletzt. Viel Zeit hat sie im Krankenhaus verbracht, wo sie sich in einem Zustand zwischen Leben und Tod befunden hat. Über ihren ungewöhnlichen Traum hat sie erst nach einigen Jahren erzählt: „Es klingelte im Traum an der Tür des Hauses am Esslinger Zollberg, das mein Großvater 1926 mit dem Erlosen seines erfolgreichsten Patents gebaut hat. Sie öffnete, und auf den Travertinplatten, zwischen den großen Rosenbuschen des Vorplatzes, stand schweigend der Tod, ein Skelett im schwarzen Randmantel, die Sense über der Schulter. Meine Mutter warf die Tür zu und versteckte sich in der Speisekammer. Und statt ihrer ging im Traum meine Tante, die damals in Wirklichkeit als Luftwaffenhelferin in Norddeutschland war und von der Familie wochenlang keine Nachricht gehabt hatte, zur Tür machte sie auf und sagte <Geh weg. Du hast hier nichts zu suchen.“294 Dieser Traum zeichnet sich durch einen bildlichen Charakter aus. Der Erzähler beschreibt ihn akribisch. Bevor der Leser zur eigentlichen Thematik hinzugeführt wird, bildet der Narrator ihre räumliche Kulisse. Das heißt, dass er im Text solche Einheiten wie Ort, Zeit platziert: „ […] Tür des Hauses am Esslinger Zollberg, das mein Großvater 1926 mit dem Erlosen seines erfolgreichsten Patents gebaut hat.“295 Danach konzentriert sich der Erzähler auf die Einzelheiten: „zwischen den großen Rosenbuschen des Vorplatzes, stand schweigend der Tod, ein Skelett im schwarzen Randmantel, die Sense über der Schulter“296 Der wichtigste Aspekt dieser Geschichte rekurriert doch auf ein ganz unerwartetes Wiedersehen von Wackwitz’ Tante, die „von der Familie wochenlang keine Nachricht gehabt hatte“297. Diese macht einfach die Tür auf und sagt zu ihrer Schwester: „<Geh weg. Du hast hier nichts zu suchen.>“ 298 Wie sich später erweist, haben diese Worte eine prophetische Dimension Die Mutter wird wieder gesund. Nach zwei Wochen erscheint hingegen ihre liebe jüngere Schwester, die in gewissem Sinne schon früher ihre Heimkehr angekündigt hat. Als der nächste, bedeutsame Traum gilt Andreas Wackwitz’ „Ein Traum von Osten“. Dieser verbindet sich nicht nur mit einer gewissen Form der Prophezeiung, sondern auch mit der besonderen Art des Ausdrucks von Gefühlen: „Als ich einmal nachts von 3-4 Uhr als Wache am Zuge entlang patrouillierte, überfiel mich das Erlebnis der schneebedeckten, ebenen Weite der Landschaft, in der die Dörfer elend, geduckt und armselig zerstreut schweigend im Sternlicht dalagen, mit großer Gewalt. Es war der Osten, der mir zum ersten Mal richtig ins 293 Wackwitz 2003, S. 94. Ebd., S. 97. 295 ebd., S. 97. 296 ebd., S. 97. 297 ebd., S. 97. 298 ebd., S. 97. 294 68 Blickfeld kam. So fremd er vor mich hintrat, so spürte ich doch auch eine unerklärlich-geheimnisvolle Lockung von ihm ausgehen. War es der unbewusste Drang in die freie Weite, den ich später so oft in Südafrika fühlte, war es der Sog des auf Tat und Unterwerfung wartenden Ostlandes, dem die mittelalterlichen Vorfahren gefolgt waren, oder war es die polnische Großmutter, die in mir rumorte?“299 Aus dieser spezifischen Wahrnehmungsweise tritt ein Mensch hervor, der verschiedene Bedanken hat. Er weißt nicht in Wirklichkeit, was ihn im Osten antreffen kann. Es gibt nur „das Erlebnis der schneebedeckten, ebenen Weite der Landschaft, in der die Dörfer elend, geduckt und armselig zerstreut schweigend im Sternlicht dalagen, mit großer Gewalt.“300 Wackwitz ist nur davon überzeugt, dass der Osten völlig fremd für ihn ist. Paradox erweist sich zugleich dieses Land für ihn als eine „unerklärlich, geheimnisvolle Lockung“301. Diese innere Diskrepanz ruft eine Reihe von eher rhetorischen Fragen hervor: „War es der unbewusste Drang in die freie Weite, den ich später so oft in Südafrika fühlte, war es der Sog des auf Tat und Unterwerfung wartenden Ostlandes, dem die mittelalterlichen Vorfahren gefolgt waren, oder war es die polnische Großmutter, die in mir rumorte?“302 Im Kontext der deutsch-polnischen Beziehungen ist die letzte Frage von besonderer Bedeutung. Die von Wackwitz benutzte Formulierung „die polnische Großmutter, die in mir rumorte“ zeigt, dass das Verhältnis des deutschen Soldaten zum Osten noch unbestimmt ist. Der Mann macht einen Eindruck, als fühle er sich verwirrt. Man kann doch vermuten, dass dieses Land gewissermaßen positive Empfindungen beim ihm hervorrufen. Andreas Wackwitz’ Konfrontation mit der östlichen Realität wird im Kapitel „Ein unsichtbares Land“ gezeigt. Diese wurde in Form eines Ausschnitts aus dem Tagebuch gefasst: „Dort bin ich angekommen. Ich wollte sagen, dass diese ganze Landschaft um Anhalt herum den Frieden einer stillen, kleinbäuerlichen Welt atmete. Die Toten lagen im Schatten der Kirche und hatten ihre Ruhe, und die Lebenden gingen ihrem bescheidenen Lebensunterhalt in bäuerlicher Arbeit nach, in die die moderne Technik noch nicht eingedrungen war. Die bäuerliche Existenzgrundlage war schmal, in Anhalt hatte jeder Wirt seit den Anfangszeiten der Kolonie nur 3.5 h in Eigenbesitz, in Gatsch war es etwas mehr, und deshalb gingen viele Männer zur Eisenbahn auf die Grube. Die Wohnungen waren eng und die Familien meist zahlreich, und ich war immer wieder erstaunt, in welchem Frieden und in mit welchem Geduld die Leute miteinander lebten […].“303 An dieser Stelle muss angedeutet werden, dass Anhalt infolge der Entscheidungen nach dem Ersten Weltkrieg ein polnisches Dorf wurde. Andreas Wackwitz ist in das Dorf als 299 Wackwitz 2003, S. 98. ebd., S. 98. 301 ebd., S. 98. 302 ebd., S. 98. 303 Ebd., S. 146. 300 69 ein junger Vikar nach den dramatischen Ereignissen gekommen. Historisch gesehen wurde das deutschsprachige Dorf von polnischen Aufständischen verwüstet und abgebrannt. Manche Nachkommen sind dabei ums Leben gekommen. Viele haben ihr Vieh und ihre Häuser verloren.304 Der Erzähler verweist dabei noch auf einen anderen Aspekt, der im Zusammenhang mit diesem „deutsch-polnischen Dorf“ wichtig ist: „[…] niemand konnte daran glauben, dass Anhalt/Hołdunów siebzig Jahre später noch immer polnisch sein würde. Und auf keinen Fall hat Andreas Wackwitz eine Ahnung davon gehabt, dass er die Lebensformen des expatriot nicht nur an seinen Sohn, sondern auch an einem Enkel weitervererben würde.“305 Das Dorf überrascht den Priester. Die menschliche Existenz wird hier durch eine friedliche Stimmung und durch die tägliche Arbeit bestimmt. Obwohl es an einer modernen Technik fehlt, hat jeder Wirt seinen Eigenbesitz, der wiederum von jedem mit großer Vorliebe und Ehre behandelt wird. Das, was Andreas Wackwitz in Erstaunen versetzt, ist die gegenseitige Menschenfreundlichkeit unter den Bewohnern. Trotz der extremen Wohnungsverhältnisse glauben sie ununterbrochen an das biblische Gebot: „Liebe deine Nächste wie dich selbst“.306 Im Hinblick auf die spezifische Art der Vorausdeutung muss noch hinzugefügt werden, dass sich eine der wichtigsten „Prophezeiungen“ des Erzählers im Kapitel „Der Schlangegeschichte“ befindet. Dort notiert der Narrator über folgende Fakten: „[…] so unzweifelhaft weiß sein Enkel im Jahr 2001, dass das Böse, dass ihm damals, ohne dass er wusste, so lang und so hartnäckig nah gewesen ist [….] dass das Böse, dessen unverstellter Realität und Konsequenz sein Leben lang immer wieder um Haaresbreite entgangen ist, in Wirklichkeit zu Hause auf ihn gewartet hat.“307 Dieser Reflexion verweist auf eine Reihe von unerwarteten Ereignissen, die für immer Andreas Wackwitz’ Leben verändert haben. Diese, im Unterschied zu den afrikanischen Abenteuern, haben in der Tat gezeigt, was sich unter „dem Bösen“ versteckt hat. Wie der Erzähler andeutet, hat das Böse „in Wirklichkeit zu Hause auf ihn gewartet“308. Im metaphorischen Sinne handelt es sich hier um Wackwitz’ Land, also Deutschland. Das Böse, dass „so lang und so hartnäckig nah gewesen ist“309, hat ihn de facto durch seine Internierung in England und durch seine Trennung von der 304 Vgl. Wackwitz 2003, S. 143. Ebd., S. 46f. 306 Vgl. Das Evangelium nach Mathäus, Kapitel 19, Vers 19 bzw. Kapitel 22, Vers 39. 307 Wackwitz 2003, S. 222. 308 ebd., S. 222. 309 ebd., S. 222. 305 70 Familie erreicht.310 Wackwitz’ eigentlicher Kampf um das Leben hat sich demnach erst begonnen. Die zeitliche Dauer des Geschehens, mithin die Übereinstimmung von Erzählzeit und erzählter Zeit311 wird in der Perspektive von Martinez und Scheffel durch erstens durch zeitdeckendes Erzählen (Szene), zweitens durch zeitdehnendes Erzählen (Dehnung), drittens durch zeitraffendes Erzählen (Raffung), viertens durch Zeitsprung (Ellipse) und fünftens durch Pause ausgedrückt. Aus literarischer Sicht tritt jedoch der erste Typ selten auf. Diese Form hängt am häufigsten mit einer Raffung zusammen. Im Familienroman „Ein unsichtbares Land“ kommt sie im letzten Kapitel vor: (1) „<Wie lange wird es dauern, Herr Kapitän?> <Bis Weihnachten und langer. Was rauchen Sie da, Docteur? <Dannemann. Auch eine? Es dauert länger.> <Danke, riecht gut. Die rauche ich morgen.> <Wenn alles von Bord ist> <In welchem Boot sitzen Sie, Docteur?> <Wenn ich drin sitze- dem Boot mit der größten Wasserverdrängung!> (2) Burfeind nickte. Ich hörte zu. Die verstanden sich. <Vielleicht kommen wir ins gleiche Lager>, sagte der Kapitän <Bis wir nach Hamburg kommen, können Sie Doppelkopp>, sagte Lehfeld.“312 Diese Figurenrede stammt aus einem Manuskript, das von Gustav Wackwitz angefertigt wurde. Dieses ist eine eigentümliche Form der persönlichen Aufzeichnungen. Wackwitz beschreibt hier eine schwierige Situation des Schiffes <Adolph Woermann>, das auf der See von den Engländern angegriffen und aufgebracht wurde. Wenn dieses Fragment unter dem Aspekt des Erzähltempos berücksichtigt wird, dann zeigt sich, dass Erzählzeit und erzählte Zeit zuerst auf ein zeitdeckendes Erzählen (1) hindeuten. Es gibt hier keine Erzählerkommentare. Im Vordergrund steht ein Gespräch zwischen Kapitän Burfeind und dem Fahrgast Lehfeld. Unter dem Vorwand einer prosaischen Rede verstecken sich doch konkrete Gefühle, die wiederum aus einer Figurenperspektive präsentiert werden. Dieser Erzähltyp wird doch bald durch einen Kommentar gekennzeichnet (2). Diese Unterbrechung beeinflusst den Vorlauf des Gesprächs, wobei deutlich darauf gemacht werden muss, dass die Figurenrede von jetzt an durch das zeitraffende Erzählen d.h. Raffung charakterisiert wird. Man weiß nicht, wie lange Kapitän Burfeind genickt hat und wie lange der Erzähler, der hier an der Szene teilnimmt, zugehört hat. Das konnte entweder ein paar Sekunden oder einige 310 Wackwitz 2003, S. 222. Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2005, S. 39. 312 Wackwitz 2003, S. 281. 311 71 Minuten dauern. Aus diesem Grund kann man die Schlussfolgerungen ziehen, dass Erzählzeit kürzer als erzählte Zeit ist. Die zweite Form, d.h. Dehnung313 kommt dann vor, wenn Erzählzeit länger ist, als das Ereignis, das in Wirklichkeit in Anspruch genommen wird. Es entsteht etwas wie eine Zeitlupe, dank der zumeist die Vorgänge zwischen der äußeren und inneren Wirklichkeit beobachten werden können. Im Familienroman tritt doch dieser Typ nicht auf. Die vereinzelten Teilbriefe und Abschnitte aus dem Tagebuch, wie „Zwei Überlebende“ aus dem Kapitel „Vier Kriege“ oder die Beschreibung des Wohnorts von Andreas Wackwitz im Kapitel „Im Palais des Kaisers“ können zwar einen Eindruck machen, als wären sie ein Ausdruck des zeitdehnenden Erzählens, aber in Wirklichkeit dienen sie ganz anderen Zielen. Beide Fragmente kreieren eine bestimmte Wahrnehmungskulisse, die hingegen Bezug auf ein spezifisches Umfeld und auf eine gezielte Raumdarstellung nimmt. Das Erzählen wird im Familienroman vorwiegend durch Raffungen und Ellipse akzentuiert. Während die erste Komponente Stunden, Tagen, Jahren mit Hilfe eines einzigen Satzes resümiert, lässt das zweite vereinzelte Zeitabschnitte des präsentierten Geschehens in der erzählerischen Inszenierung frei. In Anlehnung an das Buch liegt das zeitraffende bzw. summarische Erzählen in folgender Stelle vor: „Nach einigen Tagen vergeblichen Wartens auf einen Leoparden beschlossen wir, zur Springbockjagd in die Flache zu reiten.“314 Die Raffung resultiert an dieser Stelle aus Verwendung der Präposition „nach“. Ziel solches Verfahren ist es, eine unnötige Dehnung zu vermeiden. Die Raffung erkennt man auch im Kapitel „Die Toten“. Der Ich-Erzähler knüpft an ein Ereignis aus den 1970er Jahren an. Damals wurde er zusammen mit seinen Freunden wegen des Todes ihrer Kollegin vernommen Über dieses Geschehen schreibt er: „In den nun folgenden fünf oder sechs Stunden verstärkte sich ein Zittern, das mich schon im Polizeiauto erfasst hatte […]“315 Es ist hier die Unsicherheit einer handelnden Person spürbar. Der Narrator weiß schon nicht, wie viel Zeit diese Vernehmung gedauert hat. Sie konnte sich über fünf oder sechs Stunden abgespielt haben. Das Wesentliche liegt doch nicht auf dieser Ebene. Aus diesem Grund bedient sich der Erzähler gerade dieses summarischen Aspektes des Erzählens. Im letzten Kapitel des Buches d.h. „Schiffbruch“ wurde noch diese zeitliche 313 Vgl. Ackermann, Susanne: Die Ordnung der Zeit bei Gerard Genette und Eberhard Lämmert. Ein Vergleich. Ein Studienbuch. München: Grin Verlag 2008, S. 6 und 18. 314 Wackwitz 2003, S. 55. 315 Ebd., S. 252. 72 Tendenz deutlicher gezeigt. Gustav Wackwitz, Stephan Wackwitz’ Vater, berichtet in seinem Manuskript: „Ich verlor ihn dann eine Weile aus den Augen. Eine Weile, vielleicht fünf Monate“316. In dieser summarischen Darstellung erinnert sich der Erzähler an Lehfeld, d.h. an einen Mann, der samt mit ihm sich auf dem Schiff <Adolph Woermann> befunden hat. Im Laufe der Geschichte erfährt sich der Leser, dass sie sich viele Jahre später wieder sehen. Diesmal in Kanada, in einem Lager, wo Lehfeld eine Schule gründet. Dort, ziemlich unerwartet für alle, wurde er eine große Autorität: „Wir hatten großartige Lehrer. Geliebt haben wir Lehfeld, den Ursus, das Nilpferd, den hässlichsten Koloß unter der Sonne, den Ritter von der komischen Gestalt, zähneknirschend, zitternd, Herkules im Augiasstall. Und er liebte uns. Wie Sokrates den Alkibiades […].“317 Die Präsenz dieser ungewöhnlichen Persönlichkeit wirkt als ein Beruhigungsmittel auf zerrütteten Nerven. Lehfeld verursacht, dass der Aufenthalt im Lager mehr erträglich ist. Die von ihm gegründete Schule in extremen Lebensverhältnissen fungiert als ein gewisses Sprungbrett von der brutalen Kriegsrealität. Sie lässt teilweise über die Angst und über die Sehnsucht vergessen. Im desselben Kapitel wird noch einen anderen Bezug auf das summarische Erzählen genommen. Stephan Wackwitz fasst es mit diesen Worten zusammen: “Als ich vor zwei Jahren bei meinem Vater in seinem Haus am Bodensee war, schenkte er mir die aus dem Krieg zurückgekommene Kamera, auf deren Rückseite er im November 1939 mit dem Taschenmesser die Worte <Wackwitz Windhuk> in die schwarze Pappe des Gehäuses geschnitten hat.“318 Die zeitliche Angabe beschränkt sich hier auf die Feststellung, dass sich etwas „vor zwei Jahren“319 ereignet hat. Es gibt in diesem Fall keine Notwendigkeit, sich streng chronologisch an dem Datum festzuhalten. Viel wichtiger ist der Tatbestand, dass die alte Kamera von „Hand zu Hand“ geht. Dieses untypische familiäre Erbe hat eher einen symbolischen Charakter. Je lieber die familiäre Tradition kultiviert wird, desto länger wird das Generationen-Gedächtnis fortgesetzt. Eine ebenso wichtige Rolle spielen die Zeitsprünge, d.h. Ellipse. Schon ihre Vielzahl suggeriert, dass der Familienroman unter ihrem besonderen Einfluss steht. Als ein gutes Beispiel kann an dieser Stelle ein Textabschnitt aus dem Kapitel „Fünf Professoren/Träume von Jürgen Habermas“ gelten: „Dann war es Sommer in Krakau. 316 Wackwitz 2003, S. 284. Ebd., S. 285f. 318 Ebd., S. 274. 319 ebd., S. 274. 317 73 Es war fünfundzwanzig Jahre später, das letzte Jahr des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich war fast fünfzig Jahre alt.“320 Der Ich-Erzähler beginnt etwas Neues in seinem Leben. Es sind viele Jahre vergangen. Jetzt ist er fast fünfzig Jahre alt und seine damalige Existenz bewertet er aus einem gewissen Zeitabstand. Er erinnert sich an seinen Großvater und zugleich reflektiert er über seine Ausflüge nach Anhalt und Auschwitz.321 Dieser letzte Ort erzeugt eine besondere Aufregung. Der Narrator flüchtet nicht vor diesem unbequemen Thema, obwohl es immer wieder ein „wunder Punkt“ im deutschen Kollektivgedächtnis ist. Direkt schreibt er über die die Geheimhaltungspolitik der Mordbürokratie322 und über die „Frankfurter- Auschwitz Prozesse“, derer Ursprünge in den Jahren 1963-1965 liegen. Wie der Erzähler feststellt, haben erst diese Prozesse den Menschen vor Augen geführt, dass gerade in Auschwitz, „von 1943 an zwischen eine und zwei Millionen Menschen industriell ermordet worden waren und ihre Körper, durch Verbrennung entsorgt, als Niederschlag über der Gegend niedergingen[…]“323 Abgesehen von diesem Hinweis wird über einen Zeitsprung ein Bezug zur Person von Rudi Dutschkes aufgebaut. „Rudi Dutschke aber, der vier Jahre alt war, als der Lückenwalder Polizist zu meinem Großvater kam, trat 34 Jahre später auf dem Dornhaldenfriedhof meiner Heimatstadt Stuttgart mit erhobener Faust an das offene grab des toten Propheten Holger Meins […] und rief aus, dass der Kampf weitergehen sollte.“324 Aus diesem Textabschnitt lassen sich Fakten aus dem Leben von Dutschke ablesen. Rudi Dutschke hat ab 1966 an unterschiedlichen Demonstrationen teilgenommen. Er hat sich gegen den Vietnamkrieg, gegen die Bildung der Großen Koalition und gegen die Notstandsgesetze ausgesprochen.325 Dank dem Motto „ohne Provokation werden wir überhaupt nicht wahrgenommen“ hat er innerhalb der Studentenbewegung mehrere politische Initiativen gegen das „Establishment“ arrangiert.326 Dutschke war vor allem von seiner Rede bekannt. Der Autor des Familienromans „Ein unsichtbares Land“ macht gerade auf diesen Aspekt aufmerksam. Seine Stimme bestimmt er als „eine Stimme aus dem Exil, eine Stimme, die dem Sprecher gar nicht bewusste Färbungen 320 Wackwitz 2003, S. 163. Siehe dazu: Castagli, Simone: Unverhofftes Wiedersehen. Erscheinungsformen des deutschen Ostens in der Gegenwartsliteratur. In: Cambi, Fabrizio (Hrsg.): Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 283f. 322 Wackwitz 2003, S. 138. 323 Ebd., S. 140. 324 Ebd., S. 249f. 325 DHM, Deutsches Historisches Museum: Rudi Dutschke, Soziologe und Studentenführer: http://www.dhm.de/lemo/html/biografien/DutschkeRudi/ (Zugriff am 26.Mai 2009) 326 Vgl. ebd., 321 74 der Dissidenz genommen hat.“327 Weiter schreibt er über sein Charisma, das teilweise aus seiner Redekunst folgt: “Dutschkes Stimme wirkt, als sei sie auf einer spiritistischen Sitzung aufgenommen. Schon als er lebte, klang Rudi Dutschke, als rede in der Sprache der Toten.“328 Nach dem Erzähler gilt er also gewissermaßen als ein Medium. Dieses vergleicht wiederum der Narrator zu vergessenen Theorien, die samt mit ihren Schöpfern und ihren Sprechen entweder brutal ermordet wurden oder im Exil ihren Platz gefunden haben.329 Mit anderen Worten symbolisiert Dutschkes Phänomen ein gewisser Bote. Wackwitz geht noch in seinen Ansichten weiter und bezeichnet den Deutschen im Endeffekt als „Engel“. Wenn Ellipse und Pause miteinander konfrontiert werden, dann zeigt sich, dass das Erzähltempo bei der zweiten Grundform der zeitlichen Ebene wesentlich verringert wird. Obwohl das Geschehen still steht, geht die Erzählung weiter. Dazu kommen noch zusätzliche Kommentare, Beschreibungen und Reflexionen. Diese werden nicht in die Zeit der erzählten Geschichte involviert. Es wird hier demnach selbstverständlich, dass sie nicht aus der Perspektive einer handelnden Figur im Text eingeschoben werden.330 Bei Wackwitz (2003) gibt es doch anders. Wie schon der Untertitel seines Buches suggeriert, ist das ein Familienroman. Die sich im Text erscheinenden unterschiedlichen Kommentare oder Reflexionen erfolgen aus der Perspektive des Autors, der zugleich eine handelnde Figur seiner Geschichte ist. Frequenz, die letzte Ebene der Zeitkonstruktion, wird im Wackwitz Buch unter dem Aspekt „sich wiederholendes oder nicht wiederholendes Geschehen in der Erzählung“331 berücksichtigt. Diese Wiederholungskapazität wird nach Martinez und Scheffel durch drei Möglichkeiten ausgedrückt: a) durch singulatives Erzählen („einmal erzählen, was sich einmal ereignet hat“) b) durch repetitives Erzählen („wiederholt erzählen, was sich schon einmal ereignet hat“) und c) durch iteratives Erzählen („einmal erzählen, was sich schon wiederholt hat“). Der erste Typ lässt sich auf den Kapiteln „Schlangengeschichte“ und „Schiffbruch“ verfolgen: (1) „Als wir einmal in Karibb abends vor der Tür saßen- bei unseren Freunden M.ssagte plötzlich jemand:< Da liegt ja eine Schlange im Zimmer!>“332 (2) „Einmal habe ich, in England, in London, Lehfeld leiden hören, nachts um drei!“333 327 Wackwitz 2003, S. 256. ebd., S. 256. 329 Vgl. ebd., S.256. 330 Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2005, S. 43f. 331 Vgl. ebd., S. 43f. 332 Wackwitz 2003, S. 220. 328 75 In beiden Fällen wurde das Adverb „einmal“ verwendet. Solches Verfahren verweist eindeutig auf den einmaligen Charakter eines Geschehens. Es wird demnach an dieser Stelle „einmal erzählen was sich einmal ereignet hat“334 Wenn die Variante der Frequenz weiter analysiert werden, dann lässt sich feststellen, dass der Familienroman auf das repetitive Erzählen großen Wert legt. Es wird vor allem durch drei Elemente veranschaulicht. Als erster Aspekt gilt der „Traum von Osten“. Er wurde vom Erzähler in folgenden Buchstellen platziert: im Kapitel „Vier Kriege“ auf der Seite 98; im Kapitel „Verlassene Zimmer“ auf der Seite 190 („noch einmal) und im Kapitel „Die Jacarden von Madeira“ auf der Seite 210, wo der Narrator durch den Ausdruck „zum dritten Mal“ die repetive Dimension betont. Zu der nächsten, ebenso relevanten Komponente des Erzählens gehört die familiäre Geschichte, die mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges und seinen Konsequenzen zusammenhängt. Das im Kapitel „Unverhofftes Wiedersehen“ skizzierte Bild der damaligen, dramatischen Ereignisse wird wieder im Kapitel „Schlangengeschichte“ erzählt. Dabei wird vor allem der Angriff der Engländer auf das Schiff und die Gefangenschaft seiner Passagiere gemeint. Eine Schlüsselrolle erfüllt auch hier die Gestalt vom Dr. Lehfeld. Der Mann wird durch zwei Personen, d.h. durch Andreas und durch Gustav Wackwitz porträtiert. Es muss doch dabei hinzufügen, dass während der erste Mann den Doktor aus der eindimensionalen Sicht behandelt hat, der zweite entschlossen seine mehrdimensionale Natur aufgefasst hat. Es gibt hier nicht nur bloße Bemerkungen wie: „<Donnerwetter, Lehfeld, da werde ich Ihnen nie vergessen!>“335, sondern solche wie: „Wir hatten einige sehr gute Lehrer- aber was wäre ich ohne Lehfeld geworden?“.336 Diese Faszination mit Lehfelds Persönlichkeit ist bestimmt für den Siebzehnjährigen etwas mehr als eine gewöhnliche Danksagung für eine Zigarre. Trotzt seiner anfänglichen Abneigung gegen Lehfeld wurde er für ihn und für seine Leidengenosse die größte Autorität. Dieser hat doch ihnen immer wieder wiederholt, dass die Tücken des Schicksals nur eine Übergangszeit sind. Es lohnt sich stets an die Menschen und die Humanität zu glauben. Der letzte Typ der Frequenz, d.h. iteratives Erzählen veranschaulicht sich in den folgenden Fragmenten des Familienromans: (1) „Als ich klein war, habe ich oft darüber nachgedacht, dass all die Möbel, Kleider, Bucher, das Geschirr, das meine Großmutter und das Hauspersonal 333 Wackwitz 2003, S. 286. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie 2005, S.45. 335 Wackwitz 2003, S. 32. 336 Ebd., S. 285. 334 76 mühsam und tagelang in Zeitungspapier eingewickelt und in Holzkisten verpackt hatten […]“337 (2) „[…] und manchmal habe ich das Gefühl, dass sie die Einzige von uns allen ist, die in ihrem Leben wirklich Erfolg gehabt hat.“338 (3) „Dafür war sie neulich, wie in den Jahren zuvor schon mehrmals, bei mir.“339 (4) „Jedes Mal weht ein kalter und farbloser Wind in ihr, eine traurige und unheimliche Gespensterluft.“340 (5) „Unser Land entstand noch einmal neu.“341 (6) „Dann saßen wir im Garten, tranken Wein und der alte Mann erzählte mir, zum ersten Mal, von seinen Erinnerungen an den aus Sumatra zurückkehrenden Studiendirektor Lehfeld […]“342 Alle diese Beispiele zeichnen sich durch ein gemeinsames Bindeelement aus. Das sind Temporaladverbien, die die Wiederholung einer Tätigkeit, eines Geschehens bezeichnen: „oft“, „manchmal“, „mehrmals“. Über den iterativen Charakter des Erzählten entscheiden auch solche Ausdrücke wie „jedes Mal“ und „zum ersten Mal“. Diese deuten auf die Tatsache hin, dass einmal erzählt wird, was sich schon wiederholt hat343. Mit gemischten Gefühlen wird wiederum eine Textpassage aus der Seite 1948 aufgenommen, wo der Erzähler sich an ein geheimnisvolles Verhalten seiner Großmutter erinnert: „Aber erst heute ist mir klar, wie merkwürdig und eigentlich haarsträubend es ist, dass meine Großmutter kein einziges Mal erwähnt hat, was in dieser Landschaft zehr Jahre später dann passiert war […]“344 Durch die Feststellung „kein einziges Mal“ suggeriert der Narrator, dass diese Aussage weder auf singulatives noch auf repetitives und iteratives Erzählen rekurriert. Der Erzähler bedient sich doch dabei eines Temporaladverbiens „heute“, das sich auf die Bezeichnung eines Zeitabschnitts bezieht. Logischerweise wird demnach darüber erzählt, was sich schon ereignet hat. 5.8 Zur Raumkonstruktion Um der erzählte Raum korrekt aufgeteilt werden zu können, muss Bezug auf zwei Aspekte genommen werden: a) auf die Handlung, b) auf die Figuren. Der Kern der literarischen Raumkonstruktion wird hier präzis durch Lexikon Literatur- und Kulturtheorie bestimmt. In dieser Hinsicht wird sie als einen „Oberbegriff für die 337 Wackwitz 2003, S. 28. Ebd., S. 93. 339 ebd., S. 93. 340 Ebd., S. 204. 341 Ebd., S. 153. 342 Ebd., S. 274f. 343 Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2005, S. 43f. 344 Wackwitz 2003, S. 148. 338 77 Konzeption, Struktur und Präsentation der Gesamtheit von Schauplätzen, Landschaft, Naturerscheinungen und anderen Gegenständen“ verstanden.345 Wenn diese Definition unter dem Aspekt „Erinnerungsinszenierung“ betrachtet wird, dann hält sich fest, dass hier unterschiedliche Kulturbezüge berücksichtigen werden. Dabei lohnt sich auf vier Besonderheiten des Raumes von Elisabeth Ströker zu beziehen. 346 Das, was alle Modelle verbindet, ist der gemeinsame Ausgangspunkt d.h. die Empfindung lebensweltlicher Erfahrungen. Im phänomenologischen Sinne wird es also nach den Individuen und ihrer Wahrnehmung des Raumes in der „wirklichen Wirklichkeit“ gefragt.347 Angesichts dieser Tatbestände wird der Familienroman „Ein unsichtbares Land“ nach folgenden Typen analysiert: Gestimmter Raum- es wird hier die atmosphärische Dimension des Raumes gestaltet. Die Stimmung hängt mit zwei Faktoren zusammen. Während sich objektive Aspekte im Buch durch einen institutionellen Charakter des Raumes (Andreas Wackwitz’ Wohnzimmer, Schlosspark von Laskowitz, Schiff „Adolph Woermann“, Konzentrationslager) veranschaulichen, machen die subjektive aufmerksam auf die Figur oder den Erzähler selbst. Darunter werden vor allem das individuelle, das kulturelle und das Generationen-Gedächtnis verstanden. Diese entscheiden wiederum über eine Art der persönlichen, oft dramatischen Aufzeichnungen von Familie Wackwitz. Als primäre Gedächtnismedien gelten hier Familienfotografien, spezifische Orte und topographische Konstellationen.348 Das Familienarchiv wird im Buch erstens durch das Tagebuch und die Erinnerungshefte von Andreas Wackwitz (Großvater des Narrators), zweitens durch die Briefe von Onkel Ernst Gustav, drittens durch die Erzählung von Stephan Wackwitz’ Vater (Gustav) und viertens durch die Auszüge aus dem Leben des Erzählers präsentiert. Wenn es sich um die mündlichen Überlieferungen geht, muss darauf hingedeutet werden, dass sie mit Ausnahme von Kriegserinnerungen der Mutter oder Erinnerungen des Ich- Erzählers an das 345 346 347 348 Ansgar, Nünning: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Stuttgart/Weimar: Metzlerische J. B Verlag 2001, S. 536. Vgl. Ströker, Elizabeth: Philosophische Untersuchungen zum Roman. Frankfurt a. M: Klostermann Verlag 1965, S. 18ff. Siehe nach der Verbindung zwischen Literatur und Phänomenologie in: Rist, Katharina: GedächtnisRäume als literarische Phänomene in den Kurzgeschichten von Elisabeth Bowen. Würzburg: Königshausen & Neumann 1999, S. 5f. Eigler, Friederike: Gedächtnis der kulturellen und familiären Archive: Ein unsichtbares Land von Stephan Wackwitz. 2005, S.193. 78 Alltagsleben der Juden und ihre spätere „Endlösung“ (das Opfer-Täter Gedächtnis) in Auschwitz eine sekundäre Rolle spielen.349 Aktionsraum- mit anderen Worten handelt es sich an diesem Punkt um den Handlungsraum der Figuren. Es ist schon kennzeichnend, dass er sich so verhält, als wäre er lebhaft. Es kommt auch vor, dass die Protagonisten auf verschiedenen Gebieten miteinander wechselwirken. Im Stephan Wackwitz’ Familienroman sieht man sehr gut aus, wie sich Aktionsräume in den vereinzelten Kapiteln bewegen. Einerseits fokussiert sich der Erzähler auf München (Besuch in der Münchener Staatsbibliothek, Studienzeit), Stuttgart (Wohnort und Studienzeit des Narrators), Laskowitz (Andreas Wackwitz’ Kindheit und Jugend) andererseits kehrt er seine Gedanken in der Richtung von Tokio („Träume von Jürgen Habermas“- ein Kongress am 17/18.10.1993), Südafrika (Namib und Kapstadt, Jagdritt und Schlangengeschichte Andreas Wackwitz’), Kraków (Krakauer Wohnung des Erzählers) und Oświęcim/Auschwitz (Massenmorden an den Juden) wieder. Anschauungsraum- der Blick und das Sehen, als zwei dominierende Formen der Raumgestaltung, bedienen sich der Beschreibungen von konkreten Gegenständen, kulturellen Orten und Denkmälern. Dadurch dass diese Bilder am häufigsten detailliert und akribisch sind, geben sie auch eine gewisse Überschau über die Figuren, die doch ein relevanter Bestandteil des Erzählten sind. Diese Voraussetzung bewährt sich im Fall von Andreas Wackwitz. Der Narrator verweist im Roman auf seine außergewöhnliche Kapazität. Dieser, ähnlich wie die älteren Menschen, verfügt über eine Detailgenauigkeit, dank derer Hilfe er in der Lage ist, sein familiäres Haus samt mit ganzen Interieurs zu rekonstruieren. Es ist so, „dass ihm während des Erinnerns und Schreibens offenbar in jedem Detail zu einem Inbild einer Ordnung geworden ist, deren Erhaltung er sein Leben widmen wollte und die ihm im Laufe des Jahrhunderts verloren gegangen ist.“350 Diese Wahrnehmungskapaziät wurde im Buch zweidimensional aufgefasst. (1) „Es enthielt unten außer dem Hausflur, den man von der Veranda aus betrat, ein Wohnzimmer, des Vaters Arbeitszimmer und zwei schmale Gastzimmer. […] Im Oberstock war das große Schlafzimmer der Eltern, davor das erwähnte Giebelzimmer, in dem wir Kinder zunächst gemeinsam, später ich allein wohnten, ein Mädchenkammer und ein später noch ausgebautes Gastzimmer, 349 Eigler, Friederike: Gedächtnis der kulturellen und familiären Archive: Ein unsichtbares Land von Stephan Wackwitz. 2005, S.193f. 350 Wackwitz 2003, S. 116. 79 dazu Bodenräume und Oberboden, im ganzen neun Zimmer, von denen drei sehr klein war.“351 (2) „In diesem Wohnzimmer verbrachten die Eltern regelmäßig ihre Abende. Kam der Vater aus dem Forstamt oder aus dem Walde im Winterhalbjahr nachhaus, so setzte er sich in einem Sessel, zog Hausschuhe an, rauchte die lange Pfeife und las die Schlesische Zeitung und seine Jagd- und Forstzeitschriften. Neben ihm stand das Glas mit dem Grog, dessen Zubereitung ein besonderes Ritual erforderte. Gegenüber saß die Mutter und las die Zeitung, die HausfrauenZeitschriften, und darin vorzugsweise die Fortsetzungsromane.“352 Wie das erste Beispiel zeigt, fokussiert sich Wackwitz nur scheinbar auf eine bloße Verteilung des Hauses. Die Vielzahl der Räume (ein Wohnzimmer, ein Arbeitszimmer, zwei schmale Gastzimmer, ein Schlafzimmer, ein Giebelzimmer, ein Mädchenkammer und noch ausgebautes Gastzimmer, Bodenräume und Oberboden.353) lässt von der Annahme ausgehen, dass sich Wackwitz’ Familie durch einen hohen Lebensstandart ausgezeichnet hat. Die Bestätigung dieser These findet man im zweiten Beispiel. Es werden hier familiäre Rituale und Bräuche beschrieben, die auf jeden Fall nicht für alle zugänglich waren. Gewissermaßen wurde hier ein idyllisches Bild skizziert. Es herrscht die Ruhe. Während der Vater in seinem Sessel sitzt, seine lange Pfeife raucht und seine Lieblingszeitschriften liest, konzentriert sich die Mutter auf ihre schon ritualen Tätigkeiten. Interessant dabei wird, dass die von Andreas Wackwitz präsentierten Auszüge aus der Vergangenheit äußerst plastisch sind. Es wurde von ihm alles so beschrieben, als befände er sich stets in seinem Laskowitzer Haus. kontrastierender Raum- die so genannte räumlichen Kontrastierungen zeigen sich im Fall des Familienromans „Ein unsichtbares Land“ vorwiegend durch eine Zusammenstellung von Heimat und. Fremde (Deutschland-Polen). Besonders beachtenswert ist hier Andreas Wackwitz’ Stellung zu anderen Nationen. Diese richtet sich nämlich oft auf die rassistisch- fremdfeindlichen Vorurteile. Wenn Wackwitz den Wochenmarkt der Juden beschreibt, benutzt er solche Formulierungen wie „das primitive Leben und Treiben, der Schmutz, die Kaftanjuden mit Kappen, Pajes, Samthüten, die schwarzen und roten Bärte“354 Es steht hier außer Zweifel, dass alle diese Ausdrücke absichtlich im pejorativen Sinne verwendet wurden. Ein merkwürdiges Verhältnis tritt er wiederum gegenüber dem polnischen Volk auf. Wackwitz verleugnet nicht, dass Polen 1939 brutal durch den Hitler-deutschen 351 Wackwitz 2003, S. 116f. Ebd., S. 120. 353 Ebd., S. 116. 354 Ebd., S. 177. 352 80 Einmarsch angegriffen wurde. Wackwitz drückt sogar sein Bedauern aus („Als ich 1940 Oberschlesien besuchte, war ich entsetzt darüber.“355) Unsinnig und absurd scheinen doch dabei seine späteren Anspielungen angesichts des entlaufenen Hundes. Hier meint schon Wackwitz, dass das Tier wahrscheinlich von einem Polen zuerst gefangen und dann gefressen wurde.356 Sein panischer und zugleich provokativer Ton trifft auch die Negerproblematik an. Der Erzähler stellt zwei unterschiedliche Kulturphänomene gegenüber, aus denen sich hingegen eine bestimmte Mentalität ergibt. Dabei wird den Wert auf das so genannte Selbst- und Fremdbild gelegt. Da Wackwitz sich „typische deutsche“ Charakterzüge wie Hang zur Ordnung, Pflichtbewusstsein, Autoritätshörigkeit zuschreibt, irritieren ihn andere Lebensformen und Prinzipien.357 Wenn dieser soziokulturelle Aspekt mit der afroamerikanischen Kultur verglichen wird, dann erweist sich, dass Wackwitz’ Abneigung gegen die Unordnung und die Verwahrlosung der „Neger“ teilweise rechtgefertigt werden kann. Im Rahmen der Raumkonstellation lohnt sich noch auf Carsten Gansel zu stützen. Nach seiner Position lässt sich einen geografisch-physikalischen Schauplatz differenzieren. Dieser verknüpft sich sowohl mit einer spezifischen Tageszeit und Jahreszeit als auch mit einem bestimmten Wetter.358 Diese Korrelationen werden im Buch durch folgende Textabschnitte veranschaulicht: (1) „Die Nacht war schwarz wie selten, die Verwirrung bei der Ablösung, durch bajuwarische Grobheit sowieso schon schwierig, war groß und wir hatten mehrere schmerzliche Verluste.“359 (2) „Es war zunehmender Mond und das Wetter, wie immer in dieser Gegend, schön. Am 21. November, bald nach Hellwerden, wurde voraus ein Schiff gesehen […] Das fremde Schiff kam rasch näher und hatte uns gegen 9 oder 10 Uhr eingeholt. Es war den englische Dampfer <Weimarana>.“360 (3) „Es war ein schöner, warmer und ruhiger Sommer. Die Aufständischen waren weit weg am Annaberg, und ich saß abends oft mit den Lehrern Niemietz und Schäfer unter den Linden im Garten […] und wir bekakelten die politischen Ereignisse und Aussichten.“361 (4) „An einem apokalyptisch verregneten und verdüsterten Aprilmorgen im Jahr 2001- es war kalt wie im Spätherbst und unter den tief hängenden Wolken schien es von sechs Uhr bis weit in den Vormittag hinein nicht richtig hell 355 Wackwitz 2003, S. 176. Vgl. ebd., S. 176. 357 Vgl. Żyliński, Leszek: Typisch deutsch? Zwischen Selbst- und Fremdbild. In: Lewaty, Andreas (Hrsg.)/Orłowski, Hubert (Hrsg.): Deutsche und Polen: Geschichte, Kultur, Politik. München: C. H Beck 2003, S. 293ff. 358 Vgl. Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur. Ein Praxisbuch für den Unterricht. 1999, S. 41. 359 Wackwitz 2003, S. 100. 360 Ebd., S. 31. 361 Ebd., S. 178. 356 81 werden zu wollen- bin ich mit dem Auto nach Laskowitz bei Breslau gefahren“362 (5) „Es ist in einem der tropisch heißen, zugleich urwaldhaften und metropolitan eleganten Sommertage in Tokio gewesen. Meine Frau und ich fuhren mit dem Rad nach Kanda, um dort einen Samstagnachmittag in den Buchhandlungen zu verbringen.“363 Jede von diesen Textpassagen präsentiert einen bestimmten Zustand der Tageszeit, der Jahreszeit und des Wetters. Der Raum wird hier mit Hilfe konkreter Wörter inszeniert. Da sie so zusammengestellt wurden, beeinflussen sie die Aussage eines jeweiligen Textabschnitts. Während sich das erste, das zweite und das dritte Fragment auf das Kriegstagebuch von Andreas Wackwitz bezieht, werden die Ereignisse aus der vierten und der fünften Textstelle aus der Perspektive von Stephan Wackwitz beschrieben. Offensichtlich dabei wird, dass die Anfangssätze eine Form des Einstiegs in die eigentliche Handlung sind. Über den hohen Grad der Spannung entscheidet hier die Verwendung solcher Formulierungen wie: „Die Nacht war schwarz wie selten […]“364, „Es war zunehmender Mond und das Wetter […]“365, „An einem apokalyptisch verregneten und verdüsterten Aprilmorgen im Jahr 2001- es war kalt wie im Spätherbst […]“366 Neutral klingen dagegen die Sätze aus dem dritten und dem fünften Punkt, d.h. „Es war ein schöner, warmer und ruhiger Sommer“367 und „Es ist in einem der tropisch heißen, zugleich urwaldhaften und metropolitan eleganten Sommertag in Tokio gewesen.“368 5.9 Zur paratextuellen Gestaltung Nach der Position von Gerarad Genette hängen Texte mit Paratexten zusammen. Während ein Text auf „mehr oder weniger lang[e] Abfolge mehr oder weniger bedeutungstragender Äußerungen“ verweist, wird ein Paratext durch jene „verbale[e] oder nicht-verbale[n] Produktionen- Autorname, Titel, Gattungsangabe, Vorwort, Widmung, Motto, Illustrationen, Buchgestaltung im weitesten Sinne“369 ausgedrückt Dadurch dass er eng mit dem Haupttext verbunden ist, kann er eine Reihe von unterschiedlichen Funktionen erfüllen. Am häufigsten bedient er sich der Form des 362 Wackwitz 2003, S. 110. Ebd., S. 150. 364 Ebd., S. 100. 365 Ebd., S. 31. 366 Ebd., S. 110. 367 Ebd., S. 178. 368 Ebd., S. 150. 369 Stanitzek, Georg: Texte, Paratexte, in Medien: Einleitung. In: Kreimeier, Klaus (Hrsg.)/Stanitzek, Georg (Hrsg.): Paratexte im Literatur, Film, Fernsehen. Berlin: Akademie Verlag 2004, S. 6. 363 82 Kommentars, der Steuerung und der Ergänzung. Jeder Paratext wird hier dabei mit Hilfe folgenden Fragen systematisiert: „Wo?“, „Wie?“, „Von wem?“, „An wem?“.370 Die Peritexte, die zusammen mit den Epitexten371 einen Paratext bilden, gelten bei Genette als der Ausgangspunkt für die weiteren paratextuellen Diskursen. Sie verweisen einerseits auf die Entfernung bzw. auf den Abstand vom Haupttext, andererseits zeigen sie in Anlehnung an ihn eine gewisse Form der Nähe.372 Der stoffliche Charakter der Paratexte („Wie?“), äußert sich durch schriftliche bzw. verbale Texte und drei spezifische Erscheinungsformen d.h. bildliche (Illustrationen), materielle (typographische Entscheidungen wie Buchformat oder Material) und faktische (entsprechende Kommentare in Form der Kontext-Informationen).373 Die letzte Frage, die unter dem Begriff „Von wem?“ oder „An wem?“ bekannt wird, lässt sich nach zwei Ebenen unterscheiden: a) nach dem Kommunikationsinstanz, b) nach dem Adressat.374 Wenn der erste Bestanteil betrachtet wird, dann zeigt sich, dass er im Buch in der Gestalt von Kapitelüberschriften oder Klappentexten auftritt. Es kommt jedoch auch manchmal vor, dass sich diese Instanz durch ein Vorwort von den so genannten dritten Personen veranschaulicht. Im Fall des Adressats werden hingegen in Betracht öffentliche, private und intime Aspekte genommen, d.h. a) Buchkritik, b) Briefe bzw. Gespräche in einem bestimmten Kreis, c) Tagebücher375. Wenn die paratextuelle Gestaltung hinsichtlich des Buches von Stephan Wackwitz behandelt wird, dann lässt sich erkennen, dass sein Untertitel d.h. „Familienroman“ problematisch scheint zu sein. Manche Kritiker machen diesem Werk Vorwürfe, dass es in der Tat keine Art eines Familienromans ist. Es gibt hier keine chronologische Ordnung. Statt dessen werden vom Erzähler konkrete Ereignisse aus dem Leben seiner Familie zunächst 370 Stanitzek, Georg: Texte, Paratexte, in Medien: Einleitung. In: Kreimeier, Klaus (Hrsg.)/Stanitzek, Georg (Hrsg.): Paratexte im Literatur, Film, Fernsehen. Berlin: Akademie Verlag 2004, S. 7. 371 Peritext= Motto, Titel, Vor-, Nachwort. Gattungsangabe Epitext= Tagebuch, Interview, Buchkritik in einer Magazine, Debatten. Siehe mehr dazu: Genette, Gerard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt/New York: Suhrkamp Verlag 1989, S. 13ff. 372 Vgl. Ebd., S. 7. 373 Vgl. Ebd., S.14. Siehe vertiefend auch dazu: Roswitha, Skare: Christa Wolfs „Was bleibt“ KontextParatext-Text. Münster: LIT Verlag 2008, S. 17. 374 Genette, Gerard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt/New York: Suhrkamp Verlag 1992, S. 81f. Siehe auch dazu: Bleicher, Joan Kristen: Programmverbindungen als Paratexte des Fernsehens. In: In: Kreimeier, Klaus (Hrsg.)/Stanitzek, Georg (Hrsg.): Paratexte im Literatur, Film, Fernsehen. Berlin: Akademie Verlag 2004, S. 245ff. 375 Vgl. Genette, Gerard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. 1992, S. 81ff. 83 zusammengefasst und dann aneinander locker gefügt.376 Wackwitz’ Konzept bezieht sich auf jeden Fall auf die autobiographischen Motive. Diese betreffen sowohl ihn als auch seinen Großvater und den Vater. Jegliche Verschiebungen, Verdrängungen oder Wunschvorstellungen müssen schon gewissermaßen in den autobiographisch-familiären Geschichten einkalkuliert werden. Es sollten hier demnach keine Diskurse über ein fiktionales Textgenre oder über eine absichtliche Vermischung zwischen autobiographischen und fiktionalen Komponenten geführt werden.377 Abgesehen von den biographischen Aspekten des Roman lässt sich noch markieren, dass als die nächste ebenso wichtige Form der Inszenierung von Erinnerung das kulturelle Gedächtnis gilt. Es wird von Wackwitz mit Hilfe intertextueller und intermedialer Bezügen auf die Zitate recherchiert, die wiederum abwechselnd auf die literarische und die philosophische Dimension der Aussage verweisen. Mit dem Zitat fangen fast alle Kapitelüberschriften an, d.h.: „Chamelon Years“ (Lew Tołstoi, ein Fragment aus dem russischen Roman „Krieg und Frieden“); die „Transusugkeit“ (L.P Hartley, ein Textabschnitt aus dem englischen Roman „The Go-Between“); „Im Palast des Kaisers“ (Franz Kafka, eine Textpassage aus der Erzählung „Beim Bau der chinesischen Mauer“); „Fünf Professoren/ Träume von Jürgen Habermas“ (Richard Rorty und seine Widmung in dem Werk „Kontingenz, Ironie und Solidarität“); „Die Jacaranden von Madeira“ (Yasashi Inou, Zitat aus der Erzählung „Die Bergazaleen auf dem Hiragipfel“); „Schlangengeschichte“ (Edward Mörike, ein Ausschnitt aus der Erzählung „Der Spuk im Pfarrhaus von Cleversulzbach“); „Mord“ (William Shakespeare, ein Motto aus der englischen Tragödie „Hamlet. Prinz von Dänemark“); „Kleine Propheten“ (Petronius, ein Fragment aus dem römischen Roman „Das Gastmahl des Trimalchio“), „Die Toten“ ( Rudi Dutschkes Aussage). Vom paratextuellen Charakter des Textes zeugen hier auch: Liedausschnitte (Paul Simon &Art Garfunkel: „We’ve come on a ship they call the mayflower/ We’ve come at the age’s most uncertain hour/And sing an american tune“378), Märchenpassage (Brüder Grimm und ihr Märchen „Die zwei Bruder“) und Bezüge auf einen Film (Pseudodokumentarfilm von Woody Allen „Zelig“). Dieser letzte kulturelle Bestandteil wurde vom Erzähler gezielt 376 Hillebrandt, Claudia (2006, 11.June): Ein unsichtbares Land. Familienroman- Weh dir, daß du ein Enkel bist! Rezensionen. Kultur Picknick: http://www.kai-tossing.de/picknick//index.php?option=com_content&task=view&id=28&Itemid=27 (Zugriff am 11.June 2009). 377 Vgl. Eigler, Friederike: Gedächtnis der kulturellen und familiären Archive: Ein unsichtbares Land von Stephan Wackwitz. 2005, S. 189. 378 Wackwitz 2003, S. 195. 84 hervorgehoben. Er ruft nämlich diesen spezifischen Film hervor, um ihn mit dem Leben seines Großvaters, d.h. Andreas Wackwitz, zu konfrontieren. Dabei lohnt sich zu erläutern, dass „Zelig“ hier als eine gewisse Art der Kontrastfolie für die Biographie des Kriegsveterans fungiert.379 Mit Nachdruck auf den „beunruhigenden Zug“ des Großvaters ironisiert Wackwitz über diese Zufälligkeit im Verhältnis zu bestimmten Personen, Ereignissen und historisch relevanten Orten.380 Endgültig reflektiert der Erzähler über sein eigenes Zustandswissen bzw. über seinen eigenen Wissenshorizont: „Auf diese Weise habe ich inzwischen auf eine nicht ganz geheuere Weise ein familiäres Verhältnis zu einigen zentralen Ereignissen des letzten Jahrhunderts gewonnen.“381 Darunter meint er die Hitlerzeit, den Aufenthalt seines Großvaters im Südafrika (außergewöhnliche Abenteuer, wie Schlangengeschichte), in Anhalt, in der Nähe von Auschwitz (massive Morden an den Juden), die Lückenwalder Realität der 1940er Jahre (Tötung der so genannten „lebensunwerten Lebens“) und die 1968erGeneration, zu der er selbst gehört hat. Abschließend sollte noch die epitextuelle Seite des Buches besprochen werden. Stephan Wackwitz’ Familienroman hat große Neugier mitten in der Welt von Medien und in der Gesellschaft ausgelöst. Es wurde viele Rezensionen veröffentlicht. Dabei haben sich fast alle deutschen Zeitungen und Magazinen engagiert. Eigene Meinung haben auch zahlreiche Gruppen von Menschen mit Hilfe der Kommentare im Internet geäußert. Mit anderen Worten wurden dem Buch zahlreiche Debatten und Buchkritiken gewidmet. Als besonders beachtenswert scheinen folgende Äußerungen zu sein: (1) „Besprochen hatten wir von Stephan Wackwitz „Ein unsichtbares Land“; als Familienroman wird das untertitelt, was wohl fast alle Anwesenden als sehr irreführend empfanden […] Es ist kein Buch, das man schnell oder zwischendurch lesen kann; dazu ist es zu sperrig, ist es auch zu anstrengend zu sein.“382 (2) „Es herrscht in diesem Buch vielmehr eine feine Melancholie vor, ab und an auch feiner Spott. Deutlich ist auch der gelassene, erwachsene Wille, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. So intelligent wie bei Stephan Wackwitz ist dort, wo Großvater war, selten Ich geworden.“383 379 Vgl. Eigler, Friederike: Gedächtnis der kulturellen und familiären Archive: Ein unsichtbares Land von Stephan Wackwitz. 2005, S. 209. 380 Vgl. ebd., S.209. 381 Wackwitz 2003, S. 47. 382 Das Zitat stammt aus der Internetseite: LESELUST. Es wurde von Daniela, am 07. Oktober 2005, geschrieben. Die ganze Aussage kann man an der folgenden Seite finden: http://www.die-leselust.de/buch/1066.html (Zugriff am 12.Juni 2009). 383 Knipphals, Dirk (2003, 20. März): Opas Gespenster. Es spukt im Palast der Erinnerung: In „Ein unsichtbares Land“ erzählt Stephan Wackwitz einen Familienroman. Archiv aus der Tageszeitung (TAZ.DE): http://www.taz.de/index.php?id=archivseite&dig=2003/03/20/a0263 (Zugriff am 12.Juni 2009). 85 (3) „Das Genre Familienroman ist so ästhetisch dehnbar, ubiquitär und populärsein Hauptprinzip, das Erzählen entlang einer Generationenfolge, die Auslegung des familiären Mikrokosmos als Fallbeispiel historischer Zeitgeschichte, ist durchweg jedem vertraut, auch dem, der beim Namen Bellheim auf Anhieb weiß, wer gemeint ist, beim Namen Buddenbrook nur, dass er ihn schon mal gehört hat- wie tendenziell verbraucht.“384 (4) „Ein unsichtbares Land" ist ein schönes, melancholisches und gehaltvolles Buch, das den Leser in die Erkundung einbezieht. Es ist aber in den selbstquälerischen Bekenntnissen zugleich schrecklich deutsch […] Wer die absurd erscheinenden Metamorphosen der Achtundsechziger im Spektrum von staatstragenden Ministern bis zu deutschnationalen oder rechtsradikalen Protagonisten verstehen will, muß dieses Buch lesen.“385 (5) „Dieses Buch ist kein Abrechnungsbuch. Den Titel Familienroman trägt es nicht ironisch. Der Enkel sucht nach Verbindungslinien zwischen sich selbst und dem „Auslandsdeutschtum” des Großvaters, zwischen dessen KappPutsch- Teilnahme und der eigenen Mitgliedschaft in einer kommunistischen Studentengruppe in den Siebzigern. Aus der Einbettung dieser GroßvaterEnkel-Geschichte in die Geschichte des politischen Enthusiasmus in Deutschland gehen die stärksten Passagen des Buches hervor. Allzu häufig gibt Stephan Wackwitz der Versuchung nach, seinen Familienroman weltliterarisch zu nobilitieren […]Auch ohne diese snobistischen Ornamente würde dieser erhellende, bisweilen beklemmende Familienroman deutscher Ausgewanderter den Leser in seinen Bann zu ziehen.“386 Wie diese Beispiele beweisen, ist der Familienroman von Stephan Wackwitz ein Buch, an dem man nicht gleichgültig vorbeigeht. Selbstverständlich dabei wird, dass es unterschiedliche Gefühle und Sinneseindrücke hervorgerufen wird. Nach Dirk Knipphals ist eher dieser Familienroman eine Anhäufung von „feiner Melancholie“ und „feinerem Spott“. Apel Friedmar bewertet dieses Werk als „ein schönes, melancholisches und gehaltvolles Buch“, das doch durch den „schrecklichen deutschen“ Gesichtspunkt geprägt wird.387 In der kritischen Hinsicht spricht sich wiederum Lothar Muller aus, der zu den Schlussfolgerungen kommt, dass das Buch unbenötigt durch „snobistische Ornamente“ (Zitate) gekennzeichnet wurde. Am zutreffendsten wäre es hier zu sagen, dass Wackwitz’ „Ein unsichtbares Land“ kein 384 385 386 März, Ursula (2003, 30.April 2004): Erforschen oder Nacherzählen. Stephan Wackwitz und Simon Werle zeigen, wie verschiedene Familienroman heute sein können. Romane: ZEIT ONLIVE; Nr. 19. http://www.zeit.de/2003/19/L-Wackwitz_2fWerle (Zugriff am 12.Juni 2009) Apel, Friedmar (2003, 18.März): Einmal dänischer Prinz zu sein, in Deutschland am Rhein. Schiffbruch mit Zigarre: Stephan Wackwitz sucht das Land seiner Großväter und findet sich. BücherRezensionen-Belletristik. Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ.NET): http://www.faz.net/s/Rub79A33397BE834406A5D2BFA87FD13913/Doc~EC68016F936AC451A86 1DCDB4B4C960D1~ATpl~Ecommon~Scontent.html?rss_googlefeed_feuilleton (Zugriff am 12.Juni 2009). Müller, Lothar (2003, 17. März 2003): STEPHAN WACKWITZ: Ein unsichtbares Land. Familienroman. Rezensionsnotiz zur Süddeutsche Zeitung: http://sz-shop.sueddeutsche.de/mediathek/shop/Produktdetails/Buch+Ein unsichtbares Land+ Stephan Wackwitz/666223.do?extraInformationShortModus=false (Zugriff am 12.Juni 2009). 86 literarischer Text ist, den „man schnell oder zwischendurch lesen kann.“ Wie Daniela weiter schreibt, ist er einfach dazu zu sperrig und zu anstrengend. 87 6 Schlussmerkungen In dieser vorliegenden Magisterarbeit wurden die wichtigsten Aspekte bzw. Forschungsstände bezüglich des Gedächtnisprinzips berücksichtigt. Im theoretischen Teil der Arbeit wurde der Schwerpunkt zuerst auf das Konzept von Gedächtnis und Erinnerung, dann auf die Problematik des Gedächtnisses im Kontext der Kognitionswissenschaft und schließlich auf den Zusammenhang von LiteraturErinnerung-Identität gelegt. In dieser Hinsicht wurden die unterschiedlichen wissenschaftlichen Abhandlungen, Auseinandersetzungen und Diskursen präsentiert und besprochen. Es wurden hier demnach die kulturwissenschaftlichen, soziologischen und psychologischen Theorien von Jan und Aleida Assmann, Maurice Halbwachs, Markowitsch und Walzer, Daniel Schacter, Birgit Neumann und Astrid Erll näher herangebracht. Ihre Betrachtungsweise verweist auf das breite Spektrum des behandelten Phänomens. Die Suche nach den Korrelationen zwischen literarischen Formen des Gedächtnisses und der Erinnerung erwies sich dabei als zentrale Frage der Gegenwartsliteratur zu sein. Während sich Jan und Aleida Assmann auf die Differenzierung von kommunikativen und kulturellen Gedächtnis fokussieren, legt Maurice Halbwachs den Wert auf mémoire collective (das kollektive Gedächtnis). Als ein besonders beachtenswerter Aspekt gilt hier das Motiv des menschlichen Erinnernsund Vergessensvermögen. Dieses wurde durch Markowitsch/Walzer und Daniel Schacter eindeutig definiert und dazu noch klassifiziert. Über seine Komplexivität zeugen: a) das autobiographische Gedächtnis, b) die so genannten Wahren und falschen Erinnerungen, c) die Feld- und Beobachter- Erinnerungen und d) die Erscheinung Erinnern und Wissen im Kontext der subjektiven Erinnerungen. Es lässt sich auf jeden Fall festhalten, dass Gedächtnis und Erinnerung auf die komplizierten Prozesse verweisen. Um das zu zeigen, wurde im theoretischen Teil ein Überblick über drei scheinbar unterschiedliche Ebenen verschaffen. Diese stehen paradox im engen Zusammenhang und verfügen über ungeheuere Eigenschaften des menschlichen Geistes. Die in der Magisterarbeit präsentierten Ansätze beweisen, dass das Zusammenspiel zwischen Gedächtnis-Erinnern-Vergessen sowohl auf der individuellen als auch der kollektiven Ebene des Gedächtnisses basiert. Es ist dabei zu bedenken, wie man die Authentizität von Erinnerungen berücksichtigt. Diese Betrachtungen wurden doch schon von Soziologen, Kulturwissenschaftler und Neurologen angestellt und in Form interessanter Theorien eingeleuchtet. Nach der Position von Harald Welzer 88 betrachtet man das Gedächtnis als ein konstruktives System, das für Einspeichern, Aufbewahren und Abruf verantwortlich ist.388 Darunter versteht man einen Vorgang, auf den man in hohem Maße keinen Einfluss hat. Dabei unterscheidet Welzer drei Ebenen, d.h. Ultrakurzzeit-, Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis. Die Spezifik des ersten Gedächtnissystems besteht darin, dass es nur durch Millisekunden aktiv ist. In hohem Maße weist es auf die neuronalen Vorgänge des Wahrnehmungssystems eines Individuums hin.389 Wenn das Gedächtnis ihre nächste zeitliche Form d.h. das Kurzzeitgedächtnis oder nach der neueren Literatur das Arbeitsgedächtnis übernimmt, bleibt es über einige Sekunden bis wenige Minuten tätig. Auf solche Art und Weise werden die wichtigsten Informationen verschlüsselt. Primär dabei sind erste sieben Informationseinheiten, die „online“ präsent fixiert werden können.390 Andere, zeitlich hinausgehende Gedächtnisfunktionen lassen sich als Langzeitgedächtnis bestimmen. Dazu zählt Welzer folgende Formen: das Episodische Gedächtnis, das Semantische Gedächtnis und das Prozedurale Gedächtnis. Ihre Funktionen wurden im zweiten Kapitel beschrieben. Es lässt sich daraus Schlussfolgerungen ziehen, dass alle diese Komponenten das Gedächtnis gestalten und wesentlich die Erinnerungen beeinflussen, die hingegen durch den Gegenwartsbezug, einen selektiven und einen perspektivischen Charakter geprägt werden. Sie sind demnach ein bewusster Prozess, dank dem die Vergangenheit subjektiv perzipiert werden kann. Das, was selten erinnert wird, gerät in Vergessenheit. Daraus folgt, dass Erinnern und Vergessen ein kohärentes System bilden. Ohne Erinnerungsfähigkeit wäre es kein Selbstbewusstsein. Wenn es am Selbstbewusstsein fehlte, spräche man nicht über die Kommunikation, die doch Rücksicht auf das Prinzip der gemeinsamen Identität nimmt. Resümierend lässt sich feststellen, dass erst das Erinnerungsvermögen Menschen zu Menschen macht. 391 Diese Feststellung geht in hohem Maße das Generationen- Gedächtnis an. In diesem Fall lohnt sich an konkrete bzw. lebensspezifische Erinnerungen und Erfahrungen zu 388 Vgl. dazu ausführlich: Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München: C.H Beck Verlag 2002, S. 20. Siehe zu diesen Fragen vertiefend auch: Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Assmann, Jan/Hölscher, Tonio (Hrsg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. Main 1988; Assmann, Aleida: Wie wahr sind Erinnerungen? In: Welzer, Harald (Hrgs.): Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung. Hamburg: Hamburger Edition HIS Verlag 2001; Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. In: Erwägen. Wissen. Ethik. Jahrgang 13/2002; Neumann, Birgit: Literatur, Erinnerung, Identität. In: Erll, Astrid /Nünning, Ansgar /Gymnich, Marion (Hrgs.): Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundauslegung und Anwendungsperspektiven. Berlin: de Gruyter Verlag 2005. 389 Vgl. ebd., S. 20. 390 Vgl. ebd., S. 20f. 391 Vgl. Assmann, Aleida: Wie wahr sind Erinnerungen? 2001, S. 103. 89 erinnern und sie gleichzeitig zu tradieren. Diese, wie Stephan Wackwitz bemerkt, sind auch eine gute Gelegenheit, um mit den „Gespenstern der Vergangenheit“ abzurechnen. Mit Hilfe der regelmäßigen Interaktionen, gemeinsamen Lebensformen und geteilten Erfahrungen392 hat das Gedächtnis eine Chance sich zu bewähren und als ein unschätzbares familiäres Andenken und Archiv zu gelten. Was muss hinsichtlich des analytischen Teils festgestellt werden, ist die Tatsache, dass an diesem Punkt vor allem ein Überblick über: a) die biographischen Angaben zum Autor, b) den Inhalt des Familienromans, c) die erzählerische Vermittlung [Typologie der Erzählsituation], d) das Verhältnis der Erzählebenen [Stellung des Erzählers zum Geschehen, Ort des Erzählens393], e) die Perspektivenstruktur im Rahmen der Fokalisierung [Nullfokalisierung, die interne Fokalisierung394], f) die Innenweltdarstellung [die Feldund Beobachter- Erinnerungen], g) Zeitgestaltung [„Wie“ der Darstellung395], h) Raumkonstruktion [Gestimmter Raum, Aktionsraum, Anschauungsraum396] und i) die paratextuelle Gestaltung vorgenommen wurde. Die zur Analyse bestimmen Elementen wurden durch primäre Anhaltspunkte unterstützt, d.h. als Basis für weitere wissenschaftliche Studie wurden hier die Positionen nach Franz Stanzel, Jürgen Petersen, Gerard Genette, Carsten Gansel und Monika Fludernik beachtet. 392 Vgl. Assmann, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. 2002, S. 13. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 2002, S. 76ff. 394 Vgl. Ebd., S. 64. Zitiert nach: Genette, Gerard: Die Erzählung. 1994, S. 273f. Siehe auch vertiefend dazu: Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. 2005, S. 117f. 395 Vgl. Ebd., S. 35ff. 396 Siehe dazu: Gansel, Carsten: Moderne Kinder- und Jugendliteratur 1999, S. 42. 393 90 7 Literatur 7.1 Primärliteratur Wackwitz, Stephan: Ein unsichtbares Land. Ein Familienroman. Frankfurt a. Main: Fischer Verlag 2003. 7.2 Sekundärliteratur Ackermann, Susanne: Die Ordnung der Zeit bei Gerard Genette und Eberhard Lämmert. Ein Vergleich. Ein Studienbuch. München: Grin Verlag 2008. Allrath, Gaby/Nünning, Ansgar: (Un-)Zuverlässigkeitsurteile aus literaturwissenschaftlichen Sicht: Textuelle Signale, lebensweltliche Bezugsrahmen und Kriterien für die Zuschreibung von (Un-)Glaubwürdigkeit in fiktionalen und nichtfiktionalen Glaubwürdigkeit. Erzählungen. 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