3. Zur Rethorik der Erinnerung in „Im Krebsgang“ von Günter Grass.

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Inszenierung von Erinnerung
einer Dreigenerationenfamilie in der Novelle
„Im Krebsgang“ von Günter Grass.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis........................................................................................................ 1
Einleitung .................................................................................................................... 2
1.
Kampf um das Individuelle Gedächtnis. ............................................................. 4
1.1.
2.
3.
Zu ausgewählten Fragen von Erinnerung und Gedächtnis. ......................... 6
1.1.1.
Die Definition von Erinnerung und Gedächtnis. ................................. 6
1.1.2.
Arten von Erinnerung. ......................................................................... 9
1.1.2.1.
Feld- und Beobachter Erinnerung ................................................ 9
1.1.2.2.
Wahre- und Falsche Erinnerung ................................................. 12
Generationen und Vergangenheitsbewältigung ................................................ 15
2.1.
Generationen- und Familiengedächtnis. .................................................... 16
2.2.
Das Kulturelle Gedächtnis von Jan Assmann ........................................... 20
2.3.
Funktions- und Speicher Gedächtnis. ........................................................ 22
2.4.
Täter - Opfergedächtnis. ............................................................................ 25
Zur Rethorik der Erinnerung in „Im Krebsgang“ von Günter Grass. ............... 28
3.1.
Zum Inhalt des Textes. .............................................................................. 28
3.2.
Die Multiperspektivität von Vergangenheit .............................................. 30
3.2.1.
Figurendarstellung der drei Generationen in der Novelle.................. 30
3.2.1.1.
Tulla - die Alte als gescheiterte Vergangenheitsbewältigung .... 31
3.2.1.2.
Paul - die Nachkriegsgeneration ................................................ 35
3.2.1.3.
Konrad – die Enkelgeneration .................................................... 42
3.3.
Erinnerung und Medialität. ........................................................................ 47
3.4.
Erinnerung und Trauma. ............................................................................ 54
3.5.
Vermiedene Themen in der Novelle. ......................................................... 58
3.6.
Stil und Sprache. ........................................................................................ 63
4.
Resümee. ........................................................................................................... 65
5.
Literaturverzeichnis. .......................................................................................... 68
1
Einleitung.
Die Inszenierung des determinativen Verhältnisses von Identität und Erinnerung zählt
zu den rekurrenten und dominanten Themen der zeitgenössischen Literatur. Sehr viele
Erzähltexte stellen dar, wie Gruppen und Individuen sich erinnern, wie sie vergessen
und wie sie auf der Basis von mehrmals ephemeren Vergangenheitsversionen
Identitäten entwerfen1. Gemeinschaftlich ist all diesen Werken, dass sie die mutalle
Durchdringung von Identität, Erinnerungen und Erzählungen in ihrer persönlichen bzw.
kollektiven Reichweite vor Augen führen und Fragen nach dem signifikanten
Leistungspotential von Erinnerungen in den Vordergrund rücken:
„Wie lässt sich die Vergangenheit auf der Basis von oftmals polyvalenten, sogar
trügerischen Erinnerungen sinnstiftend aufbereiten? Nach welchen Kriterien
werden individuelle und kollektive Erinnerungen verfügbar gehalten und
angeeignet, andere abgestoβen oder umgeformt? Welche Erinnerungen tragen
zur Stabilisierung der Identität bei und welche wirken unter Umständen
identitätszersetzend?2
In der nachfolgenden Arbeit wird es darum gehen, sich mit dem Thema „Inszenierung
von Erinnerung einer Dreigenerationenfamilie“ an Hand der Novelle „Im Krebsgang“
von Günter Grass zu befassen. Der Aspekt „Erinnerung“, spielt also in der
nachfolgenden Darstellung eine zentrale Rolle. Es wird um die Frage gehen, in welcher
Weise sich traumatische Ereignisse an Flucht und Vertreibung in Folge des Zweiten
Weltkrieges in den Erinnerungen der Generationen gehalten haben. Dies betrifft
insbesondere auch den Untergang des Kreuzfahrschiffes „Wilhelm Gustloff s“. Dabei
ist am Beispiel von Günter Grass Novelle zu klären, auf welche Weise, bestimmte
Erfahrungen und Erkenntnisse heute wahrgenommen werden, wie sich die Beziehungen
konkreter Protagonisten verändern, wie jedes Mitglied der Familie innerlich mit dem
Trauma auf eigene Art und Weise klarkommt und wie irregeführt heute junge
Menschen auf die Geschichte reagieren können. Die Hauptfragestellung betrifft: welche
Probleme oder Möglichkeiten sind mit dem Erinnerungsprozess verbunden? Oder
welche Absicht hat die problimatische Struktur der Erzählung mit der Komposition von
Wirklichkeit und Fiktion?
1
Vgl. Literatur in Wissenschaft und Unterricht ISSN 0024- 4643, Fiction of Memory: Erinnerung und
Identität in englischsprachigen Gegenwartsroman. S. 333. Verlag Königshausen & Neuman GmbH,
2
Zitat. Ebd. S. 333.
2
Die historische Katastrophe steht jedoch nicht im Mittelpunkt, sondern eher die Form
der Erinnerung an sie sowie der Umgang mit der Vergangenheit z. B. Tabuisierung,
Verdrängung und ihre Folgen. Durch Erinnerungen an Vergangenes in Form von
Analepsen werden die vergangenen Ereignisse geschildert. Es geht um das wissen der
drei Generationen von den Verbrechen, die von Deutschen von 1933 bis 1945 verübt
wurden und Fertreibung und Flucht der Deutschen verursacht hatten. Es geht auch um
die Abfertigung mit diesem Wissen, das mehrmalig als Opfer und Schuldgefühl bei der
Elterngeneration der um 1945 Geborenen vorhanden war und die deshalb die
nachstehende Kindergeneration die immer ausgesparten Erinnerungen ermitteln lieβ3.
Grass will mit seiner Novelle zeigen, wie Millionen Deutsche ihre Heimat verloren, wie
sie verjagt und vertrieben worden sind, nachdem der deutsche Faschismus die Welt mit
Völkermord, Terror und anderen Verbrechen überzogen hatte. Seine Novelle schreckt
vor einer sehr aktuellen verbrecherischen Vergangenheit auf.
Ausserdem werden solche Themen wie : Kampf um das Individuelle Gedächtnis,
Generationen und Vergangenheitsbewältigung, Täter- Opfer Aspekt, Befreiender
Tabubruch und die Multiperspektivitätet von Vergangenheit am Beispiel der
Dreigenerationenfamilie befasst.
3
Vgl. Rüdiger, Bernard: Königs Erläuterungen und Materiallien Band 416, Erläuterungen zu Günter
Grass Im Krebsgang, Bange Verlag, 2002, S. 5.
3
1. Kampf um das Individuelle Gedächtnis.
"Erinnerung hilft, die Gegenwart wahrzunehmen, gibt ihr Sinn und ordnet sie
zwischen Vergangenheit und Zukunft ein; als solche produziert sie Identität. Nur
durch sie kann die Wirklichkeit Gestalt annehmen."4
(Etiènne Francois)
Durch unsere Erinnerungen erblicken wir, wer wir eigentlich sind, was wir in der
Zukunft werden wollen und worin wir uns von anderen Menschen unterscheiden. Unser
individuelles Gedächtnis umschlieβt weit mehr als den Erfahrungsvermögen, den wir
durch persönliches Erleben erlangt haben. Das menschliche Gehirn und Gedächtnis ist
auf die Vermehrung ausgerichtet, die zum einen durch Kommunikation mit anderen
Menschen und zum anderen durch Beziehung mit materiellen Zeichen brauchbar wird.
Das Individuelle Gedächtnis ist das dynamische vermittelndes Element subjektiver
Erfahrungsverarbeitung. Man kann auch vom kommunikativen Gedächtnis sprechen, da
das individuelle Gedächtnis nicht selbstständig und rein privat ist. Vielmehr etabliert es
sich durch Verständigung, also durch den sprachlichen Austausch mit Mitmenschen
(primär Familie, Bekannte, Freunde), wodurch es aufgebaut und verfestigt wird. Das
kommunikative Gedächtnis entwickelt sich in einem Milieu regelmäβiger Interaktion,
gemeinsamer Lebensformen und geteilter Erfahrungen. Es wird auβerdem von einem
spezifischen Zeithorizont bestimmt. Für die Entwicklung einer eigenen Identität sind die
individuellen Erinnerungen erforderlich5. Für unsere Erinnerungen gelten bestimmte
Merkmale. Erstens sind die persönlichen Erinnerungen perspektivisch und darin
unübertragbar und unaustauschbar. Zweitens existieren die Erinnerungen nicht isoliert,
sondern sind mit den Erinnerungen anderer verknüpft. Dadurch agieren sie verbindend,
gemeinschaftsbildend
und
kohärent
und
wahrhaftig
zugleich.
Drittens
sind
Erinnerungen fragmentarisch, d.h. beschränkt und ungeformt. Erst durch Schilderungen
erhalten sie eine Gestalt und Struktur.6 Und viertens sind Erinnerungen unbestimmt und
labil. Manche ändern sich im laufe der Zeit, andere verblassen oder gehen ganz
4
Francois, Etienne: Deutsche Erinnerungsorte, Münnchen 2001 .htt://www.mhudi.de/geschichte-
gedaechtnis.html.
5
Vgl. Gansel, Carsten: Magisterseminar: Das Prinzip Erinnerung in der deutschen Gegenwartsliteratur
nach 1989, Das individuelle Gedächtnis.
6
Vgl. Aleida, Assman: Der lange Schatten der Vergangenheit- Erinnerungskultur und Geschichstpolitik,
Das idividuelle Gedächtnis. C.H.Beck, S. 23.
4
verloren.7 Bei genauer Betrahtung baut sich das individuelle Gedächtnis in einer
konkreten Person Kraft ihrer Mitwirkung an kommunikativen Prozessen auf. Es ist eine
Bestimmung ihrer Eingebundenheit in mannigfaltige gesellschaftliche Gruppen, von der
Familie bis zur Nations- und Religionsgemeinschaft. Das Gedächtnis erhält sich in der
Kommunikation und bleibt am Leben; bricht diese ab, bzw. laufen davon oder
kaschieren sich in die Bezugsrahmen der kommunizierten Faktizität, ist Vergessen das
Fazit. Man erinnert nur, was man kohäriert und was man in den Bezugsnahmen des
Kollektivgedächtnisses eruieren kann.8
7
Vgl. Aleida, Assman: Der lange Schatten der Vergangenheit- Erinnerungskultur und Geschichstpolitik,
C.H.Beck, S 24-25.
8
Vgl. Assmann, Jan: Das Kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen
Hochkulturen. München 2002. S.36.
5
1.1. Zu ausgewählten Fragen von Erinnerung und Gedächtnis.
In diesem Abschnitt der Arbeit werden konkrete Fragen zu Erinnerung und des
Gedächtnis diskutiert. Doch zunächst wird es darum gehen, die Begriffe Erinnerung und
Gedächtnis genauer zu bestimmmen.
1.1.1. Die Definition von Erinnerung und Gedächtnis.
Mit
„Erinnerung“
bezeichnen
wir
abgesonderte
und
disparate
Akte
der
Wiederherstellung oder der Rückholung individueller Erfahrungen und Erlebnisse. Was
nicht davor erlebt oder erfahren wurde, kann künftig nicht erinnert werden.9
Entsprechend heiβt es:
„Erinnern ist kein Abhören einer Tonbandaufnahme, sondern ein aktiver
Prozeβ“10
Ohne Erinnerungen, könne wir kein Selbst herstellen und nicht mit anderen als
subjektive Personen in Verbindung stehen. Auch wenn sie es nicht immer sind, müssen
wir unsere Erinnerungen doch für real halten, denn sie sind der Stoff, aus den
Beziehungen, Erfahrungen und vor allem das Bild der persönlichen Identität gemacht
ist. Nur ein weniger Beitrag unserer Erinnerung ist sprachlich aufbereitet und es bildet
das Rückgrat einer Lebensgeschichte. Der überwiegende Teil unserer Erinnerungen
dämmert in uns und wartet darauf, durch eine äuβere Gelegenheit „geweckt“ zu werden.
Plötzlich danach werden diese Erinnerungen bewuβt, sie gewinnen noch einmal eine
sinnliche Präsens und können unter erforderlichen Umständen in Worte gefaβt und zum
Permanenz eines verfügbaren Verzeichnis geschlagen werden.11 Was die Persönlichkeit
prägt, sind die Erinnerungen an die Lebensgeschichten ,die die Identität formen. Doch
nicht die objektiven Lebensdaten spielen hier die Hauptrolle, sondern die Gefühle. Sie
filtern, was im Langzeitspeicher landet und was gelöscht wird:
„Gefühle", sagt Markowitsch, "sind die Wächter unserer Erinnerung."12
9
vgl. Assmann, Aleida/ Frevert,Ute: Geschichtsvergessenheit- Geschichtsvergessenheit. Stuttgart 1999.
S. 35.
10
Zitat: Banyard. P. U.a : Einführung in die Kognitionspsychologie. Ernst Reinharddt Verlag, München
1995, S. 33.
11
vgl. Assmann, Aleida/ Frevert,Ute: Geschichtsvergessenheit- Geschichtsvergessenheit. Stuttgart 1999.
S. 103- 104.
12 .
http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,444334,00.html
6
Das elementare Verfahren für die Inszenierung der Erinnerung ist die Rückwendung
bzw. Analepse: Ereignisse und Erlebnisse in der zeitlichen Abfolge zu einem früheren
Zeitpunkt zustande kommen, werden erst später –in der erinnernden Reminiszenzreaktiviert..13 Auβerdem, können Erinnerungen auch individueller Art nur durch
Interaktion und Kommunikation im Rahmen sozialer Gruppen entstehen. Genauer
gesagt, wir erinnern nicht nur, was wir von den anderen ermitteln, sondern auch, dass
was uns andere erzählen und was uns von anderen als bedeutsam bezeugt und
zurückgespiegelt wird. Besonders erleben wir bereits in Anbetracht auf andere, im
Zusammenhang sozial vorgegebener Rahmen der Relevanz. Schlieβlich gibt es keine
Erinnerung ohne Empfindung.14 Was besonders wichtig ist, ist dies, dass die Erinnerung
mit der Wirklichkeit zu tun hat, mit un- und mittelbar erfahrenen Empfindungen, mit
deren Ordnung und Auffassung, mit dem Wissen um dieselben, mit der
Verständigungssituation,
die
sie
aktualisiert,
nicht
zuletzt
mit
den
Konstruktionsbedingungen, die dabei im Gedächtnis herrschen.15
Resümierend ist festzustellen und hiermit möchte ich die Definition der Erinnerung mit
einem Zitat von Daniel.L Schacter beenden, dass:
„Erinnerung alles andere als das Sammeln und gezielte Suchen von
Momentaufnahmen unseres Lebens im zerebralen Fotoalbum ist; es ist die am
stärksten subjektiv und emotional gefärbte Aktivität, mit der Aufgabe anvertraut,
lebensgeschichtliche Kontinuität und damit so etwas wie Identivität,
Persönlichkeit herzustellen. Erst unsere Erinnerungen machen uns zu
Menschen.“16
Als nächstes in einer sehr ausführlicher neurobiologischen Anschauung läβt sich
Gedächtnis als konditionierte Veränderung der Übertragungseigenschaften im
neuronalen „Netzwerk“ definieren, wobei unter bestimten Bedingungen den
Systemmodifikationen (Engrammen) entsprechende neuromotorische Zeichen und
Verhaltensweisen vollständig oder nur teilweise reproduziert werden können.
Diese Erläuterung können wir in der folgenden Weise ergänzen: Gedächtnis verarbeitet
Informationen, die aus der Innen- und Auβenwelt der Struktur kommen, und
repräsentiert emotional und kognitiv bedeutungsvolle Gedächtnisinhalte, die sozial
13
vgl. Literatur in Wissenschaft und Unterricht. Verlag Königshausen & Neumann GmbH. Fictions of
Memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen Gegenwartsroman. S. 338.
14
vgl.Assmann, Jan: Das Kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen
Hochkulturen. München 2002. S. 36.
15
vgl. Fried, J.: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik.C. H. Beck Verlag.
S. 14
16
Zitat: Schacter, Daniel. l: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit ( Deutsch von Heiner
Kober) Reinbeck bei Hamburg 2001. S. 30
7
konstituiert sind.17. Gedächtnis, deutet zunächst einmal auf die natürliche Basis für die
Operationen und Bedeutungen hin. Es ist ein Kollektivbegriff für aufgespeicherte
Erinnerungen für einzelne memoriale Akte und Einträge.18 Zum gröβten Teil sind wir
das, woran wir uns erinnern. Ohne Gedächtnis gäbe es keine Ruhe in Erinnerungen an
glückliche Augenblicke in der Vergangenheit, keine Wut- und Schuldgefühle, ausgelöst
durch schmerzhafte und greifende Erinnerungen. Das Gedächtnis ist der Lager des
Mentalen, das Reservoir all dessen das man im Laufe des Lebens lernt.19
Resümierend ist festzustellen und hiermit möchte ich die Definition des Gedächtnisses
mit einem Zitat von Meyers beenden :
„Das Gedächtnis ist die Erinnerung- ein Hinweis darauf, das Erlentes die Zeit
überdauert. Das Gedächtnis ermöglicht es uns, Informationen zu speichern und
wieder abzurufen“20.
Aus den oben Gesagten ergeben sich Schlussfolgerungen, dass das Gedächtnis die
Aufgabe hat, aufgenommene Informationen zu behalten, zu ordnen und wieder
abzurufen.
17
vgl. Markowitsch. J/ Welzer, H: Das autobiographische Gedächtnis. Klett-Cotta. Stuttgart 2005. S 7374.
18
vgl. Assmann, Aleida/ Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit. Stuttgart 1999. S.35.
19
vgl. Meyers: Psychologie. Springer Verlag. S 380.
20
Zitat:Meyers: Psychologie. Springer Verlag. S 380.
8
1.1.2. Arten von Erinnerung.
Indem die zwei wichtigen Definitionen geklärt worden sind, sollen nunmehr ausführlich
die Arten der Erinnerung besprochen werden.
1.1.2.1. Feld- und Beobachter Erinnerung
In der Psychologie werden zwei Erinnerungsformen, deren Unterscheidung auf den
bekanntesten und einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts Sigmund Freud
zurückgeht:
nähmlich
die
Felderinnerungen
(field-memories)
und
Beobachtererinnerungen (observer-memories).
In den „Felderinnerungen“, die den Groβteil der Gedanken und der Erinnerungen
dominieren, erinnert man sich an die vergangene Erlebnisse aus einer Perspektive, die
der faktischen Wahrnehmungsperspektive relativ nahe kommt..
Hingegen in „Beobachtererinnerungen“ herscht eine „Auβenperspektive“ vor, die oder
der
Erinnernde
„sieht“
sich
selbst
in
der
erinnerten
Szene
von
einem
Beobachterstandpunkt aus. Abgesehen davon, dass letztere Perspektive wird vor allem
dann eingenommen, wenn es immer um die Rekonstruktion gewisser objektiver
Umstände gehe. Bei Felderinnerungen dagegen, so Freud, führen unsere nahe liegende
Erinnerungen und leiten dann unsere Perspektive, wenn wir gezielt bestimmte
Emotionen und Gefühle aus einer bestimmten Situation wieder aufleben lassen
wollen.21 So stellt Freud in diesem Sinne fest, dass die Beobachtererinnerungen- die von
uns als distanzierte Beobachter wahrgenommen werden – seien notwendigerweise
modifizierte Interpretationen des primären Ereignisses, das wir ursprünglich aus einer
Feldperspektive wahrgenommen haben. Wie Freud es vermutet hat, sehen wir uns meist
in älteren Erinnerungen als vorgehende Personen, indem wir jüngere Erinnerungen
mehr aus der ursprünglichen Perspektive wiedererleben22. Wenn man sich mehr auf die
Gefühle konzentriert, haben wir mit den Felderinnerungen zu tun. Doch wenn wir
unsere Aufmerksamkeit auf die „objektiven Umstände“ richten, haben wir dann mit den
21
vgl. Erll, A.: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und
Anwendungsperspektiven. Angsar Nünning. S 138-139
22
vgl. Schacter, Daniel.l: Wir sind Erinnerungen.Gedächtnis und Persönlichkeit ( Deutsch von Heiner
Kober) Reinbeck bei Hamburg 2001. S 45.
9
Beobachtererinnerungen zu tun. Für die Bestätigung dieser These lege ich ein Beispiel
zu Grunde. Wenn mam jemanden auffordert, sich die „objektiven Umstände“ ins
Gedächtnis zu rufen z.B: sich an etwas zu erinnern, während eine Felderinnerung
wahrscheinlicher ist, wenn ich Sie darum bitte, sich auf ihre Instinkte und
Empfindungen zu konzentrieren. Dementsprechend wird ein bestimmender Teil Ihrer
Erinnerungserfahrung – ob Sie sich als Beteiligter in einem Ereignis sehen oder nichtweitgehend zum Zeitpunkt des Gedächtnisaktes erfunden oder konstruiert.
Wie Sie sich eines Erlebnisses oder eines Ereignisses erinnern, hängt nur von den
Zielen und Absichten ab, die Sie zu dem Augenblick haben, da Sie sich an den Prozess
zu erinnern versuchen23. In diesem Zusammenhang ist noch die Frage nach der
Fokalisierung24 zu stellen. Interne25 und externe26 Fokalisierung haben enorme
bedeutungen für die Inszenierung von Erinnerungen in den fiction of memory27, den sie
bringen zum Ausdruck, was in der kognitiven Psychologie – in Bezug an die Einsichten
Sigmund Freuds- als Beobachter- bzw. Felderinnerung bezeichnet wird.28
Interne Fokalisierung geht mit der Inszenierung von Felderinnerung einher. Solche
Erinnerungen kennzeichnen sich dadurch, dass sie verflossene Ereignisse auf jeden Fall
traditionell
aus
der
reaktualisieren.
ursprünglichen
Hingegen
Perspektive
bringt
die
des
damaligen
externe
Geschehens
Fokalisierung
der
Beobachtungserinnerungen zur Auffassung, mithin solche Erinnerungen, die wir
vornehmlich
als
distanzierte
Beobachter
unseres
vergangenen
Selbst
vergangenwärtigen. Währenddessen die durch interne Fokalisierung effizierten
Felderinnerungen in den fictions of memory immer wieder dazu gebraucht werden, die
besondere Eigenschaft vorgangener Geschehens- und Wahrnehmungsweisen in ihrer
emotionalen Ausbreitung zu vergegenwärtigen, bringen externe Fokalisierung und die
damit
einhergehende
Auseinandersetzung
mit
Beobachtererinnerung
verblühten
eine
Erfahrungen
im
kritisch-
reflektierte
Lichte
derzeitigen
Handlungsanforderungen zustande. Interne Fokalisierung und daher verbundene
23
Vgl. Schacter, Daniel. l: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit ( Deutsch von Heiner
Kober) Reinbeck bei Hamburg 2001. S 46.
24
Mit der Kategorie der Fokalisierung soll beschrieben werden,aus welchen Blickwinkel eine Geschichte
erzählt werden kann. ( nach Gerard Genette.)
25
Interne Fokalisierung ( nach G.Genette)- der Erzähler sagt nicht mehr, als die Figur weiβ.
26
Externe Fokalisierung ( nach G.Genette)- der Erzähler weiβ weniger als die Figur.
27
Fiktionale Texte in denen Erinnert wird.
28
vgl. Schacter, Daniel. l: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit ( Deutsch von Heiner
Kober). Reinbeck bei Hamburg 2001. S 45-47.
10
Felderinnerung zeigen ein besonderes passendes Mittel dar, um die anhaltende Virulenz
des Abgelaufenen zu inszenieren.
Externe Fokalisierung und die dadurch sie wachrufenden Beobachtrerinnerungen
veranschaulichen hingegen, in welchem Grad die Deutung des Vergangenen von der
jetztigen Perspektivierung abhängt.29 Abschlieβend soll gesagt werden, dass dieser
diskursive Perspektivierungsmodus differenziert, das Erinneungen jederzeit von
präsentischen Forderungen veranlagt sind und damit auch bewusst „umgeformt“ werden
können.
Das Fazit der Überlegungen ist, dass eine Felderinnerung eine Erinnerung mit
Emotionen ist. Das ist eine Erinnerung die man mit eigenen Augen sehen oder erfahren
kann. Dagegen bei den Beobachtererinnerungen ist es eine Erzählte Geschichte. Wir
sehen alles aus einer Distanz, aus einer Perspektive.
29
vgl. Neumann, B.: Erinnerung. Identität. Narration. Walter de Gruyter-Berlin-New York 2005. S 173174.
11
1.1.2.2. Wahre- und Falsche Erinnerung.
„Wenn es der Fall ist, dass im Erinnern kein Wissen hinsichtlich der Identität
von erinnerdem Subjekt und damaligen Erlebenssubjekt enthalten ist, und wenn
es der Fall ist, dass es sowohl wahre als auch falsche Erinnerungen gibt, und
wenn es der Fall ist, das sich wahre von falschen Erinnerungen nicht
phänomenal, d.h. in ihrere Gegebenheitsweise für das sich erinnernde Subjekte
unterscheiden“30,
dann bedürfen wir noch auβerdem ein Merkmal welches uns sowohl in epistemischer
als auch in konstituiver Hinsicht erlaubt, zwischen falschen als auch wahren
Erinnerungen zu differenzieren. Aus dem oben Gesagten ergibt sich, dass Erinnerungen
irrtumsfällig sind. Erinnerung kann demzufolge ebenso gut eine Rekonstruktion wie
auch eine Reproduktion sein, und wir können nicht sicher sein, ob eine Erinnerung
faktisch eine Erinnerung ist, nur weil wir den Eindruck haben, es können reale
Erinnerungen sein. So wie uns eine Empfindungstäuschung sehr echt vorkommen kann,
erscheint uns allenfals auch eine nicht echte Erinnerung, als sehr real.31
Falsche Erinnerungen, die durch die Suggestion von Fehlattribution oder auch durch
Fehlinformation der Quelle entstehen, können den Betreffenden deutlich real erscheinen
wie echte Erinnerungen und auch sehr eigensinnig sein. Es ist offenbar, dass Menschen
nicht nur je nach Lebensalter verschiedene Formen des Zugriffs auf ihre Erinnerungen
zeigen, sondern daβ auch diese Erinnerungen selbst Gegenstand höchst allerlei
Umschriften, Umdeutungen und Neuerfindungen sind32. Im Allgemeinen zeigt ein Blick
in die Literatur zu „false memories“, dass lebensgeschichtliche Erinnerungen allgemein
nur mit groβer Bedingung zu rtauen sind. Einige sich wiederhollende Probleme oder
Fehler beim Erinnern hat Daniel Schacter in einem Aufsatz (>Seven Sins of Memory<;
1999) aufgelistet:
1. Das erblassen von Erinnerungen. Man kann annehmen, dass die Erinnerungen
verschwinden, wenn sie überhaupt nicht in Anforderung genommen werden.
Womöglich lösen sich die synaptischen Verbindungen der entsprechenden Engramme
auf, wenn die Erinnerung niemals abgerufen wird.
2. Schon im Augenblick der Einspeicherung, entsteht eine weitere Problematik des
Erinnerns, denn gewiss ist unsere Empfindung in jeder Situation, in der wir uns
30
Zitat: Quante, Michael: Person. Veröffentlich von Walter de Gruyter, 2007, S. 51.
vgl. Müller, Erika: Psychologie. Springer Verlag, 2008, S. 419.
32
vgl. Müller, Erika: Psychologie. Springer Verlag, 2008, S. 419.
31
12
befinden, äuβerst selektiv. In das Langzeitgedächtnis33 werden also nur jener
Standpunkt einer Situation überführt, denen unsere Interesse gegolten hat.
3. Des Öffteren scheint der Abruf von Erinnerungen auf die eine oder andere Weise
blockiert. Hier handelt es sich meist um temporäre Hindernisse, einiges dursichtig zu
erinnern. Man hat das Gefühl, es „läge auf der Zunge“. Man kann davon ausgehen, dass
andere Erinnerungpartikel mit derjenigen Erinnerung sich überschneiden. Was
besonders interessant ist, glaubt man, dass in solcher Situation man das richtige Wort
oder den richtigen Namen weis, nach dem man soeben sucht, kann ihn aber nicht
abrufen. Erst später, nach einer bestimmten Zeit oder oft zu einem späteren Zeitpunkt,
wenn es dann um ganz andere Sachen geht, fällt uns der gesuchte Namen oder das Wort
ein.34.
4. Ein weiteres Problem sind die Fehlererinnerungen – Verwechslung der Quellen oder
Irrtümer, aus denen man eine Erinnerung entnommen hat. Der unkomplizierte Import
„falscher“ Erinnerungen in das eigene Gedächtnis geht darauf zurück, dass wir uns
gewiss einwandfrei an eine Verbindung erinnern können, aber uns immer wieder in der
Quelle vertun, aus der wir diese Erinnerung herausholen- (Filme, Bücher), die man als
seine eigene wahrnimmt. Was hier noch erwähnt werden muss, ist die Bedeutsamkeit
der visuellen Repräsentanz von Erinnerungen.
„Gerade das, was einem <noch vor Augen steht>, wovon man noch jedes
einzelne Detail buchstäblich zu sehen glaubt, stattet den sich Erinnernde mit der
Felsenfesten Überzeugung aus, dass das, woran er sich erinnert, auch tatsächlich
geschehen ist“.35
Bemerkenswert und subjektiv sehr schwer einsichtig liegt das aber nicht ausschlieβlich
daran, das Erlebnis erst auf der Netzhaut und dann im Gehirn stufenweise eingebrannt
hat, sondern daran, dass die neuronalen Verarbeitungssysteme für optische
Wahrnehmung und für phantasierte Inhalte sich überkreuzen, so daβ auch rein
imaginäre Erlebnisse mit optischer Prägnanz <vor den Augen> des sich Erinnernden
stehen können.
5. Ein weiterer bedeutsamer Aspekt bei Erinnerungen infolge von Verwechselungenund Quellen- Amnesien stellt Suggestibilität dar.
33
Langzeitgedächtnis- ist der permanente Wissensspeicher eines Menschen.. Information kann im
Langzeitgedächtnis von Minuten bis zu Jahren gespeichert werden (sekundäres Gedächtnis) oder sogar
ein Leben lang (tertiäres Gedächtnis). Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Langzeitged%C3%A4chtnis
34
Vgl. Markowitsch, J. H.: Das autobiografische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale
Entwicklung. Konvergenzzonen zwischen den Disziplinen. Klett-Cotta. Stuttgart 2005. S. 29
35
Zitat: Ebd. Markowitsch, J. H. S. 30
13
Die Suggestibilität kann zur Generierung von lebensgeschichtlichen Erinnerungen
führen, die keine Einhaltung in der tatsächlichenen Lebensgeschichte haben.
6. Elementar ist es so, dass enstehende Empfindungen und Einstellungen in bezug auf
Situationen und Menschen uns dazu anordnen, diese auch entsprechend selektiv
wahrzunehmen und zufolge unserer Kategorisierungen zu erinnern.
7. Und zum Schluss ist noch das Problem der Persistenz von Erinnerungen zu andeutendass einem also irgendetwas nicht <aus dem Sinn geht> 36, obwohl man sie daran nicht
erinnern möchte. Diese Besonderheit tritt hauptsächlich in Verbindung depressiver
Erkrankungen oder traumatischer Erfahrungen auf und kann dazu führen, dass die
Patienten andauernd über negative Erlebnisse und schlechte Erfahrungen „grübeln“.
Zusammenfassend hat Wolfgang Hell geschrieben:
„Eine emotionale Voreingenommenheit in eine Richtung, wiederholtes
Abfragen, Suggestionen und vieles andere kann eine falsche Erinnerung
auslösen, die für die Betroffenen so real wie eine richtige Erinnerung ist und die
für die Zuhörer dieser Erinnerung durch die Lebendigkeit der Schilderung
absolut glaubwürdig wirkt.“37 ( Hell, 1998, S. 274).
Anhand der oben genannten Diskussionsbeiträgen lässt sich feststellen und
zusammenfassen, dass falsche Erinnerungen die keinem vergangengen faktisch erlebten
Geschehen entgegenkommen und jedoch als faktisch so erlebt empfunden werden.
Sie können entweder rein fiktiv sein oder in bedeutenden Punkten vom wirklichen
Geschehen abweichen.
36
Vgl. Markowitsch, J. H.: Das autobiografische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale
Entwicklung. Konvergenzzonen zwischen den Disziplinen. Klett-Cotta. Stuttgart 2005. S. 32.
37
Zitat: Markowitsch, J. H.: Das autobiografische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale
Entwicklung. Konvergenzzonen zwischen den Disziplinen. Klett-Cotta. Stuttgart 2005. S. 32.
14
2. Generationen und Vergangenheitsbewältigung.
Mit der Vergangenheitsbewältigung versteht man die Auseinandersetzung einer Nation
mit einem problematischen Abschnitt ihrer jüngeren Geschichte, in Deutschland
besonders mit dem Nationalsozialismus.38 Dieser Begriff gehört zum Thema jedes
Volkes, weil sich jedes Volk auf einer bestimmten Art und Weise mit der
Vergangenheit, mit den Ereignissen, Folgen und Auswirkungen des Zweiten
Weltkrieges auseinandersetzt.
„Das Ziel der Vergangenheitsbewältigung ist die Überwindung einer
schmerzhaften Erinnerung um einer gemeinsamen und freien Zukunft willen.“39
Bei den Deutschen wird dieser Begriff sehr stark geprägt, in dem sie mit dem Entsetzen
des Zweiten Weltkrieges klarkommen müssen und sich aus der eigenen Vergangenheit
eine Lehre nehmenn wollen, wie sich die einzelnen Generationen mit der Vergangenheit
beschäftigen, auch dafür werde ich eine Antwort in meiner Arbeit suchen.
38
Duden - Deutsches Universalwörterbuch, 5. Aufl. Mannheim 2003
Zitat: Aleida, Assmann: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und
Geschichtspolitik. C. H. Beck 2006 S.71.
39
15
2.1. Generationen- und Familiengedächtnis.
Wie der Titel der Arbeit lautet, spielt die Definition der Generation der Familie eine
wichtige Rolle in dieser Arbeit. Bevor die Definition erläutert wird, wird nur ganz kurz
erwähnt, um welche Generationen es sich handelt. Die Hauptprotagonistin Tulla
(Augenzeugin) ist Vertreterin der Generation der Überlebenden, Vertriebenen. Paul als
Vertreter der Nachgeborenen, nicht persönlich getroffen und Konny als Vetreter der
Enkelgenerationen.
Unter Generation versteht man die Gesamtheit aller Lebewesen (Eltern, Groβeltern,
Kinder und Enkel), die in aufsteigender Linie durch Abstammung verbunden sind und
im
selben
Abstand
stehen.
Generationen
teilen
„eine
Gemeinsamkeit
der
Weltauffassung und Weltbemächtigung“40, sie bilden Erinnerungs- , Erfahrungs und
Erzählgemeinschaft. Sie begreifen sich selbst als unterschiedlich von vorhergehenden
und nachfolgenden Generationen. Das bedeutet, dass die Kommunikation zwischen den
Generationen sich immer um eine Grenze des Verstehens dreht, die mit der Zeitlichkeit
des erlebens zu tun hat. Der Mensch ist ein soziales Lebewesen. Ohne andere Menschen
bleibt ihm der Zugang zur Sprache oder Sitten verwehrt, so wie der Zugang zum
eigenen Gedächtnis. Dies liegt daran, dass wir Erfahrungen meist im Kreis oder
Umgebung anderer Menschen machen. Diese können uns später helfen, die Ereignisse
aus der Vergangenheit zu erinnern. Doch die Frage lautet: Wie entsteht Vergangenheit?
Auf diese Frage möchte ich mit dem Zitat von Maurice Halbwachs antworten:
„Vergangenheit, so lautet die nicht minder lakonische Antwort, entsteht, indem
man über sie spricht“41
Unter diesem Zitat ist zu verstehen, das man die Vergangenheit nennen kann, wenn sie
in Gesprächen, in Rückbezügen auf Ereignisse, in mündlichen Austausch von
Erfahrungen, die man auf seine eigene Art und Weise erlebt hat, wodurch sich jener
gemeinsame
Bezugshorizont
Generationengedächtnis.
Eine
bildet.
Eine
Altersgruppe
allseitige
wird
Besonderheit
gemeinsam
ist
geprägt
das
durch
hervorkommende Erlebnisse, die durch Denk- und Sprechweisen, durch Mitmenschen
und Vorbilder, durch Traumata und Utopien entstehen. Dieses Gedächtnis lebt solange,
40
Zitat .vgl. Assmann, Aleida/ Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit. Stuttgart 1999. S. 38.
Zitat: Aleida, Assmann: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und
Geschichtspolitik. C. H. Beck 2006 S.26.
41
16
bis die Angehörigen einer Generation leben.42 Aus dem oben Gesagten ergeben sich
Schlussforderungen, dass das Generationengedächtnis sich über das Milieu von
Bekanntenkreis und Familie, als auch weitaus gröβere Gedächtnisebene- die einer
Gemeinde, einer Stadt oder einer Generation hinaus bezieht. Der Mensch kontaktiert
und teilt sich seine Erinnerungen nähmlich vor allem auch mit seinen Mitmenschen. In
einer Geselschaft wird das Gedächtnis wesentlich durch den Wechsel der Generationen
bestimmt. Nach ca. 40 Jahren –mit jedem Generationenwechsel verschiebt sich das
Erinnerungsprofil einer Geselschaft sichtbar43. Das Generationengedächtnis ist durch
bestimmte Merkmale gekenzeichnet.
Ersens, ist in einer Altersgrupe ist jeder Mensch von historischen Schlüsselerfahrungen
geprägt und teilt mit seinen Zeitgenossen dadurch Haltungen, Überzeugungen,
geselschaftliche Wertmaβstäbe, Weltbilder und kulturelle Deutungsmuster.
Zweitens, im Alter von 12 bis 25 Jahren sind Individuen für lebensprägende
Erfahrungen besonders aufnahmefähig.
Drittens, ist das Generationengedächtnis ein wichtiges Element in der Konstitution des
individuellen Gedächtnisses.
Und viertens, dreht sich die Kommunikation zwischen den Generationen um die Grenze
des Verstehens, die mit der Vergänglichkeit des Erlebens zu tun hat. Man kann seiner
Zeit nicht entgehen.44
Das Familiengedächtnis ist durch geneologischer oder historischer Interessen die durch
Dokumente und Aufzeichnungen gestreckt und gestützt werden besonders bekannt.
In der Regel umfasst es die Zeitspanne von drei Generationen (die schon erwähnt
worden sind), die miteinander im ständigen Kontakt bleiben, von – und übereinander
wissen und sich untereinander austauschen.45 Was besonder wichtig bei den
Familiengedächtnis ist, sind die Familienmitglieder, die den Erfahrungshorizont des
Familiensleben teilen.
Durch mündliche Erzählungen, wie z.B. bei Familienfesten, haben auch die jenigen teil,
die das Erinnerte nicht selbst miterlebt haben. Auf diese Art und weise findet ein
„Austausch lebendiger Erinnerungen zwischen Zeitzeugen und Nachkommen statt“.
42
vgl. Assmann, Aleida/ Frevert,Ute: Geschichtsvergessenheit..Stuttgart 1999. Angela Keppler: Soziale
Formen individuellen Erinnerns. S.142
43
Vgl. Gansel, Carsten: Magisterseminar: Das Prinzip Erinnerung in der deutschen Gegenwartsliteratur
nach 1989
44
Vgl. Gansel, Carsten: Magisterseminar: Das Prinzip Erinnerung in der deutschen Gegenwartsliteratur
nach 1989.
45
vgl. Aleida, Assmann: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und
Geschichtspolitik. C. H. Beck 2006 S.22.
17
Darum, wie sich die ältesten Mitglieder der sozialen Gruppe zurückerinnern können,
reicht daher so weit das kollektive Gedächtnis.46 Das Erzählen von Geschichten ist ein
wichtiger Teil in einer Familie, besonders die Übergabe der Informationen. Durch
solche Informationenübergabe bildet sich bei einer Familie eine Gruppenidentität. Wie
es schon gesagt wurde, dehnt sich durch Zuhören, Erzählen und Weitererzählen die
Reichweite der eigenen Erinnerungen aus. Enkel und Kinder nehmen einen Teil der
Erinnerungen der älteren Familienmitglieder in ihren Erinnerungsvermögen auf, in dem
sich selbst Gehörtes und Erlebtes überkreuzen. Dieses Drei- Generationen-Gedächtnis
ist eine existentielle Sichtgrenze für individuelle Erinnerungen und festlegend für den
eigenen Rekurs in der Zeit.47 Nicht nur, dass die Familienangehörigen oft eigene
Versionen und Interpretationen aus den eher nebulösen Geschichten und episodischen
Fragmenten aus der Familienvergangenheit zusammenstellen, die dann ihrerseits den
Ausgangspunkt und Grundgedanken, für jahre- und jahrzehntelange Weitererzählungen
bilden- auch die Tatsache, dass man eigentlich nichts Bestimmtes über die historische
Rolle und Funktion der Groβeltern weiβ, stört in der Regel die Kinder und Enkel bei der
Verfertigung ihrer jeweiligen Lesarten der Vergangenheit nicht48. Im Gegenteil: häufig
sind es die lückenhaften, wiedersprüchlichen und überhaupt nebulösen Erzählungen, die
es den Lauscher erlauben, sich die Geschichten und Erzählungen zu eigen zu machen,
indem sie es mit persönlichen Vorstellungen und Geschichten illustrieren und auffüllen.
Erzählungen
und
Geschichten
aus
der
NS-Vergangenheit
werden
nicht
in
niederlegender Form von einer Generation an die folgenden Diskussion weitergegeben,
sondern im intergeneriationellen Gespräch gemeinsam verfertigt. Also, es sind gerade
nicht
die
detallierten,
hermetischen
und
eindeutigen
Erzählungen,
die
tradierungsgeeignet sind, dagegen solche, die situativ fesselnd, offen und persönlich
affizierend sind. Derlei Erzählungen ermöglichen, eine aktive Übernahme des
Berichteten- es handelt sich hiermit nicht um das Hören, sonder um das Gestalten einer
Historie, was auf der einen Seite emotionale Qualität hat.49 Kurz gesagt: Geschichten
werden tradiert, wenn sie von fremden zu persönlichen und eigenen geworden sind.
46
vgl.Astrid, Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Verlag J.B.Metzler Stuttgart/
Weimar 2005
47
vgl. Aleida, Assmann: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und
Geschichtspolitik. C. H. Beck 2006 S.26.
48
Vgl. Waltraud<Wara>Wende(Hg) : Krieg und Gedächtnis. Königshausen &Neuman 2005.
Krieg der Generationen- Zur Tradierung von Vergangenheit und Krieg in deutschen Familien.
Harald Welzer ( Essen). S.58
49
vgl. Ebd. S. 59.
18
„Die Gespräche nun, die in Familien bei Tisch oder bei festlichen Gelegenheiten
gefürt werden, zeihnen sich durch ein signifikantes Repertoire kommunikativer
Gattungen aus. Durch eine Untersuchung dieses Repertoires läβt sich ermitteln,
wie Familien ihre Identität als Familie Tag für Tag produzieren und
reproduzieren. Natürlich müssen Familienangehörigen etwas haben, worüber sie
sprechen können, und müssen dabei auch inhaltlich vielerlei gemeinsam
haben.“50.
Anhand der oben genannten Diskussionsbeiträgen lässt sich feststellen und hier möchte
ich meine Gedanken und Schlussfolgerungen mit einer These von Halbwachs
abschlieβen, dass die Familie wie jedes Kollektivgebilde ein persönliches Gedächtnis
hat. Familienzugehöriegen erinnern sich, wenn sie zusammen oder getrennt sind, an die
gemeinsame Familienvergangenheit. Die Potenzialität der Erinnerung ist dabei auf
jeden Fall an die Dauerhaftigkeit und Ehrlichkeit der Gruppe gebunden. Denn
Familienerinnerungen bestehen nicht nur aus dem, was das individuelle Gedächtnis
z.B.von gewissen Verwandten erinnert. Familienerinnerungen implizieren auch eine
kollektive Vorstellung von der Familie.51 Bedingungslos stellt das Familiengedächtnis
aus der Vergangenheit behaltene Grundlagen solcher Eigenschaft einen Rahmen her,
den es unversehrt zu halten sucht, und in gewisser Weise zur traditionellen Ausstattung
der Familie gehört. Vielfach werden in jeder Familie und jeder Generation
Erinnerungen miteinander verglichen, ausgetauscht und einander soweit als möglich
angeglichen.
50
51
Zitat: Assmann, Aleida/ Frevert,Ute: Geschichtsvergessenheit. Stuttgart 1999. S.141.
vgl. Ebd. S.143.
19
2.2. Das Kulturelle Gedächtnis von Jan Assmann.
Jan Assmann fasst in „Kollektives Gedächtnis und klturelle Identität“ (1988) den
Begriff‚ kulturelles Gedächtnis‚ zusammen als :
„(...) den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand und
Wiedergebrauchs- Texten,- Bildern, und – Riten (...), in deren „Pflege“ sie ihr
Selbstbild stabilisiert ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht
ausschlieβlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein
von Einheit und Eigenart stützt“.52
Zu verstehen ist, dass das kulturelle Gedächtnis sich auf der Ebene oberhalb des
kollektiven Gedächtnisses befindet. Seine Aufgabe ist es ebensfall, Wissen und
Erfahrung
über
die
Generationenschwelle
zu
transportieren
und
so
ein
Langzeitgedächtnis auszubilden53. Das kulturelle Gedächtnis richtet sich Fixpunkte in
der Vergangenheit. Aber auch in ihm vermag sich die Vergangenheit nicht als solche zu
verhalten. Vergangenheit geriet hier vielmehr zu magischen Figuren, an die sich die
Erinnerung anklammert. Über Erinnern bildet sich das kulturelles Gedächtnis, und
dieses ist Basis eines, reflektierenden, offenen Umgangs mit der Vergangenheit. Wer
sich dem Erinnern verwehrt, lauft Gefahr, dass ihn die Vergangenheit einholt.54
Mit dem kulturellen Gedächtnis wird sehr vieles erinnert; d.h. geregelt, gelehrt,
überliefert, gedeutet, erforscht, praktiziert und geübt, weil es zu uns gehört, weil es
gebraucht wird und uns trägt und deshalb von uns getragen wird und weitergetragen
werden muss. Aber nicht nur in schriftlosen oder „oralen“ Genossenschaften deckt sich
die Dauer des Gebrauchten mit dem Insgesamt des kulturellen Gedächtnisses. In
Schriftkulturen breitet sich überlieferter, in magischer Formen ausgelagerter
Wahrnehmungsvermögen zu riesigen Archiven, von denen nur mehr oder weniger
beschränkte zentrale Teilbereiche wirklich bewohnt, gebraucht und bewirtschaftet
werden, während sich darum herum Gebiete den nicht mehr Verwendeten ablagern, die
im Grenzfall dem völlig weglaufen und vergessen gleichkommen55.
Aleida Assmann hat daher zwischen Funktions- und Speichergedächtnis einen
Unterschied gemacht. Das besondere des kulturellen Gedächtnisses ist es, durch die
52
Zitat: In: Konzepte der Kulturwissenschaften Theoretische Grundlagen- Ansätze- Perspektiven, Hg. V.
Anssgar u. Vera Nünningen, Satuttgart/ Weimar 2003, S. 172.
53
Vgl. Gansel, Carsten: Magisterseminar: Das Prinzip Erinnerung in der deutschen Gegenwartsliteratur
nach 1989
54
vgl. Mauser, W/ Pfeiffer.J: Erinnern. Veröffentlicht von Königshausen und Neuman 2004. S.5.
55
vgl. Jan, Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis. C.H.Beck 2007., S.38
20
Auslagerung von Erinnerungen, Wissen und Erfahrung auf einen komplexen
Überlieferungsbestand parabolischer Formen zeitliche Beständigkeit zu bewahren. Die
Veräuβerung des Gedächtnisses ist ein „Akt der Semiotisierung“56 von Artefakten wie
Skulpturen, Bildern, Texten, Architektur und Rituale, aber auch zeitlicher und
räumlicher Ordnung wie Landschaften und Denkmäler bzw. Bräuchten und Festen.
Das kulturelles Gedächtnis ist daher keine Metapher, dagegen umfasst tatsächliche
„lieux de memorie“.57 Für das kulturelles Gedächtnis wichtig sind nicht die faktischen,
sondern nur erinnerte Geschichten. Man kann also sagen, dass im kulturellen
Gedächtnis faktische Geschichten in erinnerte und damit in Mythos58 transformiert
wird. Durch Erinnerung wird die Geschichte zu einem Mythos. Aus diesen Grund wird
sie nicht unrealistisch, sondern im Gegenteil erst Realistisch in Sinne einer
fortdauernden formativen und normativen Kraft. Zu erwähnen ist in diesem
Zusammenhang, dass die Merkmale des kulturellen Gedächtnisses folgendermaβen
sind:
Erstens, bedarf der Überlieferungsbestand des kulturellen Gedächtnisses im historischen
Wandel der dauernden Anpassung und Erneuerung sowie der Diskussion und Deutung.
Zweitens, ist das Problem des kulturellen Gedächtnisses die Tendenz zur Entfernung
vom lebendigen Bewusstsein
Drittens, ist die Konservierung und Pflege der Bestände für diese Gedächtnisform die
Voraussetzung. Erst durch individuelle Wertschätzung, Wahrnehmung und Aneignung,
wie Medien, kulturelle Einrichtungen und Bildungsinstitutionen vermitteln, wird das
kulturelle Gedächtnis geformt.
Viertens, hilft es den Bürgern einer Gesellschaft, in langfristiger historischer
Perspektive überlebenszeitlich zu kommunizieren.
Und fünftens, wiedersetzt sich den typischen Engführungen des kollektiven
Gedächtnisses, d.B. Seine Bestände lassen sich nicht vereinheitlichen und politisch
instrumentalisieren59
56
Vgl. Assmann, J. : Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in früheren
Hochkulturen. Verlag C. H. Beck München 2005. S.77.
57
Nora: Zwischen Gedächtnis und Geschichte, S. 32.: Zu verschiedenen „ Erinnerungsorten:“ vgl. auch
Assmann, A. : Erinnerungsräume, S.298.
58
Mythos – ist eine fundierende Geschichte , eine Geschichte, sie erzählt wird, um eine Gegenwart vom
Ursprung her zu erhellen. (vgl.J.Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. S.52.)
59
Vgl. Gansel, Carsten: Magisterseminar: Das Prinzip Erinnerung in der deutschen Gegenwartsliteratur
nach 1989.
21
2.3. Funktions- und Speicher Gedächtnis.
Das kulturelle Gedächtnis bildet sich nicht nur nachträglich durch Aufsammeln und
Beibehalten, sondern auch beharrsam als Selektion einer Mitteilung und Sammlung
eines Erbes für die Nachwelt einer unbestimmten Zukunft. Um dies besser zu erfassen,
müssen
wir
die
„Speichergedächtns“
Dynamik
und
des
dem
kulturellen
Gedächtnisses
„Funktionsgedächtnis“
zwischen
unterscheiden.
dem
Diese
Unterscheidung bringt die Struktur vom Gedächtnis ab, in dem Erinnern und Vergessen
nahe ineinander greifen und beieinander liegen.
„Denn vieles, was wir vergessen haben, ist nicht für immer verloren, sondern
uns nur zeitweise unzugänglich“.60
Was in einem Gedächtnis aus irgend einen Grund des Vergessens zurückgesunken ist,
kann unter bestimmten Aspekten wieder an die Auβenseite steigen. Was wir Vergessen
nennen, ist im Prinzip ein latentes Gedächtnis, zu dem wir nur die Chiffre verloren
haben; wenn es nicht beabsichtigt getroffen wird, kann ein Stück von der Vergangenheit
zurück kehren.61 Wir können nur von solch einer Rückkehr sprechen, wenn konkrerte
Elemente der im Speichergedächtnis sedimentierten Überlieferungsbestände auf eine
neue Art und Weise vom Erkenntnis der Gegenwart angestrahlt werden, wobei die
Überlegungen der Gegenwart anhand bestimmter Bestände sich umgekehrt formieren.
Nach Aleida Assmann kommen dann die Spuren der Vergangenheit, mit den
Überlegungen der Gegenwart in eine Lesbarkeit. Was charakteristisch für das
Funktionsgedächtnis ist, ist ein ständiger, notorischer Platzmangel. A. Asmmann meint
damit, was ins Funktionsgedächtnis hineingelangt, ist durch drastische Verfahren der
Auswahl hindurchgegangen. Was eine Aufnahmemöglichkeit im Funktionsgedächtnis
einer Gesellschaft hat, hat auch Anforderung auf immer neue Deutung, Aufführung,
Lektüre und Ausstellung. Solche andauernde Betreuung und Auseinandersetzung kann
dazu führen, dass konkrete kulturelle Artefakte nicht unbekannt werden und gänzlich
schweigen, sondern über Generationen hinweg renoviert werden durch die Vermittlung
mit einer ständigen anderen Gegenwart. Nach einer weiteren Untersuchung von A.
60
Zitat: Assmann, Aleida: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur
Geschichtspolitik. C. H. Beck 2006 S.55 .F. G. Jürgen spricht in seinem Buch „ Gedächtnis
Erinnerung“ von <Verwahrensvergessen>.
61
vgl. Assmann, Aeida: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur
Geschichtspolitik. Von individuellen zu kollektiven konstruktionen der Vergangenheit. SpeicherFunktionengedächtnis. S.55. C. H. Beck 2006 .
22
und
und
und
und
Assmann, ergibt sich das Speichergedächtnis als ein Gedächtnis, dass aufs Ganze
gesehen einen geringen Teil kultureler Erbschaft bringt. Das bedeutet, es ist schon
immer ein Resultat des Vergessens gewesen. Auch hier wirken Mechanismen der
Vernichtung, der Auswahl, der Entwertung und des Verlustes. Die Pflege und
Konservierung der Bestände sind deshalb die Bedingung für ein kulturelles Gedächtnis.
Doch erst durch persönliche Wahrnehmung, Hochachtung und Aneignung, die durch
Medien und kulturelle Einrichtungen und Bildungsinstitutionen übertragen werden,
wird daraus auch ein kulturelles Gedächtnis. Das Speichergedächtnis ist ein kulturelles
Dokument, in dem ein bestimmter Anteil der materiellen Überreste verblühten Epochen
aufgehoben wird, als diese ihre lebendigen Kontexte und Bezüge zu schweigsamen
Zeugen der Vergangenheit, wenn die mit ihnen nah vertrauten Mitteilungen und
Erinnerungsvermögen verloren gegangen sind.62 A. Assmann berücksichtigte, dass die
im Speichergedächtnis aufbewahrten Überreste unterscheiden sich ausffallend von den
in Funktionsgedächtnis aufgehobenen Artefakten, die gegen den Verfahren des
Fremdwerdens und Vergessens separat gestützt sind. Solche institutionell hergebrachte
Langzeitstabilität der Artefakten schlieβt hingegen Erneuerung und Wandel im
kulturellen Gedächtnis in keiner Weise aus. Diese entstehen dadurch , dass zwishen den
Funktions- und Speichergedächtnis die Grenze nicht hermetich ist, sondern in beiden
Richtungen
ausgeleuchteten
<aktiven>
Funktionsgedächtnis
fallen
beständige
Bestandteile ins Archiv zurück, die an Beteiligung verlieren. Aus dem <passiven>
Speichergedächtnis können neue Enthüllungen ins. Funktionsgedächtnis herausgeholt
werden. Anhand der oben genannten Diskussionsbeiträgen lässt sich feststellen, dass
das eine ist ein individuell angeeignettes Gedächtnis, das aus dem Verfahren der
Rahmenbindung hervorgeht, das andere gleicht einem „nicht begrenzten Archiv mit
seiner ständigen sich vermehrenden Masse von Informationen, Dokumenten, Daten,
Erinnerungen.“63
Das
Funktionsgedächtnisses.
Speichergedächtnis
Zwischen
den
beiden
bildet
das
Fundament
Gedächtnissen,
also
des
zwischen
aktualisierten und nichtaktualisierten Elementen, spielt sich ein Binnenverkehr ab. Er ist
62
vgl. Assmann, A.: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.
Von individuellen zu kollektiven konstruktionen der Vergangenheit. Speicher- und
Funktionengedächtnis. S. 57. C. H. Beck 2006
63
vgl. Assmann, A: Erinnerungsräume: Formen und wendungen des kulturellen Gedächtnisses.
München, 1999, S.137.
23
die „Bindung der Alternative von Umbildung und Erneuerung in der Struktur des
Bewusstseins, das ohne den Hintergrund jener amporhen Reserve ertarren würde.64
Über ein Funktionsgedächtnis errichteten sich kollektive Handlungsobjekte wie Nation
oder Staat, weil sie sich in ihm eine konkrete Vergangenheitskonstruktion herrichten.
Dagegen das Speichergedächtnis begründet keine Identität. Seine bestimmende Aufgabe
besteht darin, mehr und anderes zu erhalten, als es das Funktionsgedächtnis zulässt.
Auf die Rolle des Funktionsgedächtnisses eingehend nennt Aleida Assmann
Legitimation, Delegitimation und Distinktion. Der Weg zur permanenten Erneuerung
setzt
eine
hoche
Durchlässigkeit
der
Grenze
zwischen
Funktions-
und
Speichergedächtnisses voraus. Wird die Grenze offengehalten, kommt es viel leichter
zu einem Austausch der Elemente und einer Unstrukturierung der Sinnmuster. Wenn
man nach der Brauchbarkeit der beiden Gedächtnissen fragt, lässt sich feststellen, dass
die Kulturwissenschaften keins verallgemeinern.
„Gewiss ist nur, dass weder Kulturen ohne kollektives Gedächtnis
überlebensfähig sind noch Individuen ohne persönliche Erinnerung “.65
64
vgl. B. Neuman/ D. Albrecht/ A. Tolarczyk: Literatur, Grenzen, Erinnerungsräume: Erkundungen des
deutsch-polnisch-baltischen Ostseeraumes als einer Literaturlandschaft. Königshausen und Neumann.
2006
65
Zitat: H.Böhme/ P.Matussek/L.Müller: Orintierung. Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will.
Hamburg 2000, S.154.
24
2.4. Täter - Opfergedächtnis.
Man definiert einen Täter als einen Menschen, der eine Straftat begeht, oder der in
einen Verbrechen teilnimmt. Und unter dem Begriff Opfer versteht man jemanden, der
durch jmdn., etweder umkommt oder einen Schaden erleidet. Diese beiden Begriffe sind
neu in der Geschichte, wo es nur von Verlierern und Siegern die Rede war.
„Während des totalen Krieges, den die Deutschen in erbarmungsloser Weise
entfesselt und mit dem sie ganz Europa in Brand gesteckt haben, wurden immer
gröβere Teile der Zivilbevörkerung in den mörderischen Strubel
hineingerissen.“66
Dieser Krieg blieb dabei nicht auf militarische Maβnahmen beschränkt. Die
Vernichtung der Juden ist im Schutz und Schatten dieses Krieges erheblich umgesetzt
worden. Deshalb standen sich nach diesem Krieg nicht mehr Besiegte und Sieger
gegenüber, sondern auch Opfer und Täter. Oft wird auch in der Geschichte vom
„Opfer-Täter“ Aspekt gesprochen. Insbesondere in den Nachkriegsjahren war es von
groβer Bedeutung für die Deutschen, dass sie sich an irgendetwas festhalten konnten,
und aufgrund dessen entstand auch der „Opfermythos“. Dies war auch sehr wichtig für
die eigene Echtheit der Deutschen, die sich in den 50- ger Jahren und am Anfang der
60- ger Jahre von neuem aufbaute:
„(...) die Möglichkeit, eine positive, von eigener historischer Schuld weitgehend
unbelastete Identität zu entwickeln, die der Tätergeneration die
Auseinandersetzung mit dem Holocaust und den Verbrechen des
Nationalsozialismus sowie mit der Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg
erleichterte oder gänzlich ersparte. Die mögliche Erinnerung an den Holocaust
und die Kriegsverbrecher wurde so in der Nachkriegszeit von der Erinnerung an
die eigene Opfer überlagert.“67
Seit 1989/90 hat sich unter Flüchtlingen, Aussiedlern und Vertriebenen sowie ihren
Nachfahren eine Art des privaten Erinnerns entwickelt. Beteiligte der
Erinnerungsliteratur der letzten Jahrzehnte sind Verlierer und Sieger sowie Täter und
Opfer, d.h. jene Gemeinschaft, die als Erwachsene den Holocaust, den
Nationalsozialismus und vor allem den Krieg er- und überlebten, mitgestalteten bzw.
66
Zitat: Assmann, A: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Opfer und
Täter. S. 72.C. H. Beck 2006
67
Zitat: Münz, Reiner ;Ohliger, Reiner : Auslandsdeutsche. In : Francois, Etienne; Schulze, Hagen
(Hgg.): Deutsche Erinnerungsorte I. München: C. H. Beck. 2001. S. 385.
25
ausführten.68 Aleida Assmann kategorisiert das Kollektivgedächtnis nach 1845 als
Täter- und Opfergedächtnis. Kennzeichen solcher Gedächtnistypen ist, dass sie
komplexe und vielfältige Gesichts- Erfahrung auf ein Erlebnis reduzieren, um aus ihm
die Vergangenheit für die Handlungszusammenhänge der Gegenwart zu
instrumenlalisieren.69 Das Tätergedächtnis ist das logische Gegenbild zum
Opfergedächtnis. In ihm führt jedoch der Affekt nicht nur zur Stabilisierung, sondern
zur massiven Ablehnung von Erinnern, zumal sich das Tätergedächtnis weder auf
öffentliche Rituale und Symbole noch auf politische Sinngebung stützen kann.
Erlittenes Leid, Schmerz und erfahrenes Unrecht schreiben sich über Generationen tief
ins Gedächtnis ein, Scham und Schuld dagegen führen zum Abdecken durch
Schweigen.70 Das Tätergedächtnis verfestigt sich von innen durch ein kollektives
Verhalten des Verdrängens und Beschweigens, der auch noch die nachstehenden
Generationen in seiner Acht zieht, und von auβen durch die Erinnerung des betroffenen
Opfergedächtnisses. Die Ersten, die die Funktion des Tätergedächtnisses kennenlernten,
waren die Soldaten, die aus dem Krieg nach Hause kehrten. Sie hatten das Gefühl, dass
ihnen nicht der Respekt und die Ehre erwiesen worden war, die sie für ihre
Gefangenschaft und für ihren Kriegsdienst verdienten. Anstatt als vaterlandsliebend
geheiβen zu werden, wurden sie sehr stark mit der Gesellschaft konfrontiert. Einen
konkreten Beispiel ist es schwer für das Tätergedächtnis zu finden, denn so leicht es ist,
fremde Schuld zu erinnern, desto schwierig ist es dagegen, der eigenen Schuld
eingedenk zu sein. Das bedarf gewöhnlich einen starken äuβeren Druck. Die
paralysierenden Folgen eines Tätergedächtnisses, die den Drang zu vergessen haben
und die Sehnsucht nach einem Schluβstrich die Mitscherliches präzise beschreiben.
Dem Opfergächtnis entspricht kein klares Tätergedächtnis, denn grade Täter sich nicht
um öffentliche Anerkennung bemühen, sondern im Gegenteil um Unsichtbarkeit.71.
Elend stärkt das Selbstbild, Schuld droht es zu vernichten. Dadurch entsteht die
fundamentale Asymetrie zwischen Opfer- und Tätergedächtnis. Der beschlieβende
Unterschied zwischen dem Verhältnis von Besiegten und Siegern einerseits und
zwischen Opfern und Tätern anderseits ist der, dass zwischen letzteren keinerlei Arten
68
vgl. Behnken, Imbke/ Mikota, Jana: Gemeinsam an der Familiengeschichte arbeiten. Texte und
Erfahrungen aus Erinnerungswerkstätten. Jurenta Verlag, 2008, S.32.
69
vgl. Urban, Annika : Zur Erinnerungskultur in Deutschland- am Beispiel der Gedenktage
von 1871 bis in die Gegenwart. Veröffentlicht von GRIN Verlag, 2007. S.24.
70
vgl. Assmann, Aleida/ Frevert,Ute: Geschichtsvergessenheit..Stuttgart 1999. S. 45.
71
vgl. Assmann, A: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und
Geschichtspolitik. Tätergedächtnis. S. 81.C. H. Beck 2006 .
26
der Wechselseitigkeit vorhanden sind. Wo überhaupt nicht gekämpft wird, sondern es in
einer entsetzlichen Asymmetrie von überwältiger Macht und hilflosen Ohnmacht nur
Vernichtung und Verfolgung gibt, kommen auch keine politischen Ziele, Werte oder
Motive ins Spiel, die die Verfolgten hätten gegen die Vernichtungskraft aufbieten
können.72. Die Verfolgten waren keine Widerstandskämpfer, sondern nur passive Opfer,
die sich auf das, was ihnen herankommen, in keiner Weise bereitmachen, schon gar
nicht zur Wehr setzen konnten. Solch eine Erfahrung war mit den heroischen Formen
der Erinnerung und der Erfahrungsverarbeitung nicht mehr zu fassen. Für diese
Erinnerung entsteht eine neue Form des Problems, die sich erst über Jahrzehnte hinweg
entwickelte und um den neuen Begriff des Traumas kristallisierte.
Das traumatische Opfergedächtnis unterscheidet sich in vielem vom heroischen
Opfergedächtnis. So problemlos es ist, sich der Macht und der Verluste im Modus des
heroischen Opfers zu erinnern, so hoffnungslos ist dies im Modus des traumatischen
Opfers.73 Nach dem Zweiten Weltkrieg ist das Tätergedächtnis in Deutschland von der
Abwehr von Erinnerung und dem Bedürfnis nach einem Neubeginn ohne Aufarbeitung
der Vergangenheit gekennzeichnet. Gleichzeitig formiert sich unter den Opfern des
Nationalsozialismus ein Opfergedächtnis innerhalb jener Gruppen, die ein politisches
Kollektiv gründen können. Es zielt darauf ab, die Erinnerung an das erlittene Unrecht
wach zu halten und in die eigene Identität einzubinden.
„Verbrechen gegen die Menschlichkeit, werden nicht durch Vergessen, sondern
in einer von Opfern und Tätern geteilten Erinnerung aufgehoben“.74.
Dies bedeutet, dass für die Traumata der Geschichte, die nicht aus Kriegshandlungen,
sondern aus Taten der Dehumanisierung, Ausbedeutung und Zerstörung unschuldiger
Menschen hervorgehen, gibt es keine hochbringende Kraft des Vergessens.
72
vgl. Assmann, A: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und
Geschichtspolitik. Heroisches und traumatisches Opfergedächtnis. S.74.C.H.Beck 2006 .
73
vgl. Assmann, A: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und
Geschichtspolitik. Heroisches und traumatisches Opfergedächtnis.S.74.C.H.Beck 2006 .
74
Zitat: Assmann, A: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und
Geschichtspolitik. Die Wende im Opfergedächtnis. S.79. C.H.Beck 2006
27
3. Zur Rethorik der Erinnerung in „Im Krebsgang“ von
Günter Grass.
Nach einer ausführlichen Beschreibung der Theorie, komme ich nun zum Gegenstand
einer narratologischen Analyse.
3.1. Zum Inhalt des Textes.
Günter Grass greift in seiner Novelle „Im Krebsgang“ ein jahrelang Zeit tabuisiertes
Thema auf: Das Elend der ostpreuβischen Flüchtlinge am Ende des Zweiten
Weltkriegs.75 Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht die Versenkung des
Kreuzfahrschiffes „Wilhelm Gustloff “am 30. Januar 1945. Grass setzt das Schicksal
von drei realen Personen (Willhelm Gustloff, David Frankfurter und Alexander
Marinesko) mit dem Schicksal einer fiktiven Familie (Tulla, Paul und Konrad
Pokriefke) zusammen. Paul Pokriefke, der auch der Ich- Erzähler der Novelle ist, wurde
am Tag der Versenkung (30. Januar 1945) des Kreuzfahrschiffes „Wilhelm Gustloff
geboren. Seine noch frische , werdende Mutter Tulla Pokriefke, hält sich unter den
Passagieren auf und wird beim Untergang des Schiffes gerettet werden. Pauls Leben ist
durch dieses Ereignis geprägt, vor allem weil seine Mutter ihn ständig drängt, die ganze
Geschischte schriftlich aufzuschreiben.
„Wie aisig die See jewesen is und wie die Kinderchen alle koppunter. Das muβte
aufschraiben. Biste ons schuldig als glücklich Leberlebender. Werde ech dir
aines Tages erzählen, klitzklein, ond denn schreibst auf...“ 76
Im Laufe der Geschichte stellt Paul ( mittelmäβiger Journalist) fest, dass sein Sohn
Konrad der durch zahlreiche Geschichten von der Vergangenheit, die von seiner
Groβmutter erzählt worden sind, ebensfalls Interesse an der vom Untergang entwickelt
hat.77 Paul verfolgt dem nicht in Wirklichkeit vorchandenen Streit Durch Zufall findet
Paul im Internet die Webseite „www.blutzeuge.de“, auf deren der 1936 von dem Juden
David Frankfurter ermordeten Nazi Wilhelm Gustloff als Märtyrer gefeiert wird.
Konrad auch Konny genannt ist anonym in dieser virtuallen Welt und kann sich mit
anderen Chattern über die Gustloff- Thematik zwischen den Feind- Feunden mit dem
75
Vgl. http://www.dieterwunderlich.de/Grass_krebsgang.htm#cont. 26.04.2009.
Grass, Günter: Im Krebsgang. Eine Novelle. München, 2002, S. 31.
77
Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Im_Krebsgang. 26.04.2009.
76
28
Chatnamen David und Wilchelm, was ihnm nicht am Anfang bewusst wird, dass unter
dem Chatnamen Wilhelm, sein Sohn Konrad steckt. Nach zahlreichem Chatten, kommt
es zur einer Begegnung zwischen den Beiden „Freund- Feinden“. Beim Treffen befleckt
Wolfgang in Konrads Augen die damalige Gedenkstätte Gustloffs in dem er drei mal
Spuckt, sodass Konny, der zum Schluss der Novelle ohne Wahrnehmungsvermögen für
die Wirklichkeit rechtsradikal geworden ist, erschieβt David, um den Blutzeugen zu
bestrafen. Was sich zum Schluss herausstellt, war Wolfgang Stremplin kein Jude, er hat
sich nur als Jude im Internet ausgegeben. Als sich Konny der Polizei stellte, sagte er:
„Ich habe geschossen, weil ich Deutscher bin- und weil aus David der ewige
Jude sprach. „78
Nach dieser schrecklichen Tat, wird Konrad zu 7 Jahren Gefängnis verurteilt.
Zum Schluss dieser Novelle muss der Ich- Erzähler entsetzt feststellen, dass sein
eigener Sohn als neuer Blutzeuge auf der Webseite „www.kameradschaft-konradpokriefke.de“ gefeiert wird. Das Buch endet mit den pessimistischen Worten:
„Das hört nicht auf. Nie hört das auf.“ 79
Mit diesem Buch und dieser Geschichte, wollte Grass die
„Erfahrungen dreier Generationen, der Tullas, ihres Sohnes und ihres Enkels, zu
schildern und darzustellen, wie irregeleitet heute junge Menschen auf die
Geschichte reagieren.“80
78
Grass, S. 189.
Grass, S. 216.
80
Grass, Günter: Falsche Folkrole und erfundene Volkstänze. Ein Gespräch mit dem Nobelpreisträger G.
Grass und den Historikern Michael Jeismann und Kasrl Schlögel. In: Literaturen. Das Journal für Bücher
und Themen. Berlin: Friedrich Berlin Verlag, 2002, Nr. 5, S. 21.
79
29
3.2. Die Multiperspektivität von Vergangenheit.
3.2.1. Figurendarstellung der drei Generationen in der Novelle.
Anhand der Novelle „Im Krebsgang“ von Günter Grass wird der Aspekt der
Figurenkonstellation gezeigt. Was hier nicht zu übersehen ist, sind die drei
Generationen die verschiedene Vergangenheitsversionen der Erinnerung darstellen.
Damit hängt die Multiperspektivität zusammen. Dasselbe Geschehen oder Ereignis wird
aus unterschiedlichen und konkret aus drei Blickwinkeln präsentiert.
„Wenns die Fotos noch jäb, die auffe Justloff jeknipst wurden, kennt ech diä
zaigen, was die alles jesehen ham in die paar Tage nur...“ 81
Die Erinnerung und besonders die Erinnerungen von Tulla sind ganz klar und konkret.
Das Erinnern selbst ist hier ein Gegenstand der internen Fokalisierung 82- man kann
behaupten einer Felderinnerung, d.h. einer Erinnerung an ein Ereignis das mam mit
„eigenen Augen“ gesehen hat. Der Ich –Erzähler Paul erinnert sich an das gleiche
Ereignis aus einem ganz anderen Blickwinkel- nur aus den Erzählungen seiner Mutter.
Seine Erinnerungen sind eher Beobachtererinnerungen.
„Ich erinnere mich nicht, aber Mutter weiβ genau, wann während der ersten
Nachkriegsjahre ( ...), was die Bürger der Stadt an den Blutzeugen hätte erinnern
könne.“83
„Auf die Minute jenau als die Justloff absoff<, wie Mutter behauptet, oder wie
ich sage(...)“84
Pauls Erinnerungen sind oberflächlich, denn er kennt die Gustloff- Geschichte von der
Sicht seiner Mutter. Er berichtet und kommentiert die ganze Geschichte und Ereignisse
mit Distanz.
81
Grass, S. 66.
Interne Fokalisierung- ( nach G.Genette)- der Erzähler sagt nicht mehr, als die Figur weiβ
83
Grass, S. 37.
84
Grass, S. 145
82
30
3.2.1.1. Tulla - die Alte als gescheiterte Vergangenheitsbewältigung.
Tulla Pokriefke, Mutter von Paul Pokriefke ist die Hauptfigur in Günter Grass Novelle
„Im Krebsgang“. Als ein junges noch dazu schwangeres Mädchen überlebte sie die
Gustloff- Katastrophe. Während der Tragödie bringte sie ihren Sohn Paul zur Welt. Wer
Pauls Vater ist, wird nie festgestellt :
„Das ist dein Vater, nähm ech an. Is ain Kusäng von mir. Der hat miä, kurz
bevor er zum Barras muβte, dickjemacht. Jedenfalls globt der das.“ 85.
Tulla spricht kein Hochdeutsch, sondern „Langfurisch“, wie es aus den Zitaten
hervorgeht. Während der Versenkung sind ihre Eltern ums Leben gekommen. Nach
dem Krieg kommte sie als Umsiedlerin nach Schwerin, wo sie eine Lehrstelle bei einem
Meister machte. Ihr ganzes Stolz war der Sohn Paul :
“Main Paulchen is was janz Besonderes!86. „Von saine Jeburt hag ech jewuβt,
aus dem Bengel wir mal ne richtige Beriemthait“87.
Während Pauls Bildung, wohnt er bei Tullas Freundin Jenny in West-Berlin. Er bleibt
mit seiner Mutter ständig im Kontakt. Als Paul Journalist geworden ist, meint Tulla,
dass es seine Aufgabe und besonders seine Pflicht sei als einer von wenigen
Überlebenden, darüber zu berichten:
„wie aisig die See jewesen is und wie die Kinderchen alle koppunter. Das
musste aufschraiben. Bisteons schuldig als glicklich Iberlebender.“88.
Hoffnungslos suchte sie nach einem Zeugen für ihr Zeugnis, der ihrer Historie
Nachdruck verleihen und sie zum Objekt eines bleibenden zugänglichen Gedächtnisses
machen soll.89 Tullas Bessesenheit auf die Katastrophe ist kein Geheimnis, sie sagt:
„Ech leb nur noch dafier, dass main Sohn aines Tages mecht Zeugnis ablegen“90
In der DDR durfte Tulla über die Katastrophe nicht reden, denn es war ein Tabuthema:
„Jeber die Justloff nich reden jedurft hat. Bai ons in Osten sowieso nich. Ond bai
dir in Westen ham se, wenn ieberhaupt von frieher, denn immerzu nur von andre
85
Grass. S. 20.
Grass. S. 42.
87
Grass. S. 42.
88
Grass. S. 31.
89
Vgl. Assmann, A. : Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und
Geschichtspolitik. Vertreibung ( Günter, Grass, Im Krebsgang) .C.H.Beck 2006. S. 196.
90
Grass. S. 19.
86
31
schlimme Sachen, von Auschwitz und so was jeredet. Main Gottchen! Was ham
die sich aufjeregt ons im Parteikollektiv, als ech mal kurz was Positives ieber
Kaadeffschiffe jesagt hab, dass nähmlich die Justloff ein klassenloses Schiff
jewesen is...“(...). Muβ fast wie bai ons inne Deedeär jewesen sain, nur scheener
noch...“ 91
Mehrere Bücher über die Versenkung des Schiffes, hat Heinz Schön einer der
Überlebenden geschrieben.
„Doch in der DDR waren seine Bücher, die im Westen einen Verleger fanden,
unerwünscht. Wer seine Berichte gelesen hatte, blieb stumm. Ob hier oder
drüben, Schöns Auskünfte waren nicht gefragt. Selbst als mit Hilfe seiner
beratenden Assistanzen gegen Ende der fünfziger Jahre ein Film- Nacht viel
über Gotenhafen- gedreht wurde, blieb das Echo mäβig. Zwar gab`s vor gar
nicht so langer Zeit im Fernsehen eine Dokumentation, doch ist es immer noch
so, als könne nichts die Titanic übertreffen, als hätte es das Schiff Wilhelm
Gustloff nie gegeben, als fände sich kein Platz für ein weiteres Unglück, als
dürfte nur jener und nicht dieser Toten gedacht werden.“92
Tulla war mit der Zeit sehr enttäuscht von ihren Sohn Paul und nennte ihn „ain
Shlappjä“93. Ihre Hoffnung setzt sie jetzt auf ihren Enkel Konrad indem sie ihm ständig
über die Versenkung des Schiffes `Willhelm Gustloff`` erzählte. Tulla kaufte und
schenkte Konrad einen Computer:
„Na, vleicht wird mal main Konradchen eines Tages drieber was schraiben...“94.
Pauls ausgesprochene Bitte „(...) Konny mit Vergangenheitsduseleien zu verschonen“95
hat sie leider überhört. Tulla kaufte ihrem Enkel eine Waffe, damit er sich gegen
anderen verteidigen kann. Wie man sieht hat Tulla Pokriefke einen zerstörerischen
Einfluss auf Konrad. Als es zu einer Tragödie kam, indem Konrad Dafid erschieβt,
spielt sie eine anständige, brave und alte Frau, die sich ausschlieβlich zu ihren Enkel
benommen hat. Paul beschuldigt seine Mutter für das Scheitern seines Sohnes:
„Knapp fünfzehn war er, als sie ihn süchtig werden lieβ. Sie, nur sie ist schuld,
daβ es mit dem Jungen danebenging. Jedenfalls sind Gabi und ich darin
immerhin einig: als Konny den Computer geschenkt bekam, begann all das
Unglück.“96
91
Grass. S. 50.
Grass. S. 62.
93
Grass. S. 93.
94
Grass. S. 92.
95
Grass. S. 92.
96
Grass. S. 68.
92
32
Was die Person Tulla Pokriefke betrifft, ist sie eine ganz normale, aber sehr intelligente
und schlaue Frau. Sie zeigt sich von der Seite eines Opfer und baut bei ihren Sohn Paul
Schuldgefühle auf.
In der Novelle hat Tulla die Rolle der Ewiggestrigenen.97 Sie ist zwischen zwei
Weltkriegen geboren und als 18- jährige Passagierin den Untergang der Wilhelm
Gustloff selbst miterlebt. Sie versucht, für das Leid der Kriegsflüchtlinge, die
Tabusierung des Themas in der Gesellschaft zu durchbrechen. Aufgrund dessen
verkündet sie zu jeder Gelegenheit, egal ob passend oder nicht, ihre Erinnerungen an
den Untergang und die Katastrophe98. Da sie nur aus einer eingeschränkten Sicht ihre
Erinnerungen an den Untergang des Schiffes erinnert, die noch ein Kind zur Welt
während der Rettung brachte, sind ihre Erzählungen genauer gesagt ein Konglomerat
aus eigenen Informationen und Erinnerungen. Der Ich- Erzähler zeigt, dass die
Erinnerungen und Erzählungen Tullas unstimmig sind. Er wirft seiner Mutter vor, dass
sie sich die Vergangenheit zusammenlüge:
„Aber das stimmt nicht. Mutter lügt.“99
Grass benutzt „für Tullas Erinnerungen Details wie z.B. die Erinnerung an den Anblick
der ertrunkenen Kinder „das is passiert, als ech all die Kinderchen koppunter jesehen
hab...“100, die er aus Augenzeugenberichten von Überlebenden entnommen hat“.101
Obwohl der entsetzlichen Erinnerungen durch die Gustloffs Katastrophe vertritt Tulla
verblüffenderweise zumeist die These „von dem schönen Kdf- Dampfer voller Frauen
und Kinderchen“102 die sie sich durch Erlebnisse und Geschichten ihrer Eltern
angeeignet hat.
„Als ich ein Kind war, hat mir Mutter, sobald der ewigwährende Untergang
wieder mal Sonntagsthema war, mit Hingabe auf Langfursch versichert, wie
begeistert ihr Papa von einer norwegischen Trachtengruppe und deren
Volkstänzen, dargeboten auf dem Sonnendeck des Kdf- Schiffes, erzählt hat.“103
97
Ewiggestrige- der/die <Ewiggestrigen, Ewiggestrigen> (abwert.) Mensch, dessen Ansichten veraltet
und rückständig sind. http://de.thefreedictionary.com/Ewiggestrige. 1.5.2009.
98
Vgl. Giese, Nicole/ Grass, Günter/ Dückers, Tanja: Geschichtliche Wirklichkeit als erzählte
Erinnerung- der Untergang der Wilhelm Gustloff als Motiv in den Romanen im Krebsgang und
Himmelskörper. Veröffentlicht von GRIN Verlag, 2007. S. 7.
99
Grass. S. 146.
100
Grass. S. 140.
101
Vgl. Giese, Nicole/ Grass, Günter/ Dückers, Tanja: Geschichtliche Wirklichkeit als erzählte
Erinnerung- der Untergang der Wilhelm Gustloff als Motiv in den Romanen im Krebsgang und
Himmelskörper. Veröffentlicht von GRIN Verlag, 2007. S. 8.
102
Grass. S. 180.
103
Grass. S. 33.
33
Diese Betrachtungsweise ergibt sich keineswegs aus einer rechtsradikalen Einstellung,
sondern aus ihrer naiven Schwärmerei von dem Konzept der Klassenlosigkeit des
Schiffes.104
Tulla Pokriefke steht für das Gedächtnis der Überlebenden. Grass beschreibt dieses
Gedächtnis als zersplittert, affektiv, körpernah, fragmentarisch, als bildhaft und
unwillkürlich.105
Das Gedächtnis haftet an den Szenen des Geschehens, will dieses zur Relevanz bringen„und vermag gerade dies nicht, weil es sich nicht vermitteln, nicht dem Erlebten
den angemessenen Ausruck verschaffen kann.“106
Tulla Pokriefke ist der Motor der Erinnerung, die Überlebende, die Augenzeugin, die
nach dem Sprachrohr sucht, fixiert für die Nachwelt, was sie persönlich nicht in Worte
fassen kann.107
104
Vgl. Vgl. Giese, Nicole/ Grass, Günter/ Dückers, Tanja: Geschichtliche Wirklichkeit als erzählte
Erinnerung- der Untergang der Wilhelm Gustloff als Motiv in den Romanen im Krebsgang und
Himmelskörper. Veröffentlicht von GRIN Verlag, 2007. S
105
Vgl. Mauser, Wolfram/ Pffeifer, Joachim : Erinnern. Veröffentlicht von Königshausen & Neumann,
2004. S. 125.
106
Zitat. Mauser, Wolfram/ Pffeifer, Joachim : Erinnern. Veröffentlicht von Königshausen & Neumann,
2004. S. 125. S. 125.
107
Vgl. Literatur Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.02.2002, Nr. 34, S. 56 . Hubert Spiegel. Das mußte
aufschraiben! http://www.gabrieleweis.de/2-bldungsbits/literaturgeschichtsbits/werk-matrialien/grasskrebsgang/krebsgang-rezensionen.htm . 06.05.2009.
34
3.2.1.2. Paul - die Nachkriegsgeneration.
„Warum erst jetzt?, sagt jemand, der nicht ich bin. Weil Mutter mir immer wieder...
Weil ich wie damals, als der Srei überm Wasser lag, sreien wollte, aber nicht
konnte... Weil die Wahrheit kaum mehr als drei Zeilen... Weil jetzt erst...“108
Mit diesen Worten, mit dieser Frage beginnt Günter Grass sein neues Buch das im
Februar des Jahres 2002 veröffentlicht wird.
„Warum erst jetzt?“- die Frage gilt dem Motiv, wie es in der Novelle gennant wird,
ungeheuerlichen Versäumnisses, des Versäumnissese bekanntlich, zum
Diskussionsthema eines eigenen Berichts, zur Thematik literarischer Gestaltung
gemacht zu haben.109 In der Handlung hat der Ich- Erzähler Paul Pokriefke mehrere
Gesprächspartner, die aber nicht direkt in der Novelle sich beteiligen. Der
Gesprechspartner wird wechselnd „jemand“, „er“, „der Alte“ oder „der Arbeitgeber“
genannt. Zu bemerken ist hier die Beziehung von Ich- Erzähler und der Figur des
„Alten“, der als alter ego des Autors selbst agiert und der dem Journalisten Paul
Pokriefke ersatzweise die Erinnerungsarbeit anmutet. Der Gestalt eines „Alten“ legt
Grass die Selbstanklage in den Mund:
„Eigentlich, sagt er, wäre es Aufgabe seiner Generation gewesen, dem Elend der
ostpreuβischen Flüchtlinge Ausdruck zu geben: den winterlichen Trecks gen
Westen, dem Tod in Schneewehen, dem Verrecken am Straβenrand und in
eislöchern, sobald das gefrorene Frische Haff nach Bombebabwürfen und unter
der Last der Pferdewagen zu brechen (...). Niemals, sagt er, hätte man über so
viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all
den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den
rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos...110
Ein Versagen, eine Unterlassung , ein willentliches oder halb erzwungenes
Beschweigen – in einem Leerraum einwärts sreibt der Ich- Erzähler der Novelle,
kategorisch in Stellvetretung des „Alten“, seinen Bericht.111 Der Ich Erzähler begrüdet,
aus welchem Grund er selbst nicht früher über das Drama geschrieben hat:
108
Grass, S. 7.
Gumpert, Gregor: Noch einmal: das <gemiedene Thema>. Zur literarischen Reflexion auf Flucht und
Vertreibung 1945/46. 2005, S.106.
110
Grass, S.99.
111
Gumpert, Gregor: Noch einmal: das <gemiedene Thema>. Zur literarischen Reflexion auf Flucht und
Vertreibung 1945/46. 2005, S.107.
109
35
„Sein Versäumnis, bedauerlich, mehr noch: sein Versagen. Doch wollte er sich
nicht rausreden, nur zugeben, daβ er gegen Mitte der sechziger Jahre die
Vergangenheit sattgehabt, ihn die gefräβige, immerfort jeztjeztjetzt sagende
Gegenwart gehindert habe, rechtzeitig auf etwa zweihundert Blatt Papier... Nun
sei es zu spät führ ihn.“112
Die Erörterungen zwischen dem Ich- Erzähler und dem Gesprächspartner leiten die
Handlung der Novelle weiter, während „er“ geradezu Fragen über z.B. Pauls
Erinnerung aus seiner Kindheit stellt, und dass „er“ fordert , dass der Ich- Erzähler über
die Tragödie schreiben soll. „Er“ bewertet auch das Handeln von dem Ich- Erzähler
Paul und nennt ihn z.B. „einen verspäteten Vater“113, indem er erst im Laufe des
Prozesses seinen Sohn Konrad näher kam. Das, was wir in der Novelle über die anderen
fiktiven Hauptpersonen zur Kenntnis bekommen, besteht sowohl aus den Gedanken des
Ich- Erzählers über diese Personen oder aus Zitatan anderer Beteiligter.
Paul ist schlieβlich zum Ich- Erzähler der Novelle geworden,
„da er auch von dem Alten in die Pflicht genommen wurde zu schreiben.“114
In Form von Analepsen werden die Ereignisse von dem Ich- Erzähler geschieldert:
„(...) der Zeit eher schrägläufig in Quere kommen muβ, etwa nach Art der
Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich
schnell vorankommen. Nur soviel ist sicher: Die Natur oder bgenauer gesagt die
Ostsee hat zu all dem, was hier zu berichten sein wird, schon vor längerer als
einem halben Jahrhundert ihr Ja und Amend gesagt“115
Die ganze Novelle ist sehr charakteristisch, denn lineares Erzählen wird ständig von
dem Ich- Erzähler durchbrochen:
„Jetzt muβ ich mich im Rückgriff wiedreholen.“116
Was hier nicht zu übersehen ist, dass der Ich- Erzähler die vergangengen Ereignisse aus
der Gegenwartsperspektive erzählt.
112
Grass, S.77.
Grass, S.176.
114
Zitat: Giese, Nicole/ Grass, Günter/ Dückers, Tanja: Geschichtliche Wirklichkeit als erzählte
Erinnerung- der Untergang der Wilhelm Gustloff als Motiv in den Romanen im Krebsgang und
Himmelskörper. Veröffentlicht von GRIN Verlag, 2007. S. 9.
115
Grass. S. 9.
116
Grass. S. 169.
113
36
In der Novelle drängt der genannte „jemand“ Paul dazu, entlich das Schweigen zu
brechen und die Geschichte zu schreiben. Er hat sich sehr lange Zeit geweigert über die
Gustloff Katastrophe irgend etwas zu sagen und zu schreiben:
„Noch haben die Wörter Schwierigkeiten mit mir“117
„Der Alte“ besteht darauf, dass Paul entlich beginnt zu erzählen und etwas in die Worte
zu bringen. Dies bedeutet, dass Paul keine Wahl mehr hat. Paul wird nicht nur von dem
Alten, aber besonders von seiner Mutter jahrelang dazu gedrungen „diese Geschichte“118
vom Untergang des Schiffes aufzuschreiben. Er sollte, der Zeuge, der eigentlich nichts
bezeugen konnte, ein persönliches Vermächtnis seiner Mutter erfüllen:
„Ech leb nur noch dafier, daβ main Sohn aines Tages mecht Zeugnis ablegen(...)
Das muβte aufschreiben. Bist ons schuldig, als glicklich Iberlebender. Werd ech
dir aines Tages erzählen, klitzeklain, ond denn schreibste auf(...)“119
Doch der Ich- Erzähler meint, dass er am liebsten über „die Gustloff und ihre verfluchte
Geschichte“120nicht berichten möchte. Paul selbst hat keine persönlichen Erinnerungen
an den Untergang des Schiffes und stützt sich auf unterschiedliche Medien bei der
Rekonstruktion der Vergangenheit. Er ist zwar anfangs von den Erzählungen seiner
Mutter ausgegangen, hat sich schlieβlich im Laufe der Zeit durch eine Reihe von
Veröffentlichungen zu diesem Thema gearbeitet und schlieβlich als Informationsquelle
auf das Internet gestoβen.121
„Das verfluchte Datum, mit dem alles begann, sich mordmäβig steigerte, zum
Höhepunkt kam, zu ende ging. Auch ich bin, dank Mutter, auf den Tag des
fortlebenden Unglücks datiert worden.“122
Allein von Mutter erzogen, wächst er ohne väterliche Vorbilder auf. Er sagt:
„(...) wer sie gestoβen hat, für mich hieβ ihr beliebiges Angebot: vaterlos
geboren und aufgewachsen, um irgendwann Vater zu werden.“123
Als „der Alte“ bestimmte Erinnerungen aus seiner Kindheit verlangte, sagte er:
„Da gibt`s nichts zu erinnern.“124
117
Grass. S. 7.
Grass. S. 7.
119
Grass. S. 19/ 31.
120
Grass. S. 31.
121
Vgl. Giese, Nicole/ Grass, Günter/ Dückers, Tanja: Geschichtliche Wirklichkeit als erzählte
Erinnerung- der Untergang der Wilhelm Gustloff als Motiv in den Romanen im Krebsgang und
Himmelskörper. Veröffentlicht von GRIN Verlag, 2007. S. 9.
122
Grass. S. 11.
123
Grass. S. 151.
124
Grass. S. 54.
118
37
Als er 15 Jahre alt war, hatte er „die Nase voll“125 von der DDR und besonders von
seiner Mutter und ihrer Erzählungen.
„Konnte das nicht mehr mithören, wenn sie mir, meistens Snntags, ihre
Gustloffs- Geschichten zu Klopsen und Stampfkartoffeln auftischte (...)“ 126
Paul hat mit Gabi, einer gewerkschaftlich engagierten Pädagogin, mit der er geschieden
ist, einen Sohn, den Gymnasialisten Konrad.127 Paul war für seine Mutter und Ehefrau
„der typische Versager“128. Er kommentiert die Scheidung mit Gabi auf folgende
Weise:
„Keine sieben Jahre dauerte der anstrengende Spaβ, dann war zwischen Gabi
und mir Schluβ.“129
Nach der Scheidung zeigt Paul für seinen Sohn Konrad, kein groβes Interesse.
„Mein Sohn Konrad sah ich nur besuchsweise, also selten und unregelmäβig.“130
Pauls beruflicher Entwicklungsgang scheint eher eine gewisse Laxheit in
Anschauungsfragen, eine Natur leidenschaftlosen Opportunismus wiederzuspiegeln.
Nach einem Studium der Publizistik und Germanistik, tätig als Journalist, schreibt er
zunähst für „Springer Hetzblätter“ 131
„Bin dann auch bald nach dem Anschlag auf Rudi Dutschke von Springer weg.
War seitdem ziemlich links eingestellt. Habe, weil damals viel los war, für einen
Haufen halbwegs progressiver Blätter geschrieben (...).“ 132
Zwischen einigen Artikeln liefert auch „Bekenntnishaftes zum Thema „Nie wieder
Auschwitz“.
„Immer bin ich bumüht zu gewesen, zumindest politisch richtig zu liegen, nur
nichts Falsches zu sagen, nach auβen hin korrekr zu erscheinen. Selbstdisziplin
nennt man das. Ob in Springers Zeitungen oder bei der „ taz“ habe ich nach
vorgegebenen Texten gesungen. War sogar zimlich überzeugt von dem, was mir
von der Hand ging. Den Haβ zu schaum schlagen, zynisch die Kurve kriegen,
zwei Tätigkeiten, die mir wechselweise leichtliefen. Doch bin ich nie
Speerspitze gewesen, habe niemals in Leitartikeln den Kurs bestimmt. Das
Thema gaben andere vor. So hielt ich Mittelmaβ, rutschte nie gänzlich nach
125
Grass. S. 57.
Grass. S. 57.
127
Vgl. Gumpert, Gregor: Noch einmal: das < gemiedene Thema>. Zur literarischen Reflexion auf Flucht
und Vertreibung 1945/46. S. 105.
128
Grass. S. 43.
129
Grass. S. 43.
130
Grass. S. 44.
131
Vgl. Braese, Stephan: „ Tote zahlen keine steuer“. Flucht und Vertreibund in G.Grass „Im Krebsgang“
und Hans Urlich Trechels der „ Verlorene“.In Gegenwertsliteratur 2. 2003. S. 173.
132
Grass. S. 21.
126
38
links oder rechts ab, eckte nicht an, schwamm mit dem Srom, lieβ mich treiben,
muβte mich über Wasser halten(...).“133
Die Unsicherheit, die Paul zu einem opportunisten machte, resultierte zuerst aus der
Tabuisierung dieser Gustloff Geschichte und dann aus den oft wiederkehrenden, aber
diamentralen Versionen der Vergangenheit. Paul löst entlich die Auseinandersetzung
mit der Geschichte indem er wusste, dass er vor dem eigenen Schicksal und der
Vergangenheit nicht entfliehen kann.
„Seitdem steht fest, wessen Blut zeugen soll. Aber noch weiβ ich nicht , ob, wie
gelernt, erst das eine, dann das andere und danach dieser oder jener Lebenslauf
abgespult werden soll oder ob ich der Zeit eher schrägläufig in die Quere
kommen muβ, etwa nach Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich
ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen. Nur so viel ist
sicher: Die Natur oder genauer gesagt die Ostsee hat zu all dem, was hier
berichten sein wird, schon vor länger als einem halben Jahrhundert ihr Ja und
Amen gesagt.“134
Paul beginnt sich genaue historische Angaben über die Gustloff- Geschichte zu suchen
und über die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges zu informieren. Obwohl er von seiner
Mutter viele Informationen zu hören bekommt, hält er sie nicht für glaubwürdig. Er
stellt sich oft Fragen: Ist das alles nur ein Zufall oder ist es Schicksal? Aus der
Geschichte entweichen sehr interessante, okkasionell fast ironische Redewendungen.
Über die Person Wilhelm Gustloff schreibt er:
„(...) schicke die Schweriner Lebensversicherungsbank ihren tüchtigen
Angestellten im Jahr siebzehn fürsorglich in die Schweiz, wo er in Davos sein
Leiden auskurierren sollte, woraufhin er in besonderer Luft so gesund wurde,
daβ ihm nur mit anderer Todesart beizukommen war...“135
Im Verlauf seiner Nachforschungen zu Wilhelm Gustloff stöβt Paul frühzeitig auf eine
„(...) eigens ihm gewidmete Website“, deren Chatrom er mit Interesse eine
zusehends schärfer werdende Auseinandersetzung um die Bewertung des NSFunktionärs verfolgt. Der Webmaster feiert den NS- Funktionärs als
„Blutzeuge(n) (Grass 9), „ein David“ ( Grass 48) sucht dagegenzuhalten“ 136 :
„Während der eine sich propagandisch verbreitete, etwa kundat, daβ es im Reich
zum Zeitpunkt des Prozesses 800 000 Arbeitlose weniger als im Vorjahr
gegeben habe, und darüber in Begeisterung geriet: <Das alles ist einzig dem
133
Grass.S. 210.
Grass. S. 9.
135
Grass. S. 9.
136
Zitat: Braese, Stephan: „ Tote zahlen keine steuer“. Flucht und Vertreibund in G.Grass „Im
Krebsgang“ und Hans Urlich Trechels der „ Verlorene“.In Gegenwertsliteratur 2. 2003. S.177.
134
39
Führer zu verdanken>, zählte der andere klagend auf, wie viele jüdische Ärzte
und Patienten aus Krankenhäusern und Kurorten vertrieben worden seien und
daβ das Naziregime schon am 1. April dreiunddreiβig zum Judenboykott
aufgerufen habe, woraufhin die Schaufenster jüdischer Geschäfte mit der
Hetzparole< Juda verecke> gekennzeichnet worden seien. So ging es hin und
her“ 137
Im Laufe der Zeit entdeckt Paul im Internet auf einer Website signifikante Details aus
der Kindheit seiner Mutter, Tulla Pokriefke. Nach dieser Entdeckung kommt er zum
Beschluss, dass hinter der Website „ www.blutzeuge.de“ sein leiblicher Sohn Konrad
steht, der mit seiner Groβmutter Tulla gewohnt hat. Als Paul ihn eines Tages besuchte,
konnte er sehr schnell feststellen, dass der Kontakt zu seiner Groβmutter sich sehr gut
entwickelt hat:
„Die beiden verstanden sich auf Anhieb.(...) Bin sicher, daβ Mutter ihn mit ihren
Geschichten(...) vollgedröhnt hat. (...) Wie ein Schwamm muβder Junge ihr
Gerede aufgesogen haben. Natürlich hat sie ihn auch mit der story vom
ewigsinkenden Schiff abgefüttert. Ab dan war Konny oder `Konradchen` wie
Mutter sagte, ihre groβe Hoffnung.“ 138
Der Ich- Erzähler alarmierte bei seiner Mutter und ehemaligen Frau die aufgeregten
Nachfragen, doch er wird zurückgewiesen. Die Rolle des besorgten Vaters macht bei
denen keinen Eindruck. Die Beziehungen Vater- Sohn sind hier sehr schwierig.
Eigentlich kennt Paul seinen Sohn nicht. Diese Probleme resultieren aus der Kindheit
von Paul. Der Ich- Erzähler wuchs ohne Vater und väterliche Vorbilder, sowie ohne
mütterliche Liebe, die ein Kind braucht. Im Indefekt weiβ er nich, was eine richtige
Familie ist. Man kann auch annehmen, dass Paul durch das Trauma der Versenkung des
Schiffes, keine Schuldgefühle auf seinen Sohn übertragen wollte.
„So meint der Vater des getöteten Schülers Konrad, ein Atomphysiker, es sei
wohl die rein wissenschaftliche Tätigkeit in einem nuklearen
Forschungszentrum und seine relativ kühle Betrachtungsweise der
nationalsozialistischen Herrschaftsperiode gewesen, die zur Entfremdung, ja zur
Sprachlosigkeit zwischen ihm und seinem Sohn geführt hätte.“139
Sprachlosigkeit zwischen Söhnen und Vätern, das Bewustsein der `Vaterlosigkeit`,
gesellschaftlich wie individuell, bilden in der Novelle ein Leitmotiv.
Als Folge dieser Beziehung wurde Konrad locker Erzogen .Der Vater hatte fast keinen
Kontakt zu ihn, die Mutter war viel beschäftigt mit ihrer Arbeit und die Groβmutter
137
Grass. S. 48.
Grass. S. 44.
139
Zitat: Gumpert, Gregor: Noch niemal: das < gemiedene Thema>. Zur literarischen Reflexion auf
Flucht und Vertreibung 1945/46. S. 109.
138
40
machte sich mit ihren Gustloff Geschichten aufmerksam, ohne bewusst zu wissen,dass
ihr Enkelkind als ein junger Straftäter endet, der nicht mal seine Tat bereut.
Der Erzähler selbstbesucht seinen Sohn nur selten in der Haftanstalt. Die Novelle endet
damit, dass der Ich- Erzähler eine weitere Entdeckung im Internet macht:
„Wenig Tage später, nein tags darauf hat mir jemand- er, in dessen Namen ich
krebsend vorankomme- dringend geraten, online zu gehen.(...) Muste lange
surfen.(...) Doch dann kam es dicker als befürchtet. Unter besonderer Adresse
stellte sich in deutscher und englischer Sprache eine Website vor, die als
www.kameradschaft-pokriefke.de für jemanden warb, dessen Haltung und
Gedankengut vorbildlich seien, den deshalb das verhaβte System eingekerkert
habe. „Wir glauben an dich, wir warten auf dich, wir folgen Dir... Undsoweiter
unsoweiter.
Das hört nicht auf. Nie hört das auf.“140
Der Entschluss des Ich- Erzählers ist volgendermaβen:
„Das ist es wieder, das verdammte Datum. Die Geschichte, genauer, die von uns
angerührte Geschichte ist ein verstopftes Klo. Wir spülen und spülen, die
Scheiβe kommt dennoch hoch.“141
Der grundlegende Bericht des Ich- Erzählers über dem Untergang der ` Wilhelm
Gustloff`` in der Nacht des 30. Januar 1945 nimmt in seiner Darstellung einen
geordneten Patz.
„Zwar wird permanent vorausverwiesenauf das zu gebende Zeugnis von der
katasrtrophischen Nacht. Das geschieht zum einen durch die ausgebiegen
Recherchen zu den historischen Protagonisten, die letztendlich auf das Ereignis
des Untergangs hinzuführen vorgeben. Einen ähnlichen Effekt hat aber auch der
kontinuierlich wiederholte, dadurch zusehends beteuernde wirkende Hinweis
darauf, dass dieses Unglück „von Welt vergessen“ sei „ weil verdrängt,
Legende“ , „ aus dem Gedächtnis gedrängt“, „lange vergessen „,etwas, „von
dem kein Mensch irgendwas hebe wissen wollen“.“142
Besonders diese Zeihen , die in Durchblick zu stellen scheinen, dass diesem Vergessen,
diesem Verdrängen nun, im Bericht vom Untergang des Schiffes, der Erfüllung der vom
„Alten“ gegebenen „Aufgabe“, ein Ende gemacht werden.
140
Grass. S. 216.
Grass. S. 116.
142
Zitat: Braese, Stephan: „ Tote zahlen keine steuer“. Flucht und Vertreibund in G.Grass „Im
Krebsgang“ und Hans Urlich Trechels der „ Verlorene“.In Gegenwertsliteratur 2. 2003. S.182.
141
41
3.2.1.3.
Konrad – die Enkelgeneration.
Konrad, Sohn von Paul und Gabriele Pokriefke ist in der Novelle zum gröβten Teil von
Zitaten anderer Personen oder was der Ich- Erzähler, sein Vater sagt. Es gibt nur wenige
Inhaltsangaben die etwas mehr über ihn selbst sagen. Sein Vater beschreibt ihn:
„Ein, wie ich fand, zu schnell gewachsener Junge mit Brille, der sich, nach
Meinung seiner Mutter, schulisch gut entwickelte, als hochbegabt und überaus
sensibel galt.“143
„Er ist ein typischer Einzelgänger, scher zu sozialisieren. Einige
meinerLehrerkollegen sagen, Konnys Denken sei ausschlieβlich
vergangenheitsbezogen, sosehr er sich nach auβen hin für technische
Neuerungen interessiert, für Computer und moderne Kommunikation zum
Beispiel...“144
Nach der Scheidung seiner Eltern, wuchs Konrad bei seiner Mutter in Mölln auf. Von
einer Vater- Sohn Beziehung ist nicht die Rede, denn Konrad sieht seinen Vater nur
selten. Seine Oma Tulla Pokriefke, lernt er kennen, erst als die Grenze geöffnet wird.
Konrad ist ein ganz normaler Jugentlicher, doch als er in der Pupertät ist, wird er zu
einem Auβenseiter der in seiner eigenen Welt lebt. Wegen eines Referats zum Thema
„Die positiven Aspekte der NS- Gemeinschaft Kraft durch Freude“ 145
wird Konrad von der Schule verweigert. Nach diesem Zwischenfall macht sich Paul
darüber Gedanken und schreibt:
„Gabi und ich hätten wissen müssen, was sich in Mölln abgespielt hat. Blind
gestellt haben wir uns. Sie als Pädagogin, wenn auch an einer anderen Schule,
hat bestimmt zu hören bekommen, warum ihrem Sohn ein Vortrag zu einem
brisanten Thema, wie es hieβ, „wegen abwegiger Tendenz“ verweigert worden
ist; doch zugegeben, auch ich hätte mehr Interesse für meinen Sohn beweisen
müssen.“ 146
Konrad zieht zu seiner Groβmutter Tulla nach Schwerin um. Er ist sehr neugierig auf
die Erzählungen von der Versenkung der `Wilhelm Gustloff`. Er ist schon alt genug, um
die Vergangenheit der Familie kennen zu lernen und sie zu untersuchen. Er will damit
seine Person entwickeln und seine eigene Identität verstehen. Er bekommt von
143
Grass. S. 44.
Grass. S. 67.
145
Grass. S. 184.
146
Grass. S. 184.
144
42
seiner Groβmutter einen Computer als Geschenk. Dies erleichtert ihm die Suche und
Entdeckung der Geschichte, die er ständig von seiner Groβmutter zu hören bekommt.
Tulla setzt ihre Hoffnung auf ihren Enkel Konrad:
„Na, vleicht wird mal main Konradchen eines Tages drieber was schraiben...“.147
Konrad führt im Internet eine Webseite „Kameradschaft Schwerin“ und interessiert sich
sehr stark für die historische Person Wilhelm Gustloff. Er schreibt:
„Es ist meine liebe Groβmutter, der ich im Namen der Kameradschaft Schwerin
bei ihrem weiβen Haar geschworen habe, die Wahrheit, nichts als die Wahrheit
zu bezeugen: Es ist das Weltjudentum, das uns Deutsche für alle Zeit und
Ewigkeit an den Pranger ketten will...“148
Als Konrads Vater das herausfindet, dass sein Sohn hinter der rassistischen Website
„www.blutzeuge.de“ steht, will er ihn sofort zur Rede stellen, doch das gelingt nicht:
„Seit wann interessiert dich, was ich tue? (...) Ich betreibe historische Studien.
Reicht die Auskunft?.“ 149
Doch Paul gibt nicht nach. Er versucht über Konrads Umgang mit Rechtradikalen mit
seiner Mutter Tulla und Gabi zu sprechen. Doch vergeblich. Seine Mutter meint:
„Na sowas! Jahrelang haste diä nich um onser Konradchen jekimmert, ond nun
auf ainmal heerste die Flöhe husten ond spielst ons den besorjten Papa vor...“150
Auch Gabi meint:
„Ich verbiete dir, in meinem Haus derartige Reden zu führen und meinen Sohn
des Umgangs mit Rechtsradikalen zu bezichtigen...“ 151
„Sie lacht mir ins Gesicht: Kannst du dir Konrad bei diesen Brüllaffen
vorstellen? Im Ernst! Ein Einzelgänger wie er in einer Horde? Lachhaft ist das.
Aber solche Verdächtigungen sind durchaus typisch für jene Art von
Journalismus, die du für wen auch immer betrieben hast.“152
Wenn Paul die Webseiten die sein Sohn recherchiert im Laufe der Zeit beobachtet, spürt
er immer mehr, dass durch seinen Sohn seine Mutter Tulla dahinter steckt. Paul kann
ganz genau ganze Sätze, Absätze, die Worte, die er von seiner Mutter die ganzen Jahre
gehört hat, wiedererkennen.
147
Grass. S. 92.
Grass. S. 73-74.
149
Grass. S. 76.
150
Grass. S. 74.
151
Grass. S. 74.
152
Grass. S. 74.
148
43
„Tulla hat in Paul keinen richtigen Stellvertreter gefunden, der „ihre
Lebensgeschichte “erzählen könnte. Sie nutzt Konrad aus um im Mitelpunkt zu
stehen. Konrad wird zu einem typischen „Produkt“ einer Ideologie. Er denkt
nicht nach, folgt blind, was ihm gesagt wird und überlegt nicht, was seine Tat
bewirken könnte. Auf den Webseiten beschäftigt sich sich Konrad mit den
Zitaten und Aussagen der bekannten Nazianführer.“153
Konrad begeistert sich immer mehr für den Untergang. Er interessiert sich auch für die
Geschichte des Namenspatrons des Schiffes. Auf einer Website nimmt Paul virtuell die
Rolle des Wilhelm Gustloff an, eines NSDAP-Funktionärs, der vom jüdischen
Studenten David Frankfurter erschossen und danach zum Märtyrer und Blutzeugen für
ihre Bewegung wurde. Wolfgang Stremplin nimmt die Rolle des echten David
Frankfurter an.154 Zwischen den beiden entwickelt sich eine „Feind- Freundschaft“.
Nach einer längeren Zeit der Kommunikation im Chat, beschließen die beiden an ein
reales Treffen.
„Also trafen sie einander bei schönstem Frühlingswetter (...). Ihre Begegnung
ereignete sich vor einer seit kurzem neu verputzten Fassade, die die Zeit des so
lange anhaltenden Verfalls vergessen machen sollte. Es heiβt, sie hätten sich mit
Handschlag begrüβt, und david wäre, sich vorstellen, dem lang aufgeschossenen
Konrad Pokriefke als David Stremplin entgegenkommen.“ 155
Bei diesem Treffen befleckt Wolfgang die damalige Gedenkstätte Gustloffs in dem er
dreimal Spuckt:
„Als Jude fällt mir nur soviel dazu ein< gesagt und dann dreimal auf das
vermooste Fundament gespuckt, also den Ort des Gedenkens(...).“156
Konrad wird rechtsradikal und begeht sich eines schrecklichen Mordes.
„Gleich danach fielen die Schüsse. (...) Aus einer der geräumigen Taschen, der
rechten, zog er die Waffe und schoβ viermal. Der erste Schuβ traf den Bauch,
die folgenden Kopf, Hals und Kopf. David Stremplin stürzt wortlos
rücklings.“157
Konrad legte einen groβen Wert, alles so zu schildern wie es in der Wirklichkeit war. Er
hat von der nächsten Telefonzelle aus sich selbst bei der Polizei angezeigt. Ohne an den
Tatort zurückzukehren, machte er sich auf dem Weg zur nähsten Polizeiwache, er hat
sich mit den Worten gestelt:
153
Zitat: Die Stimme der Vergangenheit im Leben einer Dreigenerationenfamilie auf der Suche nach
einer Identität. http://www.virtuelleallgemeinbibliothek.de/EXTRA1.HTM. 06.05.2009.
154
Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Im_Krebsgang. 06.05.2009.
155
Grass. S. 172-173.
156
Grass. S. 174.
157
Grass. S. 175.
44
„Ich habe geschossen, weil ich Deutscher bin.“158
Konrad Pokriefke wird zu 7 Jahren Gefängnis verurteilt. Als Tatmotiv gibt er unter
anderem Rache für den <Blutzeugen> Wilhelm Gustloff an.
Beim Gerichtsverfahren erfährt Tulla vom Jugendstaatsanwalt, dass Konrads
Computerfreund kein Jude war sondern er stamm aus einem württenbergischen
Pfarrhaus. Sie regt sich darüber sehr auf:
„Na son Schwindel! Das hat main Konradchen nicht wissen jekonnt, daβ dieser
David ain falscher Judi is. Ainer, der sich ond andere was vorjemacht hat,
wenner sich bai jede Jelegenheit wien ächter Jud aufjefiert ond immer nur von
onsre Schande jered hat...“ 159
Im Verlauf des Prozesses wird Konrad vom Richter gefragt:
„(...) ob er jemals, sei es in Mölln, sei es in Schwerin, einem wirklichen Juden
begegnet sei“160
Antwortet Konrad mit einem klaren Nein, fügt aber hinzu:
„Für meinen Entschluβ war das nicht relevant. Ich schoβ aus Prinzip.“161
Auf den ersten Blick ist die transgenerationelle Übertragung hier scheinbar radikal-in
ein Handeln ausgeschrieben, das, zerstörerisch und selbstzerstörerisch, aggressiv,
unaufgehobene Geschichte an sich und gegen sich „im Nachhinein“ austrägt. Die
wahnsinnigen Rollenspiele der beiden Jugendlichen –„Wilhelm“ (Gustloff) gegen
„David“ (Frankfurter)- veranschaulichen, dass sich, in abwegigen, aber gleichfalls
potentiell entsetzlich- realen Symbolisierungen, jene Anteole der Geschichte zu
„wiederholen“ drohen, die ohne Eintritt in die glaubwürdige kolektive Erinnerung
geblieben waren.162 Diese Leseweise bestätigen die letzten Kapitel der Novelle, in dem
sie das Versagen jener Generation betonen, die an dieser mangelhaften, in Resultat
prekären Konditionierung offiziöser Erinnerung die Schuld tragen. Das schulische und
häusliche Milieu, in dem Konrad Pokriefke seine Kindheit verbringte, wird im Verlauf
des Gerichtsverfahren markiert als eines, das eine faktische Auseinandersetzung mit
158
Grass. S. 175.
Grass. S. 182.
160
Grass. S. 182.
161
Grass. S. 182.
162
Vgl. Braese, Stephan: „Tote zahlen keine steuer“. Flucht und Vertreibund in G.Grass „Im Krebsgang“
und Hans Urlich Trechels der „Verlorene“.In Gegenwertsliteratur 2. 2003. S.179.
159
45
dem neonazistischen Gedankengut des Jugendlichen liebenswürdigerweise gemieden
hatte.
„Angeklagt ist hier ein pseudo-linkes Milieu, das eher feige als unbedacht der
Konfrontation mit einer Geschichte ausgewichen sei, die in den ideologischen
Mustern des Zeitgeists nicht aufging. Doch diese unzweideutige
Schuldzuschreibung erreicht ihre volle Dynamik erst dadurch, dass auch
Wolgang Stremplin, Konrad Pokriefke Gegenpart und Opfer, als nicht weniger
wahnhaft, seine Eltern als genau so unentschieden erscheinen.“ 163
Die Figur Konrad Pokriefke ist ein Musterbeispiel für die Generation der
Nachgeborenen, die in einer nicht sicheren und perspektivlosen Zeit aufwächst und
extreme Überzeugung annimt.164 Bei Konrad ist es weniger ein Auflehnen gegen die
Generation der eltern als vielmehr ein Schrei um Hilfe.
„Da er bei seinen viel zu sehr mit sich selbst beschäftigten Eltern keine
Zuwendung bekommen konnte, sucht er sich den benötigten Halt zum einen bei
seiner Groβmutter Tulla und ihren Geschichten, zum anderen in einer selbst
aufgebauten und im Internet ausgelebten Scheinwelt. „165
Das wird insbesondere sehr deutlich, da Konrad sich mit der Gustloff- Thematik sogar
noch in der Jugendstrafanstalt befasst, und zwar so lange, bis sich sein Vater zuwendet.
Grass ordnet Konrad einen entscheidenen Willen zur Teilhabe an Groβkollektiven.
„Es werden von den Jugendlichen Diskurse radikalisiert und durch
konkretistischen Detailfetischismus beglaubigt, der zugleich die sonderbare
Gemeinschaft von sammelnden Rechthabern im Chatroom konstituiert.“166
Die Katastrophe der Gustloff wird hier als ein Puzzel weltweit verteilter Informationen
zusammengefügt und die Lesarten des Geschehens werden in der sorgfältigen
Rekonstruktion zu Suchmaschinen, die Details platzieren.167
Zitat: Braese, Stephan: „ Tote zahlen keine steuer“. Flucht und Vertreibund in G.Grass „Im
Krebsgang“ und Hans Urlich Trechels der „ Verlorene“.In Gegenwertsliteratur 2. 2003. S.180.
164
Vgl. Giese, Nicole/ Grass, Günter/ Dückers, Tanja: Geschichtliche Wirklichkeit als erzählte
Erinnerung- der Untergang der Wilhelm Gustloff als Motiv in den Romanen im Krebsgang und
Himmelskörper. Veröffentlicht von GRIN Verlag, 2007. S. 10
165
Zitat. Ebd. S. 10.
166
Zitat: Mauser, Wolfram/ Pffeifer, Joachim : Erinnern. Veröffentlicht von Königshausen & Neumann,
2004. S. 126.
167
Vgl. Ebd. S. 126.
163
46
3.3. Erinnerung und Medialität.
Ein auffallendes Beispiel für die aktuelle literarische Vergangenheitsverarbeitung und
deren Rezeption durch die Medien ist die Novelle „Im Krebsgang“ von G. Grass.
„Der Text thematisiert die Flucht der deutschen Bevölkerung aus Ostpreuβen.
Im Zentrum der Ereignisse steht der Untergang des ehemaligen „Kraft durch
Freude „- Dampfers „Wilhelm Gustloff“, der nur Flüchtlinge und Soldaten
transportiert, und am 30 Januar 1945, getroffen von einem sowjetischen UBoot, mit mehr als 9000 Menschen an Bord untergeht.“168
In Bezug auf die Erzähltechnik unterteilt sich der Text in drei Ebenen.
Die erste Ebene stellt die historischen Ereignisse dar.
Präsent wird Wilhelm Gustloffs Parteikarriere in der NSDAP169 bis zu seiner
Ermordung durch den jüdischen Attentäter David Frankfurter illustriert. Gustloff wird
zum „Blutzeugen“ stilisiert, und in seiner Geburtsstadt Schwerin zu Ehren eine
Gedenkstätte errichtet:
„Dort, wo einst im Ehrenhain der Granit überragend seinen Standort gehabt habe
und wo heute so gut wie nichts an den Blutzeugen erinnere, weil Grabschänder
Stein und Ehrenhalle abgeräumt hätten, genau dort, wo in nichts allzu ferner
Zukunft wiederum ein Gedankstein aufgerichtet werden müsse, an
geschichtssträchtiger Stätte solle man sich treffen.“170
Auβerdem wird ein „Kraft durch Freude“- Dampfer nach ihm benannt,:
„(...), hob den Funktionär Gustloff in überirdische Zusammenhänge: am 30.
Januar 1945, auf dem Tag genau fünfzig Jahre nach der Geburt des Blutzeugen,
das auf ihn getaufte Schiff (...).“171
der künftig sowohl als Flüchtlings- als auch Kriegsschiff eingesetzt wird. Diese
Geschehnisse werden durch Trias Wilhelm Gustloff, David Frankfurter und Alexander
Marinesko Kapitän des sowjetischen U- Boots, in Szene gesetzt.172
Auf der zweiten Ebenen rückt die Erinnerung an den Untergang des Schiffes ins
Horizont.
168
Erll, Astrid/ Ansgar, Nünning: Median des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität. Historizität.
Kulturspezifität. Berlin/ New York 2004, S.182.
169
NSDAP- Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei-war eine in der Weimarer Republik
entstandene politische Partei, deren Programm bzw. Ideologie (der Nationalsozialismus) von radikalem
Antisemitismus und Nationalismus sowie Ablehnung von Demokratie und Marxismus bestimmt war.http://de.wikipedia.org/wiki/Nationalsozialistische_Deutsche_Arbeiterpartei ( 27.04.2009)
170
Grass. S. 160.
171
Grass. S. 11.
172
Vgl. Ebd. S. 183.
47
Hier ist es die Figurentrias Tulla Pokriefke, Konrad Pokriefke und David als Wolfgang
Stremplin, deren Erinnerungsvorgehen auf einem klaren Medienverständnis basiert.
Tulla Pokriefke ist in der Novelle eine Figur von groβer Bedutung. Tulla appelliert in
ihren baltischen Dialekt an ihren Sohn Paul Pokriefke, dass er endlich die Gustloff
Geschichte und ihre ganzen Erlebnisse vom Untergang des Schiffes niederzuschreiben:
„Wie aisig die See jewesen is und wie de Kinderchen alle koppunter. Das muβte
aufschraiben. Biste ons schuldig als glicklich Iberlebender. Wird ech dir aines
Tages erzählen, klitzklain, ond denn schreibst auf...“173
Von Vergangenem mittels Text, drückt Tullas Wunsch in einer jahrelang Tradition
stehende Vorstellung einer Abrufbarkeit und Speicherung aus. Darüber hinaus
impliziert der Drang nach einer Verschriftlichung auch das nach einer Leserschaft174 :
„Ech leb nur noch dafier, daβ main Sohn aines Tages mecht Zeugnis
ablegen.“175
Doch in der Nacht des Untergangs, der geborene Sohn Paul Pokriefke der noch dazu
Journalist ist, weigert sich ausdrücklich, mit seiner Biografie verbundenes Ereignis,
über dies unmittelbar zu berichten:
„Aber ich wollte nicht. Mochte doch keiner was davon hören, hier im Westen
nicht und im Osten schon gar nicht.“176
Im Kampf um die Etablierung von Vergangenheitsdeutungen wird Paul Pokriefkes
Sohn Konrad zu Tullas Verbündetem. Dieser publiziert auf seiner Webseite
„www.blutzeuge.de“ in einer rechtsradikalen Darstellung über Wilhelm Gustloff und
dem nach ihm benannten Schiff. Diese Verbindung zwischen Tulla und dem Enkel
Conny verweist hingegen nur auf die generationenübergreifende Übergabe des
Gustlofs- Untergangs, sondern auch bei der Darstellung des Vergangenen auf einen
grundlegenden medialen Wandel. Indem Tulla den traditionellen Traum nach einer
Bewahrung der Erinnerung im Medium der Schreibart zum Ausdruck bringt, nutzt ihr
Enkel Conny die charakteristischen Darstellungsmöglichkeiten des Internet aus.177
Jugendliche, so wie Konrad nehmen den Computer als etwas Selbstverständliches, und
genau bei ihnen verlagert sich das, was man herkömmlich unter Kommunikation
verstand, ins Internet, in eine virtuelle, oft falsche Welt.
173
Grass. S. 31.
Vgl. Ebd. 183.
175
Grass. S.19.
176
Grass. S.31.
177
Vgl. Ebd. 183.
174
48
Nach einem Besuch einer Gustloff- Website der „Kameradschaft Schwerin“, hinter der
sich sein Sohn Konrad verbringt, Berichtet Paul Pokriefke so:
„Machte erst Notizen. Staunte. War verblüfft. Wollte wissen , wieso diese
Provinzgröβe – und zwar von den vier Schüssen in Davosan- imstande war ,
neuerdings Surfer anzulocken. Dabei geschickt aufgemacht die Homepage.
Montierte Fotos Schweriner Lokalität. Dazwischen nette Fragesätze: „Wollt Ihr
mehr über unseren Blutzeugen wissen? Sollen wir Euch seine Story Stück für
Stück liefern?“178
Durch das Internet, werden ehemals medial vorgegebene Barrieren der
Darstellungsmöglichkeiten überwunden, unter dessen medialen Bedingungen erfolgt
eine gleichzeitige Bezugnahme auf fotografische Abbildungen, Texte und bewegte
Bildsequenzen. „Auf diese Weise können früher separierte Repräsentationsweisen
parallelisiert und synthetisiert werden . Die hierdurch erzeugte Suggestionskraft
nivelliert die Kluft zwischen Gegenwärtigen und Geschehenem.“179
Als Paul Pokriefke unter „www.blutzeuge.de“ bei den Trauerfeierlichkeiten für die
Gustloff zugegen sein kann, erfährt er diese inszenierte Durchbrechung von Zeit und
Raum:
„Auf der Website wurde im Wortlaut der eingespeisten Berichte nicht einfach
nur auf die damals herkömmliche und den italienischen Faschisten abgeguckte
Weise mit erhobener rechter Hand gegrüβt, vielmehr fand man sich auf
Bahnsteigen und bei allen Trauerkundgebungen zum ‚Entbieten’ des letzten
Gruβes ein; deshalb wurde (...) ihm auch aus180 der neusten, Cyberspace
genannten Dimension der deutsche Gruβ „entboten“.“
Die Novelle problematisiert damit eine Erinnerungsstrategie, die durch Auflösung
raum- zeitlicher Spanne sowie die Synthetisierung von vormals isolierten medialen
Wahrnehmungsebenen eine Glaubwürdigkeit der vorgestellten Ereignisse suggeriert
und den Nutzer ‚live’ zum historischen Vorfall schaltet.
Diese Authentisierungsstrategie hat in dem Text Auswirkungen auf dem Nutzer, denn
das Internet provoziert hier die Annahme einer Identität, derer Szenarien durchgespielt
werden. „Neben der „ Gustlof“- Website sind es die Chats, die den Nutzer in das
Geschehen einbinden.“181
178
Grass. S. 32.
Zitat. Ebd. S. 184.
180
Grass. S. 35.
181
Zitat. Ebd. S.184.
179
49
In diesem Zusammenhang bildet sich „ein streitbares Rollenspiel“182 zwischen Konrad,
der als ‚Wilhelm’ die Stelle Gustloffs einnimmt, und ‚David’ der sich als David
Frankfurter, dem Mörder Gustloffs „in Szene setzt“.183
In unserer Kultur ist der Text mit dem Autor sehr verbunden, doch im Internet löst sich
diese Zusammensetzung auf:
„Strenggenommen gehen wir im computerisierten Netz nur noch mit
Ideen und nicht mehr mit Personen um.“184
Im Internet vollzieht sich die Kommunikation unter den Bedingungen der Anonymität:
„Nicht Personen, sondern mit selbstgeschaffenen Namen
gekennzeichnete ‚ künstliche Identitäten’ verkehren miteinander:
Chiffrenexistenz.“ 185
Das Internet ist im Bezug auf die Wirklichkeit ambivalent konzipiert: „Anfangs eröffnet
es einen Raum, in dem sich die medienspezifische Darstellung historischer Ereignisse
wie performative Handlungen entfalten können.“186. Das Internet changiert in der
Novelle zwischen medial kreierter Wirklichkeit und der Realität. Mithilfe des Inernets
wird in der Novelle „Im Krebsgang“ beispielhaft vorgeführt, dass die Betrachtung über
das Verhältnis von Medium und Erinnerung einen zentralen Stellenwert einnimmt. Die
drei Personen Tulla- Konrad und David/ Wolfgang, bewegen sich in einem Netz von
Gedächtnismedien. Dabei auf der Figurenebenen problematisiert der Text eine
Erinnerungsstrategie, „die den produktiven Anteil von Medien an der Darstellung von
Ereignissen verschleiert und stattdessen eine Authentizität suggeriert, die auf die
Figuren zurückschlägt.“187 So wird die Erinnerung zur Performanz, wobei die
Gedächtnismedien die Handlungsmuster und Handlungsrahmen vorgeben.
Grass macht in seiner Novelle die Bedeutung des Internets als ein Reservoir für das
kollektiv Verdrängte aufmerksam. Er zeigt, wie in diesem Medium das zur Erinnerung
und Sprache gebracht wird, was dem offiziellen Gedächtnisrahmen von Staat und
Geselschaft wiederspricht.188 Der Ich- Erzähler schrieb:
182
Grass. S. 47.
Grass. S. 48.
184
Zitat. Ebd. S. 185.
185
Zitat. Ebd. S. 185.
186
Zitat. Ebd. S. 185.
187
Zitat. Ebd. S. 185.
188
Vgl. Assmann, A: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.
Das Internet als Gedächtnismedium. C.H.Beck 2006. S. 244.
183
50
„(...)war es meinem Sohn auf seiner Website gelungen, das vergessene Schiff
und dessen menschliche Fracht ins difusse Weltbewusstsein zu rücken.“ 189
Er schildert ganz genau, wie Erinnerungen in diesem Medium vor sich gehen:
„Nun begann die im Internet mögliche Freizügigkeit der totalen
Kommunikation. In- und ausländische Stimmen mischten sich. Sogar aus Alaska
kam eine Meldung. So aktuell war der Untergang des lange vergessenen Schiffes
geworden. Mit dem wie aus der Gegenwart hallenden Ruf <Die Gustloff sinkt!>
stieβ die Homepage meines Sohnes aller welt ein Window auf und leitete einen
(...) seit langem überfälligen Diskurs ein. Jedoch! Ein jeder sollte nun wissen
und beurteilen, was am 30. Januar 1945 auf der Höhe der Stolpebank geschehen
war; der Webmaster hatte eine Ostseekarte eingescannt und alle zur
Unglücksstelle führenden Schiffswege mit belehrendem Geschick anschaulich
gemacht.“190
Grass tematisiert das Internet als Schauplatz eines Kampfes der Wiederkehr, der
Verdrängten, der Erinnerung und der Wiederbelebung uralter Vorurteile:
„Sogleich brach im Chatroom Haβ aus. <Judengesocks> und <
Auschwitzlügner> waren die mildesten Schimpfwörter. Mit der Aktualisierung
des Sciffsuntergangs kam der so lange abgetauchte Kampfruf ` Juda verrecke!`
an die digitale Oberfläche der gegenwärtigen Wirklichkeit: aufschäumender
Haβ, Haβstrudel. Mein Gott! Wieviel hat sich angestaut, vermehrt sich täglich ,
drängt zur Tat.“191
„Das Internet existiert jenseits gesellschaftlicher Institutionen und damit derzeit
auch noch weitgehend jenseits der Instanzen der Autorisierung und Zensur.192“
Was erfunden und falsch, was wahr und verbrieft, was wissenschaftliche Recherche,
was individuelles Phantasma, was seriöse Informationen und was Pornographie oder
Blasphemie ist, muss jeder dort selber herausfinden. Grass wollte auch mit dem Internet
darstellen
„(...)wie irregefürt heute junge Menschen auf die Geschichte reagieren“ 193
189
Grass. S. 134.
Grass. S. 149.
191
Grass. S. 150.
192
Zitat: Assmann, A: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.
Das Internet als Gedächtnismedium. C.H.Beck 2006. S. 244.
193
Zitat: Grass, Günter: Falsche Folkrole und erfundene Volkstänze. Ein Gespräch mit dem
Nobelpreisträger G.Grass und den Historikern Michael Jeismann und Kasrl Schlögel. In: Literaturen. Das
Journal für Bücher und Themen. Berlin: Friedrich Berlin Verlag, 2002, Nr. 5, S. 21.
190
51
Zu diesem zerstörerischen Erinnerungspotenzial stellt ein Gegengewicht und zwar die
dritte Ebene dar, bekanntlich die des Ich- Erzählers und seinen Auftraggeber, in der
Novell „der Alte“ genannt. Die Besonderheit von Pauls Gegen- Strategie ist der‚
Krebsgang’. Er gibt der Novelle nicht nur den Titel, sondern beschreibt gleichzeitig das
ihr zugrunde liegende Erzählprinzip. Die Linearität und Hierarchisierung der
Erzähltechnik des Krebsgang nimmt Abstand und muss
„(...) der Zeit eher schrägläufig in die Quere kommen (...), etwa nach Art der
Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich
schnell vorankommen.194
Dementsprechend ist mit dem Augenblick der Querläufigkeit auch das der Täuschung,
der List verbunden. In dem Text werden Überschneidungen und Übergänge angelegt.
So wechselt die Beschreibung des „von Bildern belebten“195 rauerzeuges für Gustloff
zwischen einer Darstellung der Website und einem Erzählerbericht, um letztendlich in
den Kommentar zu münden:
„Ach wäre er doch vor Verdun dabeigewesen und rechtzeitig in
einemGranattrichter krepiert!“196
Die aus diesem Grund ausgelöste Irritation weist über den Text hinaus,
„in dem qua Schreibverfahren eine Lektüre eingefordert wird, die ein
Bewusstsein für die medialen Ebenen der dargestellten Handlung entwickelt.197
Die Novelle verortet sich in aktuellen erinnerungspolitischen Debatten über die Figur
des ‚Alten’, die sehr viele auβertextuelle Bezüge aufweist. So gibt Paul nach einem
Arbeitstreffen die Äuβerung des Alten wieder:
„Eigentlich müsse jeder Handlungsstrang, der mit der Stad Danzig und deren
Umgebung verknüpft oder locker verbunden sein, seine Sache sein.(...) Gleich
nach Erscheinen des Wälzers <Hundejahre> sei ihm diese Stoffmasse auferlegt
worden . Er- wer sonst?- hätte sie abtragen müssen, Schicht für Schicht.“198
Der Text assoziiert den Alten mit dem Autor Günter Grass. Eine gleitende Skala
zwischen literarischen Text und gesellschaftlichen Kontext ergibt sich somit
erzählstrategisch: „Steht Paul Pokriefke als Sohn Tullas und Harry Liebenaus noch in
einer festen Traditionslinie des Figureninventars von Hundejahre, so ist er zugleich
194
Grass. S. 8-9.
Grass. S. 36.
196
Grass. S. 37.
197
Zitat. Ebd. S. 187.
198
Grass. S. 77.
195
52
Erzählinstanz und Sprachrohr des Alten.“199 Aufgrund dieser Sache wird jedoch auch
die Barriere zwischen Non- Fiktionalität und Fiktionalität flieβend.
Die Novelle Im Krebsgang ist dementsprechend unter mehreren Aspekten ein Medium
des Gedächtnisses. Einen zentralen Stellenwert nimmt zunächst im Text selbst das
Verhältnis zwischen Erinnerung und Medium ein. Über das Schreibverfahren wird
hinzu eine divergierende Erinnerungsstrategie skizziert, der die Reflexion über die
eigene Medialität eingeschrieben ist.
„Auf diese Weise wird eine Erinnerungsstrategie, die auf einer authentischen
Darstellung der Vergangenheit zur Stützung der eigenen Identität beruht, in
ihrem zerstörerischen Potential enttarnt.“200
Indessen der Text sich zudem selbst, z.B. über die Fluchtthematik und die Gestalt des
Alten, in die jetzigen politischen und gesellschaftlichen Debatten um
Erinnerungsinhalte und die Formen adäquaten Gedenkens einschleust, gestaltet er im
gesellschaftlichen Kontext seine Folge als Medium des Gedächtnisses.
199
200
Zitat. Ebd. S. 188.
Zitat. Ebd. S. 188.
53
3.4. Erinnerung und Trauma.
In Günter Grass Novelle „Im Krebsgang“ geht es nicht um die Darstellung des
Untergangs der `Willhelm Gustloff`, sondern um die Übermittlung dieses
Geschehnisses über drei Generationen die bereits presäntiert worden sind.
„Grass bedient sich hier einem Konzept der Erinnerung, das offen legt, dass die
Erinnerungen Lesearten sind, die zueinander in Wiederspruch stehen.“201
Formen der Aneignung des Vergangenen werden in der Novelle über die Protagonisten
und die Sprechweisen illustriert. Die ganze Novell ist ein verschachteltes Konstrukt, das
aus der Montage und Einblendung der höchst diametralen Erinnerungsvorgänge besteht.
Einbezogen in die Disharmonie der drei Generationen um die wahre und wirkliche
Geschichte der Tragödie treten in der Novelle zusätzliche Handlungsfäden auf:
„Die Historie des KdF- Schiffes Wilhelm und seines Namenspatrons Wilhelm
Gustloff, des so genannten „ Blutzeugen“ im heroisierenden Staatsgedächtnis der
Zazis.Des David Frankfurter, der den eifrigen Organsator der AuslandsNSDAP Gustloff wegen seiner Nazi- Umtriebe am 4. Februar 1936
niederschoss; er nun ein Märtyrer des antifaschistischeb heroisierenden
Gedächtnisses .Und des U- Boot- Kommandanten Matinesko, komplementär ein
Held des Vaterlandes stalinistischer Provinienz.“202
Diese drei historische Individuuen stellen eine Auseinandersetzung mit der
heroisierenden und verwalteten Erinnerung dar- sei es von Nationen oder Gruppen.
Zu dem heroisierenden Gedächtnis der Symbolfiguren kommen Denkmäler aller Art,
ihre Errichtung, ihre Beseitigung, ihr Wiederaufrichten, ihr Verroten. Die
Namengebung in Einweichungen und Schiffstaufen werden eingemischt, anschlieβen
das staatlich und medial kodifizierte Gedächtnis der Heldenverehrung.203
Die Transformation der Tat des David Frankfurter- in die heroisierende Erinnerung wird
von dem Ich- Erzähler folgendermaβen kommentiert:
201
Zitat: Mauser, Wolfram/ Pffeifer, Joachim : Erinnern. Veröffentlicht von Königshausen & Neumann,
2004. S.125.
202
Zitat. Ebd. S. 126.
203
Vgl. Ebd. S. 127.
54
„Danach wurde eine Menge Papier gedruckt. Was bei Wolfgang Diewerge ` eine
feige Mordtat` hieβ, geriet dem Romanautor Emil Ludwig zum „Kampf Davids
gegen Goliath“. Bei dieser gegensätzlichen Bewertung ist es bis in die digital
vernetzte Gegenwart geblieben. Schon bald lieβ alles, was danach, den Prozeβ
eingeschlossen, der mit schlicht gegründeter Tat sein gepeinigtes zum
wiederstand wollte, standder nationalsozialistischen Bewegung gegenüber.
Beide sollten überlebensgroβ ins Buch der Geschichte eingehen. Der Täter
jedoch geriet bald in Vergessenheit; auch Mutter hat, als sie ein Kind war und
Tulla geruffen wurde, nie etwas von einem Mord und dem Mörder, nur
Märchenhaftes von einem Schiff gehört, das weiβ schimmerte und beladen mit
fröhlichen Menschen lange und kurze Seereisen für einen Verein machte, der
sich „Kraft durch Freude „nannte.“ 204
Grass opponiert, dass das gelebte Leben in einer Legende niemals aufgeht und das
Lebensopfer keine dauerhafte Erinnerung stiftet.
Das Erinnern wird von Grass als Konstruktion dargestellt. Die Darstellung der
Versenkung des Schiffes beginnt:
„So wird, so kann es gewesen sein. So ungefär ist es gewesen.(...) Ich kann nur
berichten, was von Überlebenden an anderer Stelle als Aussage zitiert worden
ist.“205
Hier werden zu Redensarten geronnene Fetzen und Partikel von Eindrücken der
Erinnerung zitiert. Einen weitergehenden Anspruch an Erinnerung präsentiert Grass an
der Figur Tulla Pokriefke. Es geht um die Einholung traumatischer Szenen in
Verständigung und Mitteilung, was der Text nich zulässt. Grass unterschiebt seinen
Figuren einen gegenläufigen Subtext. Er schreibt seinen zentralen Figuren ( dem IchErzähler und der Tulla Pokriefke) die Aufhebung der Trauer ein. 206
Der Sprach- Entwurf ist für das Text- Leseverhältnis des Ich- Erzählers zentral. Sein
Sprachduktus gibt den emotionallen Kommentar. So beginnt das Buch:
„Warum erst jetzt? Sagt jemand, der nicht ich bin. Weil Mutter mir immer
wieder... Weil ich wie damals, als der Schrei über Wasser lag, schreien wollte,
aber nicht konnte... Weil die Wahrheit kaum mehr als drei Zeilen....Weil jetzt
erst...“207
Ähnliches resigniertes Sprechen zeigt sich in wenigen Passagen. Solcher Sprechweise
stehen nahe anschauliche Beschreibungen von durchlässiger Qualität. Sie verweisen auf
204
Grass. S. 29.
Grass. S. 101/137.
206
Vgl. Ebd. 130.
207
Grass. S. 7.
205
55
Körpergefühle, Erlebnis- Szenen, auf Bruchstücke eines Körpergedächtnisses und
werden nicht umgehend in Vorgehen von Lektion eingefügt208:
„(...) noch am Vortag- und dann eine lange Nacht über- hatten die Pokriefkesauf
ihren zu vielen Koffern und Bündeln gesessen, inmitten einer Menge
Flüchtlinge, von denen die meisten vom langen Treck erschöpft waren. Von der
Kurischen Nehrung, dem Samland, aus Masuren stammen sie. Ein letzter Schub
war aus dem näher gelegenen Elbing geflüchtet, das von sowjetischen Panzern
überrollt worden war, aber noch immer umkämpft zu sein schien. Auch drängten
sich immer mehr Frauen und Kinder aus Danzig, Zoppot und Gotenhafen,
hungrig die Kaianlagen unsicher machten. Die ostpreuβischen Bauernpferde
hatte man ausgeschirrt und in der Stadt entweder Wehrmachtseinheiten
überlasen oder dem Schlachthof zugeführt. Genau wusste Mutter das nicht.
Auβerdem taten ihr die Hunde leid:< Immerzu jeheult ham die imme Nacht wie
Welfe...>“209
Das lapidare Erzählen ist an diesen Stellen durchlässig und bildhaft. Doch der
Sprachraum der Novelle ist überwiegend durch einen äuβerst anderen Ton des IchErzählers geprägt, durch einen motzigen, oft zynischen und halb- pubertären
Männergestus. Über die Figur Tulla Pokriefke, stellt Grass nach der Frage der
Überlieferung- nicht nur im Sinne der offiziellen Kanonisierung, sonder in der
Perspektive, eine Generationen-Erfahrung in einer zeichenhaften Ordnung
aufzuheben.210 Die Frage ist: Was will eigentlich „die Alte“, wenn sie von dem Sohn
oder von dem Enkel „es aufzuschreiben“ verlangt?
„Biste ons schuldig.....?“ 211
Was bedeutet es eigentlich für sie, in der Darstellung der Erinnerung aufgehoben zu
sein? Hier spannt sich über die Kette der Generationen der Wunsch nach einer liebender
Akzeptanz.
„Man könnte auch sagen nach einer Aufnahme des Traumatischen in den Blick,
der Nachgeborenen, der Anteil nehmend auf die von jenem Erlebnis
gezeichneten fällt. Ein Blick, der seinerseits wahrgenommen wird und der eine
Entlastung bedeutet. Dieser Blick soll seinen Ausdruck in einer erzählten
Geschichte finden und so etwas festhalten, nicht `objektiv`, sondern als
Ausdruck einer Beziehung zu dem Geschehen und den Beteiligten.
Es wiederfährt eine Entlastung in dem Sinn, dass andere von dem Schmerz
wissen und eine Art Heilung dadurch, dass der Traumatisierte angesichts der
Vergegeständlichung des Geschehnisses in einem Werk, oder anders gesagt
angesichts der Aufnahme ins kollektive Gedächtnis, selbst nachlassen darf,
dieses Geschehen in seiner Ganzheit stets zu bezeugen.“212
208
Vgl. Ebd S. 130.
Grass. S. 107.
210
Vgl. Ebd. 132.
211
Grass. S. 31.
212
Zitat. Ebd. S. 132.
209
56
Dies kann nur zustande kommen, wenn eine Bezeichnung gefunden wird, die einen
Bereich für die wiederstreitenden Gefühle lässt, vor allem für Ohnmacht, Verlust und
Trauer.
Grass will in seiner Novelle zeigen, wie die heute Lebenden die Erinnerung benutzen
und herstellen. Wer bestimmt über die allgemein anerkannte Erzählung, wer gibt ihr
Bezeichnung und was verleiht ihr Gewicht? Dieses Gegenstand macht er zum
Konstruktionsprinzip seines Erzählens. Wer wird gehört? Wer drückt sich aus?
Martyrium, Opfer und ewiges Leben im Pantheon des kollektiven Gedächtnisses
werden mit ätzender Ironie verabschiedet.213
213
Vgl. Ebd. 128.
57
3.5. Vermiedene Themen in der Novelle.
In jeder Gesellschaft, Familie oder Bekanntenkreis gibt es Themen über die man nicht
gerne sprechen will oder möchte. Diese Themen sind aus verschiedenen Gründen zu
einem Tabu – oder Vermiedenen Thema geworden. Auch in der Grass Novelle gibt es
zahlreihe Tabus über die ganze Gesellschaft schweigt.
Die „verfluchte Geschichte“214 des Untergangs der Wilhelm Gustloff wurde im
Deutschen Reich nicht gekannt gegeben, denn das hätte „der Durchhaltestimmung
schaden können“215.
„Nach 1945 wurde sie in beiden deutschen Staaten verdrägt. Im Westen war sie
ein Beispiel für die katastrophale Niederlage des deutschen Nationalsozialismus
und die von ihm verursachten sinnlosen Opfer, im Osten war sie ein Beispiel für
eine berechtigte, aber wenig heldenhafte Kampfhandlung der Roten Armee.“216
„(...) ieber die Justloff nicht reden jedurft hat. Bai ons im Osten sowieso nicht.
Ond bai dir im Westen ham se, wenn ieberhaupt von frieher, denn immerzu nur
von andere schlimme Sachen, von Auschwitz und sowas jeredet.(...).217
„Die Gustloff und ihre verfluchte Geschichte waren jahrezehntelang tabu,
gesamtdeutsch sozusagen.“218
Zu diesen Tabu der Deutschen gehört auch u.a.: traurige Erlebnisse, Tod, Vertreibung,
schlechte Erinnerung und die Nazizeit.
„Niemals, sagt er“, lässt Grass seinen Erzähler den Auftraggeber zitieren,
„niemals hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig
und bekennende Reue in all den Jahren vordlinglich gewesen sei, schweigen, das
gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfte.“219
Diese Themen wirken bis in die Gegenwart.
Milionen Deutsche wurden Heimatlos, verjagt und vertrieben, nachdem der deutsche
Fachismus die Welt mit Völkermord, Terror und anderen Verbrechen überzogen hatte.
220
.
„wie spät und immer noch zögerlich an die Leiden erinnert wird, die während
des Krieges den Deutschen zugefügt wurden.“ 221
214
Grass. S. 31.
Grass. S. 153.
216
Zitat: Rüdiger, Bernard: Königs Erläuterungen und Materiallien Band 416, Erläuterungen zu Günter
Grass Im Krebsgang, Bange Verlag, 2002, S. 16.
217
Grass. S. 50.
218
Grass. S. 31.
219
Grass. S. 99.
220
Vgl. Rüdiger, Bernard: Königs Erläuterungen und Materiallien Band 416, Erläuterungen zu Günter
Grass Im Krebsgang, Bange Verlag, 2002, S. 19.
215
58
Grass schrieb diese Sätze, indem er an seiner Novelle arbeitete. Er wollte das Thema
der Trauer um deutsche Opfer ins Erkenntnis der Deutschen zurückholen. Grass Buch
war bloβ eines von vielen Medienbegebenheiten, die die öffentliche Interesse in dem
Jahren 2002 und 2003 auf die Erlebnisse deutschen Kummer richteten und darauf
zielten, geringer einen Gesinnungswandel als einen Wandel der historichen
Gefühlskultur einzuleiten.222 Soziale Tabus und Traumatisierung verzögern über lange
Bereiche die Erinnerung und können zur verspäteten Entladungen führen. Das Thema
deutscher Leidensgeschichten ist mit sicherheit nichts neues. In den Familien werden
sie ständig erzählt, bis sie in eine feste, tradierbare Gestalt gerannen.223
„Konnte das nicht mehr mithören, wenn sie mir, meistens sonntags, ihre
Gustloffs- Geschichten zu Klopsen und Stampfkartoffeln auftischte (...)“224
Ein anderes Thema, was für Grass eine wichtige Rolle spielte, ist die Vertreibung, die in
den beiden ersten Jahrzehnten nach Kriegsende in Westdeutschland als ein Thema im
Hintergrund war. Grass gab dem Hintergrundthema eine künstlerische Form. Es geht
um einem Schiff, der mit deutschen Flüchtlingen überladen war, das gegen Ende des
Zweiten Weltkrieges in der Ostsee versenkt wurde.
„Die Deutschen in einer Opferperspektive zu schildern, ist ein riskantes
Unternehmen, war es doch, wie wir gesehen haben, eben diese selbstzentrierte
Opferperspektive, die nach dem Krieg eine Anerkennung anderer Opfer, seien
sie jüdisch, polnischer oder welcher Herkunft auch immer, jahrezhntelang
blokiert hatte.“ 225
Grass Novelle forciert die Rückholung einer unterdrückten individuellen Erinnerung ins
kollektive Gedächtnis der Deutschen. Zugleich ist die Novelle ein analytisches
Lehrstück bedeutender Mechanismen der Erinnerungsdynamik und Raffinessie der
Geschichtspolitik.226 Grass hollt die Geschichte der Versenkung der Willhelm Gustloff
nach 57 Jahren zurück.
221
Zitat:Grass, Günter: Ich erinnere mich, Frankfurter Allgemeine Zeitung,
Vgl. Assmann, A. : Der Lange Schaten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.
.Das Zurückflten von Erinnerung. C.H.Beck 2006 S.190.
223
Vgl. Assmann, A. : Der Lange Schaten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.
.Das Zurückflten von Erinnerung. C.H.Beck 2006 S.190.
224
Grass. S. 57.
225
Aus psychoanalitischer Sicht hat das Leid der jüdischen Opfer den Angehörigen der Kindergeneration
` dem Mund verschlossen`, so dass sie ` nicht von ihren eigenen Traumatisierungen sprechen konnten`.
Bohleber,Werner: Trauma, Trauer und Geschichte. Köln, 2001. S. 143.
226
Vgl. Ebd. Assmann, A. S. 196.
222
59
„Der Untrgang des einst beliebten KdF- Schiffes wurde im Reich nicht
bekanntgegeben. Solche Nachrichten hätte der Durchhaltestimmung schaden
können. Nur Gerüchte gab es.“227
Die Erste Hälfte der Novelle ist der Vorgeschicht des Unglücks des Schiffes gewidmet.
Doch der Zweite Teil ist die Nachgeschichte des Unglücks, in der geschildert wird, wie
das Geschehen im Nachkriegsdeutschland
„erinnert, verdrängt, vergessen, wieder hochgeholt, rekonstruiert und sogar
handelnd wiederholt wird.228
Dem Trio der geschichtlichen Gestalten entspricht demzufolge des Trio der imaginären
Erinnerungsträger in Figur von Mutter, Sohn und Enkel.
Für seine Novelle konstruiert Grass einen wiederstrebenden Erzähler, indem seine
Mutter, eine von wenigen Überlebenden der Gustloff, Jahrelang in den Ohren liegt, ihre
Geschichte aufzuschreiben und an die weiteren Generationen weiterzugeben.
„Ech leb nur noch dafier, daβ main Sohn aines Tages mecht Zeugnis
ablegen.(...)Das muβte aufschraiben. “229
Mutter „Endlosgeschichte“ ist in einer Kette immer wieder wiederholter Formeln
eingefroren. Verzweifelt sucht sie nach einem Beobachter für ihr Zeugnis, der ihrer
Geschichte Nachdruck verleiht und es soll sie zu einem Objekt eines bleibenden
öffentlichen Gedächtnisses machen.
„Ihre erste Wahl ist der Sohn, dr als Alt- 68er die Aversionen dieser Generation
gegen Familiengeschichten von Hunger, Grauen und Entbehrubg teilt.
Auβerdem ist er in einer Welt aufgewachsen, die für diese Geschicht keine
Verwendung hat. Von demn sechziger Jahren bis in die neunziger Jahre war das
Ereignis icht nur vergessen, sondern auch verdrängt, d.h. `weggedrängt` vom
Trauma des Holocaust, das nach einer Phase der Verzögerung Anspruch auf
politische Anerkennung und öffentliche Erinnerung machte.“230
Doch trotz aller Bemühungen, kann sich der Sohn von seiner Herkunftgeschichte nicht
ganz frei machen.
„Das verfluchte Datum, mit dem alles begann, sich mordsmäβig steigerte, zum
Höhepunkt kam, zu ende ging. Auch bin ich, dank Mutter, auf dem Tag des
fortlebenden Unglücks datiert worden(...).“231
227
Grass. S. 153.
Zitat. Ebd. Assmann, A.. S. 196.
229
Grass. S. 19/ 31.
230
Zitat. Ebd. Assmann, A. S. 196.
231
Grass. S. 11.
228
60
Der Geschichte, die der Sohn nicht erzählen will, nimmt sich der Enkel, Konrad an.
Internet ist das neue Medium dieser Generation, das Grass in ausgezeichneter Weise als
Abseite des offiziellen nationalen Gedächtnisses und dynamische Projektionsfläche für
verdrängte Erinnerung und tabusierte Sprache ins Spiel bringt.232
Grass will allen deutlich machen, dass das
„Leidgedächtnis der Vertriebenen das Leidgedächtnis der Holocaustopfer
keineswegs verdrängen kann. Diese erinnerung an deutsche Leidensgeschichte
findet der Bedingung im kollektiven Gedächtnis der deutschen Platz, dass aud
ihr keine unmittelbaren rechtlichen Konsequenzen und politischen
Handlungsnormen abgeleitet werden – sei es auf Revanche, auf Revision der
Grenzen oder auf Entschädigungsansprüche.“233
Es geht hier um das Ansehen dieser Opfererinnerung unter der Annahme ihrer
Entpolitisierung, die zur Differenzierung und Entkrampfung des deutschen
Kollektivgedächtnisses führt. Grass verteilt die Gudtloff- Erinnerung in drei
Generationen von 1928, 1945 und 1984. Er entwirft eine Langzeitanschauung auf die
Differenz von individuellen Erinnerungen und kollektiven Gedächtnis in der deutschen
Erinnerungsgeschichte. Die verschlungene Energie von Vergessen und erinnern wird
nicht nur durch den Wandel der Generationen und technischen Medien, aber auch durch
den der politischen Systeme elementar mitbestimmt.234 Persönliche Erinnerungen hat
nur die Mutter, Tulla Pokriefke, denn die Haupttätigkeit des Erzählers, Pauls und seines
Sohnes, Konrad ist nicht zu erinnern, denn sie haben schlieβlich keinen
Erfahrungskontakt zu dem Ereignis- sondern zu rekonstruieren, recherchieren und
Daten zu präsentieren. Für sie ist nur das mündliche Zeugnis von Tulla eine von vielen
Quellen. Sie sichten ausführlich alle erreichbaren Informationen
( Bücher, Materiallien, Photograpien und Briefe). Sogar im kulturellen
Speichergedächtnis ist ein Spielfilm, der 1959 in die westdeutschen Kinos kam und sich
noch an die Erlebnisgeneraion wendete. 235
„Mit seinem Roman und dessen breiter öffentlicher Resonanz hat Grass diese
Erinnerung über die ihm im sozialen Gedächtnis gesetzeten Beschränkungen und
Verfallszeiten ins kulturelle Gedächtnis gehoben und damit über die
Generationengrenzen hinweggallgemein zugänglich und tradierbar gemacht.“236
232
Vgl. Ebd. Asmann, A. S. 197.
Zitat. Ebd. Asmann, A.. S. 197.
234
Vgl. Ebd. Assmann, A. S. 198.
235
Vgl. Ebd. Assmann, A. S. 198.
236
Zitat. Ebd. Assmann, A. S. 198.
233
61
Er durchbricht das Schweigen in der Enkel- Generation. Er meint:
„sie diskutieren gern über die Geschchte, weil sie die neue Generation nicht
belastet. Jugentliche und junge Leute können diese Vergangenheit untersuchen,
weil sie Zeit und Kraft dafür haben. Sie wollen die Vergangenheit regeln. Die
alten Generationen wollen Tragödien und Katastrophrn des Krieges vergessen,
weil sie sich lieber auf den Aufbau der Gesellschaft fokussieren.“237
Grass brachte kategorich das Thema an die Öffentlichkeit, denn es lag nicht an einer
neuen Sicht des Schriftstellers auf das Thema Vertreibung sondern weil:
„(...) es Aufgabe seiner Generation gewesen, dem Elend der ostpreuβischen
FlüchtlingeAusdruck zu geben: den winterlichen Trecks gen Westen, dem Tod
in Schneewehen, dem Verrecken am Sraβenrand und in Eislöchern, sobald das
gefrorene Fische Haff nach Bombenabwürfen und unter der Last der
Pferdewagen zu brechen begann, und trotzdem von Heiligenbeil aus immer mehr
Menschen aus Furcht vor ussischer Rache über endlose
Schneeflächen...Flucht...Der weiβe Tod...Niemals, sagt er, hätte so viel Leid, nur
weil die eigene Schuld übermächtig und bekkennende Reue in all den Jahren
vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den
Rechtsgestrickten überlassen dürfte. Dieses Versäumnis sei bodenlos...“238
Ihm ist es sehr wichtig, dass die Deutsche Geschichte nicht nur von rechten
Gruppierungen aufgearbeitet und verfälscht wird. Diesem Thema müssen sich auch
ehrliche Menschen widmen. Grass warnt mit dem Rechtsradikalismus unseres Alltags
indem er das Thema Vertreibung und Flucht verkürpert.239
237
Zitat: Nylander, Göran: Günter Grass : die Einstellung zum vermiedenen Thema in der Novelle "Im Krebsgang".
http://www.virtuelleallgemeinbibliothek.de/EXTRA1.HTM. S. 9/10 10.05.2009.
238
Grass. S. 99.
239
Vgl. http://www.abipur.de/hausaufgaben/neu/detail/stat/259001515.html. 10.05.2009.
62
3.6. Stil und Sprache.
Der Erste Satz der Novelle ist sprachlich bedeutungsvoll.
„Warum erst jetzt?, sagt jemand, der nicht ich bin. Weil Mutter mir immer
wieder... Weil ich wie damals, als der Srei überm Wasser lag, sreien wollte, aber
nicht konnte... Weil die Wahrheit kaum mehr als drei Zeilen... Weil jetzt
erst...“240
Schwer zu formulieren : „(...)sagt jemand , der ich nicht bin“ der ein Unterschied
zwischen dem Erzähler „ich“ und den Auftraggeber „jemand“ ist. Eine unbekannte
Person wird durch eine grammatisch ungewand dazwischengeschriebene Aufhebung
von einer anderen Person abgehoben. Das weist auf schnelles schreiben hin. Es wird
kräftiger durch die mit „weil“ beginnenden abgebrochenen Sätzen, die folgen und sich
oft im Text finden.241 Schleunigst spürt der Erzähler, dass
„Noch haben die Wörter Schwierigkeiten mit mir“242
doch anderseits „fix mit Worten“ durch seinen Beruf sei. So werden Journalismus und
Dichtung unterschieden, die sich dabei gegenseitig bewirken. Das semantisches
Repertoir des Erzählers Paul Pokriefke ist vom Sensationsjournalismus geprägt, das
auch kurzfristig der Jemand sich bedient, um den Erzähler zu erwerben: „festnageln“,
„frisch vom Messer“, „fix“ „Kurve gekriegt“, „Zeilen geschunden“(Grass, 7). 243 Das
wird immer deutlich und durchzieht den Text, wenn der Erzähler vom „Jemand“ sich an
seinen Auftrag erinnert, seine Geburt und sein ganzes Leben zu berichten, die „
Knackpunkt“ (Grass,70) des Erzählung sollen. Ganz sellten treten literarische Prozesse
auf, so wenn der Erzähler seinen Auftraggeber zu Worte kommen lässt:
„Niemand weiβ, was er dachte und weiterhin denkt. Jede Stirn hält dicht, nicht
nur seine. Für Wortjäger Niemandsland. Zwecklos, die Hirnschale
abzuheben“244
Dermaβen Pasagen stellen eine poetische Bilderwelt dar. Dies ist keine Sprache des
journalistischen Erzählers, sondern die des Auftragsgebers mit den Zügen von Günter
Grass.
240
Grass. S. 7.
Vgl. Rüdiger, Bernard: Königs Erläuterungen und Materiallien Band 416, Erläuterungen zu Günter
Grass Im Krebsgang, Bange Verlag, 2002, S. 101.
242
Grass. S. 7.
243
Vgl. Ebd. S. 101.
244
Grass. S. 199.
241
63
Die letzten Sätze der Novelle:
„Das hört nicht auf. Nie hört das auf.“245
lassen ein zweites mit dem Beginn kongruierenes sprachliches Mittel erkennen: Der
Erzähler verzichtet zunehmend und dann entgültig auf das „ich“: Es verschwindet
völlig, als der Erzähler erkennen muss, wie sich die Geschehnisse wiederholen und er
irrelevant wird. Die Sätze werden zu Elipsen246:
„Muβte lange surfen. Hatte zwar oft...“ 247
In einem dichten Symbol- und Motivgeflecht, schlägt die Erzählkunst von Günter Grass
indem seine Texte strukturiert und überzogen sind. Dazu gehören journalistische
beabsichtigte Begriffe wie „Informationen, Story“248 oder Begriffe der neuen Medien
wie „Hyperlink, Browser“249 und der namenlosen Kommunikation „Junk-Mail“ . Dazu
gehört auch das Wissen um das Datum 30.Januar. Dem Datum entsprechen
scharenweise Euphemismen wie „bloβer Zufall“, „Ausweis der Vorsehung“, „das
verfluchte Datum“ oder „Tag des fortlebenden Unglücks“.250 251 Wie man sieht sind
Begriffe aus der Computerwelt in der Novelle häufig zu finden, denn schlieβlich
gehören sie zur Arbeitsweise des Journalismus. Der Erzähler schafft sich damit eine
Überschreitung zur Lebenswelt der Generation des Enkels und einem sich neu
formierenden Arbeitstag, in dem Literatur auf einer anderen Art vermittelt wird.
Eingesetzt, als Ausgleich zu den modernen Medien wird die Mundart, Danziger Platt,
die von Tulla Pokriefke gesprochen wird. Es werden auch Begriffe der LTI252 Sprache
verwendet, sie verbindet sich komplikationslos mit den Modernismen wie z.B.
„Blutzeige, Kameradschaft“. Zu erkennen ist, dass besonders der Erzähler Paul
Pokriefke ohne weiteres und unkritisch mit Wörtern der LTI umgeht.
245
Grass. S. 216.
Vgl. Ebd. S. 102.
247
Grass. S. 216.
248
Grass. S. 8.
249
Grass. S. 8.
250
Grass. S. 11.
251
Vgl. Ebd. S. 102.
252
LTI- Lingua Tertio Imperia= Sprache des Dritten Reiches.
246
64
4. Resümee.
Resümierend ist festzustellen, dass Günter Grass mit seiner Novelle „Im Krebsgang“
das Thema Flucht, Vertreibung, Leid der Deutschen und die Erinnerung an die ganze
Geschichte wiederbelebte und somit auch zum Teil des kulturellen Gedächtnisses
gemacht hat. Das Drama der Flüchtlinge ist Teil des kulturellen, die Erinnerung an die
Gustloff- Teil des kommunikativen Gedächtnisses, dessen Hauptquelle für die
Einbezogenen das individuelle Gedächtnis von Tulla Pokriefke ist. Während Paul
Pokriefke für die Enttabuisierung der Thematik steht, zielt Konny Pokriefke auf eine
unkritische Würdigung der Opfer und ihre Manifestierung im kollektiven Gedächtnis
ab253. Grass stellte in den drei Generationen drei verschiedene Erinnerungsformen der
Protagonisten dar. Wohl ist das Buch „in memoriam“ geschrieben und gilt das Interesse
einem kollektiven, eigentlich nicht in Worte zu begreiffenden Trauma:
„Mit der Flucht auf dem Landweg begann das Sterben am Straβenrand. Ich kann
es nicht beschreiben. Niemand kann das beschreiben.“254
Eine in sich gekehrte `Erinnerung an deutsches Leid` steht aber nicht in Vordergrund,
sondern der Aufweis aktueller Folgen einer Nicht- Erinnerung, eines Schweigens über
das Fatum von Millionen Menschen255. Dass der Autor das Thema jetzt so betont an die
Öffentlichkeit brachte, lag aber nicht an der neuen Anschauung des Schriftstellers auf
das Thema Vertreibung, sondern weil
„die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren
vordringlich gewesen sei“256,
aber man durch das Schweigen
„das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen“257 hatte.
Grass bekam durch den Ich- Erzähler Paul Pokriefke die Möglichkeit über die GustloffKatastrophe und über die Flüchtlingstragödie zu schildern. Selbstverständlich taucht
Grass selbst in der Novelle auf, um die Thematik des Geschehens besser zu
253
Vgl.: Aleida, Assman: Der lange Schatten der Vergangenheit- Erinnerungskultur und
Geschichstpolitik, In: Vertreibung (G. Grass, Im Krebsgang), C.H.Beck. S. 196.
254
Grass. S. 102.
255
Vgl. Gumpert, Gregor: Noch niemal: das < gemiedene Thema>. Zur literarischen Reflexion auf Flucht
und Vertreibung 1945/46. S. 109.
256
Zitat: Rüdiger, Bernard: Königs Erläuterungen und Materiallien Band 416, Erläuterungen zu Günter
Grass Im Krebsgang, Bange Verlag, 2002, S. 111.
257
Grass. S. 99.
65
kommentieren. Der Leser hat mehrere Varianten der Erinnerung an die Vergangenheit
zur Auswahl. Durch diese Novelle wollte Grass Alle darauf aufmerksam machen, dass
die Vergangenheit immer lebendig ist. Er wollte auch an Deutschlands vermiedene
Themen erinnern, besonders um schmerzhafte und schamvolle Momente und
Schuldgefühle.
„Es geht um die Kenntnis der folgenden Generationen von den Verbrechen, die
von deutschen von 1933 bis 1945 verübt wurden (...).“258.
Doch der Schwerpunkt der Novelle zeigt auch:
„dass der erstarkende Rechtextremismus in Deutschland die Folge von
Verfehlung einer Gesellschaft wäre, die es versäumt hätte, der Jugend Leitbilder
und Werte zu vermitteln“259
Geschickt zeigt Grass im Mangel an Verständnis und Kontakt zwischen den drei
Generationen indem es an Liebe, Unterstützung, Verständlichkeit, Aufklärung und
Familierär Atmosphäre fehlt. Dies effiziert, dass Konrad Pokriefke, nicht erkennt, was
ein nazistisches Regime bedeutet. Durch diese ganze Gustloff- Geschichte und deren
Folgen, die sich spürbar in der Familie gemacht haben, stellt sich Tulla und Konrad in
der Position der Opfer. Der einzige- Paul, der eigentlich schuldfrei an der ganzen
Geschichte ist, wird zum Täter gemacht.
Grass hat in seiner Novelle auf die Relevanz des Internets als ein Reservoir für das
kollektiv Verdrängte aufmerksam gemacht. Für Grass ist Internet ein Schauplatz eines
Kampfes der Erinnerungen, Wiederbelebung uralter Vorurteile und wiederkehr des
Verdrängten. 260
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Günter Grass,
„der die Gustloff- Erinnerung auf drei Generationen von 1928, 1945 und 1984
verteilt, entwirft eine Langzeitperspektive auf die Diskrepanzen von persönlicher
Erinnerung und kollektivem Gedächtnis in der deutschen
Erinnerungsgeschichte“261
258
Bernard, S. 5.
Zitat: Jarn, Maria: Die Wirkung der Vergangenheit auf die Gegenwart und deren Verarbeitung in der
Novelle Im Krebsgang von Günter Grass : C-Aufsatz.
http://www.virtuelleallgemeinbibliothek.de/EXTRA1.HTM
260
Vgl, Assmann, A. : Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik.
C. H. Beck. S. 243.
261
Zitat. Ebd. S. 197.
259
66
67
5. Literaturverzeichnis.
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1999.
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