Inszenierung von Erinnerung einer Dreigenerationenfamilie in der Novelle „Im Krebsgang“ von Günter Grass. Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis........................................................................................................ 1 Einleitung .................................................................................................................... 2 1. Kampf um das Individuelle Gedächtnis. ............................................................. 4 1.1. 2. 3. Zu ausgewählten Fragen von Erinnerung und Gedächtnis. ......................... 6 1.1.1. Die Definition von Erinnerung und Gedächtnis. ................................. 6 1.1.2. Arten von Erinnerung. ......................................................................... 9 1.1.2.1. Feld- und Beobachter Erinnerung ................................................ 9 1.1.2.2. Wahre- und Falsche Erinnerung ................................................. 12 Generationen und Vergangenheitsbewältigung ................................................ 15 2.1. Generationen- und Familiengedächtnis. .................................................... 16 2.2. Das Kulturelle Gedächtnis von Jan Assmann ........................................... 20 2.3. Funktions- und Speicher Gedächtnis. ........................................................ 22 2.4. Täter - Opfergedächtnis. ............................................................................ 25 Zur Rethorik der Erinnerung in „Im Krebsgang“ von Günter Grass. ............... 28 3.1. Zum Inhalt des Textes. .............................................................................. 28 3.2. Die Multiperspektivität von Vergangenheit .............................................. 30 3.2.1. Figurendarstellung der drei Generationen in der Novelle.................. 30 3.2.1.1. Tulla - die Alte als gescheiterte Vergangenheitsbewältigung .... 31 3.2.1.2. Paul - die Nachkriegsgeneration ................................................ 35 3.2.1.3. Konrad – die Enkelgeneration .................................................... 42 3.3. Erinnerung und Medialität. ........................................................................ 47 3.4. Erinnerung und Trauma. ............................................................................ 54 3.5. Vermiedene Themen in der Novelle. ......................................................... 58 3.6. Stil und Sprache. ........................................................................................ 63 4. Resümee. ........................................................................................................... 65 5. Literaturverzeichnis. .......................................................................................... 68 1 Einleitung. Die Inszenierung des determinativen Verhältnisses von Identität und Erinnerung zählt zu den rekurrenten und dominanten Themen der zeitgenössischen Literatur. Sehr viele Erzähltexte stellen dar, wie Gruppen und Individuen sich erinnern, wie sie vergessen und wie sie auf der Basis von mehrmals ephemeren Vergangenheitsversionen Identitäten entwerfen1. Gemeinschaftlich ist all diesen Werken, dass sie die mutalle Durchdringung von Identität, Erinnerungen und Erzählungen in ihrer persönlichen bzw. kollektiven Reichweite vor Augen führen und Fragen nach dem signifikanten Leistungspotential von Erinnerungen in den Vordergrund rücken: „Wie lässt sich die Vergangenheit auf der Basis von oftmals polyvalenten, sogar trügerischen Erinnerungen sinnstiftend aufbereiten? Nach welchen Kriterien werden individuelle und kollektive Erinnerungen verfügbar gehalten und angeeignet, andere abgestoβen oder umgeformt? Welche Erinnerungen tragen zur Stabilisierung der Identität bei und welche wirken unter Umständen identitätszersetzend?2 In der nachfolgenden Arbeit wird es darum gehen, sich mit dem Thema „Inszenierung von Erinnerung einer Dreigenerationenfamilie“ an Hand der Novelle „Im Krebsgang“ von Günter Grass zu befassen. Der Aspekt „Erinnerung“, spielt also in der nachfolgenden Darstellung eine zentrale Rolle. Es wird um die Frage gehen, in welcher Weise sich traumatische Ereignisse an Flucht und Vertreibung in Folge des Zweiten Weltkrieges in den Erinnerungen der Generationen gehalten haben. Dies betrifft insbesondere auch den Untergang des Kreuzfahrschiffes „Wilhelm Gustloff s“. Dabei ist am Beispiel von Günter Grass Novelle zu klären, auf welche Weise, bestimmte Erfahrungen und Erkenntnisse heute wahrgenommen werden, wie sich die Beziehungen konkreter Protagonisten verändern, wie jedes Mitglied der Familie innerlich mit dem Trauma auf eigene Art und Weise klarkommt und wie irregeführt heute junge Menschen auf die Geschichte reagieren können. Die Hauptfragestellung betrifft: welche Probleme oder Möglichkeiten sind mit dem Erinnerungsprozess verbunden? Oder welche Absicht hat die problimatische Struktur der Erzählung mit der Komposition von Wirklichkeit und Fiktion? 1 Vgl. Literatur in Wissenschaft und Unterricht ISSN 0024- 4643, Fiction of Memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen Gegenwartsroman. S. 333. Verlag Königshausen & Neuman GmbH, 2 Zitat. Ebd. S. 333. 2 Die historische Katastrophe steht jedoch nicht im Mittelpunkt, sondern eher die Form der Erinnerung an sie sowie der Umgang mit der Vergangenheit z. B. Tabuisierung, Verdrängung und ihre Folgen. Durch Erinnerungen an Vergangenes in Form von Analepsen werden die vergangenen Ereignisse geschildert. Es geht um das wissen der drei Generationen von den Verbrechen, die von Deutschen von 1933 bis 1945 verübt wurden und Fertreibung und Flucht der Deutschen verursacht hatten. Es geht auch um die Abfertigung mit diesem Wissen, das mehrmalig als Opfer und Schuldgefühl bei der Elterngeneration der um 1945 Geborenen vorhanden war und die deshalb die nachstehende Kindergeneration die immer ausgesparten Erinnerungen ermitteln lieβ3. Grass will mit seiner Novelle zeigen, wie Millionen Deutsche ihre Heimat verloren, wie sie verjagt und vertrieben worden sind, nachdem der deutsche Faschismus die Welt mit Völkermord, Terror und anderen Verbrechen überzogen hatte. Seine Novelle schreckt vor einer sehr aktuellen verbrecherischen Vergangenheit auf. Ausserdem werden solche Themen wie : Kampf um das Individuelle Gedächtnis, Generationen und Vergangenheitsbewältigung, Täter- Opfer Aspekt, Befreiender Tabubruch und die Multiperspektivitätet von Vergangenheit am Beispiel der Dreigenerationenfamilie befasst. 3 Vgl. Rüdiger, Bernard: Königs Erläuterungen und Materiallien Band 416, Erläuterungen zu Günter Grass Im Krebsgang, Bange Verlag, 2002, S. 5. 3 1. Kampf um das Individuelle Gedächtnis. "Erinnerung hilft, die Gegenwart wahrzunehmen, gibt ihr Sinn und ordnet sie zwischen Vergangenheit und Zukunft ein; als solche produziert sie Identität. Nur durch sie kann die Wirklichkeit Gestalt annehmen."4 (Etiènne Francois) Durch unsere Erinnerungen erblicken wir, wer wir eigentlich sind, was wir in der Zukunft werden wollen und worin wir uns von anderen Menschen unterscheiden. Unser individuelles Gedächtnis umschlieβt weit mehr als den Erfahrungsvermögen, den wir durch persönliches Erleben erlangt haben. Das menschliche Gehirn und Gedächtnis ist auf die Vermehrung ausgerichtet, die zum einen durch Kommunikation mit anderen Menschen und zum anderen durch Beziehung mit materiellen Zeichen brauchbar wird. Das Individuelle Gedächtnis ist das dynamische vermittelndes Element subjektiver Erfahrungsverarbeitung. Man kann auch vom kommunikativen Gedächtnis sprechen, da das individuelle Gedächtnis nicht selbstständig und rein privat ist. Vielmehr etabliert es sich durch Verständigung, also durch den sprachlichen Austausch mit Mitmenschen (primär Familie, Bekannte, Freunde), wodurch es aufgebaut und verfestigt wird. Das kommunikative Gedächtnis entwickelt sich in einem Milieu regelmäβiger Interaktion, gemeinsamer Lebensformen und geteilter Erfahrungen. Es wird auβerdem von einem spezifischen Zeithorizont bestimmt. Für die Entwicklung einer eigenen Identität sind die individuellen Erinnerungen erforderlich5. Für unsere Erinnerungen gelten bestimmte Merkmale. Erstens sind die persönlichen Erinnerungen perspektivisch und darin unübertragbar und unaustauschbar. Zweitens existieren die Erinnerungen nicht isoliert, sondern sind mit den Erinnerungen anderer verknüpft. Dadurch agieren sie verbindend, gemeinschaftsbildend und kohärent und wahrhaftig zugleich. Drittens sind Erinnerungen fragmentarisch, d.h. beschränkt und ungeformt. Erst durch Schilderungen erhalten sie eine Gestalt und Struktur.6 Und viertens sind Erinnerungen unbestimmt und labil. Manche ändern sich im laufe der Zeit, andere verblassen oder gehen ganz 4 Francois, Etienne: Deutsche Erinnerungsorte, Münnchen 2001 .htt://www.mhudi.de/geschichte- gedaechtnis.html. 5 Vgl. Gansel, Carsten: Magisterseminar: Das Prinzip Erinnerung in der deutschen Gegenwartsliteratur nach 1989, Das individuelle Gedächtnis. 6 Vgl. Aleida, Assman: Der lange Schatten der Vergangenheit- Erinnerungskultur und Geschichstpolitik, Das idividuelle Gedächtnis. C.H.Beck, S. 23. 4 verloren.7 Bei genauer Betrahtung baut sich das individuelle Gedächtnis in einer konkreten Person Kraft ihrer Mitwirkung an kommunikativen Prozessen auf. Es ist eine Bestimmung ihrer Eingebundenheit in mannigfaltige gesellschaftliche Gruppen, von der Familie bis zur Nations- und Religionsgemeinschaft. Das Gedächtnis erhält sich in der Kommunikation und bleibt am Leben; bricht diese ab, bzw. laufen davon oder kaschieren sich in die Bezugsrahmen der kommunizierten Faktizität, ist Vergessen das Fazit. Man erinnert nur, was man kohäriert und was man in den Bezugsnahmen des Kollektivgedächtnisses eruieren kann.8 7 Vgl. Aleida, Assman: Der lange Schatten der Vergangenheit- Erinnerungskultur und Geschichstpolitik, C.H.Beck, S 24-25. 8 Vgl. Assmann, Jan: Das Kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2002. S.36. 5 1.1. Zu ausgewählten Fragen von Erinnerung und Gedächtnis. In diesem Abschnitt der Arbeit werden konkrete Fragen zu Erinnerung und des Gedächtnis diskutiert. Doch zunächst wird es darum gehen, die Begriffe Erinnerung und Gedächtnis genauer zu bestimmmen. 1.1.1. Die Definition von Erinnerung und Gedächtnis. Mit „Erinnerung“ bezeichnen wir abgesonderte und disparate Akte der Wiederherstellung oder der Rückholung individueller Erfahrungen und Erlebnisse. Was nicht davor erlebt oder erfahren wurde, kann künftig nicht erinnert werden.9 Entsprechend heiβt es: „Erinnern ist kein Abhören einer Tonbandaufnahme, sondern ein aktiver Prozeβ“10 Ohne Erinnerungen, könne wir kein Selbst herstellen und nicht mit anderen als subjektive Personen in Verbindung stehen. Auch wenn sie es nicht immer sind, müssen wir unsere Erinnerungen doch für real halten, denn sie sind der Stoff, aus den Beziehungen, Erfahrungen und vor allem das Bild der persönlichen Identität gemacht ist. Nur ein weniger Beitrag unserer Erinnerung ist sprachlich aufbereitet und es bildet das Rückgrat einer Lebensgeschichte. Der überwiegende Teil unserer Erinnerungen dämmert in uns und wartet darauf, durch eine äuβere Gelegenheit „geweckt“ zu werden. Plötzlich danach werden diese Erinnerungen bewuβt, sie gewinnen noch einmal eine sinnliche Präsens und können unter erforderlichen Umständen in Worte gefaβt und zum Permanenz eines verfügbaren Verzeichnis geschlagen werden.11 Was die Persönlichkeit prägt, sind die Erinnerungen an die Lebensgeschichten ,die die Identität formen. Doch nicht die objektiven Lebensdaten spielen hier die Hauptrolle, sondern die Gefühle. Sie filtern, was im Langzeitspeicher landet und was gelöscht wird: „Gefühle", sagt Markowitsch, "sind die Wächter unserer Erinnerung."12 9 vgl. Assmann, Aleida/ Frevert,Ute: Geschichtsvergessenheit- Geschichtsvergessenheit. Stuttgart 1999. S. 35. 10 Zitat: Banyard. P. U.a : Einführung in die Kognitionspsychologie. Ernst Reinharddt Verlag, München 1995, S. 33. 11 vgl. Assmann, Aleida/ Frevert,Ute: Geschichtsvergessenheit- Geschichtsvergessenheit. Stuttgart 1999. S. 103- 104. 12 . http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,444334,00.html 6 Das elementare Verfahren für die Inszenierung der Erinnerung ist die Rückwendung bzw. Analepse: Ereignisse und Erlebnisse in der zeitlichen Abfolge zu einem früheren Zeitpunkt zustande kommen, werden erst später –in der erinnernden Reminiszenzreaktiviert..13 Auβerdem, können Erinnerungen auch individueller Art nur durch Interaktion und Kommunikation im Rahmen sozialer Gruppen entstehen. Genauer gesagt, wir erinnern nicht nur, was wir von den anderen ermitteln, sondern auch, dass was uns andere erzählen und was uns von anderen als bedeutsam bezeugt und zurückgespiegelt wird. Besonders erleben wir bereits in Anbetracht auf andere, im Zusammenhang sozial vorgegebener Rahmen der Relevanz. Schlieβlich gibt es keine Erinnerung ohne Empfindung.14 Was besonders wichtig ist, ist dies, dass die Erinnerung mit der Wirklichkeit zu tun hat, mit un- und mittelbar erfahrenen Empfindungen, mit deren Ordnung und Auffassung, mit dem Wissen um dieselben, mit der Verständigungssituation, die sie aktualisiert, nicht zuletzt mit den Konstruktionsbedingungen, die dabei im Gedächtnis herrschen.15 Resümierend ist festzustellen und hiermit möchte ich die Definition der Erinnerung mit einem Zitat von Daniel.L Schacter beenden, dass: „Erinnerung alles andere als das Sammeln und gezielte Suchen von Momentaufnahmen unseres Lebens im zerebralen Fotoalbum ist; es ist die am stärksten subjektiv und emotional gefärbte Aktivität, mit der Aufgabe anvertraut, lebensgeschichtliche Kontinuität und damit so etwas wie Identivität, Persönlichkeit herzustellen. Erst unsere Erinnerungen machen uns zu Menschen.“16 Als nächstes in einer sehr ausführlicher neurobiologischen Anschauung läβt sich Gedächtnis als konditionierte Veränderung der Übertragungseigenschaften im neuronalen „Netzwerk“ definieren, wobei unter bestimten Bedingungen den Systemmodifikationen (Engrammen) entsprechende neuromotorische Zeichen und Verhaltensweisen vollständig oder nur teilweise reproduziert werden können. Diese Erläuterung können wir in der folgenden Weise ergänzen: Gedächtnis verarbeitet Informationen, die aus der Innen- und Auβenwelt der Struktur kommen, und repräsentiert emotional und kognitiv bedeutungsvolle Gedächtnisinhalte, die sozial 13 vgl. Literatur in Wissenschaft und Unterricht. Verlag Königshausen & Neumann GmbH. Fictions of Memory: Erinnerung und Identität in englischsprachigen Gegenwartsroman. S. 338. 14 vgl.Assmann, Jan: Das Kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2002. S. 36. 15 vgl. Fried, J.: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik.C. H. Beck Verlag. S. 14 16 Zitat: Schacter, Daniel. l: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit ( Deutsch von Heiner Kober) Reinbeck bei Hamburg 2001. S. 30 7 konstituiert sind.17. Gedächtnis, deutet zunächst einmal auf die natürliche Basis für die Operationen und Bedeutungen hin. Es ist ein Kollektivbegriff für aufgespeicherte Erinnerungen für einzelne memoriale Akte und Einträge.18 Zum gröβten Teil sind wir das, woran wir uns erinnern. Ohne Gedächtnis gäbe es keine Ruhe in Erinnerungen an glückliche Augenblicke in der Vergangenheit, keine Wut- und Schuldgefühle, ausgelöst durch schmerzhafte und greifende Erinnerungen. Das Gedächtnis ist der Lager des Mentalen, das Reservoir all dessen das man im Laufe des Lebens lernt.19 Resümierend ist festzustellen und hiermit möchte ich die Definition des Gedächtnisses mit einem Zitat von Meyers beenden : „Das Gedächtnis ist die Erinnerung- ein Hinweis darauf, das Erlentes die Zeit überdauert. Das Gedächtnis ermöglicht es uns, Informationen zu speichern und wieder abzurufen“20. Aus den oben Gesagten ergeben sich Schlussfolgerungen, dass das Gedächtnis die Aufgabe hat, aufgenommene Informationen zu behalten, zu ordnen und wieder abzurufen. 17 vgl. Markowitsch. J/ Welzer, H: Das autobiographische Gedächtnis. Klett-Cotta. Stuttgart 2005. S 7374. 18 vgl. Assmann, Aleida/ Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit. Stuttgart 1999. S.35. 19 vgl. Meyers: Psychologie. Springer Verlag. S 380. 20 Zitat:Meyers: Psychologie. Springer Verlag. S 380. 8 1.1.2. Arten von Erinnerung. Indem die zwei wichtigen Definitionen geklärt worden sind, sollen nunmehr ausführlich die Arten der Erinnerung besprochen werden. 1.1.2.1. Feld- und Beobachter Erinnerung In der Psychologie werden zwei Erinnerungsformen, deren Unterscheidung auf den bekanntesten und einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts Sigmund Freud zurückgeht: nähmlich die Felderinnerungen (field-memories) und Beobachtererinnerungen (observer-memories). In den „Felderinnerungen“, die den Groβteil der Gedanken und der Erinnerungen dominieren, erinnert man sich an die vergangene Erlebnisse aus einer Perspektive, die der faktischen Wahrnehmungsperspektive relativ nahe kommt.. Hingegen in „Beobachtererinnerungen“ herscht eine „Auβenperspektive“ vor, die oder der Erinnernde „sieht“ sich selbst in der erinnerten Szene von einem Beobachterstandpunkt aus. Abgesehen davon, dass letztere Perspektive wird vor allem dann eingenommen, wenn es immer um die Rekonstruktion gewisser objektiver Umstände gehe. Bei Felderinnerungen dagegen, so Freud, führen unsere nahe liegende Erinnerungen und leiten dann unsere Perspektive, wenn wir gezielt bestimmte Emotionen und Gefühle aus einer bestimmten Situation wieder aufleben lassen wollen.21 So stellt Freud in diesem Sinne fest, dass die Beobachtererinnerungen- die von uns als distanzierte Beobachter wahrgenommen werden – seien notwendigerweise modifizierte Interpretationen des primären Ereignisses, das wir ursprünglich aus einer Feldperspektive wahrgenommen haben. Wie Freud es vermutet hat, sehen wir uns meist in älteren Erinnerungen als vorgehende Personen, indem wir jüngere Erinnerungen mehr aus der ursprünglichen Perspektive wiedererleben22. Wenn man sich mehr auf die Gefühle konzentriert, haben wir mit den Felderinnerungen zu tun. Doch wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die „objektiven Umstände“ richten, haben wir dann mit den 21 vgl. Erll, A.: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Angsar Nünning. S 138-139 22 vgl. Schacter, Daniel.l: Wir sind Erinnerungen.Gedächtnis und Persönlichkeit ( Deutsch von Heiner Kober) Reinbeck bei Hamburg 2001. S 45. 9 Beobachtererinnerungen zu tun. Für die Bestätigung dieser These lege ich ein Beispiel zu Grunde. Wenn mam jemanden auffordert, sich die „objektiven Umstände“ ins Gedächtnis zu rufen z.B: sich an etwas zu erinnern, während eine Felderinnerung wahrscheinlicher ist, wenn ich Sie darum bitte, sich auf ihre Instinkte und Empfindungen zu konzentrieren. Dementsprechend wird ein bestimmender Teil Ihrer Erinnerungserfahrung – ob Sie sich als Beteiligter in einem Ereignis sehen oder nichtweitgehend zum Zeitpunkt des Gedächtnisaktes erfunden oder konstruiert. Wie Sie sich eines Erlebnisses oder eines Ereignisses erinnern, hängt nur von den Zielen und Absichten ab, die Sie zu dem Augenblick haben, da Sie sich an den Prozess zu erinnern versuchen23. In diesem Zusammenhang ist noch die Frage nach der Fokalisierung24 zu stellen. Interne25 und externe26 Fokalisierung haben enorme bedeutungen für die Inszenierung von Erinnerungen in den fiction of memory27, den sie bringen zum Ausdruck, was in der kognitiven Psychologie – in Bezug an die Einsichten Sigmund Freuds- als Beobachter- bzw. Felderinnerung bezeichnet wird.28 Interne Fokalisierung geht mit der Inszenierung von Felderinnerung einher. Solche Erinnerungen kennzeichnen sich dadurch, dass sie verflossene Ereignisse auf jeden Fall traditionell aus der reaktualisieren. ursprünglichen Hingegen Perspektive bringt die des damaligen externe Geschehens Fokalisierung der Beobachtungserinnerungen zur Auffassung, mithin solche Erinnerungen, die wir vornehmlich als distanzierte Beobachter unseres vergangenen Selbst vergangenwärtigen. Währenddessen die durch interne Fokalisierung effizierten Felderinnerungen in den fictions of memory immer wieder dazu gebraucht werden, die besondere Eigenschaft vorgangener Geschehens- und Wahrnehmungsweisen in ihrer emotionalen Ausbreitung zu vergegenwärtigen, bringen externe Fokalisierung und die damit einhergehende Auseinandersetzung mit Beobachtererinnerung verblühten eine Erfahrungen im kritisch- reflektierte Lichte derzeitigen Handlungsanforderungen zustande. Interne Fokalisierung und daher verbundene 23 Vgl. Schacter, Daniel. l: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit ( Deutsch von Heiner Kober) Reinbeck bei Hamburg 2001. S 46. 24 Mit der Kategorie der Fokalisierung soll beschrieben werden,aus welchen Blickwinkel eine Geschichte erzählt werden kann. ( nach Gerard Genette.) 25 Interne Fokalisierung ( nach G.Genette)- der Erzähler sagt nicht mehr, als die Figur weiβ. 26 Externe Fokalisierung ( nach G.Genette)- der Erzähler weiβ weniger als die Figur. 27 Fiktionale Texte in denen Erinnert wird. 28 vgl. Schacter, Daniel. l: Wir sind Erinnerungen. Gedächtnis und Persönlichkeit ( Deutsch von Heiner Kober). Reinbeck bei Hamburg 2001. S 45-47. 10 Felderinnerung zeigen ein besonderes passendes Mittel dar, um die anhaltende Virulenz des Abgelaufenen zu inszenieren. Externe Fokalisierung und die dadurch sie wachrufenden Beobachtrerinnerungen veranschaulichen hingegen, in welchem Grad die Deutung des Vergangenen von der jetztigen Perspektivierung abhängt.29 Abschlieβend soll gesagt werden, dass dieser diskursive Perspektivierungsmodus differenziert, das Erinneungen jederzeit von präsentischen Forderungen veranlagt sind und damit auch bewusst „umgeformt“ werden können. Das Fazit der Überlegungen ist, dass eine Felderinnerung eine Erinnerung mit Emotionen ist. Das ist eine Erinnerung die man mit eigenen Augen sehen oder erfahren kann. Dagegen bei den Beobachtererinnerungen ist es eine Erzählte Geschichte. Wir sehen alles aus einer Distanz, aus einer Perspektive. 29 vgl. Neumann, B.: Erinnerung. Identität. Narration. Walter de Gruyter-Berlin-New York 2005. S 173174. 11 1.1.2.2. Wahre- und Falsche Erinnerung. „Wenn es der Fall ist, dass im Erinnern kein Wissen hinsichtlich der Identität von erinnerdem Subjekt und damaligen Erlebenssubjekt enthalten ist, und wenn es der Fall ist, dass es sowohl wahre als auch falsche Erinnerungen gibt, und wenn es der Fall ist, das sich wahre von falschen Erinnerungen nicht phänomenal, d.h. in ihrere Gegebenheitsweise für das sich erinnernde Subjekte unterscheiden“30, dann bedürfen wir noch auβerdem ein Merkmal welches uns sowohl in epistemischer als auch in konstituiver Hinsicht erlaubt, zwischen falschen als auch wahren Erinnerungen zu differenzieren. Aus dem oben Gesagten ergibt sich, dass Erinnerungen irrtumsfällig sind. Erinnerung kann demzufolge ebenso gut eine Rekonstruktion wie auch eine Reproduktion sein, und wir können nicht sicher sein, ob eine Erinnerung faktisch eine Erinnerung ist, nur weil wir den Eindruck haben, es können reale Erinnerungen sein. So wie uns eine Empfindungstäuschung sehr echt vorkommen kann, erscheint uns allenfals auch eine nicht echte Erinnerung, als sehr real.31 Falsche Erinnerungen, die durch die Suggestion von Fehlattribution oder auch durch Fehlinformation der Quelle entstehen, können den Betreffenden deutlich real erscheinen wie echte Erinnerungen und auch sehr eigensinnig sein. Es ist offenbar, dass Menschen nicht nur je nach Lebensalter verschiedene Formen des Zugriffs auf ihre Erinnerungen zeigen, sondern daβ auch diese Erinnerungen selbst Gegenstand höchst allerlei Umschriften, Umdeutungen und Neuerfindungen sind32. Im Allgemeinen zeigt ein Blick in die Literatur zu „false memories“, dass lebensgeschichtliche Erinnerungen allgemein nur mit groβer Bedingung zu rtauen sind. Einige sich wiederhollende Probleme oder Fehler beim Erinnern hat Daniel Schacter in einem Aufsatz (>Seven Sins of Memory<; 1999) aufgelistet: 1. Das erblassen von Erinnerungen. Man kann annehmen, dass die Erinnerungen verschwinden, wenn sie überhaupt nicht in Anforderung genommen werden. Womöglich lösen sich die synaptischen Verbindungen der entsprechenden Engramme auf, wenn die Erinnerung niemals abgerufen wird. 2. Schon im Augenblick der Einspeicherung, entsteht eine weitere Problematik des Erinnerns, denn gewiss ist unsere Empfindung in jeder Situation, in der wir uns 30 Zitat: Quante, Michael: Person. Veröffentlich von Walter de Gruyter, 2007, S. 51. vgl. Müller, Erika: Psychologie. Springer Verlag, 2008, S. 419. 32 vgl. Müller, Erika: Psychologie. Springer Verlag, 2008, S. 419. 31 12 befinden, äuβerst selektiv. In das Langzeitgedächtnis33 werden also nur jener Standpunkt einer Situation überführt, denen unsere Interesse gegolten hat. 3. Des Öffteren scheint der Abruf von Erinnerungen auf die eine oder andere Weise blockiert. Hier handelt es sich meist um temporäre Hindernisse, einiges dursichtig zu erinnern. Man hat das Gefühl, es „läge auf der Zunge“. Man kann davon ausgehen, dass andere Erinnerungpartikel mit derjenigen Erinnerung sich überschneiden. Was besonders interessant ist, glaubt man, dass in solcher Situation man das richtige Wort oder den richtigen Namen weis, nach dem man soeben sucht, kann ihn aber nicht abrufen. Erst später, nach einer bestimmten Zeit oder oft zu einem späteren Zeitpunkt, wenn es dann um ganz andere Sachen geht, fällt uns der gesuchte Namen oder das Wort ein.34. 4. Ein weiteres Problem sind die Fehlererinnerungen – Verwechslung der Quellen oder Irrtümer, aus denen man eine Erinnerung entnommen hat. Der unkomplizierte Import „falscher“ Erinnerungen in das eigene Gedächtnis geht darauf zurück, dass wir uns gewiss einwandfrei an eine Verbindung erinnern können, aber uns immer wieder in der Quelle vertun, aus der wir diese Erinnerung herausholen- (Filme, Bücher), die man als seine eigene wahrnimmt. Was hier noch erwähnt werden muss, ist die Bedeutsamkeit der visuellen Repräsentanz von Erinnerungen. „Gerade das, was einem <noch vor Augen steht>, wovon man noch jedes einzelne Detail buchstäblich zu sehen glaubt, stattet den sich Erinnernde mit der Felsenfesten Überzeugung aus, dass das, woran er sich erinnert, auch tatsächlich geschehen ist“.35 Bemerkenswert und subjektiv sehr schwer einsichtig liegt das aber nicht ausschlieβlich daran, das Erlebnis erst auf der Netzhaut und dann im Gehirn stufenweise eingebrannt hat, sondern daran, dass die neuronalen Verarbeitungssysteme für optische Wahrnehmung und für phantasierte Inhalte sich überkreuzen, so daβ auch rein imaginäre Erlebnisse mit optischer Prägnanz <vor den Augen> des sich Erinnernden stehen können. 5. Ein weiterer bedeutsamer Aspekt bei Erinnerungen infolge von Verwechselungenund Quellen- Amnesien stellt Suggestibilität dar. 33 Langzeitgedächtnis- ist der permanente Wissensspeicher eines Menschen.. Information kann im Langzeitgedächtnis von Minuten bis zu Jahren gespeichert werden (sekundäres Gedächtnis) oder sogar ein Leben lang (tertiäres Gedächtnis). Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Langzeitged%C3%A4chtnis 34 Vgl. Markowitsch, J. H.: Das autobiografische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Konvergenzzonen zwischen den Disziplinen. Klett-Cotta. Stuttgart 2005. S. 29 35 Zitat: Ebd. Markowitsch, J. H. S. 30 13 Die Suggestibilität kann zur Generierung von lebensgeschichtlichen Erinnerungen führen, die keine Einhaltung in der tatsächlichenen Lebensgeschichte haben. 6. Elementar ist es so, dass enstehende Empfindungen und Einstellungen in bezug auf Situationen und Menschen uns dazu anordnen, diese auch entsprechend selektiv wahrzunehmen und zufolge unserer Kategorisierungen zu erinnern. 7. Und zum Schluss ist noch das Problem der Persistenz von Erinnerungen zu andeutendass einem also irgendetwas nicht <aus dem Sinn geht> 36, obwohl man sie daran nicht erinnern möchte. Diese Besonderheit tritt hauptsächlich in Verbindung depressiver Erkrankungen oder traumatischer Erfahrungen auf und kann dazu führen, dass die Patienten andauernd über negative Erlebnisse und schlechte Erfahrungen „grübeln“. Zusammenfassend hat Wolfgang Hell geschrieben: „Eine emotionale Voreingenommenheit in eine Richtung, wiederholtes Abfragen, Suggestionen und vieles andere kann eine falsche Erinnerung auslösen, die für die Betroffenen so real wie eine richtige Erinnerung ist und die für die Zuhörer dieser Erinnerung durch die Lebendigkeit der Schilderung absolut glaubwürdig wirkt.“37 ( Hell, 1998, S. 274). Anhand der oben genannten Diskussionsbeiträgen lässt sich feststellen und zusammenfassen, dass falsche Erinnerungen die keinem vergangengen faktisch erlebten Geschehen entgegenkommen und jedoch als faktisch so erlebt empfunden werden. Sie können entweder rein fiktiv sein oder in bedeutenden Punkten vom wirklichen Geschehen abweichen. 36 Vgl. Markowitsch, J. H.: Das autobiografische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Konvergenzzonen zwischen den Disziplinen. Klett-Cotta. Stuttgart 2005. S. 32. 37 Zitat: Markowitsch, J. H.: Das autobiografische Gedächtnis. Hirnorganische Grundlagen und biosoziale Entwicklung. Konvergenzzonen zwischen den Disziplinen. Klett-Cotta. Stuttgart 2005. S. 32. 14 2. Generationen und Vergangenheitsbewältigung. Mit der Vergangenheitsbewältigung versteht man die Auseinandersetzung einer Nation mit einem problematischen Abschnitt ihrer jüngeren Geschichte, in Deutschland besonders mit dem Nationalsozialismus.38 Dieser Begriff gehört zum Thema jedes Volkes, weil sich jedes Volk auf einer bestimmten Art und Weise mit der Vergangenheit, mit den Ereignissen, Folgen und Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auseinandersetzt. „Das Ziel der Vergangenheitsbewältigung ist die Überwindung einer schmerzhaften Erinnerung um einer gemeinsamen und freien Zukunft willen.“39 Bei den Deutschen wird dieser Begriff sehr stark geprägt, in dem sie mit dem Entsetzen des Zweiten Weltkrieges klarkommen müssen und sich aus der eigenen Vergangenheit eine Lehre nehmenn wollen, wie sich die einzelnen Generationen mit der Vergangenheit beschäftigen, auch dafür werde ich eine Antwort in meiner Arbeit suchen. 38 Duden - Deutsches Universalwörterbuch, 5. Aufl. Mannheim 2003 Zitat: Aleida, Assmann: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. C. H. Beck 2006 S.71. 39 15 2.1. Generationen- und Familiengedächtnis. Wie der Titel der Arbeit lautet, spielt die Definition der Generation der Familie eine wichtige Rolle in dieser Arbeit. Bevor die Definition erläutert wird, wird nur ganz kurz erwähnt, um welche Generationen es sich handelt. Die Hauptprotagonistin Tulla (Augenzeugin) ist Vertreterin der Generation der Überlebenden, Vertriebenen. Paul als Vertreter der Nachgeborenen, nicht persönlich getroffen und Konny als Vetreter der Enkelgenerationen. Unter Generation versteht man die Gesamtheit aller Lebewesen (Eltern, Groβeltern, Kinder und Enkel), die in aufsteigender Linie durch Abstammung verbunden sind und im selben Abstand stehen. Generationen teilen „eine Gemeinsamkeit der Weltauffassung und Weltbemächtigung“40, sie bilden Erinnerungs- , Erfahrungs und Erzählgemeinschaft. Sie begreifen sich selbst als unterschiedlich von vorhergehenden und nachfolgenden Generationen. Das bedeutet, dass die Kommunikation zwischen den Generationen sich immer um eine Grenze des Verstehens dreht, die mit der Zeitlichkeit des erlebens zu tun hat. Der Mensch ist ein soziales Lebewesen. Ohne andere Menschen bleibt ihm der Zugang zur Sprache oder Sitten verwehrt, so wie der Zugang zum eigenen Gedächtnis. Dies liegt daran, dass wir Erfahrungen meist im Kreis oder Umgebung anderer Menschen machen. Diese können uns später helfen, die Ereignisse aus der Vergangenheit zu erinnern. Doch die Frage lautet: Wie entsteht Vergangenheit? Auf diese Frage möchte ich mit dem Zitat von Maurice Halbwachs antworten: „Vergangenheit, so lautet die nicht minder lakonische Antwort, entsteht, indem man über sie spricht“41 Unter diesem Zitat ist zu verstehen, das man die Vergangenheit nennen kann, wenn sie in Gesprächen, in Rückbezügen auf Ereignisse, in mündlichen Austausch von Erfahrungen, die man auf seine eigene Art und Weise erlebt hat, wodurch sich jener gemeinsame Bezugshorizont Generationengedächtnis. Eine bildet. Eine Altersgruppe allseitige wird Besonderheit gemeinsam ist geprägt das durch hervorkommende Erlebnisse, die durch Denk- und Sprechweisen, durch Mitmenschen und Vorbilder, durch Traumata und Utopien entstehen. Dieses Gedächtnis lebt solange, 40 Zitat .vgl. Assmann, Aleida/ Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit. Stuttgart 1999. S. 38. Zitat: Aleida, Assmann: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. C. H. Beck 2006 S.26. 41 16 bis die Angehörigen einer Generation leben.42 Aus dem oben Gesagten ergeben sich Schlussforderungen, dass das Generationengedächtnis sich über das Milieu von Bekanntenkreis und Familie, als auch weitaus gröβere Gedächtnisebene- die einer Gemeinde, einer Stadt oder einer Generation hinaus bezieht. Der Mensch kontaktiert und teilt sich seine Erinnerungen nähmlich vor allem auch mit seinen Mitmenschen. In einer Geselschaft wird das Gedächtnis wesentlich durch den Wechsel der Generationen bestimmt. Nach ca. 40 Jahren –mit jedem Generationenwechsel verschiebt sich das Erinnerungsprofil einer Geselschaft sichtbar43. Das Generationengedächtnis ist durch bestimmte Merkmale gekenzeichnet. Ersens, ist in einer Altersgrupe ist jeder Mensch von historischen Schlüsselerfahrungen geprägt und teilt mit seinen Zeitgenossen dadurch Haltungen, Überzeugungen, geselschaftliche Wertmaβstäbe, Weltbilder und kulturelle Deutungsmuster. Zweitens, im Alter von 12 bis 25 Jahren sind Individuen für lebensprägende Erfahrungen besonders aufnahmefähig. Drittens, ist das Generationengedächtnis ein wichtiges Element in der Konstitution des individuellen Gedächtnisses. Und viertens, dreht sich die Kommunikation zwischen den Generationen um die Grenze des Verstehens, die mit der Vergänglichkeit des Erlebens zu tun hat. Man kann seiner Zeit nicht entgehen.44 Das Familiengedächtnis ist durch geneologischer oder historischer Interessen die durch Dokumente und Aufzeichnungen gestreckt und gestützt werden besonders bekannt. In der Regel umfasst es die Zeitspanne von drei Generationen (die schon erwähnt worden sind), die miteinander im ständigen Kontakt bleiben, von – und übereinander wissen und sich untereinander austauschen.45 Was besonder wichtig bei den Familiengedächtnis ist, sind die Familienmitglieder, die den Erfahrungshorizont des Familiensleben teilen. Durch mündliche Erzählungen, wie z.B. bei Familienfesten, haben auch die jenigen teil, die das Erinnerte nicht selbst miterlebt haben. Auf diese Art und weise findet ein „Austausch lebendiger Erinnerungen zwischen Zeitzeugen und Nachkommen statt“. 42 vgl. Assmann, Aleida/ Frevert,Ute: Geschichtsvergessenheit..Stuttgart 1999. Angela Keppler: Soziale Formen individuellen Erinnerns. S.142 43 Vgl. Gansel, Carsten: Magisterseminar: Das Prinzip Erinnerung in der deutschen Gegenwartsliteratur nach 1989 44 Vgl. Gansel, Carsten: Magisterseminar: Das Prinzip Erinnerung in der deutschen Gegenwartsliteratur nach 1989. 45 vgl. Aleida, Assmann: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. C. H. Beck 2006 S.22. 17 Darum, wie sich die ältesten Mitglieder der sozialen Gruppe zurückerinnern können, reicht daher so weit das kollektive Gedächtnis.46 Das Erzählen von Geschichten ist ein wichtiger Teil in einer Familie, besonders die Übergabe der Informationen. Durch solche Informationenübergabe bildet sich bei einer Familie eine Gruppenidentität. Wie es schon gesagt wurde, dehnt sich durch Zuhören, Erzählen und Weitererzählen die Reichweite der eigenen Erinnerungen aus. Enkel und Kinder nehmen einen Teil der Erinnerungen der älteren Familienmitglieder in ihren Erinnerungsvermögen auf, in dem sich selbst Gehörtes und Erlebtes überkreuzen. Dieses Drei- Generationen-Gedächtnis ist eine existentielle Sichtgrenze für individuelle Erinnerungen und festlegend für den eigenen Rekurs in der Zeit.47 Nicht nur, dass die Familienangehörigen oft eigene Versionen und Interpretationen aus den eher nebulösen Geschichten und episodischen Fragmenten aus der Familienvergangenheit zusammenstellen, die dann ihrerseits den Ausgangspunkt und Grundgedanken, für jahre- und jahrzehntelange Weitererzählungen bilden- auch die Tatsache, dass man eigentlich nichts Bestimmtes über die historische Rolle und Funktion der Groβeltern weiβ, stört in der Regel die Kinder und Enkel bei der Verfertigung ihrer jeweiligen Lesarten der Vergangenheit nicht48. Im Gegenteil: häufig sind es die lückenhaften, wiedersprüchlichen und überhaupt nebulösen Erzählungen, die es den Lauscher erlauben, sich die Geschichten und Erzählungen zu eigen zu machen, indem sie es mit persönlichen Vorstellungen und Geschichten illustrieren und auffüllen. Erzählungen und Geschichten aus der NS-Vergangenheit werden nicht in niederlegender Form von einer Generation an die folgenden Diskussion weitergegeben, sondern im intergeneriationellen Gespräch gemeinsam verfertigt. Also, es sind gerade nicht die detallierten, hermetischen und eindeutigen Erzählungen, die tradierungsgeeignet sind, dagegen solche, die situativ fesselnd, offen und persönlich affizierend sind. Derlei Erzählungen ermöglichen, eine aktive Übernahme des Berichteten- es handelt sich hiermit nicht um das Hören, sonder um das Gestalten einer Historie, was auf der einen Seite emotionale Qualität hat.49 Kurz gesagt: Geschichten werden tradiert, wenn sie von fremden zu persönlichen und eigenen geworden sind. 46 vgl.Astrid, Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Verlag J.B.Metzler Stuttgart/ Weimar 2005 47 vgl. Aleida, Assmann: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. C. H. Beck 2006 S.26. 48 Vgl. Waltraud<Wara>Wende(Hg) : Krieg und Gedächtnis. Königshausen &Neuman 2005. Krieg der Generationen- Zur Tradierung von Vergangenheit und Krieg in deutschen Familien. Harald Welzer ( Essen). S.58 49 vgl. Ebd. S. 59. 18 „Die Gespräche nun, die in Familien bei Tisch oder bei festlichen Gelegenheiten gefürt werden, zeihnen sich durch ein signifikantes Repertoire kommunikativer Gattungen aus. Durch eine Untersuchung dieses Repertoires läβt sich ermitteln, wie Familien ihre Identität als Familie Tag für Tag produzieren und reproduzieren. Natürlich müssen Familienangehörigen etwas haben, worüber sie sprechen können, und müssen dabei auch inhaltlich vielerlei gemeinsam haben.“50. Anhand der oben genannten Diskussionsbeiträgen lässt sich feststellen und hier möchte ich meine Gedanken und Schlussfolgerungen mit einer These von Halbwachs abschlieβen, dass die Familie wie jedes Kollektivgebilde ein persönliches Gedächtnis hat. Familienzugehöriegen erinnern sich, wenn sie zusammen oder getrennt sind, an die gemeinsame Familienvergangenheit. Die Potenzialität der Erinnerung ist dabei auf jeden Fall an die Dauerhaftigkeit und Ehrlichkeit der Gruppe gebunden. Denn Familienerinnerungen bestehen nicht nur aus dem, was das individuelle Gedächtnis z.B.von gewissen Verwandten erinnert. Familienerinnerungen implizieren auch eine kollektive Vorstellung von der Familie.51 Bedingungslos stellt das Familiengedächtnis aus der Vergangenheit behaltene Grundlagen solcher Eigenschaft einen Rahmen her, den es unversehrt zu halten sucht, und in gewisser Weise zur traditionellen Ausstattung der Familie gehört. Vielfach werden in jeder Familie und jeder Generation Erinnerungen miteinander verglichen, ausgetauscht und einander soweit als möglich angeglichen. 50 51 Zitat: Assmann, Aleida/ Frevert,Ute: Geschichtsvergessenheit. Stuttgart 1999. S.141. vgl. Ebd. S.143. 19 2.2. Das Kulturelle Gedächtnis von Jan Assmann. Jan Assmann fasst in „Kollektives Gedächtnis und klturelle Identität“ (1988) den Begriff‚ kulturelles Gedächtnis‚ zusammen als : „(...) den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand und Wiedergebrauchs- Texten,- Bildern, und – Riten (...), in deren „Pflege“ sie ihr Selbstbild stabilisiert ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschlieβlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt“.52 Zu verstehen ist, dass das kulturelle Gedächtnis sich auf der Ebene oberhalb des kollektiven Gedächtnisses befindet. Seine Aufgabe ist es ebensfall, Wissen und Erfahrung über die Generationenschwelle zu transportieren und so ein Langzeitgedächtnis auszubilden53. Das kulturelle Gedächtnis richtet sich Fixpunkte in der Vergangenheit. Aber auch in ihm vermag sich die Vergangenheit nicht als solche zu verhalten. Vergangenheit geriet hier vielmehr zu magischen Figuren, an die sich die Erinnerung anklammert. Über Erinnern bildet sich das kulturelles Gedächtnis, und dieses ist Basis eines, reflektierenden, offenen Umgangs mit der Vergangenheit. Wer sich dem Erinnern verwehrt, lauft Gefahr, dass ihn die Vergangenheit einholt.54 Mit dem kulturellen Gedächtnis wird sehr vieles erinnert; d.h. geregelt, gelehrt, überliefert, gedeutet, erforscht, praktiziert und geübt, weil es zu uns gehört, weil es gebraucht wird und uns trägt und deshalb von uns getragen wird und weitergetragen werden muss. Aber nicht nur in schriftlosen oder „oralen“ Genossenschaften deckt sich die Dauer des Gebrauchten mit dem Insgesamt des kulturellen Gedächtnisses. In Schriftkulturen breitet sich überlieferter, in magischer Formen ausgelagerter Wahrnehmungsvermögen zu riesigen Archiven, von denen nur mehr oder weniger beschränkte zentrale Teilbereiche wirklich bewohnt, gebraucht und bewirtschaftet werden, während sich darum herum Gebiete den nicht mehr Verwendeten ablagern, die im Grenzfall dem völlig weglaufen und vergessen gleichkommen55. Aleida Assmann hat daher zwischen Funktions- und Speichergedächtnis einen Unterschied gemacht. Das besondere des kulturellen Gedächtnisses ist es, durch die 52 Zitat: In: Konzepte der Kulturwissenschaften Theoretische Grundlagen- Ansätze- Perspektiven, Hg. V. Anssgar u. Vera Nünningen, Satuttgart/ Weimar 2003, S. 172. 53 Vgl. Gansel, Carsten: Magisterseminar: Das Prinzip Erinnerung in der deutschen Gegenwartsliteratur nach 1989 54 vgl. Mauser, W/ Pfeiffer.J: Erinnern. Veröffentlicht von Königshausen und Neuman 2004. S.5. 55 vgl. Jan, Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis. C.H.Beck 2007., S.38 20 Auslagerung von Erinnerungen, Wissen und Erfahrung auf einen komplexen Überlieferungsbestand parabolischer Formen zeitliche Beständigkeit zu bewahren. Die Veräuβerung des Gedächtnisses ist ein „Akt der Semiotisierung“56 von Artefakten wie Skulpturen, Bildern, Texten, Architektur und Rituale, aber auch zeitlicher und räumlicher Ordnung wie Landschaften und Denkmäler bzw. Bräuchten und Festen. Das kulturelles Gedächtnis ist daher keine Metapher, dagegen umfasst tatsächliche „lieux de memorie“.57 Für das kulturelles Gedächtnis wichtig sind nicht die faktischen, sondern nur erinnerte Geschichten. Man kann also sagen, dass im kulturellen Gedächtnis faktische Geschichten in erinnerte und damit in Mythos58 transformiert wird. Durch Erinnerung wird die Geschichte zu einem Mythos. Aus diesen Grund wird sie nicht unrealistisch, sondern im Gegenteil erst Realistisch in Sinne einer fortdauernden formativen und normativen Kraft. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass die Merkmale des kulturellen Gedächtnisses folgendermaβen sind: Erstens, bedarf der Überlieferungsbestand des kulturellen Gedächtnisses im historischen Wandel der dauernden Anpassung und Erneuerung sowie der Diskussion und Deutung. Zweitens, ist das Problem des kulturellen Gedächtnisses die Tendenz zur Entfernung vom lebendigen Bewusstsein Drittens, ist die Konservierung und Pflege der Bestände für diese Gedächtnisform die Voraussetzung. Erst durch individuelle Wertschätzung, Wahrnehmung und Aneignung, wie Medien, kulturelle Einrichtungen und Bildungsinstitutionen vermitteln, wird das kulturelle Gedächtnis geformt. Viertens, hilft es den Bürgern einer Gesellschaft, in langfristiger historischer Perspektive überlebenszeitlich zu kommunizieren. Und fünftens, wiedersetzt sich den typischen Engführungen des kollektiven Gedächtnisses, d.B. Seine Bestände lassen sich nicht vereinheitlichen und politisch instrumentalisieren59 56 Vgl. Assmann, J. : Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in früheren Hochkulturen. Verlag C. H. Beck München 2005. S.77. 57 Nora: Zwischen Gedächtnis und Geschichte, S. 32.: Zu verschiedenen „ Erinnerungsorten:“ vgl. auch Assmann, A. : Erinnerungsräume, S.298. 58 Mythos – ist eine fundierende Geschichte , eine Geschichte, sie erzählt wird, um eine Gegenwart vom Ursprung her zu erhellen. (vgl.J.Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. S.52.) 59 Vgl. Gansel, Carsten: Magisterseminar: Das Prinzip Erinnerung in der deutschen Gegenwartsliteratur nach 1989. 21 2.3. Funktions- und Speicher Gedächtnis. Das kulturelle Gedächtnis bildet sich nicht nur nachträglich durch Aufsammeln und Beibehalten, sondern auch beharrsam als Selektion einer Mitteilung und Sammlung eines Erbes für die Nachwelt einer unbestimmten Zukunft. Um dies besser zu erfassen, müssen wir die „Speichergedächtns“ Dynamik und des dem kulturellen Gedächtnisses „Funktionsgedächtnis“ zwischen unterscheiden. dem Diese Unterscheidung bringt die Struktur vom Gedächtnis ab, in dem Erinnern und Vergessen nahe ineinander greifen und beieinander liegen. „Denn vieles, was wir vergessen haben, ist nicht für immer verloren, sondern uns nur zeitweise unzugänglich“.60 Was in einem Gedächtnis aus irgend einen Grund des Vergessens zurückgesunken ist, kann unter bestimmten Aspekten wieder an die Auβenseite steigen. Was wir Vergessen nennen, ist im Prinzip ein latentes Gedächtnis, zu dem wir nur die Chiffre verloren haben; wenn es nicht beabsichtigt getroffen wird, kann ein Stück von der Vergangenheit zurück kehren.61 Wir können nur von solch einer Rückkehr sprechen, wenn konkrerte Elemente der im Speichergedächtnis sedimentierten Überlieferungsbestände auf eine neue Art und Weise vom Erkenntnis der Gegenwart angestrahlt werden, wobei die Überlegungen der Gegenwart anhand bestimmter Bestände sich umgekehrt formieren. Nach Aleida Assmann kommen dann die Spuren der Vergangenheit, mit den Überlegungen der Gegenwart in eine Lesbarkeit. Was charakteristisch für das Funktionsgedächtnis ist, ist ein ständiger, notorischer Platzmangel. A. Asmmann meint damit, was ins Funktionsgedächtnis hineingelangt, ist durch drastische Verfahren der Auswahl hindurchgegangen. Was eine Aufnahmemöglichkeit im Funktionsgedächtnis einer Gesellschaft hat, hat auch Anforderung auf immer neue Deutung, Aufführung, Lektüre und Ausstellung. Solche andauernde Betreuung und Auseinandersetzung kann dazu führen, dass konkrete kulturelle Artefakte nicht unbekannt werden und gänzlich schweigen, sondern über Generationen hinweg renoviert werden durch die Vermittlung mit einer ständigen anderen Gegenwart. Nach einer weiteren Untersuchung von A. 60 Zitat: Assmann, Aleida: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur Geschichtspolitik. C. H. Beck 2006 S.55 .F. G. Jürgen spricht in seinem Buch „ Gedächtnis Erinnerung“ von <Verwahrensvergessen>. 61 vgl. Assmann, Aeida: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur Geschichtspolitik. Von individuellen zu kollektiven konstruktionen der Vergangenheit. SpeicherFunktionengedächtnis. S.55. C. H. Beck 2006 . 22 und und und und Assmann, ergibt sich das Speichergedächtnis als ein Gedächtnis, dass aufs Ganze gesehen einen geringen Teil kultureler Erbschaft bringt. Das bedeutet, es ist schon immer ein Resultat des Vergessens gewesen. Auch hier wirken Mechanismen der Vernichtung, der Auswahl, der Entwertung und des Verlustes. Die Pflege und Konservierung der Bestände sind deshalb die Bedingung für ein kulturelles Gedächtnis. Doch erst durch persönliche Wahrnehmung, Hochachtung und Aneignung, die durch Medien und kulturelle Einrichtungen und Bildungsinstitutionen übertragen werden, wird daraus auch ein kulturelles Gedächtnis. Das Speichergedächtnis ist ein kulturelles Dokument, in dem ein bestimmter Anteil der materiellen Überreste verblühten Epochen aufgehoben wird, als diese ihre lebendigen Kontexte und Bezüge zu schweigsamen Zeugen der Vergangenheit, wenn die mit ihnen nah vertrauten Mitteilungen und Erinnerungsvermögen verloren gegangen sind.62 A. Assmann berücksichtigte, dass die im Speichergedächtnis aufbewahrten Überreste unterscheiden sich ausffallend von den in Funktionsgedächtnis aufgehobenen Artefakten, die gegen den Verfahren des Fremdwerdens und Vergessens separat gestützt sind. Solche institutionell hergebrachte Langzeitstabilität der Artefakten schlieβt hingegen Erneuerung und Wandel im kulturellen Gedächtnis in keiner Weise aus. Diese entstehen dadurch , dass zwishen den Funktions- und Speichergedächtnis die Grenze nicht hermetich ist, sondern in beiden Richtungen ausgeleuchteten <aktiven> Funktionsgedächtnis fallen beständige Bestandteile ins Archiv zurück, die an Beteiligung verlieren. Aus dem <passiven> Speichergedächtnis können neue Enthüllungen ins. Funktionsgedächtnis herausgeholt werden. Anhand der oben genannten Diskussionsbeiträgen lässt sich feststellen, dass das eine ist ein individuell angeeignettes Gedächtnis, das aus dem Verfahren der Rahmenbindung hervorgeht, das andere gleicht einem „nicht begrenzten Archiv mit seiner ständigen sich vermehrenden Masse von Informationen, Dokumenten, Daten, Erinnerungen.“63 Das Funktionsgedächtnisses. Speichergedächtnis Zwischen den beiden bildet das Fundament Gedächtnissen, also des zwischen aktualisierten und nichtaktualisierten Elementen, spielt sich ein Binnenverkehr ab. Er ist 62 vgl. Assmann, A.: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Von individuellen zu kollektiven konstruktionen der Vergangenheit. Speicher- und Funktionengedächtnis. S. 57. C. H. Beck 2006 63 vgl. Assmann, A: Erinnerungsräume: Formen und wendungen des kulturellen Gedächtnisses. München, 1999, S.137. 23 die „Bindung der Alternative von Umbildung und Erneuerung in der Struktur des Bewusstseins, das ohne den Hintergrund jener amporhen Reserve ertarren würde.64 Über ein Funktionsgedächtnis errichteten sich kollektive Handlungsobjekte wie Nation oder Staat, weil sie sich in ihm eine konkrete Vergangenheitskonstruktion herrichten. Dagegen das Speichergedächtnis begründet keine Identität. Seine bestimmende Aufgabe besteht darin, mehr und anderes zu erhalten, als es das Funktionsgedächtnis zulässt. Auf die Rolle des Funktionsgedächtnisses eingehend nennt Aleida Assmann Legitimation, Delegitimation und Distinktion. Der Weg zur permanenten Erneuerung setzt eine hoche Durchlässigkeit der Grenze zwischen Funktions- und Speichergedächtnisses voraus. Wird die Grenze offengehalten, kommt es viel leichter zu einem Austausch der Elemente und einer Unstrukturierung der Sinnmuster. Wenn man nach der Brauchbarkeit der beiden Gedächtnissen fragt, lässt sich feststellen, dass die Kulturwissenschaften keins verallgemeinern. „Gewiss ist nur, dass weder Kulturen ohne kollektives Gedächtnis überlebensfähig sind noch Individuen ohne persönliche Erinnerung “.65 64 vgl. B. Neuman/ D. Albrecht/ A. Tolarczyk: Literatur, Grenzen, Erinnerungsräume: Erkundungen des deutsch-polnisch-baltischen Ostseeraumes als einer Literaturlandschaft. Königshausen und Neumann. 2006 65 Zitat: H.Böhme/ P.Matussek/L.Müller: Orintierung. Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. Hamburg 2000, S.154. 24 2.4. Täter - Opfergedächtnis. Man definiert einen Täter als einen Menschen, der eine Straftat begeht, oder der in einen Verbrechen teilnimmt. Und unter dem Begriff Opfer versteht man jemanden, der durch jmdn., etweder umkommt oder einen Schaden erleidet. Diese beiden Begriffe sind neu in der Geschichte, wo es nur von Verlierern und Siegern die Rede war. „Während des totalen Krieges, den die Deutschen in erbarmungsloser Weise entfesselt und mit dem sie ganz Europa in Brand gesteckt haben, wurden immer gröβere Teile der Zivilbevörkerung in den mörderischen Strubel hineingerissen.“66 Dieser Krieg blieb dabei nicht auf militarische Maβnahmen beschränkt. Die Vernichtung der Juden ist im Schutz und Schatten dieses Krieges erheblich umgesetzt worden. Deshalb standen sich nach diesem Krieg nicht mehr Besiegte und Sieger gegenüber, sondern auch Opfer und Täter. Oft wird auch in der Geschichte vom „Opfer-Täter“ Aspekt gesprochen. Insbesondere in den Nachkriegsjahren war es von groβer Bedeutung für die Deutschen, dass sie sich an irgendetwas festhalten konnten, und aufgrund dessen entstand auch der „Opfermythos“. Dies war auch sehr wichtig für die eigene Echtheit der Deutschen, die sich in den 50- ger Jahren und am Anfang der 60- ger Jahre von neuem aufbaute: „(...) die Möglichkeit, eine positive, von eigener historischer Schuld weitgehend unbelastete Identität zu entwickeln, die der Tätergeneration die Auseinandersetzung mit dem Holocaust und den Verbrechen des Nationalsozialismus sowie mit der Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg erleichterte oder gänzlich ersparte. Die mögliche Erinnerung an den Holocaust und die Kriegsverbrecher wurde so in der Nachkriegszeit von der Erinnerung an die eigene Opfer überlagert.“67 Seit 1989/90 hat sich unter Flüchtlingen, Aussiedlern und Vertriebenen sowie ihren Nachfahren eine Art des privaten Erinnerns entwickelt. Beteiligte der Erinnerungsliteratur der letzten Jahrzehnte sind Verlierer und Sieger sowie Täter und Opfer, d.h. jene Gemeinschaft, die als Erwachsene den Holocaust, den Nationalsozialismus und vor allem den Krieg er- und überlebten, mitgestalteten bzw. 66 Zitat: Assmann, A: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Opfer und Täter. S. 72.C. H. Beck 2006 67 Zitat: Münz, Reiner ;Ohliger, Reiner : Auslandsdeutsche. In : Francois, Etienne; Schulze, Hagen (Hgg.): Deutsche Erinnerungsorte I. München: C. H. Beck. 2001. S. 385. 25 ausführten.68 Aleida Assmann kategorisiert das Kollektivgedächtnis nach 1845 als Täter- und Opfergedächtnis. Kennzeichen solcher Gedächtnistypen ist, dass sie komplexe und vielfältige Gesichts- Erfahrung auf ein Erlebnis reduzieren, um aus ihm die Vergangenheit für die Handlungszusammenhänge der Gegenwart zu instrumenlalisieren.69 Das Tätergedächtnis ist das logische Gegenbild zum Opfergedächtnis. In ihm führt jedoch der Affekt nicht nur zur Stabilisierung, sondern zur massiven Ablehnung von Erinnern, zumal sich das Tätergedächtnis weder auf öffentliche Rituale und Symbole noch auf politische Sinngebung stützen kann. Erlittenes Leid, Schmerz und erfahrenes Unrecht schreiben sich über Generationen tief ins Gedächtnis ein, Scham und Schuld dagegen führen zum Abdecken durch Schweigen.70 Das Tätergedächtnis verfestigt sich von innen durch ein kollektives Verhalten des Verdrängens und Beschweigens, der auch noch die nachstehenden Generationen in seiner Acht zieht, und von auβen durch die Erinnerung des betroffenen Opfergedächtnisses. Die Ersten, die die Funktion des Tätergedächtnisses kennenlernten, waren die Soldaten, die aus dem Krieg nach Hause kehrten. Sie hatten das Gefühl, dass ihnen nicht der Respekt und die Ehre erwiesen worden war, die sie für ihre Gefangenschaft und für ihren Kriegsdienst verdienten. Anstatt als vaterlandsliebend geheiβen zu werden, wurden sie sehr stark mit der Gesellschaft konfrontiert. Einen konkreten Beispiel ist es schwer für das Tätergedächtnis zu finden, denn so leicht es ist, fremde Schuld zu erinnern, desto schwierig ist es dagegen, der eigenen Schuld eingedenk zu sein. Das bedarf gewöhnlich einen starken äuβeren Druck. Die paralysierenden Folgen eines Tätergedächtnisses, die den Drang zu vergessen haben und die Sehnsucht nach einem Schluβstrich die Mitscherliches präzise beschreiben. Dem Opfergächtnis entspricht kein klares Tätergedächtnis, denn grade Täter sich nicht um öffentliche Anerkennung bemühen, sondern im Gegenteil um Unsichtbarkeit.71. Elend stärkt das Selbstbild, Schuld droht es zu vernichten. Dadurch entsteht die fundamentale Asymetrie zwischen Opfer- und Tätergedächtnis. Der beschlieβende Unterschied zwischen dem Verhältnis von Besiegten und Siegern einerseits und zwischen Opfern und Tätern anderseits ist der, dass zwischen letzteren keinerlei Arten 68 vgl. Behnken, Imbke/ Mikota, Jana: Gemeinsam an der Familiengeschichte arbeiten. Texte und Erfahrungen aus Erinnerungswerkstätten. Jurenta Verlag, 2008, S.32. 69 vgl. Urban, Annika : Zur Erinnerungskultur in Deutschland- am Beispiel der Gedenktage von 1871 bis in die Gegenwart. Veröffentlicht von GRIN Verlag, 2007. S.24. 70 vgl. Assmann, Aleida/ Frevert,Ute: Geschichtsvergessenheit..Stuttgart 1999. S. 45. 71 vgl. Assmann, A: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Tätergedächtnis. S. 81.C. H. Beck 2006 . 26 der Wechselseitigkeit vorhanden sind. Wo überhaupt nicht gekämpft wird, sondern es in einer entsetzlichen Asymmetrie von überwältiger Macht und hilflosen Ohnmacht nur Vernichtung und Verfolgung gibt, kommen auch keine politischen Ziele, Werte oder Motive ins Spiel, die die Verfolgten hätten gegen die Vernichtungskraft aufbieten können.72. Die Verfolgten waren keine Widerstandskämpfer, sondern nur passive Opfer, die sich auf das, was ihnen herankommen, in keiner Weise bereitmachen, schon gar nicht zur Wehr setzen konnten. Solch eine Erfahrung war mit den heroischen Formen der Erinnerung und der Erfahrungsverarbeitung nicht mehr zu fassen. Für diese Erinnerung entsteht eine neue Form des Problems, die sich erst über Jahrzehnte hinweg entwickelte und um den neuen Begriff des Traumas kristallisierte. Das traumatische Opfergedächtnis unterscheidet sich in vielem vom heroischen Opfergedächtnis. So problemlos es ist, sich der Macht und der Verluste im Modus des heroischen Opfers zu erinnern, so hoffnungslos ist dies im Modus des traumatischen Opfers.73 Nach dem Zweiten Weltkrieg ist das Tätergedächtnis in Deutschland von der Abwehr von Erinnerung und dem Bedürfnis nach einem Neubeginn ohne Aufarbeitung der Vergangenheit gekennzeichnet. Gleichzeitig formiert sich unter den Opfern des Nationalsozialismus ein Opfergedächtnis innerhalb jener Gruppen, die ein politisches Kollektiv gründen können. Es zielt darauf ab, die Erinnerung an das erlittene Unrecht wach zu halten und in die eigene Identität einzubinden. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit, werden nicht durch Vergessen, sondern in einer von Opfern und Tätern geteilten Erinnerung aufgehoben“.74. Dies bedeutet, dass für die Traumata der Geschichte, die nicht aus Kriegshandlungen, sondern aus Taten der Dehumanisierung, Ausbedeutung und Zerstörung unschuldiger Menschen hervorgehen, gibt es keine hochbringende Kraft des Vergessens. 72 vgl. Assmann, A: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Heroisches und traumatisches Opfergedächtnis. S.74.C.H.Beck 2006 . 73 vgl. Assmann, A: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Heroisches und traumatisches Opfergedächtnis.S.74.C.H.Beck 2006 . 74 Zitat: Assmann, A: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Die Wende im Opfergedächtnis. S.79. C.H.Beck 2006 27 3. Zur Rethorik der Erinnerung in „Im Krebsgang“ von Günter Grass. Nach einer ausführlichen Beschreibung der Theorie, komme ich nun zum Gegenstand einer narratologischen Analyse. 3.1. Zum Inhalt des Textes. Günter Grass greift in seiner Novelle „Im Krebsgang“ ein jahrelang Zeit tabuisiertes Thema auf: Das Elend der ostpreuβischen Flüchtlinge am Ende des Zweiten Weltkriegs.75 Im Mittelpunkt dieser Geschichte steht die Versenkung des Kreuzfahrschiffes „Wilhelm Gustloff “am 30. Januar 1945. Grass setzt das Schicksal von drei realen Personen (Willhelm Gustloff, David Frankfurter und Alexander Marinesko) mit dem Schicksal einer fiktiven Familie (Tulla, Paul und Konrad Pokriefke) zusammen. Paul Pokriefke, der auch der Ich- Erzähler der Novelle ist, wurde am Tag der Versenkung (30. Januar 1945) des Kreuzfahrschiffes „Wilhelm Gustloff geboren. Seine noch frische , werdende Mutter Tulla Pokriefke, hält sich unter den Passagieren auf und wird beim Untergang des Schiffes gerettet werden. Pauls Leben ist durch dieses Ereignis geprägt, vor allem weil seine Mutter ihn ständig drängt, die ganze Geschischte schriftlich aufzuschreiben. „Wie aisig die See jewesen is und wie die Kinderchen alle koppunter. Das muβte aufschraiben. Biste ons schuldig als glücklich Leberlebender. Werde ech dir aines Tages erzählen, klitzklein, ond denn schreibst auf...“ 76 Im Laufe der Geschichte stellt Paul ( mittelmäβiger Journalist) fest, dass sein Sohn Konrad der durch zahlreiche Geschichten von der Vergangenheit, die von seiner Groβmutter erzählt worden sind, ebensfalls Interesse an der vom Untergang entwickelt hat.77 Paul verfolgt dem nicht in Wirklichkeit vorchandenen Streit Durch Zufall findet Paul im Internet die Webseite „www.blutzeuge.de“, auf deren der 1936 von dem Juden David Frankfurter ermordeten Nazi Wilhelm Gustloff als Märtyrer gefeiert wird. Konrad auch Konny genannt ist anonym in dieser virtuallen Welt und kann sich mit anderen Chattern über die Gustloff- Thematik zwischen den Feind- Feunden mit dem 75 Vgl. http://www.dieterwunderlich.de/Grass_krebsgang.htm#cont. 26.04.2009. Grass, Günter: Im Krebsgang. Eine Novelle. München, 2002, S. 31. 77 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Im_Krebsgang. 26.04.2009. 76 28 Chatnamen David und Wilchelm, was ihnm nicht am Anfang bewusst wird, dass unter dem Chatnamen Wilhelm, sein Sohn Konrad steckt. Nach zahlreichem Chatten, kommt es zur einer Begegnung zwischen den Beiden „Freund- Feinden“. Beim Treffen befleckt Wolfgang in Konrads Augen die damalige Gedenkstätte Gustloffs in dem er drei mal Spuckt, sodass Konny, der zum Schluss der Novelle ohne Wahrnehmungsvermögen für die Wirklichkeit rechtsradikal geworden ist, erschieβt David, um den Blutzeugen zu bestrafen. Was sich zum Schluss herausstellt, war Wolfgang Stremplin kein Jude, er hat sich nur als Jude im Internet ausgegeben. Als sich Konny der Polizei stellte, sagte er: „Ich habe geschossen, weil ich Deutscher bin- und weil aus David der ewige Jude sprach. „78 Nach dieser schrecklichen Tat, wird Konrad zu 7 Jahren Gefängnis verurteilt. Zum Schluss dieser Novelle muss der Ich- Erzähler entsetzt feststellen, dass sein eigener Sohn als neuer Blutzeuge auf der Webseite „www.kameradschaft-konradpokriefke.de“ gefeiert wird. Das Buch endet mit den pessimistischen Worten: „Das hört nicht auf. Nie hört das auf.“ 79 Mit diesem Buch und dieser Geschichte, wollte Grass die „Erfahrungen dreier Generationen, der Tullas, ihres Sohnes und ihres Enkels, zu schildern und darzustellen, wie irregeleitet heute junge Menschen auf die Geschichte reagieren.“80 78 Grass, S. 189. Grass, S. 216. 80 Grass, Günter: Falsche Folkrole und erfundene Volkstänze. Ein Gespräch mit dem Nobelpreisträger G. Grass und den Historikern Michael Jeismann und Kasrl Schlögel. In: Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen. Berlin: Friedrich Berlin Verlag, 2002, Nr. 5, S. 21. 79 29 3.2. Die Multiperspektivität von Vergangenheit. 3.2.1. Figurendarstellung der drei Generationen in der Novelle. Anhand der Novelle „Im Krebsgang“ von Günter Grass wird der Aspekt der Figurenkonstellation gezeigt. Was hier nicht zu übersehen ist, sind die drei Generationen die verschiedene Vergangenheitsversionen der Erinnerung darstellen. Damit hängt die Multiperspektivität zusammen. Dasselbe Geschehen oder Ereignis wird aus unterschiedlichen und konkret aus drei Blickwinkeln präsentiert. „Wenns die Fotos noch jäb, die auffe Justloff jeknipst wurden, kennt ech diä zaigen, was die alles jesehen ham in die paar Tage nur...“ 81 Die Erinnerung und besonders die Erinnerungen von Tulla sind ganz klar und konkret. Das Erinnern selbst ist hier ein Gegenstand der internen Fokalisierung 82- man kann behaupten einer Felderinnerung, d.h. einer Erinnerung an ein Ereignis das mam mit „eigenen Augen“ gesehen hat. Der Ich –Erzähler Paul erinnert sich an das gleiche Ereignis aus einem ganz anderen Blickwinkel- nur aus den Erzählungen seiner Mutter. Seine Erinnerungen sind eher Beobachtererinnerungen. „Ich erinnere mich nicht, aber Mutter weiβ genau, wann während der ersten Nachkriegsjahre ( ...), was die Bürger der Stadt an den Blutzeugen hätte erinnern könne.“83 „Auf die Minute jenau als die Justloff absoff<, wie Mutter behauptet, oder wie ich sage(...)“84 Pauls Erinnerungen sind oberflächlich, denn er kennt die Gustloff- Geschichte von der Sicht seiner Mutter. Er berichtet und kommentiert die ganze Geschichte und Ereignisse mit Distanz. 81 Grass, S. 66. Interne Fokalisierung- ( nach G.Genette)- der Erzähler sagt nicht mehr, als die Figur weiβ 83 Grass, S. 37. 84 Grass, S. 145 82 30 3.2.1.1. Tulla - die Alte als gescheiterte Vergangenheitsbewältigung. Tulla Pokriefke, Mutter von Paul Pokriefke ist die Hauptfigur in Günter Grass Novelle „Im Krebsgang“. Als ein junges noch dazu schwangeres Mädchen überlebte sie die Gustloff- Katastrophe. Während der Tragödie bringte sie ihren Sohn Paul zur Welt. Wer Pauls Vater ist, wird nie festgestellt : „Das ist dein Vater, nähm ech an. Is ain Kusäng von mir. Der hat miä, kurz bevor er zum Barras muβte, dickjemacht. Jedenfalls globt der das.“ 85. Tulla spricht kein Hochdeutsch, sondern „Langfurisch“, wie es aus den Zitaten hervorgeht. Während der Versenkung sind ihre Eltern ums Leben gekommen. Nach dem Krieg kommte sie als Umsiedlerin nach Schwerin, wo sie eine Lehrstelle bei einem Meister machte. Ihr ganzes Stolz war der Sohn Paul : “Main Paulchen is was janz Besonderes!86. „Von saine Jeburt hag ech jewuβt, aus dem Bengel wir mal ne richtige Beriemthait“87. Während Pauls Bildung, wohnt er bei Tullas Freundin Jenny in West-Berlin. Er bleibt mit seiner Mutter ständig im Kontakt. Als Paul Journalist geworden ist, meint Tulla, dass es seine Aufgabe und besonders seine Pflicht sei als einer von wenigen Überlebenden, darüber zu berichten: „wie aisig die See jewesen is und wie die Kinderchen alle koppunter. Das musste aufschraiben. Bisteons schuldig als glicklich Iberlebender.“88. Hoffnungslos suchte sie nach einem Zeugen für ihr Zeugnis, der ihrer Historie Nachdruck verleihen und sie zum Objekt eines bleibenden zugänglichen Gedächtnisses machen soll.89 Tullas Bessesenheit auf die Katastrophe ist kein Geheimnis, sie sagt: „Ech leb nur noch dafier, dass main Sohn aines Tages mecht Zeugnis ablegen“90 In der DDR durfte Tulla über die Katastrophe nicht reden, denn es war ein Tabuthema: „Jeber die Justloff nich reden jedurft hat. Bai ons in Osten sowieso nich. Ond bai dir in Westen ham se, wenn ieberhaupt von frieher, denn immerzu nur von andre 85 Grass. S. 20. Grass. S. 42. 87 Grass. S. 42. 88 Grass. S. 31. 89 Vgl. Assmann, A. : Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Vertreibung ( Günter, Grass, Im Krebsgang) .C.H.Beck 2006. S. 196. 90 Grass. S. 19. 86 31 schlimme Sachen, von Auschwitz und so was jeredet. Main Gottchen! Was ham die sich aufjeregt ons im Parteikollektiv, als ech mal kurz was Positives ieber Kaadeffschiffe jesagt hab, dass nähmlich die Justloff ein klassenloses Schiff jewesen is...“(...). Muβ fast wie bai ons inne Deedeär jewesen sain, nur scheener noch...“ 91 Mehrere Bücher über die Versenkung des Schiffes, hat Heinz Schön einer der Überlebenden geschrieben. „Doch in der DDR waren seine Bücher, die im Westen einen Verleger fanden, unerwünscht. Wer seine Berichte gelesen hatte, blieb stumm. Ob hier oder drüben, Schöns Auskünfte waren nicht gefragt. Selbst als mit Hilfe seiner beratenden Assistanzen gegen Ende der fünfziger Jahre ein Film- Nacht viel über Gotenhafen- gedreht wurde, blieb das Echo mäβig. Zwar gab`s vor gar nicht so langer Zeit im Fernsehen eine Dokumentation, doch ist es immer noch so, als könne nichts die Titanic übertreffen, als hätte es das Schiff Wilhelm Gustloff nie gegeben, als fände sich kein Platz für ein weiteres Unglück, als dürfte nur jener und nicht dieser Toten gedacht werden.“92 Tulla war mit der Zeit sehr enttäuscht von ihren Sohn Paul und nennte ihn „ain Shlappjä“93. Ihre Hoffnung setzt sie jetzt auf ihren Enkel Konrad indem sie ihm ständig über die Versenkung des Schiffes `Willhelm Gustloff`` erzählte. Tulla kaufte und schenkte Konrad einen Computer: „Na, vleicht wird mal main Konradchen eines Tages drieber was schraiben...“94. Pauls ausgesprochene Bitte „(...) Konny mit Vergangenheitsduseleien zu verschonen“95 hat sie leider überhört. Tulla kaufte ihrem Enkel eine Waffe, damit er sich gegen anderen verteidigen kann. Wie man sieht hat Tulla Pokriefke einen zerstörerischen Einfluss auf Konrad. Als es zu einer Tragödie kam, indem Konrad Dafid erschieβt, spielt sie eine anständige, brave und alte Frau, die sich ausschlieβlich zu ihren Enkel benommen hat. Paul beschuldigt seine Mutter für das Scheitern seines Sohnes: „Knapp fünfzehn war er, als sie ihn süchtig werden lieβ. Sie, nur sie ist schuld, daβ es mit dem Jungen danebenging. Jedenfalls sind Gabi und ich darin immerhin einig: als Konny den Computer geschenkt bekam, begann all das Unglück.“96 91 Grass. S. 50. Grass. S. 62. 93 Grass. S. 93. 94 Grass. S. 92. 95 Grass. S. 92. 96 Grass. S. 68. 92 32 Was die Person Tulla Pokriefke betrifft, ist sie eine ganz normale, aber sehr intelligente und schlaue Frau. Sie zeigt sich von der Seite eines Opfer und baut bei ihren Sohn Paul Schuldgefühle auf. In der Novelle hat Tulla die Rolle der Ewiggestrigenen.97 Sie ist zwischen zwei Weltkriegen geboren und als 18- jährige Passagierin den Untergang der Wilhelm Gustloff selbst miterlebt. Sie versucht, für das Leid der Kriegsflüchtlinge, die Tabusierung des Themas in der Gesellschaft zu durchbrechen. Aufgrund dessen verkündet sie zu jeder Gelegenheit, egal ob passend oder nicht, ihre Erinnerungen an den Untergang und die Katastrophe98. Da sie nur aus einer eingeschränkten Sicht ihre Erinnerungen an den Untergang des Schiffes erinnert, die noch ein Kind zur Welt während der Rettung brachte, sind ihre Erzählungen genauer gesagt ein Konglomerat aus eigenen Informationen und Erinnerungen. Der Ich- Erzähler zeigt, dass die Erinnerungen und Erzählungen Tullas unstimmig sind. Er wirft seiner Mutter vor, dass sie sich die Vergangenheit zusammenlüge: „Aber das stimmt nicht. Mutter lügt.“99 Grass benutzt „für Tullas Erinnerungen Details wie z.B. die Erinnerung an den Anblick der ertrunkenen Kinder „das is passiert, als ech all die Kinderchen koppunter jesehen hab...“100, die er aus Augenzeugenberichten von Überlebenden entnommen hat“.101 Obwohl der entsetzlichen Erinnerungen durch die Gustloffs Katastrophe vertritt Tulla verblüffenderweise zumeist die These „von dem schönen Kdf- Dampfer voller Frauen und Kinderchen“102 die sie sich durch Erlebnisse und Geschichten ihrer Eltern angeeignet hat. „Als ich ein Kind war, hat mir Mutter, sobald der ewigwährende Untergang wieder mal Sonntagsthema war, mit Hingabe auf Langfursch versichert, wie begeistert ihr Papa von einer norwegischen Trachtengruppe und deren Volkstänzen, dargeboten auf dem Sonnendeck des Kdf- Schiffes, erzählt hat.“103 97 Ewiggestrige- der/die <Ewiggestrigen, Ewiggestrigen> (abwert.) Mensch, dessen Ansichten veraltet und rückständig sind. http://de.thefreedictionary.com/Ewiggestrige. 1.5.2009. 98 Vgl. Giese, Nicole/ Grass, Günter/ Dückers, Tanja: Geschichtliche Wirklichkeit als erzählte Erinnerung- der Untergang der Wilhelm Gustloff als Motiv in den Romanen im Krebsgang und Himmelskörper. Veröffentlicht von GRIN Verlag, 2007. S. 7. 99 Grass. S. 146. 100 Grass. S. 140. 101 Vgl. Giese, Nicole/ Grass, Günter/ Dückers, Tanja: Geschichtliche Wirklichkeit als erzählte Erinnerung- der Untergang der Wilhelm Gustloff als Motiv in den Romanen im Krebsgang und Himmelskörper. Veröffentlicht von GRIN Verlag, 2007. S. 8. 102 Grass. S. 180. 103 Grass. S. 33. 33 Diese Betrachtungsweise ergibt sich keineswegs aus einer rechtsradikalen Einstellung, sondern aus ihrer naiven Schwärmerei von dem Konzept der Klassenlosigkeit des Schiffes.104 Tulla Pokriefke steht für das Gedächtnis der Überlebenden. Grass beschreibt dieses Gedächtnis als zersplittert, affektiv, körpernah, fragmentarisch, als bildhaft und unwillkürlich.105 Das Gedächtnis haftet an den Szenen des Geschehens, will dieses zur Relevanz bringen„und vermag gerade dies nicht, weil es sich nicht vermitteln, nicht dem Erlebten den angemessenen Ausruck verschaffen kann.“106 Tulla Pokriefke ist der Motor der Erinnerung, die Überlebende, die Augenzeugin, die nach dem Sprachrohr sucht, fixiert für die Nachwelt, was sie persönlich nicht in Worte fassen kann.107 104 Vgl. Vgl. Giese, Nicole/ Grass, Günter/ Dückers, Tanja: Geschichtliche Wirklichkeit als erzählte Erinnerung- der Untergang der Wilhelm Gustloff als Motiv in den Romanen im Krebsgang und Himmelskörper. Veröffentlicht von GRIN Verlag, 2007. S 105 Vgl. Mauser, Wolfram/ Pffeifer, Joachim : Erinnern. Veröffentlicht von Königshausen & Neumann, 2004. S. 125. 106 Zitat. Mauser, Wolfram/ Pffeifer, Joachim : Erinnern. Veröffentlicht von Königshausen & Neumann, 2004. S. 125. S. 125. 107 Vgl. Literatur Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.02.2002, Nr. 34, S. 56 . Hubert Spiegel. Das mußte aufschraiben! http://www.gabrieleweis.de/2-bldungsbits/literaturgeschichtsbits/werk-matrialien/grasskrebsgang/krebsgang-rezensionen.htm . 06.05.2009. 34 3.2.1.2. Paul - die Nachkriegsgeneration. „Warum erst jetzt?, sagt jemand, der nicht ich bin. Weil Mutter mir immer wieder... Weil ich wie damals, als der Srei überm Wasser lag, sreien wollte, aber nicht konnte... Weil die Wahrheit kaum mehr als drei Zeilen... Weil jetzt erst...“108 Mit diesen Worten, mit dieser Frage beginnt Günter Grass sein neues Buch das im Februar des Jahres 2002 veröffentlicht wird. „Warum erst jetzt?“- die Frage gilt dem Motiv, wie es in der Novelle gennant wird, ungeheuerlichen Versäumnisses, des Versäumnissese bekanntlich, zum Diskussionsthema eines eigenen Berichts, zur Thematik literarischer Gestaltung gemacht zu haben.109 In der Handlung hat der Ich- Erzähler Paul Pokriefke mehrere Gesprächspartner, die aber nicht direkt in der Novelle sich beteiligen. Der Gesprechspartner wird wechselnd „jemand“, „er“, „der Alte“ oder „der Arbeitgeber“ genannt. Zu bemerken ist hier die Beziehung von Ich- Erzähler und der Figur des „Alten“, der als alter ego des Autors selbst agiert und der dem Journalisten Paul Pokriefke ersatzweise die Erinnerungsarbeit anmutet. Der Gestalt eines „Alten“ legt Grass die Selbstanklage in den Mund: „Eigentlich, sagt er, wäre es Aufgabe seiner Generation gewesen, dem Elend der ostpreuβischen Flüchtlinge Ausdruck zu geben: den winterlichen Trecks gen Westen, dem Tod in Schneewehen, dem Verrecken am Straβenrand und in eislöchern, sobald das gefrorene Frische Haff nach Bombebabwürfen und unter der Last der Pferdewagen zu brechen (...). Niemals, sagt er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos...110 Ein Versagen, eine Unterlassung , ein willentliches oder halb erzwungenes Beschweigen – in einem Leerraum einwärts sreibt der Ich- Erzähler der Novelle, kategorisch in Stellvetretung des „Alten“, seinen Bericht.111 Der Ich Erzähler begrüdet, aus welchem Grund er selbst nicht früher über das Drama geschrieben hat: 108 Grass, S. 7. Gumpert, Gregor: Noch einmal: das <gemiedene Thema>. Zur literarischen Reflexion auf Flucht und Vertreibung 1945/46. 2005, S.106. 110 Grass, S.99. 111 Gumpert, Gregor: Noch einmal: das <gemiedene Thema>. Zur literarischen Reflexion auf Flucht und Vertreibung 1945/46. 2005, S.107. 109 35 „Sein Versäumnis, bedauerlich, mehr noch: sein Versagen. Doch wollte er sich nicht rausreden, nur zugeben, daβ er gegen Mitte der sechziger Jahre die Vergangenheit sattgehabt, ihn die gefräβige, immerfort jeztjeztjetzt sagende Gegenwart gehindert habe, rechtzeitig auf etwa zweihundert Blatt Papier... Nun sei es zu spät führ ihn.“112 Die Erörterungen zwischen dem Ich- Erzähler und dem Gesprächspartner leiten die Handlung der Novelle weiter, während „er“ geradezu Fragen über z.B. Pauls Erinnerung aus seiner Kindheit stellt, und dass „er“ fordert , dass der Ich- Erzähler über die Tragödie schreiben soll. „Er“ bewertet auch das Handeln von dem Ich- Erzähler Paul und nennt ihn z.B. „einen verspäteten Vater“113, indem er erst im Laufe des Prozesses seinen Sohn Konrad näher kam. Das, was wir in der Novelle über die anderen fiktiven Hauptpersonen zur Kenntnis bekommen, besteht sowohl aus den Gedanken des Ich- Erzählers über diese Personen oder aus Zitatan anderer Beteiligter. Paul ist schlieβlich zum Ich- Erzähler der Novelle geworden, „da er auch von dem Alten in die Pflicht genommen wurde zu schreiben.“114 In Form von Analepsen werden die Ereignisse von dem Ich- Erzähler geschieldert: „(...) der Zeit eher schrägläufig in Quere kommen muβ, etwa nach Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen. Nur soviel ist sicher: Die Natur oder bgenauer gesagt die Ostsee hat zu all dem, was hier zu berichten sein wird, schon vor längerer als einem halben Jahrhundert ihr Ja und Amend gesagt“115 Die ganze Novelle ist sehr charakteristisch, denn lineares Erzählen wird ständig von dem Ich- Erzähler durchbrochen: „Jetzt muβ ich mich im Rückgriff wiedreholen.“116 Was hier nicht zu übersehen ist, dass der Ich- Erzähler die vergangengen Ereignisse aus der Gegenwartsperspektive erzählt. 112 Grass, S.77. Grass, S.176. 114 Zitat: Giese, Nicole/ Grass, Günter/ Dückers, Tanja: Geschichtliche Wirklichkeit als erzählte Erinnerung- der Untergang der Wilhelm Gustloff als Motiv in den Romanen im Krebsgang und Himmelskörper. Veröffentlicht von GRIN Verlag, 2007. S. 9. 115 Grass. S. 9. 116 Grass. S. 169. 113 36 In der Novelle drängt der genannte „jemand“ Paul dazu, entlich das Schweigen zu brechen und die Geschichte zu schreiben. Er hat sich sehr lange Zeit geweigert über die Gustloff Katastrophe irgend etwas zu sagen und zu schreiben: „Noch haben die Wörter Schwierigkeiten mit mir“117 „Der Alte“ besteht darauf, dass Paul entlich beginnt zu erzählen und etwas in die Worte zu bringen. Dies bedeutet, dass Paul keine Wahl mehr hat. Paul wird nicht nur von dem Alten, aber besonders von seiner Mutter jahrelang dazu gedrungen „diese Geschichte“118 vom Untergang des Schiffes aufzuschreiben. Er sollte, der Zeuge, der eigentlich nichts bezeugen konnte, ein persönliches Vermächtnis seiner Mutter erfüllen: „Ech leb nur noch dafier, daβ main Sohn aines Tages mecht Zeugnis ablegen(...) Das muβte aufschreiben. Bist ons schuldig, als glicklich Iberlebender. Werd ech dir aines Tages erzählen, klitzeklain, ond denn schreibste auf(...)“119 Doch der Ich- Erzähler meint, dass er am liebsten über „die Gustloff und ihre verfluchte Geschichte“120nicht berichten möchte. Paul selbst hat keine persönlichen Erinnerungen an den Untergang des Schiffes und stützt sich auf unterschiedliche Medien bei der Rekonstruktion der Vergangenheit. Er ist zwar anfangs von den Erzählungen seiner Mutter ausgegangen, hat sich schlieβlich im Laufe der Zeit durch eine Reihe von Veröffentlichungen zu diesem Thema gearbeitet und schlieβlich als Informationsquelle auf das Internet gestoβen.121 „Das verfluchte Datum, mit dem alles begann, sich mordmäβig steigerte, zum Höhepunkt kam, zu ende ging. Auch ich bin, dank Mutter, auf den Tag des fortlebenden Unglücks datiert worden.“122 Allein von Mutter erzogen, wächst er ohne väterliche Vorbilder auf. Er sagt: „(...) wer sie gestoβen hat, für mich hieβ ihr beliebiges Angebot: vaterlos geboren und aufgewachsen, um irgendwann Vater zu werden.“123 Als „der Alte“ bestimmte Erinnerungen aus seiner Kindheit verlangte, sagte er: „Da gibt`s nichts zu erinnern.“124 117 Grass. S. 7. Grass. S. 7. 119 Grass. S. 19/ 31. 120 Grass. S. 31. 121 Vgl. Giese, Nicole/ Grass, Günter/ Dückers, Tanja: Geschichtliche Wirklichkeit als erzählte Erinnerung- der Untergang der Wilhelm Gustloff als Motiv in den Romanen im Krebsgang und Himmelskörper. Veröffentlicht von GRIN Verlag, 2007. S. 9. 122 Grass. S. 11. 123 Grass. S. 151. 124 Grass. S. 54. 118 37 Als er 15 Jahre alt war, hatte er „die Nase voll“125 von der DDR und besonders von seiner Mutter und ihrer Erzählungen. „Konnte das nicht mehr mithören, wenn sie mir, meistens Snntags, ihre Gustloffs- Geschichten zu Klopsen und Stampfkartoffeln auftischte (...)“ 126 Paul hat mit Gabi, einer gewerkschaftlich engagierten Pädagogin, mit der er geschieden ist, einen Sohn, den Gymnasialisten Konrad.127 Paul war für seine Mutter und Ehefrau „der typische Versager“128. Er kommentiert die Scheidung mit Gabi auf folgende Weise: „Keine sieben Jahre dauerte der anstrengende Spaβ, dann war zwischen Gabi und mir Schluβ.“129 Nach der Scheidung zeigt Paul für seinen Sohn Konrad, kein groβes Interesse. „Mein Sohn Konrad sah ich nur besuchsweise, also selten und unregelmäβig.“130 Pauls beruflicher Entwicklungsgang scheint eher eine gewisse Laxheit in Anschauungsfragen, eine Natur leidenschaftlosen Opportunismus wiederzuspiegeln. Nach einem Studium der Publizistik und Germanistik, tätig als Journalist, schreibt er zunähst für „Springer Hetzblätter“ 131 „Bin dann auch bald nach dem Anschlag auf Rudi Dutschke von Springer weg. War seitdem ziemlich links eingestellt. Habe, weil damals viel los war, für einen Haufen halbwegs progressiver Blätter geschrieben (...).“ 132 Zwischen einigen Artikeln liefert auch „Bekenntnishaftes zum Thema „Nie wieder Auschwitz“. „Immer bin ich bumüht zu gewesen, zumindest politisch richtig zu liegen, nur nichts Falsches zu sagen, nach auβen hin korrekr zu erscheinen. Selbstdisziplin nennt man das. Ob in Springers Zeitungen oder bei der „ taz“ habe ich nach vorgegebenen Texten gesungen. War sogar zimlich überzeugt von dem, was mir von der Hand ging. Den Haβ zu schaum schlagen, zynisch die Kurve kriegen, zwei Tätigkeiten, die mir wechselweise leichtliefen. Doch bin ich nie Speerspitze gewesen, habe niemals in Leitartikeln den Kurs bestimmt. Das Thema gaben andere vor. So hielt ich Mittelmaβ, rutschte nie gänzlich nach 125 Grass. S. 57. Grass. S. 57. 127 Vgl. Gumpert, Gregor: Noch einmal: das < gemiedene Thema>. Zur literarischen Reflexion auf Flucht und Vertreibung 1945/46. S. 105. 128 Grass. S. 43. 129 Grass. S. 43. 130 Grass. S. 44. 131 Vgl. Braese, Stephan: „ Tote zahlen keine steuer“. Flucht und Vertreibund in G.Grass „Im Krebsgang“ und Hans Urlich Trechels der „ Verlorene“.In Gegenwertsliteratur 2. 2003. S. 173. 132 Grass. S. 21. 126 38 links oder rechts ab, eckte nicht an, schwamm mit dem Srom, lieβ mich treiben, muβte mich über Wasser halten(...).“133 Die Unsicherheit, die Paul zu einem opportunisten machte, resultierte zuerst aus der Tabuisierung dieser Gustloff Geschichte und dann aus den oft wiederkehrenden, aber diamentralen Versionen der Vergangenheit. Paul löst entlich die Auseinandersetzung mit der Geschichte indem er wusste, dass er vor dem eigenen Schicksal und der Vergangenheit nicht entfliehen kann. „Seitdem steht fest, wessen Blut zeugen soll. Aber noch weiβ ich nicht , ob, wie gelernt, erst das eine, dann das andere und danach dieser oder jener Lebenslauf abgespult werden soll oder ob ich der Zeit eher schrägläufig in die Quere kommen muβ, etwa nach Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen. Nur so viel ist sicher: Die Natur oder genauer gesagt die Ostsee hat zu all dem, was hier berichten sein wird, schon vor länger als einem halben Jahrhundert ihr Ja und Amen gesagt.“134 Paul beginnt sich genaue historische Angaben über die Gustloff- Geschichte zu suchen und über die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges zu informieren. Obwohl er von seiner Mutter viele Informationen zu hören bekommt, hält er sie nicht für glaubwürdig. Er stellt sich oft Fragen: Ist das alles nur ein Zufall oder ist es Schicksal? Aus der Geschichte entweichen sehr interessante, okkasionell fast ironische Redewendungen. Über die Person Wilhelm Gustloff schreibt er: „(...) schicke die Schweriner Lebensversicherungsbank ihren tüchtigen Angestellten im Jahr siebzehn fürsorglich in die Schweiz, wo er in Davos sein Leiden auskurierren sollte, woraufhin er in besonderer Luft so gesund wurde, daβ ihm nur mit anderer Todesart beizukommen war...“135 Im Verlauf seiner Nachforschungen zu Wilhelm Gustloff stöβt Paul frühzeitig auf eine „(...) eigens ihm gewidmete Website“, deren Chatrom er mit Interesse eine zusehends schärfer werdende Auseinandersetzung um die Bewertung des NSFunktionärs verfolgt. Der Webmaster feiert den NS- Funktionärs als „Blutzeuge(n) (Grass 9), „ein David“ ( Grass 48) sucht dagegenzuhalten“ 136 : „Während der eine sich propagandisch verbreitete, etwa kundat, daβ es im Reich zum Zeitpunkt des Prozesses 800 000 Arbeitlose weniger als im Vorjahr gegeben habe, und darüber in Begeisterung geriet: <Das alles ist einzig dem 133 Grass.S. 210. Grass. S. 9. 135 Grass. S. 9. 136 Zitat: Braese, Stephan: „ Tote zahlen keine steuer“. Flucht und Vertreibund in G.Grass „Im Krebsgang“ und Hans Urlich Trechels der „ Verlorene“.In Gegenwertsliteratur 2. 2003. S.177. 134 39 Führer zu verdanken>, zählte der andere klagend auf, wie viele jüdische Ärzte und Patienten aus Krankenhäusern und Kurorten vertrieben worden seien und daβ das Naziregime schon am 1. April dreiunddreiβig zum Judenboykott aufgerufen habe, woraufhin die Schaufenster jüdischer Geschäfte mit der Hetzparole< Juda verecke> gekennzeichnet worden seien. So ging es hin und her“ 137 Im Laufe der Zeit entdeckt Paul im Internet auf einer Website signifikante Details aus der Kindheit seiner Mutter, Tulla Pokriefke. Nach dieser Entdeckung kommt er zum Beschluss, dass hinter der Website „ www.blutzeuge.de“ sein leiblicher Sohn Konrad steht, der mit seiner Groβmutter Tulla gewohnt hat. Als Paul ihn eines Tages besuchte, konnte er sehr schnell feststellen, dass der Kontakt zu seiner Groβmutter sich sehr gut entwickelt hat: „Die beiden verstanden sich auf Anhieb.(...) Bin sicher, daβ Mutter ihn mit ihren Geschichten(...) vollgedröhnt hat. (...) Wie ein Schwamm muβder Junge ihr Gerede aufgesogen haben. Natürlich hat sie ihn auch mit der story vom ewigsinkenden Schiff abgefüttert. Ab dan war Konny oder `Konradchen` wie Mutter sagte, ihre groβe Hoffnung.“ 138 Der Ich- Erzähler alarmierte bei seiner Mutter und ehemaligen Frau die aufgeregten Nachfragen, doch er wird zurückgewiesen. Die Rolle des besorgten Vaters macht bei denen keinen Eindruck. Die Beziehungen Vater- Sohn sind hier sehr schwierig. Eigentlich kennt Paul seinen Sohn nicht. Diese Probleme resultieren aus der Kindheit von Paul. Der Ich- Erzähler wuchs ohne Vater und väterliche Vorbilder, sowie ohne mütterliche Liebe, die ein Kind braucht. Im Indefekt weiβ er nich, was eine richtige Familie ist. Man kann auch annehmen, dass Paul durch das Trauma der Versenkung des Schiffes, keine Schuldgefühle auf seinen Sohn übertragen wollte. „So meint der Vater des getöteten Schülers Konrad, ein Atomphysiker, es sei wohl die rein wissenschaftliche Tätigkeit in einem nuklearen Forschungszentrum und seine relativ kühle Betrachtungsweise der nationalsozialistischen Herrschaftsperiode gewesen, die zur Entfremdung, ja zur Sprachlosigkeit zwischen ihm und seinem Sohn geführt hätte.“139 Sprachlosigkeit zwischen Söhnen und Vätern, das Bewustsein der `Vaterlosigkeit`, gesellschaftlich wie individuell, bilden in der Novelle ein Leitmotiv. Als Folge dieser Beziehung wurde Konrad locker Erzogen .Der Vater hatte fast keinen Kontakt zu ihn, die Mutter war viel beschäftigt mit ihrer Arbeit und die Groβmutter 137 Grass. S. 48. Grass. S. 44. 139 Zitat: Gumpert, Gregor: Noch niemal: das < gemiedene Thema>. Zur literarischen Reflexion auf Flucht und Vertreibung 1945/46. S. 109. 138 40 machte sich mit ihren Gustloff Geschichten aufmerksam, ohne bewusst zu wissen,dass ihr Enkelkind als ein junger Straftäter endet, der nicht mal seine Tat bereut. Der Erzähler selbstbesucht seinen Sohn nur selten in der Haftanstalt. Die Novelle endet damit, dass der Ich- Erzähler eine weitere Entdeckung im Internet macht: „Wenig Tage später, nein tags darauf hat mir jemand- er, in dessen Namen ich krebsend vorankomme- dringend geraten, online zu gehen.(...) Muste lange surfen.(...) Doch dann kam es dicker als befürchtet. Unter besonderer Adresse stellte sich in deutscher und englischer Sprache eine Website vor, die als www.kameradschaft-pokriefke.de für jemanden warb, dessen Haltung und Gedankengut vorbildlich seien, den deshalb das verhaβte System eingekerkert habe. „Wir glauben an dich, wir warten auf dich, wir folgen Dir... Undsoweiter unsoweiter. Das hört nicht auf. Nie hört das auf.“140 Der Entschluss des Ich- Erzählers ist volgendermaβen: „Das ist es wieder, das verdammte Datum. Die Geschichte, genauer, die von uns angerührte Geschichte ist ein verstopftes Klo. Wir spülen und spülen, die Scheiβe kommt dennoch hoch.“141 Der grundlegende Bericht des Ich- Erzählers über dem Untergang der ` Wilhelm Gustloff`` in der Nacht des 30. Januar 1945 nimmt in seiner Darstellung einen geordneten Patz. „Zwar wird permanent vorausverwiesenauf das zu gebende Zeugnis von der katasrtrophischen Nacht. Das geschieht zum einen durch die ausgebiegen Recherchen zu den historischen Protagonisten, die letztendlich auf das Ereignis des Untergangs hinzuführen vorgeben. Einen ähnlichen Effekt hat aber auch der kontinuierlich wiederholte, dadurch zusehends beteuernde wirkende Hinweis darauf, dass dieses Unglück „von Welt vergessen“ sei „ weil verdrängt, Legende“ , „ aus dem Gedächtnis gedrängt“, „lange vergessen „,etwas, „von dem kein Mensch irgendwas hebe wissen wollen“.“142 Besonders diese Zeihen , die in Durchblick zu stellen scheinen, dass diesem Vergessen, diesem Verdrängen nun, im Bericht vom Untergang des Schiffes, der Erfüllung der vom „Alten“ gegebenen „Aufgabe“, ein Ende gemacht werden. 140 Grass. S. 216. Grass. S. 116. 142 Zitat: Braese, Stephan: „ Tote zahlen keine steuer“. Flucht und Vertreibund in G.Grass „Im Krebsgang“ und Hans Urlich Trechels der „ Verlorene“.In Gegenwertsliteratur 2. 2003. S.182. 141 41 3.2.1.3. Konrad – die Enkelgeneration. Konrad, Sohn von Paul und Gabriele Pokriefke ist in der Novelle zum gröβten Teil von Zitaten anderer Personen oder was der Ich- Erzähler, sein Vater sagt. Es gibt nur wenige Inhaltsangaben die etwas mehr über ihn selbst sagen. Sein Vater beschreibt ihn: „Ein, wie ich fand, zu schnell gewachsener Junge mit Brille, der sich, nach Meinung seiner Mutter, schulisch gut entwickelte, als hochbegabt und überaus sensibel galt.“143 „Er ist ein typischer Einzelgänger, scher zu sozialisieren. Einige meinerLehrerkollegen sagen, Konnys Denken sei ausschlieβlich vergangenheitsbezogen, sosehr er sich nach auβen hin für technische Neuerungen interessiert, für Computer und moderne Kommunikation zum Beispiel...“144 Nach der Scheidung seiner Eltern, wuchs Konrad bei seiner Mutter in Mölln auf. Von einer Vater- Sohn Beziehung ist nicht die Rede, denn Konrad sieht seinen Vater nur selten. Seine Oma Tulla Pokriefke, lernt er kennen, erst als die Grenze geöffnet wird. Konrad ist ein ganz normaler Jugentlicher, doch als er in der Pupertät ist, wird er zu einem Auβenseiter der in seiner eigenen Welt lebt. Wegen eines Referats zum Thema „Die positiven Aspekte der NS- Gemeinschaft Kraft durch Freude“ 145 wird Konrad von der Schule verweigert. Nach diesem Zwischenfall macht sich Paul darüber Gedanken und schreibt: „Gabi und ich hätten wissen müssen, was sich in Mölln abgespielt hat. Blind gestellt haben wir uns. Sie als Pädagogin, wenn auch an einer anderen Schule, hat bestimmt zu hören bekommen, warum ihrem Sohn ein Vortrag zu einem brisanten Thema, wie es hieβ, „wegen abwegiger Tendenz“ verweigert worden ist; doch zugegeben, auch ich hätte mehr Interesse für meinen Sohn beweisen müssen.“ 146 Konrad zieht zu seiner Groβmutter Tulla nach Schwerin um. Er ist sehr neugierig auf die Erzählungen von der Versenkung der `Wilhelm Gustloff`. Er ist schon alt genug, um die Vergangenheit der Familie kennen zu lernen und sie zu untersuchen. Er will damit seine Person entwickeln und seine eigene Identität verstehen. Er bekommt von 143 Grass. S. 44. Grass. S. 67. 145 Grass. S. 184. 146 Grass. S. 184. 144 42 seiner Groβmutter einen Computer als Geschenk. Dies erleichtert ihm die Suche und Entdeckung der Geschichte, die er ständig von seiner Groβmutter zu hören bekommt. Tulla setzt ihre Hoffnung auf ihren Enkel Konrad: „Na, vleicht wird mal main Konradchen eines Tages drieber was schraiben...“.147 Konrad führt im Internet eine Webseite „Kameradschaft Schwerin“ und interessiert sich sehr stark für die historische Person Wilhelm Gustloff. Er schreibt: „Es ist meine liebe Groβmutter, der ich im Namen der Kameradschaft Schwerin bei ihrem weiβen Haar geschworen habe, die Wahrheit, nichts als die Wahrheit zu bezeugen: Es ist das Weltjudentum, das uns Deutsche für alle Zeit und Ewigkeit an den Pranger ketten will...“148 Als Konrads Vater das herausfindet, dass sein Sohn hinter der rassistischen Website „www.blutzeuge.de“ steht, will er ihn sofort zur Rede stellen, doch das gelingt nicht: „Seit wann interessiert dich, was ich tue? (...) Ich betreibe historische Studien. Reicht die Auskunft?.“ 149 Doch Paul gibt nicht nach. Er versucht über Konrads Umgang mit Rechtradikalen mit seiner Mutter Tulla und Gabi zu sprechen. Doch vergeblich. Seine Mutter meint: „Na sowas! Jahrelang haste diä nich um onser Konradchen jekimmert, ond nun auf ainmal heerste die Flöhe husten ond spielst ons den besorjten Papa vor...“150 Auch Gabi meint: „Ich verbiete dir, in meinem Haus derartige Reden zu führen und meinen Sohn des Umgangs mit Rechtsradikalen zu bezichtigen...“ 151 „Sie lacht mir ins Gesicht: Kannst du dir Konrad bei diesen Brüllaffen vorstellen? Im Ernst! Ein Einzelgänger wie er in einer Horde? Lachhaft ist das. Aber solche Verdächtigungen sind durchaus typisch für jene Art von Journalismus, die du für wen auch immer betrieben hast.“152 Wenn Paul die Webseiten die sein Sohn recherchiert im Laufe der Zeit beobachtet, spürt er immer mehr, dass durch seinen Sohn seine Mutter Tulla dahinter steckt. Paul kann ganz genau ganze Sätze, Absätze, die Worte, die er von seiner Mutter die ganzen Jahre gehört hat, wiedererkennen. 147 Grass. S. 92. Grass. S. 73-74. 149 Grass. S. 76. 150 Grass. S. 74. 151 Grass. S. 74. 152 Grass. S. 74. 148 43 „Tulla hat in Paul keinen richtigen Stellvertreter gefunden, der „ihre Lebensgeschichte “erzählen könnte. Sie nutzt Konrad aus um im Mitelpunkt zu stehen. Konrad wird zu einem typischen „Produkt“ einer Ideologie. Er denkt nicht nach, folgt blind, was ihm gesagt wird und überlegt nicht, was seine Tat bewirken könnte. Auf den Webseiten beschäftigt sich sich Konrad mit den Zitaten und Aussagen der bekannten Nazianführer.“153 Konrad begeistert sich immer mehr für den Untergang. Er interessiert sich auch für die Geschichte des Namenspatrons des Schiffes. Auf einer Website nimmt Paul virtuell die Rolle des Wilhelm Gustloff an, eines NSDAP-Funktionärs, der vom jüdischen Studenten David Frankfurter erschossen und danach zum Märtyrer und Blutzeugen für ihre Bewegung wurde. Wolfgang Stremplin nimmt die Rolle des echten David Frankfurter an.154 Zwischen den beiden entwickelt sich eine „Feind- Freundschaft“. Nach einer längeren Zeit der Kommunikation im Chat, beschließen die beiden an ein reales Treffen. „Also trafen sie einander bei schönstem Frühlingswetter (...). Ihre Begegnung ereignete sich vor einer seit kurzem neu verputzten Fassade, die die Zeit des so lange anhaltenden Verfalls vergessen machen sollte. Es heiβt, sie hätten sich mit Handschlag begrüβt, und david wäre, sich vorstellen, dem lang aufgeschossenen Konrad Pokriefke als David Stremplin entgegenkommen.“ 155 Bei diesem Treffen befleckt Wolfgang die damalige Gedenkstätte Gustloffs in dem er dreimal Spuckt: „Als Jude fällt mir nur soviel dazu ein< gesagt und dann dreimal auf das vermooste Fundament gespuckt, also den Ort des Gedenkens(...).“156 Konrad wird rechtsradikal und begeht sich eines schrecklichen Mordes. „Gleich danach fielen die Schüsse. (...) Aus einer der geräumigen Taschen, der rechten, zog er die Waffe und schoβ viermal. Der erste Schuβ traf den Bauch, die folgenden Kopf, Hals und Kopf. David Stremplin stürzt wortlos rücklings.“157 Konrad legte einen groβen Wert, alles so zu schildern wie es in der Wirklichkeit war. Er hat von der nächsten Telefonzelle aus sich selbst bei der Polizei angezeigt. Ohne an den Tatort zurückzukehren, machte er sich auf dem Weg zur nähsten Polizeiwache, er hat sich mit den Worten gestelt: 153 Zitat: Die Stimme der Vergangenheit im Leben einer Dreigenerationenfamilie auf der Suche nach einer Identität. http://www.virtuelleallgemeinbibliothek.de/EXTRA1.HTM. 06.05.2009. 154 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Im_Krebsgang. 06.05.2009. 155 Grass. S. 172-173. 156 Grass. S. 174. 157 Grass. S. 175. 44 „Ich habe geschossen, weil ich Deutscher bin.“158 Konrad Pokriefke wird zu 7 Jahren Gefängnis verurteilt. Als Tatmotiv gibt er unter anderem Rache für den <Blutzeugen> Wilhelm Gustloff an. Beim Gerichtsverfahren erfährt Tulla vom Jugendstaatsanwalt, dass Konrads Computerfreund kein Jude war sondern er stamm aus einem württenbergischen Pfarrhaus. Sie regt sich darüber sehr auf: „Na son Schwindel! Das hat main Konradchen nicht wissen jekonnt, daβ dieser David ain falscher Judi is. Ainer, der sich ond andere was vorjemacht hat, wenner sich bai jede Jelegenheit wien ächter Jud aufjefiert ond immer nur von onsre Schande jered hat...“ 159 Im Verlauf des Prozesses wird Konrad vom Richter gefragt: „(...) ob er jemals, sei es in Mölln, sei es in Schwerin, einem wirklichen Juden begegnet sei“160 Antwortet Konrad mit einem klaren Nein, fügt aber hinzu: „Für meinen Entschluβ war das nicht relevant. Ich schoβ aus Prinzip.“161 Auf den ersten Blick ist die transgenerationelle Übertragung hier scheinbar radikal-in ein Handeln ausgeschrieben, das, zerstörerisch und selbstzerstörerisch, aggressiv, unaufgehobene Geschichte an sich und gegen sich „im Nachhinein“ austrägt. Die wahnsinnigen Rollenspiele der beiden Jugendlichen –„Wilhelm“ (Gustloff) gegen „David“ (Frankfurter)- veranschaulichen, dass sich, in abwegigen, aber gleichfalls potentiell entsetzlich- realen Symbolisierungen, jene Anteole der Geschichte zu „wiederholen“ drohen, die ohne Eintritt in die glaubwürdige kolektive Erinnerung geblieben waren.162 Diese Leseweise bestätigen die letzten Kapitel der Novelle, in dem sie das Versagen jener Generation betonen, die an dieser mangelhaften, in Resultat prekären Konditionierung offiziöser Erinnerung die Schuld tragen. Das schulische und häusliche Milieu, in dem Konrad Pokriefke seine Kindheit verbringte, wird im Verlauf des Gerichtsverfahren markiert als eines, das eine faktische Auseinandersetzung mit 158 Grass. S. 175. Grass. S. 182. 160 Grass. S. 182. 161 Grass. S. 182. 162 Vgl. Braese, Stephan: „Tote zahlen keine steuer“. Flucht und Vertreibund in G.Grass „Im Krebsgang“ und Hans Urlich Trechels der „Verlorene“.In Gegenwertsliteratur 2. 2003. S.179. 159 45 dem neonazistischen Gedankengut des Jugendlichen liebenswürdigerweise gemieden hatte. „Angeklagt ist hier ein pseudo-linkes Milieu, das eher feige als unbedacht der Konfrontation mit einer Geschichte ausgewichen sei, die in den ideologischen Mustern des Zeitgeists nicht aufging. Doch diese unzweideutige Schuldzuschreibung erreicht ihre volle Dynamik erst dadurch, dass auch Wolgang Stremplin, Konrad Pokriefke Gegenpart und Opfer, als nicht weniger wahnhaft, seine Eltern als genau so unentschieden erscheinen.“ 163 Die Figur Konrad Pokriefke ist ein Musterbeispiel für die Generation der Nachgeborenen, die in einer nicht sicheren und perspektivlosen Zeit aufwächst und extreme Überzeugung annimt.164 Bei Konrad ist es weniger ein Auflehnen gegen die Generation der eltern als vielmehr ein Schrei um Hilfe. „Da er bei seinen viel zu sehr mit sich selbst beschäftigten Eltern keine Zuwendung bekommen konnte, sucht er sich den benötigten Halt zum einen bei seiner Groβmutter Tulla und ihren Geschichten, zum anderen in einer selbst aufgebauten und im Internet ausgelebten Scheinwelt. „165 Das wird insbesondere sehr deutlich, da Konrad sich mit der Gustloff- Thematik sogar noch in der Jugendstrafanstalt befasst, und zwar so lange, bis sich sein Vater zuwendet. Grass ordnet Konrad einen entscheidenen Willen zur Teilhabe an Groβkollektiven. „Es werden von den Jugendlichen Diskurse radikalisiert und durch konkretistischen Detailfetischismus beglaubigt, der zugleich die sonderbare Gemeinschaft von sammelnden Rechthabern im Chatroom konstituiert.“166 Die Katastrophe der Gustloff wird hier als ein Puzzel weltweit verteilter Informationen zusammengefügt und die Lesarten des Geschehens werden in der sorgfältigen Rekonstruktion zu Suchmaschinen, die Details platzieren.167 Zitat: Braese, Stephan: „ Tote zahlen keine steuer“. Flucht und Vertreibund in G.Grass „Im Krebsgang“ und Hans Urlich Trechels der „ Verlorene“.In Gegenwertsliteratur 2. 2003. S.180. 164 Vgl. Giese, Nicole/ Grass, Günter/ Dückers, Tanja: Geschichtliche Wirklichkeit als erzählte Erinnerung- der Untergang der Wilhelm Gustloff als Motiv in den Romanen im Krebsgang und Himmelskörper. Veröffentlicht von GRIN Verlag, 2007. S. 10 165 Zitat. Ebd. S. 10. 166 Zitat: Mauser, Wolfram/ Pffeifer, Joachim : Erinnern. Veröffentlicht von Königshausen & Neumann, 2004. S. 126. 167 Vgl. Ebd. S. 126. 163 46 3.3. Erinnerung und Medialität. Ein auffallendes Beispiel für die aktuelle literarische Vergangenheitsverarbeitung und deren Rezeption durch die Medien ist die Novelle „Im Krebsgang“ von G. Grass. „Der Text thematisiert die Flucht der deutschen Bevölkerung aus Ostpreuβen. Im Zentrum der Ereignisse steht der Untergang des ehemaligen „Kraft durch Freude „- Dampfers „Wilhelm Gustloff“, der nur Flüchtlinge und Soldaten transportiert, und am 30 Januar 1945, getroffen von einem sowjetischen UBoot, mit mehr als 9000 Menschen an Bord untergeht.“168 In Bezug auf die Erzähltechnik unterteilt sich der Text in drei Ebenen. Die erste Ebene stellt die historischen Ereignisse dar. Präsent wird Wilhelm Gustloffs Parteikarriere in der NSDAP169 bis zu seiner Ermordung durch den jüdischen Attentäter David Frankfurter illustriert. Gustloff wird zum „Blutzeugen“ stilisiert, und in seiner Geburtsstadt Schwerin zu Ehren eine Gedenkstätte errichtet: „Dort, wo einst im Ehrenhain der Granit überragend seinen Standort gehabt habe und wo heute so gut wie nichts an den Blutzeugen erinnere, weil Grabschänder Stein und Ehrenhalle abgeräumt hätten, genau dort, wo in nichts allzu ferner Zukunft wiederum ein Gedankstein aufgerichtet werden müsse, an geschichtssträchtiger Stätte solle man sich treffen.“170 Auβerdem wird ein „Kraft durch Freude“- Dampfer nach ihm benannt,: „(...), hob den Funktionär Gustloff in überirdische Zusammenhänge: am 30. Januar 1945, auf dem Tag genau fünfzig Jahre nach der Geburt des Blutzeugen, das auf ihn getaufte Schiff (...).“171 der künftig sowohl als Flüchtlings- als auch Kriegsschiff eingesetzt wird. Diese Geschehnisse werden durch Trias Wilhelm Gustloff, David Frankfurter und Alexander Marinesko Kapitän des sowjetischen U- Boots, in Szene gesetzt.172 Auf der zweiten Ebenen rückt die Erinnerung an den Untergang des Schiffes ins Horizont. 168 Erll, Astrid/ Ansgar, Nünning: Median des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität. Historizität. Kulturspezifität. Berlin/ New York 2004, S.182. 169 NSDAP- Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei-war eine in der Weimarer Republik entstandene politische Partei, deren Programm bzw. Ideologie (der Nationalsozialismus) von radikalem Antisemitismus und Nationalismus sowie Ablehnung von Demokratie und Marxismus bestimmt war.http://de.wikipedia.org/wiki/Nationalsozialistische_Deutsche_Arbeiterpartei ( 27.04.2009) 170 Grass. S. 160. 171 Grass. S. 11. 172 Vgl. Ebd. S. 183. 47 Hier ist es die Figurentrias Tulla Pokriefke, Konrad Pokriefke und David als Wolfgang Stremplin, deren Erinnerungsvorgehen auf einem klaren Medienverständnis basiert. Tulla Pokriefke ist in der Novelle eine Figur von groβer Bedutung. Tulla appelliert in ihren baltischen Dialekt an ihren Sohn Paul Pokriefke, dass er endlich die Gustloff Geschichte und ihre ganzen Erlebnisse vom Untergang des Schiffes niederzuschreiben: „Wie aisig die See jewesen is und wie de Kinderchen alle koppunter. Das muβte aufschraiben. Biste ons schuldig als glicklich Iberlebender. Wird ech dir aines Tages erzählen, klitzklain, ond denn schreibst auf...“173 Von Vergangenem mittels Text, drückt Tullas Wunsch in einer jahrelang Tradition stehende Vorstellung einer Abrufbarkeit und Speicherung aus. Darüber hinaus impliziert der Drang nach einer Verschriftlichung auch das nach einer Leserschaft174 : „Ech leb nur noch dafier, daβ main Sohn aines Tages mecht Zeugnis ablegen.“175 Doch in der Nacht des Untergangs, der geborene Sohn Paul Pokriefke der noch dazu Journalist ist, weigert sich ausdrücklich, mit seiner Biografie verbundenes Ereignis, über dies unmittelbar zu berichten: „Aber ich wollte nicht. Mochte doch keiner was davon hören, hier im Westen nicht und im Osten schon gar nicht.“176 Im Kampf um die Etablierung von Vergangenheitsdeutungen wird Paul Pokriefkes Sohn Konrad zu Tullas Verbündetem. Dieser publiziert auf seiner Webseite „www.blutzeuge.de“ in einer rechtsradikalen Darstellung über Wilhelm Gustloff und dem nach ihm benannten Schiff. Diese Verbindung zwischen Tulla und dem Enkel Conny verweist hingegen nur auf die generationenübergreifende Übergabe des Gustlofs- Untergangs, sondern auch bei der Darstellung des Vergangenen auf einen grundlegenden medialen Wandel. Indem Tulla den traditionellen Traum nach einer Bewahrung der Erinnerung im Medium der Schreibart zum Ausdruck bringt, nutzt ihr Enkel Conny die charakteristischen Darstellungsmöglichkeiten des Internet aus.177 Jugendliche, so wie Konrad nehmen den Computer als etwas Selbstverständliches, und genau bei ihnen verlagert sich das, was man herkömmlich unter Kommunikation verstand, ins Internet, in eine virtuelle, oft falsche Welt. 173 Grass. S. 31. Vgl. Ebd. 183. 175 Grass. S.19. 176 Grass. S.31. 177 Vgl. Ebd. 183. 174 48 Nach einem Besuch einer Gustloff- Website der „Kameradschaft Schwerin“, hinter der sich sein Sohn Konrad verbringt, Berichtet Paul Pokriefke so: „Machte erst Notizen. Staunte. War verblüfft. Wollte wissen , wieso diese Provinzgröβe – und zwar von den vier Schüssen in Davosan- imstande war , neuerdings Surfer anzulocken. Dabei geschickt aufgemacht die Homepage. Montierte Fotos Schweriner Lokalität. Dazwischen nette Fragesätze: „Wollt Ihr mehr über unseren Blutzeugen wissen? Sollen wir Euch seine Story Stück für Stück liefern?“178 Durch das Internet, werden ehemals medial vorgegebene Barrieren der Darstellungsmöglichkeiten überwunden, unter dessen medialen Bedingungen erfolgt eine gleichzeitige Bezugnahme auf fotografische Abbildungen, Texte und bewegte Bildsequenzen. „Auf diese Weise können früher separierte Repräsentationsweisen parallelisiert und synthetisiert werden . Die hierdurch erzeugte Suggestionskraft nivelliert die Kluft zwischen Gegenwärtigen und Geschehenem.“179 Als Paul Pokriefke unter „www.blutzeuge.de“ bei den Trauerfeierlichkeiten für die Gustloff zugegen sein kann, erfährt er diese inszenierte Durchbrechung von Zeit und Raum: „Auf der Website wurde im Wortlaut der eingespeisten Berichte nicht einfach nur auf die damals herkömmliche und den italienischen Faschisten abgeguckte Weise mit erhobener rechter Hand gegrüβt, vielmehr fand man sich auf Bahnsteigen und bei allen Trauerkundgebungen zum ‚Entbieten’ des letzten Gruβes ein; deshalb wurde (...) ihm auch aus180 der neusten, Cyberspace genannten Dimension der deutsche Gruβ „entboten“.“ Die Novelle problematisiert damit eine Erinnerungsstrategie, die durch Auflösung raum- zeitlicher Spanne sowie die Synthetisierung von vormals isolierten medialen Wahrnehmungsebenen eine Glaubwürdigkeit der vorgestellten Ereignisse suggeriert und den Nutzer ‚live’ zum historischen Vorfall schaltet. Diese Authentisierungsstrategie hat in dem Text Auswirkungen auf dem Nutzer, denn das Internet provoziert hier die Annahme einer Identität, derer Szenarien durchgespielt werden. „Neben der „ Gustlof“- Website sind es die Chats, die den Nutzer in das Geschehen einbinden.“181 178 Grass. S. 32. Zitat. Ebd. S. 184. 180 Grass. S. 35. 181 Zitat. Ebd. S.184. 179 49 In diesem Zusammenhang bildet sich „ein streitbares Rollenspiel“182 zwischen Konrad, der als ‚Wilhelm’ die Stelle Gustloffs einnimmt, und ‚David’ der sich als David Frankfurter, dem Mörder Gustloffs „in Szene setzt“.183 In unserer Kultur ist der Text mit dem Autor sehr verbunden, doch im Internet löst sich diese Zusammensetzung auf: „Strenggenommen gehen wir im computerisierten Netz nur noch mit Ideen und nicht mehr mit Personen um.“184 Im Internet vollzieht sich die Kommunikation unter den Bedingungen der Anonymität: „Nicht Personen, sondern mit selbstgeschaffenen Namen gekennzeichnete ‚ künstliche Identitäten’ verkehren miteinander: Chiffrenexistenz.“ 185 Das Internet ist im Bezug auf die Wirklichkeit ambivalent konzipiert: „Anfangs eröffnet es einen Raum, in dem sich die medienspezifische Darstellung historischer Ereignisse wie performative Handlungen entfalten können.“186. Das Internet changiert in der Novelle zwischen medial kreierter Wirklichkeit und der Realität. Mithilfe des Inernets wird in der Novelle „Im Krebsgang“ beispielhaft vorgeführt, dass die Betrachtung über das Verhältnis von Medium und Erinnerung einen zentralen Stellenwert einnimmt. Die drei Personen Tulla- Konrad und David/ Wolfgang, bewegen sich in einem Netz von Gedächtnismedien. Dabei auf der Figurenebenen problematisiert der Text eine Erinnerungsstrategie, „die den produktiven Anteil von Medien an der Darstellung von Ereignissen verschleiert und stattdessen eine Authentizität suggeriert, die auf die Figuren zurückschlägt.“187 So wird die Erinnerung zur Performanz, wobei die Gedächtnismedien die Handlungsmuster und Handlungsrahmen vorgeben. Grass macht in seiner Novelle die Bedeutung des Internets als ein Reservoir für das kollektiv Verdrängte aufmerksam. Er zeigt, wie in diesem Medium das zur Erinnerung und Sprache gebracht wird, was dem offiziellen Gedächtnisrahmen von Staat und Geselschaft wiederspricht.188 Der Ich- Erzähler schrieb: 182 Grass. S. 47. Grass. S. 48. 184 Zitat. Ebd. S. 185. 185 Zitat. Ebd. S. 185. 186 Zitat. Ebd. S. 185. 187 Zitat. Ebd. S. 185. 188 Vgl. Assmann, A: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Das Internet als Gedächtnismedium. C.H.Beck 2006. S. 244. 183 50 „(...)war es meinem Sohn auf seiner Website gelungen, das vergessene Schiff und dessen menschliche Fracht ins difusse Weltbewusstsein zu rücken.“ 189 Er schildert ganz genau, wie Erinnerungen in diesem Medium vor sich gehen: „Nun begann die im Internet mögliche Freizügigkeit der totalen Kommunikation. In- und ausländische Stimmen mischten sich. Sogar aus Alaska kam eine Meldung. So aktuell war der Untergang des lange vergessenen Schiffes geworden. Mit dem wie aus der Gegenwart hallenden Ruf <Die Gustloff sinkt!> stieβ die Homepage meines Sohnes aller welt ein Window auf und leitete einen (...) seit langem überfälligen Diskurs ein. Jedoch! Ein jeder sollte nun wissen und beurteilen, was am 30. Januar 1945 auf der Höhe der Stolpebank geschehen war; der Webmaster hatte eine Ostseekarte eingescannt und alle zur Unglücksstelle führenden Schiffswege mit belehrendem Geschick anschaulich gemacht.“190 Grass tematisiert das Internet als Schauplatz eines Kampfes der Wiederkehr, der Verdrängten, der Erinnerung und der Wiederbelebung uralter Vorurteile: „Sogleich brach im Chatroom Haβ aus. <Judengesocks> und < Auschwitzlügner> waren die mildesten Schimpfwörter. Mit der Aktualisierung des Sciffsuntergangs kam der so lange abgetauchte Kampfruf ` Juda verrecke!` an die digitale Oberfläche der gegenwärtigen Wirklichkeit: aufschäumender Haβ, Haβstrudel. Mein Gott! Wieviel hat sich angestaut, vermehrt sich täglich , drängt zur Tat.“191 „Das Internet existiert jenseits gesellschaftlicher Institutionen und damit derzeit auch noch weitgehend jenseits der Instanzen der Autorisierung und Zensur.192“ Was erfunden und falsch, was wahr und verbrieft, was wissenschaftliche Recherche, was individuelles Phantasma, was seriöse Informationen und was Pornographie oder Blasphemie ist, muss jeder dort selber herausfinden. Grass wollte auch mit dem Internet darstellen „(...)wie irregefürt heute junge Menschen auf die Geschichte reagieren“ 193 189 Grass. S. 134. Grass. S. 149. 191 Grass. S. 150. 192 Zitat: Assmann, A: Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. Das Internet als Gedächtnismedium. C.H.Beck 2006. S. 244. 193 Zitat: Grass, Günter: Falsche Folkrole und erfundene Volkstänze. Ein Gespräch mit dem Nobelpreisträger G.Grass und den Historikern Michael Jeismann und Kasrl Schlögel. In: Literaturen. Das Journal für Bücher und Themen. Berlin: Friedrich Berlin Verlag, 2002, Nr. 5, S. 21. 190 51 Zu diesem zerstörerischen Erinnerungspotenzial stellt ein Gegengewicht und zwar die dritte Ebene dar, bekanntlich die des Ich- Erzählers und seinen Auftraggeber, in der Novell „der Alte“ genannt. Die Besonderheit von Pauls Gegen- Strategie ist der‚ Krebsgang’. Er gibt der Novelle nicht nur den Titel, sondern beschreibt gleichzeitig das ihr zugrunde liegende Erzählprinzip. Die Linearität und Hierarchisierung der Erzähltechnik des Krebsgang nimmt Abstand und muss „(...) der Zeit eher schrägläufig in die Quere kommen (...), etwa nach Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuschen, doch ziemlich schnell vorankommen.194 Dementsprechend ist mit dem Augenblick der Querläufigkeit auch das der Täuschung, der List verbunden. In dem Text werden Überschneidungen und Übergänge angelegt. So wechselt die Beschreibung des „von Bildern belebten“195 rauerzeuges für Gustloff zwischen einer Darstellung der Website und einem Erzählerbericht, um letztendlich in den Kommentar zu münden: „Ach wäre er doch vor Verdun dabeigewesen und rechtzeitig in einemGranattrichter krepiert!“196 Die aus diesem Grund ausgelöste Irritation weist über den Text hinaus, „in dem qua Schreibverfahren eine Lektüre eingefordert wird, die ein Bewusstsein für die medialen Ebenen der dargestellten Handlung entwickelt.197 Die Novelle verortet sich in aktuellen erinnerungspolitischen Debatten über die Figur des ‚Alten’, die sehr viele auβertextuelle Bezüge aufweist. So gibt Paul nach einem Arbeitstreffen die Äuβerung des Alten wieder: „Eigentlich müsse jeder Handlungsstrang, der mit der Stad Danzig und deren Umgebung verknüpft oder locker verbunden sein, seine Sache sein.(...) Gleich nach Erscheinen des Wälzers <Hundejahre> sei ihm diese Stoffmasse auferlegt worden . Er- wer sonst?- hätte sie abtragen müssen, Schicht für Schicht.“198 Der Text assoziiert den Alten mit dem Autor Günter Grass. Eine gleitende Skala zwischen literarischen Text und gesellschaftlichen Kontext ergibt sich somit erzählstrategisch: „Steht Paul Pokriefke als Sohn Tullas und Harry Liebenaus noch in einer festen Traditionslinie des Figureninventars von Hundejahre, so ist er zugleich 194 Grass. S. 8-9. Grass. S. 36. 196 Grass. S. 37. 197 Zitat. Ebd. S. 187. 198 Grass. S. 77. 195 52 Erzählinstanz und Sprachrohr des Alten.“199 Aufgrund dieser Sache wird jedoch auch die Barriere zwischen Non- Fiktionalität und Fiktionalität flieβend. Die Novelle Im Krebsgang ist dementsprechend unter mehreren Aspekten ein Medium des Gedächtnisses. Einen zentralen Stellenwert nimmt zunächst im Text selbst das Verhältnis zwischen Erinnerung und Medium ein. Über das Schreibverfahren wird hinzu eine divergierende Erinnerungsstrategie skizziert, der die Reflexion über die eigene Medialität eingeschrieben ist. „Auf diese Weise wird eine Erinnerungsstrategie, die auf einer authentischen Darstellung der Vergangenheit zur Stützung der eigenen Identität beruht, in ihrem zerstörerischen Potential enttarnt.“200 Indessen der Text sich zudem selbst, z.B. über die Fluchtthematik und die Gestalt des Alten, in die jetzigen politischen und gesellschaftlichen Debatten um Erinnerungsinhalte und die Formen adäquaten Gedenkens einschleust, gestaltet er im gesellschaftlichen Kontext seine Folge als Medium des Gedächtnisses. 199 200 Zitat. Ebd. S. 188. Zitat. Ebd. S. 188. 53 3.4. Erinnerung und Trauma. In Günter Grass Novelle „Im Krebsgang“ geht es nicht um die Darstellung des Untergangs der `Willhelm Gustloff`, sondern um die Übermittlung dieses Geschehnisses über drei Generationen die bereits presäntiert worden sind. „Grass bedient sich hier einem Konzept der Erinnerung, das offen legt, dass die Erinnerungen Lesearten sind, die zueinander in Wiederspruch stehen.“201 Formen der Aneignung des Vergangenen werden in der Novelle über die Protagonisten und die Sprechweisen illustriert. Die ganze Novell ist ein verschachteltes Konstrukt, das aus der Montage und Einblendung der höchst diametralen Erinnerungsvorgänge besteht. Einbezogen in die Disharmonie der drei Generationen um die wahre und wirkliche Geschichte der Tragödie treten in der Novelle zusätzliche Handlungsfäden auf: „Die Historie des KdF- Schiffes Wilhelm und seines Namenspatrons Wilhelm Gustloff, des so genannten „ Blutzeugen“ im heroisierenden Staatsgedächtnis der Zazis.Des David Frankfurter, der den eifrigen Organsator der AuslandsNSDAP Gustloff wegen seiner Nazi- Umtriebe am 4. Februar 1936 niederschoss; er nun ein Märtyrer des antifaschistischeb heroisierenden Gedächtnisses .Und des U- Boot- Kommandanten Matinesko, komplementär ein Held des Vaterlandes stalinistischer Provinienz.“202 Diese drei historische Individuuen stellen eine Auseinandersetzung mit der heroisierenden und verwalteten Erinnerung dar- sei es von Nationen oder Gruppen. Zu dem heroisierenden Gedächtnis der Symbolfiguren kommen Denkmäler aller Art, ihre Errichtung, ihre Beseitigung, ihr Wiederaufrichten, ihr Verroten. Die Namengebung in Einweichungen und Schiffstaufen werden eingemischt, anschlieβen das staatlich und medial kodifizierte Gedächtnis der Heldenverehrung.203 Die Transformation der Tat des David Frankfurter- in die heroisierende Erinnerung wird von dem Ich- Erzähler folgendermaβen kommentiert: 201 Zitat: Mauser, Wolfram/ Pffeifer, Joachim : Erinnern. Veröffentlicht von Königshausen & Neumann, 2004. S.125. 202 Zitat. Ebd. S. 126. 203 Vgl. Ebd. S. 127. 54 „Danach wurde eine Menge Papier gedruckt. Was bei Wolfgang Diewerge ` eine feige Mordtat` hieβ, geriet dem Romanautor Emil Ludwig zum „Kampf Davids gegen Goliath“. Bei dieser gegensätzlichen Bewertung ist es bis in die digital vernetzte Gegenwart geblieben. Schon bald lieβ alles, was danach, den Prozeβ eingeschlossen, der mit schlicht gegründeter Tat sein gepeinigtes zum wiederstand wollte, standder nationalsozialistischen Bewegung gegenüber. Beide sollten überlebensgroβ ins Buch der Geschichte eingehen. Der Täter jedoch geriet bald in Vergessenheit; auch Mutter hat, als sie ein Kind war und Tulla geruffen wurde, nie etwas von einem Mord und dem Mörder, nur Märchenhaftes von einem Schiff gehört, das weiβ schimmerte und beladen mit fröhlichen Menschen lange und kurze Seereisen für einen Verein machte, der sich „Kraft durch Freude „nannte.“ 204 Grass opponiert, dass das gelebte Leben in einer Legende niemals aufgeht und das Lebensopfer keine dauerhafte Erinnerung stiftet. Das Erinnern wird von Grass als Konstruktion dargestellt. Die Darstellung der Versenkung des Schiffes beginnt: „So wird, so kann es gewesen sein. So ungefär ist es gewesen.(...) Ich kann nur berichten, was von Überlebenden an anderer Stelle als Aussage zitiert worden ist.“205 Hier werden zu Redensarten geronnene Fetzen und Partikel von Eindrücken der Erinnerung zitiert. Einen weitergehenden Anspruch an Erinnerung präsentiert Grass an der Figur Tulla Pokriefke. Es geht um die Einholung traumatischer Szenen in Verständigung und Mitteilung, was der Text nich zulässt. Grass unterschiebt seinen Figuren einen gegenläufigen Subtext. Er schreibt seinen zentralen Figuren ( dem IchErzähler und der Tulla Pokriefke) die Aufhebung der Trauer ein. 206 Der Sprach- Entwurf ist für das Text- Leseverhältnis des Ich- Erzählers zentral. Sein Sprachduktus gibt den emotionallen Kommentar. So beginnt das Buch: „Warum erst jetzt? Sagt jemand, der nicht ich bin. Weil Mutter mir immer wieder... Weil ich wie damals, als der Schrei über Wasser lag, schreien wollte, aber nicht konnte... Weil die Wahrheit kaum mehr als drei Zeilen....Weil jetzt erst...“207 Ähnliches resigniertes Sprechen zeigt sich in wenigen Passagen. Solcher Sprechweise stehen nahe anschauliche Beschreibungen von durchlässiger Qualität. Sie verweisen auf 204 Grass. S. 29. Grass. S. 101/137. 206 Vgl. Ebd. 130. 207 Grass. S. 7. 205 55 Körpergefühle, Erlebnis- Szenen, auf Bruchstücke eines Körpergedächtnisses und werden nicht umgehend in Vorgehen von Lektion eingefügt208: „(...) noch am Vortag- und dann eine lange Nacht über- hatten die Pokriefkesauf ihren zu vielen Koffern und Bündeln gesessen, inmitten einer Menge Flüchtlinge, von denen die meisten vom langen Treck erschöpft waren. Von der Kurischen Nehrung, dem Samland, aus Masuren stammen sie. Ein letzter Schub war aus dem näher gelegenen Elbing geflüchtet, das von sowjetischen Panzern überrollt worden war, aber noch immer umkämpft zu sein schien. Auch drängten sich immer mehr Frauen und Kinder aus Danzig, Zoppot und Gotenhafen, hungrig die Kaianlagen unsicher machten. Die ostpreuβischen Bauernpferde hatte man ausgeschirrt und in der Stadt entweder Wehrmachtseinheiten überlasen oder dem Schlachthof zugeführt. Genau wusste Mutter das nicht. Auβerdem taten ihr die Hunde leid:< Immerzu jeheult ham die imme Nacht wie Welfe...>“209 Das lapidare Erzählen ist an diesen Stellen durchlässig und bildhaft. Doch der Sprachraum der Novelle ist überwiegend durch einen äuβerst anderen Ton des IchErzählers geprägt, durch einen motzigen, oft zynischen und halb- pubertären Männergestus. Über die Figur Tulla Pokriefke, stellt Grass nach der Frage der Überlieferung- nicht nur im Sinne der offiziellen Kanonisierung, sonder in der Perspektive, eine Generationen-Erfahrung in einer zeichenhaften Ordnung aufzuheben.210 Die Frage ist: Was will eigentlich „die Alte“, wenn sie von dem Sohn oder von dem Enkel „es aufzuschreiben“ verlangt? „Biste ons schuldig.....?“ 211 Was bedeutet es eigentlich für sie, in der Darstellung der Erinnerung aufgehoben zu sein? Hier spannt sich über die Kette der Generationen der Wunsch nach einer liebender Akzeptanz. „Man könnte auch sagen nach einer Aufnahme des Traumatischen in den Blick, der Nachgeborenen, der Anteil nehmend auf die von jenem Erlebnis gezeichneten fällt. Ein Blick, der seinerseits wahrgenommen wird und der eine Entlastung bedeutet. Dieser Blick soll seinen Ausdruck in einer erzählten Geschichte finden und so etwas festhalten, nicht `objektiv`, sondern als Ausdruck einer Beziehung zu dem Geschehen und den Beteiligten. Es wiederfährt eine Entlastung in dem Sinn, dass andere von dem Schmerz wissen und eine Art Heilung dadurch, dass der Traumatisierte angesichts der Vergegeständlichung des Geschehnisses in einem Werk, oder anders gesagt angesichts der Aufnahme ins kollektive Gedächtnis, selbst nachlassen darf, dieses Geschehen in seiner Ganzheit stets zu bezeugen.“212 208 Vgl. Ebd S. 130. Grass. S. 107. 210 Vgl. Ebd. 132. 211 Grass. S. 31. 212 Zitat. Ebd. S. 132. 209 56 Dies kann nur zustande kommen, wenn eine Bezeichnung gefunden wird, die einen Bereich für die wiederstreitenden Gefühle lässt, vor allem für Ohnmacht, Verlust und Trauer. Grass will in seiner Novelle zeigen, wie die heute Lebenden die Erinnerung benutzen und herstellen. Wer bestimmt über die allgemein anerkannte Erzählung, wer gibt ihr Bezeichnung und was verleiht ihr Gewicht? Dieses Gegenstand macht er zum Konstruktionsprinzip seines Erzählens. Wer wird gehört? Wer drückt sich aus? Martyrium, Opfer und ewiges Leben im Pantheon des kollektiven Gedächtnisses werden mit ätzender Ironie verabschiedet.213 213 Vgl. Ebd. 128. 57 3.5. Vermiedene Themen in der Novelle. In jeder Gesellschaft, Familie oder Bekanntenkreis gibt es Themen über die man nicht gerne sprechen will oder möchte. Diese Themen sind aus verschiedenen Gründen zu einem Tabu – oder Vermiedenen Thema geworden. Auch in der Grass Novelle gibt es zahlreihe Tabus über die ganze Gesellschaft schweigt. Die „verfluchte Geschichte“214 des Untergangs der Wilhelm Gustloff wurde im Deutschen Reich nicht gekannt gegeben, denn das hätte „der Durchhaltestimmung schaden können“215. „Nach 1945 wurde sie in beiden deutschen Staaten verdrägt. Im Westen war sie ein Beispiel für die katastrophale Niederlage des deutschen Nationalsozialismus und die von ihm verursachten sinnlosen Opfer, im Osten war sie ein Beispiel für eine berechtigte, aber wenig heldenhafte Kampfhandlung der Roten Armee.“216 „(...) ieber die Justloff nicht reden jedurft hat. Bai ons im Osten sowieso nicht. Ond bai dir im Westen ham se, wenn ieberhaupt von frieher, denn immerzu nur von andere schlimme Sachen, von Auschwitz und sowas jeredet.(...).217 „Die Gustloff und ihre verfluchte Geschichte waren jahrezehntelang tabu, gesamtdeutsch sozusagen.“218 Zu diesen Tabu der Deutschen gehört auch u.a.: traurige Erlebnisse, Tod, Vertreibung, schlechte Erinnerung und die Nazizeit. „Niemals, sagt er“, lässt Grass seinen Erzähler den Auftraggeber zitieren, „niemals hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordlinglich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfte.“219 Diese Themen wirken bis in die Gegenwart. Milionen Deutsche wurden Heimatlos, verjagt und vertrieben, nachdem der deutsche Fachismus die Welt mit Völkermord, Terror und anderen Verbrechen überzogen hatte. 220 . „wie spät und immer noch zögerlich an die Leiden erinnert wird, die während des Krieges den Deutschen zugefügt wurden.“ 221 214 Grass. S. 31. Grass. S. 153. 216 Zitat: Rüdiger, Bernard: Königs Erläuterungen und Materiallien Band 416, Erläuterungen zu Günter Grass Im Krebsgang, Bange Verlag, 2002, S. 16. 217 Grass. S. 50. 218 Grass. S. 31. 219 Grass. S. 99. 220 Vgl. Rüdiger, Bernard: Königs Erläuterungen und Materiallien Band 416, Erläuterungen zu Günter Grass Im Krebsgang, Bange Verlag, 2002, S. 19. 215 58 Grass schrieb diese Sätze, indem er an seiner Novelle arbeitete. Er wollte das Thema der Trauer um deutsche Opfer ins Erkenntnis der Deutschen zurückholen. Grass Buch war bloβ eines von vielen Medienbegebenheiten, die die öffentliche Interesse in dem Jahren 2002 und 2003 auf die Erlebnisse deutschen Kummer richteten und darauf zielten, geringer einen Gesinnungswandel als einen Wandel der historichen Gefühlskultur einzuleiten.222 Soziale Tabus und Traumatisierung verzögern über lange Bereiche die Erinnerung und können zur verspäteten Entladungen führen. Das Thema deutscher Leidensgeschichten ist mit sicherheit nichts neues. In den Familien werden sie ständig erzählt, bis sie in eine feste, tradierbare Gestalt gerannen.223 „Konnte das nicht mehr mithören, wenn sie mir, meistens sonntags, ihre Gustloffs- Geschichten zu Klopsen und Stampfkartoffeln auftischte (...)“224 Ein anderes Thema, was für Grass eine wichtige Rolle spielte, ist die Vertreibung, die in den beiden ersten Jahrzehnten nach Kriegsende in Westdeutschland als ein Thema im Hintergrund war. Grass gab dem Hintergrundthema eine künstlerische Form. Es geht um einem Schiff, der mit deutschen Flüchtlingen überladen war, das gegen Ende des Zweiten Weltkrieges in der Ostsee versenkt wurde. „Die Deutschen in einer Opferperspektive zu schildern, ist ein riskantes Unternehmen, war es doch, wie wir gesehen haben, eben diese selbstzentrierte Opferperspektive, die nach dem Krieg eine Anerkennung anderer Opfer, seien sie jüdisch, polnischer oder welcher Herkunft auch immer, jahrezhntelang blokiert hatte.“ 225 Grass Novelle forciert die Rückholung einer unterdrückten individuellen Erinnerung ins kollektive Gedächtnis der Deutschen. Zugleich ist die Novelle ein analytisches Lehrstück bedeutender Mechanismen der Erinnerungsdynamik und Raffinessie der Geschichtspolitik.226 Grass hollt die Geschichte der Versenkung der Willhelm Gustloff nach 57 Jahren zurück. 221 Zitat:Grass, Günter: Ich erinnere mich, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Vgl. Assmann, A. : Der Lange Schaten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. .Das Zurückflten von Erinnerung. C.H.Beck 2006 S.190. 223 Vgl. Assmann, A. : Der Lange Schaten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. .Das Zurückflten von Erinnerung. C.H.Beck 2006 S.190. 224 Grass. S. 57. 225 Aus psychoanalitischer Sicht hat das Leid der jüdischen Opfer den Angehörigen der Kindergeneration ` dem Mund verschlossen`, so dass sie ` nicht von ihren eigenen Traumatisierungen sprechen konnten`. Bohleber,Werner: Trauma, Trauer und Geschichte. Köln, 2001. S. 143. 226 Vgl. Ebd. Assmann, A. S. 196. 222 59 „Der Untrgang des einst beliebten KdF- Schiffes wurde im Reich nicht bekanntgegeben. Solche Nachrichten hätte der Durchhaltestimmung schaden können. Nur Gerüchte gab es.“227 Die Erste Hälfte der Novelle ist der Vorgeschicht des Unglücks des Schiffes gewidmet. Doch der Zweite Teil ist die Nachgeschichte des Unglücks, in der geschildert wird, wie das Geschehen im Nachkriegsdeutschland „erinnert, verdrängt, vergessen, wieder hochgeholt, rekonstruiert und sogar handelnd wiederholt wird.228 Dem Trio der geschichtlichen Gestalten entspricht demzufolge des Trio der imaginären Erinnerungsträger in Figur von Mutter, Sohn und Enkel. Für seine Novelle konstruiert Grass einen wiederstrebenden Erzähler, indem seine Mutter, eine von wenigen Überlebenden der Gustloff, Jahrelang in den Ohren liegt, ihre Geschichte aufzuschreiben und an die weiteren Generationen weiterzugeben. „Ech leb nur noch dafier, daβ main Sohn aines Tages mecht Zeugnis ablegen.(...)Das muβte aufschraiben. “229 Mutter „Endlosgeschichte“ ist in einer Kette immer wieder wiederholter Formeln eingefroren. Verzweifelt sucht sie nach einem Beobachter für ihr Zeugnis, der ihrer Geschichte Nachdruck verleiht und es soll sie zu einem Objekt eines bleibenden öffentlichen Gedächtnisses machen. „Ihre erste Wahl ist der Sohn, dr als Alt- 68er die Aversionen dieser Generation gegen Familiengeschichten von Hunger, Grauen und Entbehrubg teilt. Auβerdem ist er in einer Welt aufgewachsen, die für diese Geschicht keine Verwendung hat. Von demn sechziger Jahren bis in die neunziger Jahre war das Ereignis icht nur vergessen, sondern auch verdrängt, d.h. `weggedrängt` vom Trauma des Holocaust, das nach einer Phase der Verzögerung Anspruch auf politische Anerkennung und öffentliche Erinnerung machte.“230 Doch trotz aller Bemühungen, kann sich der Sohn von seiner Herkunftgeschichte nicht ganz frei machen. „Das verfluchte Datum, mit dem alles begann, sich mordsmäβig steigerte, zum Höhepunkt kam, zu ende ging. Auch bin ich, dank Mutter, auf dem Tag des fortlebenden Unglücks datiert worden(...).“231 227 Grass. S. 153. Zitat. Ebd. Assmann, A.. S. 196. 229 Grass. S. 19/ 31. 230 Zitat. Ebd. Assmann, A. S. 196. 231 Grass. S. 11. 228 60 Der Geschichte, die der Sohn nicht erzählen will, nimmt sich der Enkel, Konrad an. Internet ist das neue Medium dieser Generation, das Grass in ausgezeichneter Weise als Abseite des offiziellen nationalen Gedächtnisses und dynamische Projektionsfläche für verdrängte Erinnerung und tabusierte Sprache ins Spiel bringt.232 Grass will allen deutlich machen, dass das „Leidgedächtnis der Vertriebenen das Leidgedächtnis der Holocaustopfer keineswegs verdrängen kann. Diese erinnerung an deutsche Leidensgeschichte findet der Bedingung im kollektiven Gedächtnis der deutschen Platz, dass aud ihr keine unmittelbaren rechtlichen Konsequenzen und politischen Handlungsnormen abgeleitet werden – sei es auf Revanche, auf Revision der Grenzen oder auf Entschädigungsansprüche.“233 Es geht hier um das Ansehen dieser Opfererinnerung unter der Annahme ihrer Entpolitisierung, die zur Differenzierung und Entkrampfung des deutschen Kollektivgedächtnisses führt. Grass verteilt die Gudtloff- Erinnerung in drei Generationen von 1928, 1945 und 1984. Er entwirft eine Langzeitanschauung auf die Differenz von individuellen Erinnerungen und kollektiven Gedächtnis in der deutschen Erinnerungsgeschichte. Die verschlungene Energie von Vergessen und erinnern wird nicht nur durch den Wandel der Generationen und technischen Medien, aber auch durch den der politischen Systeme elementar mitbestimmt.234 Persönliche Erinnerungen hat nur die Mutter, Tulla Pokriefke, denn die Haupttätigkeit des Erzählers, Pauls und seines Sohnes, Konrad ist nicht zu erinnern, denn sie haben schlieβlich keinen Erfahrungskontakt zu dem Ereignis- sondern zu rekonstruieren, recherchieren und Daten zu präsentieren. Für sie ist nur das mündliche Zeugnis von Tulla eine von vielen Quellen. Sie sichten ausführlich alle erreichbaren Informationen ( Bücher, Materiallien, Photograpien und Briefe). Sogar im kulturellen Speichergedächtnis ist ein Spielfilm, der 1959 in die westdeutschen Kinos kam und sich noch an die Erlebnisgeneraion wendete. 235 „Mit seinem Roman und dessen breiter öffentlicher Resonanz hat Grass diese Erinnerung über die ihm im sozialen Gedächtnis gesetzeten Beschränkungen und Verfallszeiten ins kulturelle Gedächtnis gehoben und damit über die Generationengrenzen hinweggallgemein zugänglich und tradierbar gemacht.“236 232 Vgl. Ebd. Asmann, A. S. 197. Zitat. Ebd. Asmann, A.. S. 197. 234 Vgl. Ebd. Assmann, A. S. 198. 235 Vgl. Ebd. Assmann, A. S. 198. 236 Zitat. Ebd. Assmann, A. S. 198. 233 61 Er durchbricht das Schweigen in der Enkel- Generation. Er meint: „sie diskutieren gern über die Geschchte, weil sie die neue Generation nicht belastet. Jugentliche und junge Leute können diese Vergangenheit untersuchen, weil sie Zeit und Kraft dafür haben. Sie wollen die Vergangenheit regeln. Die alten Generationen wollen Tragödien und Katastrophrn des Krieges vergessen, weil sie sich lieber auf den Aufbau der Gesellschaft fokussieren.“237 Grass brachte kategorich das Thema an die Öffentlichkeit, denn es lag nicht an einer neuen Sicht des Schriftstellers auf das Thema Vertreibung sondern weil: „(...) es Aufgabe seiner Generation gewesen, dem Elend der ostpreuβischen FlüchtlingeAusdruck zu geben: den winterlichen Trecks gen Westen, dem Tod in Schneewehen, dem Verrecken am Sraβenrand und in Eislöchern, sobald das gefrorene Fische Haff nach Bombenabwürfen und unter der Last der Pferdewagen zu brechen begann, und trotzdem von Heiligenbeil aus immer mehr Menschen aus Furcht vor ussischer Rache über endlose Schneeflächen...Flucht...Der weiβe Tod...Niemals, sagt er, hätte so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekkennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfte. Dieses Versäumnis sei bodenlos...“238 Ihm ist es sehr wichtig, dass die Deutsche Geschichte nicht nur von rechten Gruppierungen aufgearbeitet und verfälscht wird. Diesem Thema müssen sich auch ehrliche Menschen widmen. Grass warnt mit dem Rechtsradikalismus unseres Alltags indem er das Thema Vertreibung und Flucht verkürpert.239 237 Zitat: Nylander, Göran: Günter Grass : die Einstellung zum vermiedenen Thema in der Novelle "Im Krebsgang". http://www.virtuelleallgemeinbibliothek.de/EXTRA1.HTM. S. 9/10 10.05.2009. 238 Grass. S. 99. 239 Vgl. http://www.abipur.de/hausaufgaben/neu/detail/stat/259001515.html. 10.05.2009. 62 3.6. Stil und Sprache. Der Erste Satz der Novelle ist sprachlich bedeutungsvoll. „Warum erst jetzt?, sagt jemand, der nicht ich bin. Weil Mutter mir immer wieder... Weil ich wie damals, als der Srei überm Wasser lag, sreien wollte, aber nicht konnte... Weil die Wahrheit kaum mehr als drei Zeilen... Weil jetzt erst...“240 Schwer zu formulieren : „(...)sagt jemand , der ich nicht bin“ der ein Unterschied zwischen dem Erzähler „ich“ und den Auftraggeber „jemand“ ist. Eine unbekannte Person wird durch eine grammatisch ungewand dazwischengeschriebene Aufhebung von einer anderen Person abgehoben. Das weist auf schnelles schreiben hin. Es wird kräftiger durch die mit „weil“ beginnenden abgebrochenen Sätzen, die folgen und sich oft im Text finden.241 Schleunigst spürt der Erzähler, dass „Noch haben die Wörter Schwierigkeiten mit mir“242 doch anderseits „fix mit Worten“ durch seinen Beruf sei. So werden Journalismus und Dichtung unterschieden, die sich dabei gegenseitig bewirken. Das semantisches Repertoir des Erzählers Paul Pokriefke ist vom Sensationsjournalismus geprägt, das auch kurzfristig der Jemand sich bedient, um den Erzähler zu erwerben: „festnageln“, „frisch vom Messer“, „fix“ „Kurve gekriegt“, „Zeilen geschunden“(Grass, 7). 243 Das wird immer deutlich und durchzieht den Text, wenn der Erzähler vom „Jemand“ sich an seinen Auftrag erinnert, seine Geburt und sein ganzes Leben zu berichten, die „ Knackpunkt“ (Grass,70) des Erzählung sollen. Ganz sellten treten literarische Prozesse auf, so wenn der Erzähler seinen Auftraggeber zu Worte kommen lässt: „Niemand weiβ, was er dachte und weiterhin denkt. Jede Stirn hält dicht, nicht nur seine. Für Wortjäger Niemandsland. Zwecklos, die Hirnschale abzuheben“244 Dermaβen Pasagen stellen eine poetische Bilderwelt dar. Dies ist keine Sprache des journalistischen Erzählers, sondern die des Auftragsgebers mit den Zügen von Günter Grass. 240 Grass. S. 7. Vgl. Rüdiger, Bernard: Königs Erläuterungen und Materiallien Band 416, Erläuterungen zu Günter Grass Im Krebsgang, Bange Verlag, 2002, S. 101. 242 Grass. S. 7. 243 Vgl. Ebd. S. 101. 244 Grass. S. 199. 241 63 Die letzten Sätze der Novelle: „Das hört nicht auf. Nie hört das auf.“245 lassen ein zweites mit dem Beginn kongruierenes sprachliches Mittel erkennen: Der Erzähler verzichtet zunehmend und dann entgültig auf das „ich“: Es verschwindet völlig, als der Erzähler erkennen muss, wie sich die Geschehnisse wiederholen und er irrelevant wird. Die Sätze werden zu Elipsen246: „Muβte lange surfen. Hatte zwar oft...“ 247 In einem dichten Symbol- und Motivgeflecht, schlägt die Erzählkunst von Günter Grass indem seine Texte strukturiert und überzogen sind. Dazu gehören journalistische beabsichtigte Begriffe wie „Informationen, Story“248 oder Begriffe der neuen Medien wie „Hyperlink, Browser“249 und der namenlosen Kommunikation „Junk-Mail“ . Dazu gehört auch das Wissen um das Datum 30.Januar. Dem Datum entsprechen scharenweise Euphemismen wie „bloβer Zufall“, „Ausweis der Vorsehung“, „das verfluchte Datum“ oder „Tag des fortlebenden Unglücks“.250 251 Wie man sieht sind Begriffe aus der Computerwelt in der Novelle häufig zu finden, denn schlieβlich gehören sie zur Arbeitsweise des Journalismus. Der Erzähler schafft sich damit eine Überschreitung zur Lebenswelt der Generation des Enkels und einem sich neu formierenden Arbeitstag, in dem Literatur auf einer anderen Art vermittelt wird. Eingesetzt, als Ausgleich zu den modernen Medien wird die Mundart, Danziger Platt, die von Tulla Pokriefke gesprochen wird. Es werden auch Begriffe der LTI252 Sprache verwendet, sie verbindet sich komplikationslos mit den Modernismen wie z.B. „Blutzeige, Kameradschaft“. Zu erkennen ist, dass besonders der Erzähler Paul Pokriefke ohne weiteres und unkritisch mit Wörtern der LTI umgeht. 245 Grass. S. 216. Vgl. Ebd. S. 102. 247 Grass. S. 216. 248 Grass. S. 8. 249 Grass. S. 8. 250 Grass. S. 11. 251 Vgl. Ebd. S. 102. 252 LTI- Lingua Tertio Imperia= Sprache des Dritten Reiches. 246 64 4. Resümee. Resümierend ist festzustellen, dass Günter Grass mit seiner Novelle „Im Krebsgang“ das Thema Flucht, Vertreibung, Leid der Deutschen und die Erinnerung an die ganze Geschichte wiederbelebte und somit auch zum Teil des kulturellen Gedächtnisses gemacht hat. Das Drama der Flüchtlinge ist Teil des kulturellen, die Erinnerung an die Gustloff- Teil des kommunikativen Gedächtnisses, dessen Hauptquelle für die Einbezogenen das individuelle Gedächtnis von Tulla Pokriefke ist. Während Paul Pokriefke für die Enttabuisierung der Thematik steht, zielt Konny Pokriefke auf eine unkritische Würdigung der Opfer und ihre Manifestierung im kollektiven Gedächtnis ab253. Grass stellte in den drei Generationen drei verschiedene Erinnerungsformen der Protagonisten dar. Wohl ist das Buch „in memoriam“ geschrieben und gilt das Interesse einem kollektiven, eigentlich nicht in Worte zu begreiffenden Trauma: „Mit der Flucht auf dem Landweg begann das Sterben am Straβenrand. Ich kann es nicht beschreiben. Niemand kann das beschreiben.“254 Eine in sich gekehrte `Erinnerung an deutsches Leid` steht aber nicht in Vordergrund, sondern der Aufweis aktueller Folgen einer Nicht- Erinnerung, eines Schweigens über das Fatum von Millionen Menschen255. Dass der Autor das Thema jetzt so betont an die Öffentlichkeit brachte, lag aber nicht an der neuen Anschauung des Schriftstellers auf das Thema Vertreibung, sondern weil „die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei“256, aber man durch das Schweigen „das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen“257 hatte. Grass bekam durch den Ich- Erzähler Paul Pokriefke die Möglichkeit über die GustloffKatastrophe und über die Flüchtlingstragödie zu schildern. Selbstverständlich taucht Grass selbst in der Novelle auf, um die Thematik des Geschehens besser zu 253 Vgl.: Aleida, Assman: Der lange Schatten der Vergangenheit- Erinnerungskultur und Geschichstpolitik, In: Vertreibung (G. Grass, Im Krebsgang), C.H.Beck. S. 196. 254 Grass. S. 102. 255 Vgl. Gumpert, Gregor: Noch niemal: das < gemiedene Thema>. Zur literarischen Reflexion auf Flucht und Vertreibung 1945/46. S. 109. 256 Zitat: Rüdiger, Bernard: Königs Erläuterungen und Materiallien Band 416, Erläuterungen zu Günter Grass Im Krebsgang, Bange Verlag, 2002, S. 111. 257 Grass. S. 99. 65 kommentieren. Der Leser hat mehrere Varianten der Erinnerung an die Vergangenheit zur Auswahl. Durch diese Novelle wollte Grass Alle darauf aufmerksam machen, dass die Vergangenheit immer lebendig ist. Er wollte auch an Deutschlands vermiedene Themen erinnern, besonders um schmerzhafte und schamvolle Momente und Schuldgefühle. „Es geht um die Kenntnis der folgenden Generationen von den Verbrechen, die von deutschen von 1933 bis 1945 verübt wurden (...).“258. Doch der Schwerpunkt der Novelle zeigt auch: „dass der erstarkende Rechtextremismus in Deutschland die Folge von Verfehlung einer Gesellschaft wäre, die es versäumt hätte, der Jugend Leitbilder und Werte zu vermitteln“259 Geschickt zeigt Grass im Mangel an Verständnis und Kontakt zwischen den drei Generationen indem es an Liebe, Unterstützung, Verständlichkeit, Aufklärung und Familierär Atmosphäre fehlt. Dies effiziert, dass Konrad Pokriefke, nicht erkennt, was ein nazistisches Regime bedeutet. Durch diese ganze Gustloff- Geschichte und deren Folgen, die sich spürbar in der Familie gemacht haben, stellt sich Tulla und Konrad in der Position der Opfer. Der einzige- Paul, der eigentlich schuldfrei an der ganzen Geschichte ist, wird zum Täter gemacht. Grass hat in seiner Novelle auf die Relevanz des Internets als ein Reservoir für das kollektiv Verdrängte aufmerksam gemacht. Für Grass ist Internet ein Schauplatz eines Kampfes der Erinnerungen, Wiederbelebung uralter Vorurteile und wiederkehr des Verdrängten. 260 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Günter Grass, „der die Gustloff- Erinnerung auf drei Generationen von 1928, 1945 und 1984 verteilt, entwirft eine Langzeitperspektive auf die Diskrepanzen von persönlicher Erinnerung und kollektivem Gedächtnis in der deutschen Erinnerungsgeschichte“261 258 Bernard, S. 5. Zitat: Jarn, Maria: Die Wirkung der Vergangenheit auf die Gegenwart und deren Verarbeitung in der Novelle Im Krebsgang von Günter Grass : C-Aufsatz. http://www.virtuelleallgemeinbibliothek.de/EXTRA1.HTM 260 Vgl, Assmann, A. : Der Lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. C. H. Beck. S. 243. 261 Zitat. Ebd. S. 197. 259 66 67 5. Literaturverzeichnis. Assmann, Aleida/ Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit- Geschichtsvergessenheit. Stuttgart 1999. Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis: Von der individuellen Erfahrung zur őffentlichen Inszenierung, C. H. Beck, 2007. Aleida, Assman: Der lange Schatten der Vergangenheit- Erinnerungskultur und Geschichstpolitik, C.H.Beck. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München , C. H. Beck Verlag, 2006. Assmann, Jan: Das kullturele Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2002. Assmann, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis. C.H.Beck 2007. Banyard. P. U.a : Einführung in die Kognitionspsychologie. Ernst Reinharddt Verlag, München 1995. Behnken, Imbke/ Mikota, Jana: Gemeinsam an der Familiengeschichte arbeiten. Texte und Erfahrungen aus Erinnerungswerkstätten. Jurenta Verlag, 2008 Braese, Stephan: „Tote zahlen keine steuer“. 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