Karla Stock Ratingen, den 15

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Was ist Wahrheit? Jedenfalls nicht das, was in den Medien veröffentlicht wird. Dieser
Verdacht greift um sich. Nach jeder großen Debatte, um Martin Walsers Paulskirchen-Rede
ebenso wie um den Rücktritt Horst Köhlers, um Thilo Sarrazins Genetik-Theorien wie um
Günter Grass’ Israel-Gedicht, verweist die in den Medien unterlegene Seite darauf, sie habe
wäschekörbeweise Briefe der Zustimmung erhalten. Seither gibt es die abschätzige
Formulierung von der »veröffentlichten Meinung«. Der Ausdruck will sagen, dass die
Meinungsmacher Ansichten und Stimmungen, die in der Bevölkerung weit verbreitet .seien,
nicht zu Wort kommen lassen.
Aber die Sache ist komplizierter. Denn die Unterstellung eines Meinungskartells ist längst zu
einem Standard-Argument geworden, mit dem sich die streitenden Parteien im Voraus
versorgen: Wer für seine Position plausibel machen kann, vom Mainstream abzuweichen, eine
Sprachregelung verletzt odereinen Maulkorb ignoriert zu haben, hat schon halb gewonnen.
Deswegen wird bei allen Debatten ein erheblicher Teil der rhetorischen Energie auf die Frage
verwendet, ob das, was gesagt wurde, ein Tabu oder umgekehrt längs« gängige Münze sei.
Günter Grass hat diese Diskurs-Schablone zum Kern seines Israel-Gedichts gemacht, das sich
explizit als mutiger Tabubruch um des Weltfriedens willen inszeniert. »Dieses Gedicht«,
erklärte Grass der Deutlichkeit halber noch einmal in einem Interview, »ist eine Auseinandersetzung mit dem Schweigen und eine Aufforderung, über Themen zu diskutieren, die
bislang in Deutschland tabuisiert waren. «
Es gibt ein tiefes Misstrauen gegenüber der Redlichkeit von medialen Diskursen. Und zwar
unabhängig davon, auf welcher Seite einer Debatte man sich verortet. Das zeigt die GrassErregung bilderbuchhaft. Die Mehrzahl der Argumente, die im Für und Wider erhoben
werden, sind wie die Rede vom Tabubruch gar nicht Sachaussagen, sondern Beobachtungen
zweiter Ordnung, sie sind Metadiskurs. Das fangt schon damit an, dass fast jeder, der sich
zum Thema meldet, ob auf Facebook, beim Tischgespräch oder in den Medien, erst einmal zu
verstehen gibt, dass ihn die ganze Debatte anöde. Die heftigsten Debatten sind die, von denen
alle sagen, sie seien total öde. Aber auch die regelmäßig vorgetragene Ansicht, die Medien
seien auf das Selbstmarketing von Günter Grass hereingefallen, ist Metadiskurs. Nicht anders
das Argument, die ganze Diskussion sei »typisch deutsch« -ein Argument, das immer fällt
und in alle Richtungen funktioniert. Am Ende wird jede Debatte zu einer Debatte über
Debattenkultur. Woran. liegt das? Offenbar haben viele Leute das Gefühl, es würde nicht mit
offenem Visier gekämpft. Auch ist jeder vom eigenen frommen Herzen so tief überzeugt, dass
er sich abweichende Meinungen nur mit latenten Diskursinteressen oder versteckten
Machtstrukturen erklären kann.
Andrian Kreye ist Feuilletonchef der Süddeutschen Zeitung, die das Grass-Gedicht abgedruckt
hatte. Innerhalb der Zeitung gab es Diskussionen, ob man das Gedicht drucken solle oder
nicht. -Vor allem«, sagt Kreye, »weil das Gedicht inhaltliche Fehler hatte: Die Rede vom
»Erstschlags was nun einmal einen atomaren Erstschlag meint, war ein solcher Fehler. Ebenso
die Rede von der Auslöschung des iranischen Volks. Doch Günter Grass kann man vielleicht
lektorieren, aber nicht redigieren.«
800 Leserbriefe, sagt Kreye, seien bisher in der Münchner Redaktion eingetrudelt. Das werde
allenfalls getoppt von der Guttenberg-Causa und der Wulff-Debatte (jeweils etwa 1200
Leserbriefe, aber über einen längeren Zeitraum). Dabei habe sich die überwiegende Mehrheit
für Grass ausgesprochen und eine intensivere Beschäftigung der Medien mit der Atompolitik
Israels gefordert. Auch Kreye sieht eine auffallende Diskrepanz zwischen den professionellen
Kommentierungen durch die Journalisten (auch in seiner eigenen Zeitung) und den
Reaktionen der Leser: Bei den Leserbriefen gehe es mehr um Israel und dessen Politik,
während in den Kommentaren die Figur Grass im Mittelpunkt stehe. Den Aufklärungsbedarf
allerdings, der Grass und viele Leser behaupten, gebe es keineswegs: Die Medien hätten
schon immer umfassend über die Atommacht Israel berichtet.
»Hier liegt ein Ordner mit weit über 100 Leserbriefen«, sagt Frank Schirrmacher, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. »Die sind alle pro Grass. Das ist schon
interessant. « Schirrmacher hatte das Grass-Gedicht nach allen Regeln der Kunst
auseinandergenommen. Er hält es in seiner Empfindungslosigkeit für barbarisch. Jetzt muss er
umgehen mit einer Leser-Resonanz, die ganz anders ausfällt. »Ist das eine repräsentative
Stimmung, die gegen uns läuft? Viele Journalisten glauben das. Aber darin liegt eine große
Gefahr. Wir dürfen nicht vergessen: Es gibt so eine Art inhaltliche Filter-Bubble: Bestimmte
Themen rufen bestimmte Leserbriefschreiber auf. « Dieses Phänomen sei immer dort zu beobachten, wo es um angeblich deutsche Tabus gehe: ob bei Sarrazin oder bei Grass. »Mit
Sarrazin gab es eine Gegenöffentlichkeit, die den Journalismus verändert hat«, sagt
Schirrmacher. »Aber ich frage mich: Was ist es eigentlich, was die Leute sagen
wollen, von dem sie behaupten, es nicht sagen zu dürfen? « Grass’ Gedicht entfalte seine
Dynamik durch die »Schuldumkehr«. Schirrmachers düsterer Verdacht lautet, dass es genau
diese Schuldumkehr ist, die die Menschen als befreiend empfinden. Die gleiche
Schuldumkehr habe man auch im Fall Sarrazin beobachten können: »Es wurde nicht gefragt:
Integrieren wir vielleicht falsch? Sondern schuld war das Erbgut der Einwanderer. «
Schirrmacher sieht den Journalismus in einer Übergangsphase: »Wir haben noch immer
diesen Leitartikler-Gestus, der etwas mit Sender und Empfänger zu tun hat. Das wird als
Herrenmoral empfunden. Durch das Internet stellen wir fest: Es gibt sehr viele Menschen in
Deutschland, die gerne schreiben. Auch gut schreiben. Da muss sich erst wieder ein neues
Gleichgewicht bilden. «
Die Bild-Zeitung genießt den Ruf, das Ohr besonders nah an der Stimme des Volkes zu haben. Doch gibt man dort generell keine Auskunft über Leserreaktionen. Aber auch Nikolaus
Blome, stellvertretender Chefredakteur, vermutet, dass das Thema Israel bestimmte Leute zur
Feder greifen lasse: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass das repräsentativ ist. «
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