Was ist Wahrheit? Jedenfalls nicht das, was in den Medien veröffentlicht wird. Dieser Verdacht greift um sich. Nach jeder großen Debatte, um Martin Walsers Paulskirchen-Rede ebenso wie um den Rücktritt Horst Köhlers, um Thilo Sarrazins Genetik-Theorien wie um Günter Grass’ Israel-Gedicht, verweist die in den Medien unterlegene Seite darauf, sie habe wäschekörbeweise Briefe der Zustimmung erhalten. Seither gibt es die abschätzige Formulierung von der »veröffentlichten Meinung«. Der Ausdruck will sagen, dass die Meinungsmacher Ansichten und Stimmungen, die in der Bevölkerung weit verbreitet .seien, nicht zu Wort kommen lassen. Aber die Sache ist komplizierter. Denn die Unterstellung eines Meinungskartells ist längst zu einem Standard-Argument geworden, mit dem sich die streitenden Parteien im Voraus versorgen: Wer für seine Position plausibel machen kann, vom Mainstream abzuweichen, eine Sprachregelung verletzt odereinen Maulkorb ignoriert zu haben, hat schon halb gewonnen. Deswegen wird bei allen Debatten ein erheblicher Teil der rhetorischen Energie auf die Frage verwendet, ob das, was gesagt wurde, ein Tabu oder umgekehrt längs« gängige Münze sei. Günter Grass hat diese Diskurs-Schablone zum Kern seines Israel-Gedichts gemacht, das sich explizit als mutiger Tabubruch um des Weltfriedens willen inszeniert. »Dieses Gedicht«, erklärte Grass der Deutlichkeit halber noch einmal in einem Interview, »ist eine Auseinandersetzung mit dem Schweigen und eine Aufforderung, über Themen zu diskutieren, die bislang in Deutschland tabuisiert waren. « Es gibt ein tiefes Misstrauen gegenüber der Redlichkeit von medialen Diskursen. Und zwar unabhängig davon, auf welcher Seite einer Debatte man sich verortet. Das zeigt die GrassErregung bilderbuchhaft. Die Mehrzahl der Argumente, die im Für und Wider erhoben werden, sind wie die Rede vom Tabubruch gar nicht Sachaussagen, sondern Beobachtungen zweiter Ordnung, sie sind Metadiskurs. Das fangt schon damit an, dass fast jeder, der sich zum Thema meldet, ob auf Facebook, beim Tischgespräch oder in den Medien, erst einmal zu verstehen gibt, dass ihn die ganze Debatte anöde. Die heftigsten Debatten sind die, von denen alle sagen, sie seien total öde. Aber auch die regelmäßig vorgetragene Ansicht, die Medien seien auf das Selbstmarketing von Günter Grass hereingefallen, ist Metadiskurs. Nicht anders das Argument, die ganze Diskussion sei »typisch deutsch« -ein Argument, das immer fällt und in alle Richtungen funktioniert. Am Ende wird jede Debatte zu einer Debatte über Debattenkultur. Woran. liegt das? Offenbar haben viele Leute das Gefühl, es würde nicht mit offenem Visier gekämpft. Auch ist jeder vom eigenen frommen Herzen so tief überzeugt, dass er sich abweichende Meinungen nur mit latenten Diskursinteressen oder versteckten Machtstrukturen erklären kann. Andrian Kreye ist Feuilletonchef der Süddeutschen Zeitung, die das Grass-Gedicht abgedruckt hatte. Innerhalb der Zeitung gab es Diskussionen, ob man das Gedicht drucken solle oder nicht. -Vor allem«, sagt Kreye, »weil das Gedicht inhaltliche Fehler hatte: Die Rede vom »Erstschlags was nun einmal einen atomaren Erstschlag meint, war ein solcher Fehler. Ebenso die Rede von der Auslöschung des iranischen Volks. Doch Günter Grass kann man vielleicht lektorieren, aber nicht redigieren.« 800 Leserbriefe, sagt Kreye, seien bisher in der Münchner Redaktion eingetrudelt. Das werde allenfalls getoppt von der Guttenberg-Causa und der Wulff-Debatte (jeweils etwa 1200 Leserbriefe, aber über einen längeren Zeitraum). Dabei habe sich die überwiegende Mehrheit für Grass ausgesprochen und eine intensivere Beschäftigung der Medien mit der Atompolitik Israels gefordert. Auch Kreye sieht eine auffallende Diskrepanz zwischen den professionellen Kommentierungen durch die Journalisten (auch in seiner eigenen Zeitung) und den Reaktionen der Leser: Bei den Leserbriefen gehe es mehr um Israel und dessen Politik, während in den Kommentaren die Figur Grass im Mittelpunkt stehe. Den Aufklärungsbedarf allerdings, der Grass und viele Leser behaupten, gebe es keineswegs: Die Medien hätten schon immer umfassend über die Atommacht Israel berichtet. »Hier liegt ein Ordner mit weit über 100 Leserbriefen«, sagt Frank Schirrmacher, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. »Die sind alle pro Grass. Das ist schon interessant. « Schirrmacher hatte das Grass-Gedicht nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen. Er hält es in seiner Empfindungslosigkeit für barbarisch. Jetzt muss er umgehen mit einer Leser-Resonanz, die ganz anders ausfällt. »Ist das eine repräsentative Stimmung, die gegen uns läuft? Viele Journalisten glauben das. Aber darin liegt eine große Gefahr. Wir dürfen nicht vergessen: Es gibt so eine Art inhaltliche Filter-Bubble: Bestimmte Themen rufen bestimmte Leserbriefschreiber auf. « Dieses Phänomen sei immer dort zu beobachten, wo es um angeblich deutsche Tabus gehe: ob bei Sarrazin oder bei Grass. »Mit Sarrazin gab es eine Gegenöffentlichkeit, die den Journalismus verändert hat«, sagt Schirrmacher. »Aber ich frage mich: Was ist es eigentlich, was die Leute sagen wollen, von dem sie behaupten, es nicht sagen zu dürfen? « Grass’ Gedicht entfalte seine Dynamik durch die »Schuldumkehr«. Schirrmachers düsterer Verdacht lautet, dass es genau diese Schuldumkehr ist, die die Menschen als befreiend empfinden. Die gleiche Schuldumkehr habe man auch im Fall Sarrazin beobachten können: »Es wurde nicht gefragt: Integrieren wir vielleicht falsch? Sondern schuld war das Erbgut der Einwanderer. « Schirrmacher sieht den Journalismus in einer Übergangsphase: »Wir haben noch immer diesen Leitartikler-Gestus, der etwas mit Sender und Empfänger zu tun hat. Das wird als Herrenmoral empfunden. Durch das Internet stellen wir fest: Es gibt sehr viele Menschen in Deutschland, die gerne schreiben. Auch gut schreiben. Da muss sich erst wieder ein neues Gleichgewicht bilden. « Die Bild-Zeitung genießt den Ruf, das Ohr besonders nah an der Stimme des Volkes zu haben. Doch gibt man dort generell keine Auskunft über Leserreaktionen. Aber auch Nikolaus Blome, stellvertretender Chefredakteur, vermutet, dass das Thema Israel bestimmte Leute zur Feder greifen lasse: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass das repräsentativ ist. «