Ich will nach Hause, aber ich war noch nie da

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Pressezentrum
Dokument 1884
Sperrfrist:
17.06.2004; 10:30 Uhr
Veranstaltung:
Ich will nach Hause, aber ich war noch nie da
Eine jüdische Frau auf den Spuren ihrer Identität
Referent/in:
Friedlander, Evelyn
Ort:
Edwin-Scharff-Haus OG Studio München, Silcherstr. 40 (Neu-Ulm)
Programm Seite:
78
Ich freue mich dieses Gespräch mit euch zu führen; dennoch wundere ich mich, daß so viele
zu diesem Vortrag gekommen sind. Warum? War es der Titel der euch interessierte? Da gab
es aber gleich mehr Probleme als Antworten.
Erstens:
WER will eigentlich zu einem Hause – wo man noch nie da war?
Wo ist das Haus?
Und: gibt es eine jüdische Frau die sich ihrer Identität nicht bewusst ist?
Gewöhnlich nimmt man an, dass eine jüdische Frau ihr Heim im Geburtsland findet. Oder,
vielleicht, in Israel. Gut. Ich bin in London geboren und lebe auch in England. Aber in
meinem Buch mit diesem Titel, dass einige von euch gelesen haben, bezeichne ich nicht
England als mein Heim. Aber auch nicht Israel. Natürlich bin ich sehr mit Israel verbunden,
und die Familie meines Schwiegersohns lebt auch dort. Ab und zu, hier in Deutschland,
kommen Freunde auf mich zu und sagen: „Na; was dein Präsident Sharon heute getan hat!“
Aber ich bin kein Israeli; Sharon ist nicht mein Präsident.
Sicher: ich bin eine jüdische Frau, und arbeite auf einem Gebiet, wo die Geschichte jüdischer
Friedhöfe und Synagogen und Gegenstände mich dauernd in meine eigene Vergangenheit
sowie in das Leben der Juden Europas führt.
Der Titel meines Buches, zur Überraschung vieler Freunde, weist auf ein anderes Land hin.
Wie ich am Anfang meines Buches sage, denke ich eigentlich an Deutschland. Ich zitiere:
Deutschland war wie das gelobte Land für mich, Deutschland war gut für mich. 1955, als ich
fünfzehn war, kam ich nach Essen, um in der “Brücke”, dem britischen Kulturzentrum, ein
Klavierkonzert zu geben. Ich wurde behandelt wie eine Märchenprinzessin, ich gab
Pressekonferenzen, mein Photo erschien in allen Zeitungen, und alle waren unglaublich
freundlich. Die Kritiker waren voll des Lobes, nur einer war ehrlich. Er schrieb, ausverkauft
sei das Konzert ja gewesen, man hätte sich nur einen besseren Pianisten gewünscht. Das
war damals so, das ist heute so: kaum ein Deutscher traut sich, offen ein kritisches Wort
über Juden zu sagen. Deutschland war toll. Alle Honoratioren luden mich ein, es gab jede
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Menge Empfänge. Und dann habe ich mich auch noch unsterblich in einen Deutschen
verliebt.
Auf die Welt kam ich 1940 in London, während eines Luftangriffs, vielleicht ist das ja
symbolisch. Mein Vater, Walter Philipp, 1906 als ältestes von vier Geschwistern geboren,
stammte aus Recklinghausen. Seine Familie war seit Generationen in Westfalen ansässig
gewesen, mindestes seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Es war eine weitverzweigte
Familie. Ich bin als einzige übriggeblieben. Mein Vater hatte in Recklinghausen eine
Autowerkstatt. Dazu verkaufte er Heizöl und sonstige Ölprodukte.
Meine Mutter wurde 1913 in Essen geboren, als viertes von fünf Kindern, aber ihre Eltern
waren erst wenige Jahre zuvor aus Budapest gekommen, um den Pogromen dort zu
entgehen. Im Ersten Weltkrieg kämpfte mein Großvater in der kaiserlichen deutschen
Armee.
Diese Tatsachen sind sicher ein Teil meines Lebens: aber: bestimmen sie eigentlich meine
Identität?
Sicher, in den Erfahrungen meines eigenes Lebens, erst als Kind innerhalb einer Orthodoxen
Synagoge in London, und jetzt, als eine Frau, die in der Mitte einer Reformgemeinde lebt.
Fragen, kommen immer, die ich nicht beantworten kann. Albert, mein Mann, könnte mich ja
auch fragen: „Warum bist du nie zu Hause?“ Aber er würde es nicht wagen – er ist ja auch
selten zu Hause. manchmal reisen wir zusammen: ich begleite ihm für ein Semester am
Wissenschaftskolleg in Berlin, oder nach Kassel, wo er als Rosenzweig Gastprofessor
gastierte, nach Frankfurt, oder nach Potsdam, wo wir beide an der Universität lehrten – und
alles weist darauf hin, dass Deutschland wohl doch ein wichtiger Teil meiner Identität ist.
Die Probleme der Juden in Deutschland sind auch meine Probleme. Wenn ich schon eine Art
‚Wahlverwandtschaft‘ mit Deutschland besitze, kann man mir trotzdem sagen: „Ja, du bist
hier für eine kurze Zeit und reist dann nach London oder Amerika – so entgehst du doch den
Problemen.“
Ich bezweifle dies. Wann schüttelt ein Jude eigentlich seine Probleme ab? Angst bleibt ein
Bestandteil jeder jüdischen Existenz. Vor ein paar Jahren, in einem New York Apartment
Haus, stieg ich in einen Fahrstuhl hinein, und Woody Allen stand drin. Er drehte sich sofort
um und stellte sich in eine Ecke mit dem Gesicht zur Wand. DAS ist Angst.
Warum und womit wird meine Identität in der deutschen Welt angegriffen? Zum Teil,
innerhalb des jüdischen Lebens selbst. Ich will euch nicht mit den Problemen euer Mitbürger
quälen, aber sie stammen auch der Gesamtstruktur der Gesellschaft. Am Ende des 18.ten
Jahrhunderts entwickelte sich ein Liberales Judentum, dass sich von Deutschland durch die
Welt verbreitete: die große Reform Bewegung in Amerika wurde schon nach der 1848
Revolution in Deutschland durch jüdisch-deutsche Emigranten, besonders Rabbiner,
gestaltet. Namen Wie Isaak M. Wise, David Lilienthal, Samuel und Emil Hirsch, Kaufmann
Kohler und anderen, bestimmten den Weg des Reformjudentums. Auch nach der Schoah
kamen die überlebenden Rabbiner nach Amerika: Leo Baeck, Hugo Hahn (der meine Mutter
in Essen konfirmierte), Eugen Taeubler und andere Gelehrte wurden die Lehrer des
progressiven Judentums. Ich lebte in New York für 5 Jahre innerhalb dieses Judentums, und
fühlte alles in meiner religiösen Identität gefördert.
Jetzt, hier in Deutschland, werden wir Liberalen Juden angegriffen auf eine ganz gemeine
Weise von der Orthodoxie. In meinen eigenen Gedanken und Entwicklung hatte sich immer
eine Wahrheit bei mir durchgesetzt: es muss eine Orthodoxie geben, ein gesetztreues
Judentum, dass die alten Texte, die alten Gebräuche, die alten Lebensstilen bewahrt; aber
diese Orthodoxie muss immer Toleranz gegen das Liberale- und Reformjudentum ausüben.
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
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Die sind ja auch berechtigt in ihrer eigenen Form, das Judentum zu bewahren. Jedes
Judentum bewahrt unsere Identität als Jude. Jedes Judentum ist berechtigt einen parallelen
Weg neben andere Interpretationen zu zeigen, die Juden weiter als Juden innerhalb des
jüdischen Volkes bestätigt. Genauso wie es im Christentum verschiedene Strömungen gibt,
die sich ergänzen, so gibt es Polaritäten im Judentum, die eine innere Dynamik erzeugen. In
diesen Tagen hat sich aber der Zentralrat der Juden in Deutschland in ganz gemeiner Weise
gegen die neuen Reform Gemeinden benommen. Sie sollen keine Unterstützung von der
Regierung bekommen. Sie sollen nicht selbstständig werden, sollen sich unter den Schutz
des Zentralrats stellen, der ihnen vielleicht eine kleine Abfindung geben wird, aber sie nicht
als gleichberechtigt anerkennen wird. Es ist merkwürdig: der Zentralrat und die Allgemeine
Zeitung der Juden in Deutschland sitzen im Leo Baeck Haus in Berlin, in dem ehemaligen
Gebäude der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums, wo die liberalen Rabbiner
Deutschlands ordiniert wurden – und jetzt soll die ganze, große Geschichte des
Progressiven Judentums vergessen und vergraben werden. Der Zentral Rat sollte lieber die
wahre Identität des deutschen Judentums wieder finden!!
Wie gesagt, habe ich den traditionellen Teil meiner jüdischen Identität nicht vergessen. Als
Kind war ich äußerst glücklich innerhalb einer ziemlich strengen Orthodoxen Gemeinde
aufzuwachsen. Ich liebte den Gottesdienst, saß unten im Gebetsaal mit meinem Vater,
wurde verwöhnt und fühlte mich immer willkommen. Aber dann kam der Tag wo man mir
sagte, "Du bist jetzt zu groß um mit deinem Vater zu sitzen. Du muss nun nach oben gehen,
zum Frauenempor!" Dort saßen die Frauen und kümmerten sich wenig um den Gottesdienst.
Sie klatschten, hatten meistens noch nicht einmal ein Gebetbuch in der Hand, und hatten
überhaupt nichts mit den Gebeten selbst zu tun. Sie wussten, dass sie überflüssig waren. Ihr
Domäne war das Haus, das Alltagsleben: die Religion selbst war ja die Sache der Männer,
obgleich die Frauen die Riten des Schabbatabend noch immer besaßen. Ich weiß, man kann
dies ganz anders und auch als etwas viel schöneres sehen. Aber ich spreche von meiner
Erfahrung als ein--ich gestehe es--ein begabtes Kind, welches sich ganz besonders für die
Synagoge interessierte und von wo sie sich nun herausgeworfen fühlte.
Schon als junges Mädchen lebte ich in einer Welt wo die Frau nicht mehr außerhalb der
Öffentlichkeit lebte. Die "Frauenrechtlerin"--nicht die Feministin von heute, sondern die
"Suffragetten" die für das Wahlrecht der Frauen kämpften, hatten diesen Kampf schon seit
langem gewonnen. Während der Kriegszeit arbeiteten die Frauen in den Fabriken, besetzten
die Stellen der Männer, die in der Armee tätig waren, und wussten, dass sie, die Frauen,
große Verantwortungen im Gebiet des öffentlichen Lebens hatten. Aber diese Begriffe
existierten auch schon innerhalb des jüdischen Lebens; allerdings nicht in der orthodoxen
Gemeinde in der ich damals lebte.
Das fand ich alles in einer Reformgemeinde, wo die Mädchen den selben Unterricht wie die
Jungens bekamen, wo sie am Gottesdienst teilnehmen konnten, und sogar auch aus der
Thora lesen durften. Eine schöne Erinnerung aus meiner Kindheit fand ich in dem
Gottesdienst wo ich zum ersten Mal teilnehmen durfte. Ich musste mein Hebräisch von der
alten Aschkenasi in die modernere, Sephardische Aussprache umändern; aber ich stand vor
der Gemeinde, las die Gebete, und fühlte mich wie zu Hause.
In vielen Zeiten und Ländern gab es Fragen über die Situation der Frauen innerhalb einer
Gemeinde wo das Leben durch die Thora, die 613 Gebote, und die Auslegungen der
Rabbiner bestimmt wurde. Innerhalb des Gesetzes, der Halacha, gab es ja auch Versuche
die Schwierigkeiten dieser Frauenrolle auf verschiedene Weise zu mildern, zu verbessern.
Aber in einer Welt wo Religion und Kultur identisch schienen, wurden diese Fragen kaum
verstanden. Man lebte in einem hermetischen System, die sich fern von der Außenwelt hielt.
Männer passten sich an das Vorbild der antiken Welt an, genau so wie die Frauen, Die
jüdische Frau durch die Jahrtausende war glücklich---genau so glücklich wie der Mann in
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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guten und schlechten Zeiten--- und bejahte das Leben im Judentum, dass ihr gegeben
wurde. Die jüdische Ehe durch diese Jahrtausende hätte ein Vorbild für die christliche Welt
sein können---hätte die Außenwelt nur eine Gelegenheit gehabt sie zu betrachten. Aber die
Ghettomauern, die verschiedenen Begriffe, Gebräuche und Sitten, erlaubten es nur den
Wenigen diese Mauer zu durchdringen und etwas in der anderen Welt zu sehen und zu
begreifen. Dennoch gab es Rebellen im Judentum; in jeder Zeit. Philosophen, Talmudisten,
Kaufmänner, Hofjuden, Mystiker und Kabbalisten, die eine eigene Freiheit von dem
Gemeindeleben und Denken verlangten--- und die es auch bekamen. Frauen werden selten
erwähnt, deshalb ist auch jemand wie Glückel von Hammeln so äußerst wichtig. Trotzdem
muss es solche gegeben haben, selbst wenn man kein Platz für sie fand.
In dem Buch, "Jüdisches Leben in Deutschland", beschreibt Monika Richarz das damalige
Leben. "Die jüdischen Gemeinden besaßen im Innern eine weitgehende Autonomie zur
Regelung ihrer religiösen, erzieherischen und sozialen Aufgaben. Das Ziel des gewählten
Gemeindevorstandes war vor allem, den Gemeindemitgliedern durch religiöse und
schulische Einrichtungen die Erfüllung des Religionsgesetzes zu ermöglichen. Hierzu
gehörten auch die Sicherung eines Lebensminimums für die Armen, die Fürsorge für die
Kranken, der Unterhalt der Talmudstudenten und andere religiös verbindliche Pflichten auf
sozialem Gebiet."
In diesem System konnte jeder etwas für sich finden. Aber die Rebellen--und es muss auch
weibliche darunter gegeben haben!--- fanden keinen Platz im System und gingen anderen
Wegen entlang. Chassidische Lehrer schufen neue Gemeinden; Hofjuden fanden ihren Weg
zu den Höfe der Herzogen und Könige; Philosophen trennten sich von der Gemeinde. Aber
eine zweifelnde, rebellische Frau fand keinen Platz für sich.
Und dann, in der Mitte des 18. Jahrhunderts, änderte dies sich. Wie Monika Richarz schreibt,
"Mit der europäische Aufklärung, ihrer veränderte Religionsauffassung und neue
Humanitätsidee wurde eine Begegnung zwischen jüdischen und christlichen Intellektuellen
möglich. Es entstand eine eigene jüdische Aufklärungsbewegung..." Die Frau sollte damit zu
den Lehren Moses Mendelssohns kommen und zu den Anfängen eines Reformjudentums.
Diese Entwicklung dauerte noch einige Zeit. Aber etwas fing an, schon in der Familie
Mendelssohn, wo seine Töchter einen Weg in die Außenwelt finden konnten.
Ich will einen Aspekt der Frauensalons unterstreichen, der für das Verstehen der Frau im
Judentum von heute wichtig ist: die Begegnung und Bejahung der äußeren Welt und Kultur.
Die Frauen des Salons hatten die eigentliche Antwort noch nicht gefunden, wie man als Jude
eine Symbiose mit der äußeren Welt schaffen kann, die stabil und zugleich lebensfähig ist.
Dorothee Mendelssohn fand den Weg nach außen nur, indem sie das Familienhaus verließ,
sowie ihre Religion und ihren Gatten, und den Dichter Schlegel heiratete. Ihr erster Gatte,
Simon Veit, unterstützte sie trotzdem, aber ihre Söhne wurden berühmte Katholische Maler.
Jüdische Historiker benutzten diese Episode ab und zu als ein abschreckendes Beispiel
eines falschen Weges der Aufklärung und der Reformbewegung, die zur Assimilation und
Taufe führte. Aber das ist ein Vorurteil, von traditionellen Vorurteilen geprägt. Die
Ghettomauer, und die Wand zwischen dem jüdischen und christlichen Sozialstrukturen
wurden am Ende des 18ten Jahrhundert zerstört. Man konnte nicht mehr separat von der
anderen Welt leben. Natürlich gibt es noch heute, vielleicht erst recht heute, vollständig
abgegrenzte Gruppen, die sich als ein hermetisch eingesiegeltes "Enklave" von der äußeren
Kultur zurück ziehen. Aber sogar dort, ob in Mea Shearim oder in New York, wandert etwas
von der Atmosphäre der äußeren Welt in diese Luft ein.
Meine Heldin in diesem Gebiet war immer die Rahel Varnhagen von Ense: ihr Salon war der
Mittelpunkt des intellektuellen Lebens in Berlin. Einmal besuchte und Hannah Arendt in
unserem New York Apartment. Albert hatte sie eingeladen, einen Vortrag zu geben für die
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Studenten an der Columbia Universität: „Eichmann in Jerusalem“. Es war ein phantastischer
Abend, und sie besuchte uns danach in unsere Wohnung. Wie eine Königin saß sie auf dem
Sessel, ein Glas Weinschorle in einer Hand, einen langen Zigarettenhalter in der anderen,
und hielte Hof. Ihr Buch über Rahel von Varnhagen lebte in meinen Zimmer – es hätte fast
mein Gebetbuch vertrieben! Rahel war mein Ideal für die jüdische Frau von heute.
Wie die Rahel will ich in beiden Welten leben, wenn ich auch gestehe, dass Rahel schon
außerhalb des Judentums lebte, im Gegenteil zu ihrer Vorgängerin Henriette Herz. Für mich,
auf jeden Fall, auch dies gehört zu meiner Identität: mein Judentum und meine Existenz
muss in einer solchen Beziehung zu der äußeren Kultur leben "Sei ein Jude in deinem Haus
und ein Mensch draußen" hieß ein Parole, ein Begriff der Neo-Orthodoxie in Deutschland
nachdem Samson Raphael Hirsch erkannte, dass wir nicht mehr allein leben konnten. Nur
muss ich hinzufügen, dass erstens kann man auch ein Jude außerhalb der Wohnung sein,
und zweitens ist diese Spaltung gar nicht nötig. Der gute Rabbi Hirsch würde schaudern
wenn ich diesen Satz auf meine liberale Lebensweise anwende (aber es gab auch liberale
Zionisten die dasselbe sagten.) Mein Judentum wird nicht durch Mozart und Schubert
vermindert; sogar meine Liebe zu Wagners Parzival (wenn auch nicht zu seiner Person) hat
nichts mit meiner Loyalität zum Judentum oder mit jüdischer Identität zu tun. Wir leben in
dieser Welt, am Ende der 20. Jahrhundert, und wir sind bessere Juden, wenn wir unsere
Pflichten zur Menschheit sowie zu den Strukturen der Gesellschaft in der wir leben,
anerkennen. Man greift Daniel Barenboim in Israel an, weil er Wagner spielt; ich stehe ihn
zur Seite.
Gewiss gibt es dasselbe Erkenntnis innerhalb der Orthodoxie. Im fortschrittlichen Judentum,
wo eben die veränderte Situation der Frau früher anerkannt wurde, gibt es für mich als
jüdische Frau größere Möglichkeiten meine Identität als jüdische Frau zu entwickeln. Ganz
einfach gesehen, gab es von Anfang an größere Möglichkeiten im Reformjudentum, sich
bewusst als Frau innerhalb des Judentums der Neuzeit zu entwickeln. Die Aufklärung zur
Zeit Mendelssohns gab jedem eine neue Freiheit im Denken, die innerhalb der
Reformgemeinde sich schneller entwickeln konnte. Mädchen erhielten bald eine bessere
jüdische Ausbildung, besonders nachdem Israel Jacobson, Faktor und Kaufmann in
Westfalen und danach in Berlin, einen Konfirmationsritus entwickelte, wo das Mädchen
neben dem Jungen in der Synagoge stehen konnte und gleichberechtigt war. Orgelmusik,
und das Erkenntnis, dass Männer und Frauen zusammen beten konnten, also nicht mehr
durch Vorhänge oder durch ein Frauenempor getrennt waren, all dies brachte die Gemeinde
zusammen. Sicher hatte die Orthodoxie Recht wenn sie sagte, dass man sich der äußeren
Welt nähern wollte, und die christliche Gebräuche nachahmen. Aber diese Gebräuche, die
Predigt in der Landessprache, ob auf deutsch oder rumänisch; ein Chor und Orgel, all dies
war ja erst eine Nachahmung des Judenrums von den Christen der ältesten Zeit, die so
vieles von der Mutterreligion von Anfang an nahmen.
Die erste und zweite Lektion in der Kirche ist ja auch Nachahmung--oder besser gesagt,
Anerkennung--des Synagogen Gottesdienst mit Thora und Haftara Vorlesung. Und die
Psalmen! Viele glauben gar nicht, dass diese uns gehören und von uns geschrieben wurden.
Es stört den strenggläubigen Juden eine Ähnlichkeit zwischen dem christlichen und
jüdischen Gottesdienst zu finden, aber ist das nicht fast ein Mangel an Selbstvertrauen? Wir
bleiben bei unseren Gebeten, und, wie Maimonides uns mahnt, verstehen wir trotzdem, dass
auch die Christen eine wahre Beziehung zum einen Gott der Welt haben. Ganz genauso gibt
es auch Beschränkungen für die Frau innerhalb der christlichen Religion. Die Frage, ob eine
Frau ein Priester werden kann, entstand in einer Zeit wo keiner wohl den Gedanken hatte,
dass Frauen einst als Rabbiner Gemeinden betreuen würden. Jetzt leben wir in einem
Zeitalter wo weit über 100 Frauen als Rabbiner in den Vereinigten Staaten und in Kanada
diesem Beruf folgen. Meistens sind sie in Gemeinden angestellt, aber auch als
Studentenpfarrer an Universitäten, als Seelsorger in Krankenhäuser, oder innerhalb
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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jüdischer Organisationen. Nicht nur Reformgemeinden, auch konservative Synagogen
erwählen fähige Frauenrabbiner, und das konservative Rabbinerseminar, The Jewish
Theological Seminary, macht es inzwischen auch. Heute besteht die Studentenzahl an der
Hebrew Union College aus 50% Frauen, und es gibt ein numerus clausus, damit die Zahl
nicht noch mehr steigt. Sally Priesand war die erste Frau, die in 1964 ordiniert wurde. Hier in
Deutschland brauche ich ja nur den Namen Bea Wyler zu nennen. Fast wurde unsere älteste
Tochter, Ariel, die zweite Rabbinerin hierzulande. Sie wurde vor sieben Jahren ordiniert und
hat viel erreicht. Ihr wurde sogar eine Stelle in München angeboten, aber sie entschied sich
doch für Amerika. Sie wäre die erste Reform Rabbiner in der Nachkriegszeit gewesen, denn
obwohl Reformrabbiner hier tätig sind und waren, für meine Begriffe haben sie ihren Amt als
solche nie richtig ausüben dürfen. Schade! aber vielleicht kommt es noch zu Stande .
Vor einigen Jahren nahm ich mit meinem Mann an einer Tagung in Theresienstadt teil. Es
war ein schwerer, grauenhafter Besuch. Wir hörten viele Referate: wichtig, belehrend und
erschütternd. In einem hörten wir über die Rabbiner, die nach Terezin kamen. Allein vom
deutschen Gebiet kamen 23 Rabbiner, und wir schrieben uns die Liste auf. Nachher, als wir
die Liste betrachteten, sahen wir den Namen R. Jonas darunter. Dann erinnerten wir uns,
prüften nach und fanden, dass es tatsächlich Regina Jonas war, die ihr volles
Rabbinatstudium bei der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin mit Erfolg
bestanden hatte. Nur weigerte man sich zu jener Zeit eine förmliche Ordinierung an diesen
akademischen Erfolg anzuschließen. Und doch, im Konzentrationslager, stand ihr Name
inmitten die ihrer Kollegen, und damit gab es ja die Anerkennung, sie sei doch wirklich ein
Rabbiner gewesen. Heute, im Leo Baeck College ist ein Zertifikat ausgestellt wo die Berliner
Hochschule für die Wissenschaft des Judentums bestätigt, sie sei berechtigt, als Rabbiner zu
arbeiten. Auch in der ständige Ausstellung in der Centrum Judaicum in der
Oranienburgerstraße in Berlin ist ein Plakat zu sehen, wo die Gemeinde eingeladen wurde,
Frau Rabbinerin Regina Jonas zu hören. In 1944 ist sie in Auschwitz umgekommen.
In London, am Leo Baeck College werden Frauen ausgebildet und ordiniert. Diese Frauen
werden auch von dem nichtjüdischen Publikum als ausgezeichnete Vertreter des Judentums
betrachtet. Eine von diesen, die Julia Neuburger, ist äußerst bekannt, obwohl sie inzwischen
keine Gemeinde mehr leitet. Sie hatte eine Fernsehserie, veröffentlicht Bücher und
Besprechungen in vielen Zeitschriften, und wurde sogar als Vizekanzler der Universität
Ulster in Irland gewählt. Im letzten Monat wurde Rabbinerin Julia Neuberger als Baronin zum
House of Lords erhoben – Also, eine jüdische Frau, eine Rabbinerin, kann doch viel
erreichten!
Ein Drittel der Studenten am Leo Baeck College sind Frauen, und die Lehrer am College
gestehen, dass die Frauen oft die besseren Studenten sind. Ich betone die Emphase auf die
Frau als Rabbiner gerade weil dies für viele etwas so unwahrscheinliches ist. Die Frau als
Doktor und Mediziner, als Wissenschaftler und Forscher, als Professor und Lehrer--selbst als
Polizist oder Soldat-- macht uns keiner Schwierigkeiten in dieser Zeit. Aber der Rabbiner ist
doch fast alles was unter diesen Berufen verstanden wird; Seelsorger in der Armee, Lehrer
in fast allen Situationen des Lebens. Wenn man darüber nachdenkt, ist es verständlich, dass
wenigstens im Reformjudentum eine Frau diesen Beruf nicht nur ausüben soll, sondern
ausüben muss. Die jüdische Gemeinde kann es sich nicht leisten, die Hälfte der Juden
unfähig zu dieser wichtigen Arbeit zu erklären. Zukünftig wird man die Vitalität des
fortschrittlichen Judentums in den ausgezeichneten Frauenrabbinern anerkennen.
Unwahrscheinlich wie mein nächster Ausspruch scheint, wäre es nicht unmöglich für die
begabten Halachisten der Orthodoxie einen Weg zu finden der den Frauen eine Möglichkeit
dieser Arbeit einst anbieten könnte. Wenn sie es wollten!
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Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Die Arbeitsmöglichkeiten, und die Entwicklung der jüdischen Identität innerhalb des
Reformjudentums sind natürlich nicht nur auf die eine, höchste Entwicklungsstelle gebunden.
Wir, die heute zusammengekommen sind, stammen aus verschiedenen Traditionen, beten in
verschiedener Weise, und befinden uns trotzdem auf dem Weg zum selben Gott. In dem
Gotteshaus, in der Wohnung, in unserer Gemeinden oder in unserer Einsamkeit beten wir
unsere Gebete. Und sofort stehe ich vor einem Problem. In welcher Sprache beten wir?
Moslime beten in arabisch, Christen beten in Latein oder hier zu Lande in Deutsch, und ich in
Hebräisch. Das Gebetbuch wird auch durch die Landessprache ergänzt, aber der
Zentralpunkt bleibt doch die Heilige Sprache unserer Tradition. Sie ist die Verbindung
zwischen uns und der Offenbarung, die sich im Innersten der Religion zeigt. Für mich ist es
die Thora, aber die Thora wie sie im Denken des Reformjudentums interpretiert wird. Hier
betone ich aber, dass die Thora auch im Reformjudentum im Zentrum steht, und dass
unsere Interpretation uns zu den wahren Lehren der Religion führt. Auch unser Gebetbuch
ist von der Sprache, von den Geschichten, von den Gedanken dieser Thora gestaltet.
Dennoch habe ich große Probleme mit dieser Sprache in unserem Gebetbuch. Die Probleme
bestehen meistens im englischen Text, aber sie existieren auch im Hebräischen Gebet so
wie es durch die Jahrtausende auf mich zukommt.
Dieser Hebräische Text enthält etwas Heiliges in sich, dass ich, sowie das Reformjudentum
nicht verändern will. Es ist etwas so besonderes, das SHEMA YISRAEL ADONAI ELOHENU
ADONAI ECHAD--HÖRE ISRAEL ADONAI UNSER GOTT, ADONAI IST EINZIG. Wenn ich
dies sage, fühle ich mich mit den Generationen aller Zeit verbunden: König David, der
Prophet Jeremias, der Philosoph Maimonides sowie mit allen Frauen--alle sagen diese
Worte. So geht das Gebet durch die Zeit. Aber es geht auch durch den Raum. Überall in der
Welt: in Amerika, Indien, Afrika, Neuseeland--wo auch immer Juden leben werden diese
Worte gesagt. Ich fühle mich im Moment des Gebetes vereinigt mit dem Volk Israel, nicht nur
im Land Israels, sondern auf der ganzen Welt. Wie kann man sich dann von diesen Worten
trennen.
Trotzdem bestehen Schwierigkeiten. Jeder betrachtet die heilige Sprache auf verschiedener
Weise. Innerhalb der Orthodoxie, zum Beispiel, würde man in einem Vortrag den Namen
Gottes vermeiden. Welche Aussprache sollte man benutzen, Sephardi oder Aschkenasi?
Aber die größte Schwierigkeit für mich als fortschrittliche Jüdin, ist die Tatsache, dass Vieles
in den Gebeten steht, wo ich einfach nicht "Amen" sagen kann. Um dieses Problem deutlich
zu zeigen, wählte ich den Text, "Gott unserer Väter: Gott Abrahams, Gott Isaaks, und Gott
Jakobs". Der Text stammt ja aus einer Zeit, wo der Mann in Allem die Entscheidung hatte,
und die Thora erzählt auch wie Gott die Patriarchen besuchte, und jeder von ihnen seinen
Bund mit Gott schloss. aber besuchte Gott auch nicht die Mütter, und wie kann man sich
Väter ohne die Mütter vorstellen?
Viele sagen, dass man das Gebetbuch nicht ändern darf. Aber das Gebetbuch, die Siddur,
ist ein Buch, die sich durch die Zeiten entwickelt hat. Die Gelehrten machten viele
Veränderungen in vielen Formeln der Gebete im Laufe der Zeit. Neue Gebete wurden
hineingebracht so wie die Gedichte PIYYUTIM der Mittelalterliche Zeit. Das berühmte Kol
Nidre Gebet erschien, und wurde zuerst von den Rabbinern in Bann gestellt. Aber die
Gemeinden liebten es, und die Rabbiner wurden besiegt. Also kann das Gebetbuch geändert
werden.
In der Reform Tradition wurde das Gebetbuch erst gekürzt, indem die Gebete selbst nicht
wiederholt wurden. In dem ausgesuchten Text ist heute etwas neues hinzugefügt worden,
dass aus der Anerkennung der jetzigen Situation der Frau kommt. Es knüpft sich auch an die
Midrasch und die Erklärungen der Rabbiner, die in vielen Stellen etwas von der versteckten
Frauentradition anerkennen. In ihrem neuen Gebetbuch, werden die Liberalen einfach den
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Satz, "Gott Sarahs, Gott Rivkas, Gott Leas und Gott Rachels." hinzufügen, um das alte
Gebet der Situation unserer Zeit zu öffnen.
Trotzdem sehe ich es nicht gerne, wenn das Hebräische sich verändert. Man will ja auch die
Gebete der Eltern wiederholen, und im Hebräischen steht man sowieso vor einer Mystik,
einem Geheimnis-- und das übersetzt man kaum in seinen Gedanken. Es bleibt eine heilige
Formel, eine Begegnung mit dem Judentum der Altzeit. Die Schwierigkeit kommt weit mehr
aus der Übersetzung. Wenn ich von Übersetzungen spreche, rede ich jetzt aus meinen
englischen und amerikanischen Erfahrungen. Die meisten Liturgen sprechen jetzt von dem
Problem, ob der Sprachgebrauch INKLUSIVE oder EXKLUSIV sein soll. Ein inklusive Gebet
kann genauso von Frauen wie von Männer gesprochen oder vorgebetet werden. Im
fortschrittlichen Judentum ist dies sehr wichtig geworden. Beim Hebräischen Text muss das
Wort MELECH weiter bestehen. Aber man kann es als "King", "Monarch", oder "Sovereign"
übersetzen. So wurde das Wort AVOT, die Väter, mit dem Wort Ahnen übersetzt, und das
hat keinen beleidigt. Eigentlich viel schlimmer, die Meisten haben die Veränderung gar nicht
bemerkt, obwohl sie eine solche Änderung im Hebräischen sofort bemerkt und kritisiert
hätten. (Die Engländer sind ihrer Sprache gegenüber sehr sensibel, und sehr konservativ).
Noch ein Beispiel; B’NAI ADAM wurde früher als "Menschenssöhne" übersetzt, obgleich es
eigentlich "the children of Adam", die "Kinder der Menschheit" bedeutet, und damit die
Frauen mithineinschließt.
"Mankind", die Menschheit, ist ein ähnliches Wort, die von vielen Frauen (aber leider nicht
allen!) ungern gehört wird. Es gibt so viel, dass mich im Gebet stört--so viele Worte--, dass
ich es jetzt äußerst schwer finde in meiner Gemeinde, (die sich weigert irgend etwas an den
Übersetzungen zu ändern), dass ich mich nicht mehr beim Gebet bequem fühle.
"Brotherhood"--Brüderlichkeit ist ein schönes Wort, dass ich nie durch "Sisterhood"-Frauenverbundenheit--wechseln würde. Ich weiß, dass es jetzt hier eine Komitee
zusammengestellt hat, die die Aufgabe hat, etwas neues für die Woche der Brüderlichkeit zu
erfinden. Da liegt es vielleicht nicht nur an das Wort, sondern an das Konzept. Sicherlich
kann man für unsere Zeit andere, bessere Worte finden, die den Gedanken einer
gemeinsamen Humanität in das Gebet und in das Leben bringen könnten; besonders da
viele von den Gebeten mit solchen Worten im Reformritus meistens neue, englische Gebete
sind; also nicht Übersetzungen eines Hebräischen "Urtextes". Aber wie die Gemeinden sich
wehren...
Im Grunde genommen bin ich auch nicht immer so enthusiastisch über neue Übersetzungen.
Das viktorianische Englisch war eine schöne Sprache; romantisch, poetisch und auch
würdevoll. Heute gibt es neue Übersetzungen, die man eher als Umgangssprache der
Restaurants, der Straße oder im Bereich der Computertechnik finden würde. Ich verstehe
aber, dass Veränderungen geschehen müssen. Im Reformjudentum gibt es eben den
starken Drang nach Vernunft. Man will wissen was man sagt, und heutzutage, verstehen
viele Hebräisch weit besser als zuvor, weil sie sich durch Israelreisen und durch das
Erwecken der Hebräischen Sprache weit mehr auf diesem Gebiet zu Hause fühlen.
Dann wird die Übersetzung wichtiger als zuvor. Jetzt wird der englische Text als Midrasch,
als Auslegung der heiligen Wörter benutzt. Und hier, ganz nach der Tradition, ist vieles
erlaubt. Man kann den Text gegen den Text benutzen. Der Talmud hatte die sogenannten
hermeneutischen Regeln, um dem Text gerecht zu werden. Jeder Satz hatte seinen
"Pe'shat"-- die einfache, klare Bedeutung. Aber jeder Satz konnte auch als "Remez", als das
Allegorische gesehen werden. Dann kam man zum "Derush", zur Predigt, wo man das Wort
in alle Richtungen wenden konnte. Am Ende stand man vor dem "Sod", dem Geheimnis, vor
der mystische Deutung (das Wort "esoterisch” ist mit diesem Geheimnis verbunden). Dies
zusammen, das heißt, P'SHAT, REMES, DERUSH und SOD, wird durch die
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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Anfangsbuchstaben in das Wort PARDES hineingebracht; dieses Interpretieren wird so als
PARADIS gesehen. Obgleich viele der Rabbiner warnten, dass dies nicht nur zur Mystik
führte, und weit mehr ein Weg aus der Welt selbst sein konnte, haben wir im Judentum doch
anerkannt, dass jede Generation in ihrer Zeit neue Wege finden muss.
Ich hoffe, und so muss es doch sein, dass ich erst am Anfang meiner weiteren Entwicklung
stehe – genau so wie das Judentum. Ich muss auch sagen, dass ich noch nicht nach Hause
gekommen bin. Am Anfang meines Buches, wo ich doch sehr unsicher nach Deutschland
kam, zitierte ich ein Wort von Elie Wiesel, unserem Familienfreund:
Als die Stadt Sodom vor ihrer Zerstörung stand, kam Abraham zu Gott und sprach: “Wirst du
wirklich die Gerechten mit den Bösen zerstören? Vielleicht gibt es wirklich 50 Gerechte in der
Stadt--wirst du dann die Stadt zerstören?” Und Gott sagte “Nein!”
“Und wenn es nur 40 Gerechte wären?”-- “Nein.” “Und 3O?” “Und 20?” “Und 10?”
Gott sagte: “Falls es zehn Gerechte in der Stadt gibt, werde ich sie nicht zerstören.”
Aber es gab keine zehn Gerechten, und die Zerstörung kam.
l950, als junges Kind, besuchte ich Deutschland mit meinen Eltern. Ich sah ein zerstörtes
Land, und lauter ausgehungerte Menschengesichter mit trüben Augen. Ich fürchtete mich.
Und ich schrie meine Eltern an: “Hier sind ja nur Mörder, Mörder!”
Jetzt sage ich dies nicht mehr.
Die Offenbarungen unserer Zeit, die Zeit nach Auschwitz, die Zeit des Staates Israels, und
die Zeit eines vitalen Diaspora, verlangt eine neue, tiefe Verbindung innerhalb des jüdischen
Volkes. Mirjam war ein Prophet. Deborah war ein Prophet. Hulda war ein Prophet, und, zu
ihrer Zeit, war ihr Wort mehr anerkannt als das Wort des Jeremias. Die Frau in der
Synagoge, und nicht nur in einer Reformsynagoge, muss sich bewusst sein, dass diese
prophetische Arbeit auch ihr gehört.
Einst schrieb Nelly Sachs:
Wenn die Propheten aufständen
in der Nacht der Menschheit
wie Liebende, die das Herz des Geliebten suchen,
Nacht der Menschheit
würdest Du ein Herz zu vergeben haben?
Wir sind die Propheten, die das Herz des Geliebten suchen.
Hier, in einem Treffen der Gläubigen, öffnen wir uns der Lehre unserer Bibel. Wir hören die
Propheten, und wir hoffen.
In dieser Hoffnung finden wir alle unsere Identität.
ICH DANKE EUCH.
Text wie von Autor/in bereitgestellt. Es gilt das gesprochene Wort.
Veröffentlichung nur mit Genehmigung der Verfasserin/des Verfassers.
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