prof. dr. ludwig hagemann - Gymnasium Leoninum Handrup

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PROF. DR. LUDWIG HAGEMANN
„Der Islam – Was der Westen lernen muss“
Begrüßung: P. Dr. H. Wilmer SCJ, Schulleiter
Sehr geehrte Damen und Herren!
Sehr geehrte Eltern!
Liebe Schülerinnen und Schüler!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Mitbrüder!
Seit einigen Jahren ist das „Handruper Forum“ eine feste Größe im Schulalltag des
Gymnasiums Leoninum. Ziel ist es, Schüler, Eltern, Lehrer und Öffentlichkeit zu einer
aktuellen und relevanten Thematik ins Gespräch zu bringen.
Für die diesjährige Winterveranstaltung haben wir ein politisch-religionswissenschaftliches
Thema gewählt und für heute Abend Herrn Professor Dr. Ludwig Hagemann gewinnen
können. Professor Hagemann ist Ordinarius für Systematische Theologie und
Religionsgeschichte an der Universität Mannheim. Er stammt gebürtig aus Niederlangen
im Emsland und studierte nach dem Abitur in Meppen Philosophie und Theologie,
Arabistik und Islamwissenschaft in Frankfurt, Tübingen, Münster, Beirut und Kairo.
Zwischen seinem ersten Buch „Der Koran in Verständnis und Kritik bei Nikolaus von
Kues“ und seinem jüngst erschienen Werk „Christentum contra Islam – Eine Geschichte
gescheiterter Beziehungen“ gab es zahlreiche Veröffentlichen, die zum Teil auch in
mehrere Sprachen übersetzt worden sind.
Herr Professor Dr. Hagemann, wir sind froh und stolz, dass Sie unserer Einladung gefolgt
sind und ich heiße Sie hiermit sehr herzlich willkommen.
Ebenfalls begrüße ich die Herren Stadt- und Samtgemeindedirektoren sowie die
Bürgermeister des Einzugsgebietes der Schule. In diesem Zusammenhang heiße ich die
Bürgermeister unserer Samtgemeinde Lengerich herzlich willkommen. Stellvertretend für
sie begrüße ich unseren Bürgermeister aus Handrup, Herrn Josef Stockel.
Mein Willkommensgruß gilt den Abgeordneten aus dem Kreistag, aus dem Landtag und
aus dem Bundestag. Ich freue mich über die Anwesenheit unseres ehemaligen Dezernenten
der Bezirksregierung Weser Ems, Herrn Claus Lanfermann. Die Mitglieder des RotaryClubs Lingen heiße ich ebenfalls herzlich willkommen.
Herzlich begrüße ich auch den Rektor des Herz-Jesu-Klosters, Pater Johannes Strieker, die
Dechanten und Pastöre aus den umliegenden Pfarreien, sowie die Schwestern und
Mitbrüder. Besonders freut es mich, in diesem Zusammenhang auch unsere muslimischen
Mitbürgerinnen und Mitbürger zu begrüßen, mit denen uns der Glaube an den einen Gott,
den Schöpfer und Erhalter der Welt, vereint.
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Der Islam – Was der Westen lernen muss
Prof. Dr. Ludwig Hagemann
Gymnasium Leoninum Handrup
11. Handruper Forum
Willkommen heiße ich alle Eltern, die Ehemaligen unserer Schule, alle Schülerinnen und
Schüler, Kolleginnen und Kollegen sowie die Vertreter der Presse. Stellvertretend für die
Presse begrüße ich Herrn Willy Rave sehr herzlich.
Zu danken habe ich seinem Sohn, Herrn Hermann-Josef Rave, Lehrer für Englisch und
katholische Religion am Gymnasium Leoninum. Sie, Herr Rave, hatten die Idee und
stellten die Kontakte zu Herrn Professor Hagemann her. Für Ihre Vermittlertätigkeit
herzlichen Dank!
An dieser Stelle möchte ich einem weiteren Kollegen sehr herzlich danken, der sich seit
langem mit großem Einsatz für ein regelmäßiges Zustandekommen des Handruper Forums
engagiert hat, nämlich Herrn Studiendirektor Paul Wöste. Herzlichen Dank für die Mühe!
Herr Professor Hagemann, wir haben uns nach dem 11. September in Handrup bewusst für
dieses Thema entschieden, weil wird der Überzeugung sind, dass wir erst dann einander
Nächste werden, wenn wir bereit sind, die Straße zu überqueren, aufeinander zuzugehen.
Es gibt zu viele Trennungslinien zwischen linkem und rechtem Straßenrand: zwischen
schwarzen und weißen Menschen, zwischen Jungen und Alten, Kranken und Gesunden,
zwischen Menschen in Südamerika und Menschen in Europa, zwischen Juden und Heiden,
Muslimen und Christen. Es gibt viele Straßen und Trennungslinien, die überquert werden
müssen. Wir sind viel mit uns beschäftigt und sehen nicht bis zum anderen Straßenrand.
Wir haben unsere eigenen Leute, zu denen wir gehen und unsere eigenen Angelegenheiten,
um die wir uns kümmern. Dieser Abend soll dazu dienen, die Straße zu überqueren, den
Blick hoch zu nehmen und danach zu schauen, was auf der anderen Seite passiert, damit
wir einander Nächste werden.
Uns allen wünschen ich zum Vortrag „Was der Westen über den Islam lernen muss“ einen
anregenden Abend, Herr Professor Hagemann, Sie haben das Wort.
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Der Islam – Was der Westen lernen muss
Prof. Dr. Ludwig Hagemann
Gymnasium Leoninum Handrup
11. Handruper Forum
PROF. DR. LUDWIG HAGEMANN
„Der Islam – Was der Westen lernen muss“
1.
Die Idee der Einheit als Fundament des Islam
a) Die Religion als staatstragende Kraft
b) Ein Gott – eine Religion – eine Gesellschaft
2.
Das zentrale Glaubensbekenntnis
a) „Es gibt keine Gottheit außer Gott“

Zur religiösen Situation auf der arabischen Halbinsel im 7. Jahrhundert n. Chr.

Wider den altarabischen Polytheismus

Widerstand gegen Juden und Christen

Gottes Transzendenz und Immanenz
b) „ ... und Muhammad ist sein Gesandter“
3.
4.

Charisma und Macht

“Siegel der Propheten“ (Koran 33,40)
Der Koran: Gottes letztes Wort

Inlibration: Buchwerdung von Gottes Wort

Die „Entwestlichung des Wissens“
„Dir sind wir ergeben“
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Der Islam – Was der Westen lernen muss
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11. Handruper Forum
1.
Die Idee der Einheit als Fundament des Islam
a)
Die Religion als staatstragende Kraft
„Nur unwissende Frömmler“, so predigte einst Ayatollah Khomeiny vor dem Hadjdj, der
alljährlichen Wallfahrt nach Mekka, „nur unwissende Frömmler sehen im Hadjdj eine Zeit
des Gebetes und der frommen Riten. Nur diese meinen, der politische Kampf gegen Frevler
und Tyrannen entweiht das Gotteshaus“1. Damit hatte Khomeiny etwas ausgesprochen, was
für den Islam von seinem Ursprung, seinem Selbstverständnis und Anspruch her typisch
ist: die innere Verflechtung von Religion und Politik mit ihren Auswirkungen auf
Tagespolitik, Lebensordnung und Lebensgestaltung2. Religion ist also nie Privatsache,
vielmehr Politik tragende und sie inspirierende Kraft. Sie prägt nicht nur das Individuum,
sondern auch die Gesellschaft, sie ist staatstragende Kraft. Der Islam als die Religion der
bedingungslosen Hingabe an Gott, der vorbehaltlosen, totalen Unterwerfung unter seinen
Willen, - das sagt ja das Wort „Islam“ - der Islam beansprucht nämlich, den ganzen
Menschen in allen Bereichen seines Lebens zu erfassen und durch Vorschriften und
Verhaltensmuster zu regeln. Die islamische Lebensordnung beinhaltet nicht nur
verbindliche Glaubenssätze, sondern ebenso sittliche Gebote und Verbote als Norm des
Handelns, ferner das Leben des Einzelnen, der Familie und der Gemeinschaft normierende
Weisungen sowie die verschiedenen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und der
internationalen Beziehungen regelnde gesetzliche Bestimmungen. Allen diesen
Vorschriften hat sich der Mensch in unbedingtem Gehorsam gegenüber dem souveränen
Willen Gottes zu unterwerfen, sie als gottgewollte Normen und Verpflichtungen
anzunehmen und zu erfüllen. Denn: „Gott sagt die Wahrheit, und Er führt den (rechten)
Weg“ (Koran 33,4)3. Er ist der sicherste Garant für die beste Rechtleitung der Gläubigen.
b)
Ein Gott – eine Religion – eine Gesellschaft
Die Idee der Einheit als Fundament des Islam spiegelt sich in der
offenbarungstheologischen Konzeption des Korans wider. Alle Propheten, so die
Auffassung, verkünden grundsätzlich ein und dieselbe Botschaft: „Es gibt keinen Gott
außer mir. Dienet mir!“ (Koran 21,25)4. Diese Botschaft richtet sich an alle Völker ohne
Ausnahme, denn zu jedem Volk hat Gott Propheten gesandt (Koran 16,36). Die zu allen
Zeiten in sich identische Botschaft der Propheten hat ihren Grund in der Einheit und
Einzigkeit Gottes. Weil Gott einer ist, kann es nur eine einzige Offenbarung geben, deren
Selbigkeit Gott garantiert. Ihrerseits steht sie ganz im Dienst an der Einheit der
Menschheitsfamilie. Ursprünglich waren die Menschen nämlich eine im Glauben und im
Gehorsam geeinte Gemeinschaft. Aber im Laufe der Zeit hat sich diese
Menschheitsgemeinschaft aufgrund des Unglaubens der späteren Generationen in
verschiedene Gruppierungen und Parteiungen zerspalten. Aufgabe der Propheten ist es nun,
zu dieser ursprünglichen Einheit zurückzuführen: Einheit Gottes – Einheit der Religion –
Einheit der Gesellschaft. Diesem Anliegen dienten Mose, der Verkünder der Thora, und
Jesus, der Verkünder des Evangeliums. Dementsprechend sah Muhammad seine Botschaft
in Kontinuität stehen mit eben diesen früheren Offenbarungsschriften Thora und
Evangelium (Koran 6,92; 3,84). Die Einheit der göttlichen Offenbarung wird durch die
Vielheit der Offenbarungsschriften - Thora, Evangelium, Koran - nicht gefährdet oder
geschmälert, sondern durch ihre inhaltliche Identität nachdrücklich bestätigt. Weil Gottes
Offenbarung grundsätzlich immer ein und dieselbe ist, gibt es letztlich auch nur eine sich
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auf verschiedenste Weise explizierende Religion. Diese Einheit der Religion gilt es zu
wahren: „Er hat euch als Religion verordnet, was Noah aufgetragen hat, und was Wir dir
offenbart haben, und was Wir Abraham, Mose und Jesus aufgetragen haben: Haltet die
(Bestimmungen der) Religion ein und bringt keine Spaltungen hinein ...“ (Koran 42,13).
Denn - so heißt es im Koran: „Gott ist unser und euer Herr“ (Koran 42,15) und: „Unser
Gott und euer Gott ist einer“ (Koran 29,46).
2.
Das zentrale Glaubensbekenntnis
a)
„Es gibt keine Gottheit außer Gott ...“
Die Mitte, das Herz des Islams, ist der Glaube an Gott: „Ich bezeuge: Es gibt keine
Gottheit außer Gott ...“, so lautet der erste Teil des islamischen Glaubensbekenntnisses.
Von Gottes Einheit und Einzigkeit Zeugnis abzulegen, gehört zu den Grundpflichten eines
Muslims. Dieses Glaubenszeugnis ist ein Widerhall von Gottes Zeugnis selbst: „Gott
bezeugt, daß es keinen Gott gibt außer Ihm“, heißt es in Koran 3,18. Gott selbst steht also
ein für die Wahrheit des monotheistischen Glaubens. Festgeschrieben im Koran, dem hl.
Buch der Muslime, begleitet diese Wahrheit die Muslime durch ihr ganzes Leben,
beginnend mit der Geburt, wenn dem Neugeborenen diese Wahrheit ins Ohr geflüstert
wird, bis hin zum Tod, wenn der Sterbende zum letzten Mal diese Wahrheit auszusprechen
in der Lage ist.
 Zur religiösen Situation auf der arabischen Halbinsel im 7. Jahrhundert n. Chr.
Dieser Glaube an den einen und einzigen Gott ist das Ergebnis einer allmählichen
Entwicklung innerhalb der Lebensgeschichte des arabischen Propheten Muhammad5.
Um 570 n. Chr. in Mekka im heutigen Saudi-Arabien geboren, wuchs Muhammad in
einem polytheistischen Milieu auf. Die religiöse Situation auf der arabischen Halbinsel
war zu seiner Zeit vornehmlich von folgenden Faktoren beeinflusst:
 Da war zunächst die altarabische Religion mit ihrer Götter-, Ideen- und
Vorstellungswelt, die das tägliche Leben prägte: Im Wesentlichen handelte es sich um
Lokalnumina (Lokalgottheiten); al-Lât, Manât und al-cUzzâ, die auch im Koran erwähnt
sind (53,19-20), sind als weibliche Gottheiten neben Hubal als männlichem Stammesoder Stadtgott in Mekka die bekanntesten. Mittelpunkt des religiösen Lebens in Mekka
war die Kacba, die als Sitz der Gottheiten galt. An der Spitze dieses altarabischen
Polytheismus stand eine Art „Hochgott“, Allâh (al-ilah); dass er den Arabern schon vor
Muhammads Verkündigung bekannt war, erhellt aus dem Koran: „Und wenn du sie (die
Ungläubigen) fragst, wer die Himmel und die Erde erschaffen und die Sonne und den
Mond dienstbar gemacht hat, sagen sie bestimmt: 'Gott' [Allâh] ... Und wenn du sie
fragst, wer Wasser vom Himmel herabkommen läßt und die Erde damit nach ihrem
Absterben belebt, sagen sie bestimmt: 'Gott' [Allâh] ... Wenn sie in ein Schiff einsteigen,
rufen sie Gott [Allâh] an, wobei sie Ihm gegenüber aufrichtig in der Religion sind.
Kaum hat Er sie ans Land errettet, da gesellen sie (Ihm wieder andere) bei ...“ (Koran
29,61-65). Koran 12,106 formuliert kurz und präzise: „Und die meisten von ihnen
glauben nicht an Gott [Allâh], ohne (Ihm andere) beizugesellen.“ Daraus lässt sich
schließen, dass sich der Glaube an Allâh als höchsten Gott weithin durchgesetzt hatte.
Aber wie die Hochgötter anderer Religionen war Allâh in
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11. Handruper Forum
 weite Ferne entrückt und spielte immer weniger eine bestimmende Rolle im täglichen
Leben. Dafür waren gleichsam die alten Lokal- und Stammesgottheiten zuständig.
 Daneben gab es aber auch noch andere religiöse Einflüsse, die im Koran ihre Spuren
hinterlassen haben. Die im vorislamischen Zentralarabien bestehenden jüdischen
Siedlungen - in Medina machten die Juden etwa die Hälfte der Einwohnerschaft aus hatten bereits eine lange Geschichte hinter sich, so dass jüdisches Gedankengut
zwangsläufig auf die damalige Umwelt Einfluss nehmen musste6.
 Als dritter Faktor sind die Christen zu nennen - Monophysiten, Nestorianer, Sektierer ,
die mit ihren Glaubensvorstellungen nicht ohne Wirkung auf den Koran geblieben sind.
So hat vor allem also religiöses Gedankengut von Palästina, Syrien und Irak aus bei der
grenznahen arabischen Bevölkerung Eingang und Anklang gefunden und ist von dort
immer weiter, jedoch mit abnehmender Intensität, nach Innerarabien durchgesickert. Im
Großen und Ganzen handelt es sich dabei um Ideen und Vorstellungen christlicher und
jüdischer Herkunft.
 Wider den altarabischen Polytheismus
Parallel zu der ständig verfochtenen Behauptung, es gebe nur einen Gott, verwarf
Muhammad die Vorstellung von der Teilhaberschaft Gottes, d.h. Gott andere
Nebengötter beizugesellen (shirk). Diejenigen, die Gott Teilhaber zuschrieben
(„beigesellen“), wurden als mushrikûn bezeichnet, als Ungläubige; sie - so heißt es begehen eine unverzeihliche Sünde. „Gott vergibt nicht, daß Ihm beigesellt wird, und Er
vergibt, was darunter liegt, wem Er will. Und wer Gott (andere) beigesellt, hat eine
gewaltige Sünde erdichtet“ (Koran 4,48).
Die Vorstellungen der Polytheisten, ihre Idole und Götzen, sind immer wieder
Zielscheibe der Kritik Muhammads. Darüber hinaus ging er aber auch gegen das
christliche Trinitätsverständnis vor. Ich will den Zusammenhang kurz erläutern.
 Widerstand gegen Juden und Christen
Enttäuscht darüber, dass weder Juden noch Christen seine unerschütterliche
Überzeugung von der inhaltlichen Identität aller Offenbarungsreligionen akzeptierten
und zum Islam konvertierten, änderte Muhammad seine Haltung gegenüber den
„Schriftbesitzern“
(ahl al-kitâb). Verschiedene Einwände erhob er gegen sie:
(1) Der Vorwurf der Schriftverfälschung: tahrîf. Muhammad selbst hat Juden und
Christen vorgeworfen, den ursprünglich von ihnen richtig erfassten Sinn der Schrift
(Thora, Evangelium) entstellt zu haben: „Erhofft ihr etwa, dass sie (die Juden) mit euch
glauben, wo doch ein Teil von ihnen das Wort Gottes hörte, es aber dann wissentlich
entstellte, nachdem er es verstanden hatte?“ (Koran 2,75; 4,46; 5,41 u.ö.). Ferner: „Und
von denen, die sagen: 'Wir sind Christen', nahmen Wir ihre Verpflichtung entgegen. Sie
vergaßen einen Teil von dem, womit sie ermahnt worden waren“ (Koran 5,14). Über die
Bedeutung des koranischen Begriffs „tahrîf“ gehen die Meinungen auseinander.
„Tahrîf“ - zunächst gegen die Juden erhoben - entstammt einer Wurzel, die „biegen“
bedeutet und bezeichnet wahrscheinlich eine falsche Interpretation des Textes, ein
Drehen und Wenden seines Sinns zum eigenen Vorteil. Die muslimischen Theologen
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sind sich in ihrer Beurteilung nicht einig: Einige verstehen tahrîf im Sinne der
Fehlinterpretation biblischer Texte, andere vermuteten nicht nur Sinnentstellung,
sondern textliche Veränderungen.
Die zunächst zurückhaltende Kritik Muhammads an den Christen spitzte sich mit der
Zeit immer mehr zu. Diese Verschärfung der antichristlichen Position resultierte einmal
aus der fortschreitenden Präzisierung seiner eigenen Botschaft, zum anderen aus dem
Expansionsdrang zum byzantinischen Norden.
 Jesus ist nicht der Sohn Gottes
„O ihr Leute des Buches, übertreibt nicht in eurer Religion, und sagt über Gott nur die
Wahrheit. Christus Jesus, der Sohn Marias, ist doch nur der Gesandte Gottes und sein
Wort, das Er zu Maria hinüberbrachte, und ein Geist von Ihm...“ (Koran 4,171). Dass
Jesus nur der Gesandte Gottes war und eben nicht sein Sohn, behauptet der Koran
wiederholt; dass er ein gewöhnlicher Mensch war und nicht Sohn Gottes, unterstreichen
die koranischen Bezeichnungen „Wort“ (kalimatu Ilâh) und „Geist“ (ruh) Gottes für
Jesus, wird doch in ihnen besonders die Geschöpflichkeit Jesu hervorgehoben: durch
das Schöpfungswort Gottes und das Einhauchen seines Geistes wurde Jesus wie Adam
ins Leben gerufen.
 Jesus ist nicht am Kreuz gestorben
Dass Jesus sterblich ist, kann aus dem Koran als gesichert angenommen werden. Aber
über den Zeitpunkt seines Todes gehen die Meinungen weit auseinander.
Gegen die Juden, die beteuern: „Wir haben Christus Jesus Sohn Marias, den Gesandten
Gottes, getötet“ (Koran 4,157), behauptet der Koran: „Sie haben ihn aber nicht getötet,
und sie haben ihn nicht gekreuzigt, sondern es erschien ihnen eine ihm ähnliche Gestalt.
Diejenigen, die über ihn uneins sind, sind im Zweifel über ihn. Sie haben kein Wissen
über ihn, außer dass sie Vermutungen folgen. Und sie haben ihn nicht mit Gewissheit
getötet, sondern Gott hat ihn zu sich erhoben. Gott ist mächtig und weise“ (Koran
4,157f.). Demnach gelang es den Juden nicht, Jesus zu kreuzigen. Gott hat ihn errettet,
er allein verfügt über Leben und Tod. Ein schmachvoller Tod eines Gesandten wäre
gegen die Ehre Gottes. - Die Leugnung des Kreuzestodes Christi wird somit als Beispiel
für die Allmacht Gottes hingestellt, gleichsam als „Zeichen“ für die, die glauben. Wenn
sich auch die kategorische Ablehnung der Kreuzigung Christi zunächst gegen die Juden
richtete, so ist doch gerade die Bestreitung des Kreuzestodes Christi sowie die
Zurückweisung des trinitarischen Gottesbegriffs bis heute von den Muslimen immer
wieder als Argument gegen die Christen verwandt worden. Zudem stellt die Leugnung
der Kreuzigung Jesu die christliche Soteriologie (Erlösungslehre) in Frage.
 „Es gibt keinen Gott außer Gott“
Unmissverständlich weist der Koran die Lehre von der Trinität zurück: „So glaubt an
Gott und seine Gesandten. Und sagt nicht: Drei. Hört auf, das ist besser für euch. Gott
ist doch ein einziger Gott. Preis sei Ihm, und erhaben ist Er darüber, daß Er ein Kind
habe. Er hat, was in den Himmeln und was auf der Erde ist. Und Gott genügt als
Sachwalter“ (Koran 4,171).
Allerdings gibt der Koran die christliche Trinitätsauffassung nicht authentisch und
korrekt wieder. Er scheint den christlichen Dreifaltigkeitsglauben als Tritheismus
missverstanden zu haben und sich eine Trias aus Gott (Vater), Maria (Mutter) und Jesus
(Kind) vorzustellen: „Und als Gott sprach: ‘O Jesus, Sohn Marias, warst du es, der zu
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den Menschen sagte: 'Nehmt euch neben Gott mich und meine Mutter zu Göttern?'...“
(Koran 5,116). Von diesem Missverständnis abgesehen, polemisiert der Koran gegen die
Christen, die sich zur Dreifaltigkeit Gottes bekennen, und verbindet seine
Zurückweisung der Trinitätslehre mit der Androhung der göttlichen Strafe: „Ungläubig
sind diejenigen, die sagen: ‘Gott ist der Dritte von dreien’, wo es doch keinen Gott gibt
außer einem einzigen Gott. Wenn sie mit dem, was sie sagen, nicht aufhören, so wird
diejenigen von ihnen, die ungläubig sind, eine schmerzhafte Pein treffen“ (Koran 5,73).
Mit der immer wiederholten Betonung der Einzigkeit Gottes geht der Koran zwar in
erster Linie gegen den altarabischen Polytheismus vor, trifft aber ebenso auch den Kern
des christlichen Gottesbegriffs.
 Gottes Transzendenz und Immanenz
Im Mittelpunkt der islamischen Gotteserfahrung steht der Glaube an den einen und
einzigen Gott, der tagtäglich im ersten Teil des Glaubensbekenntnisses öffentlich
bezeugt wird: „Ich bezeuge, daß es keine Gottheit außer Gott gibt ...“ Der Islam misst
der Einzigartigkeit Gottes ein solches Gewicht bei, dass er alles ablehnt und verwirft,
was auch nur im Entferntesten eine Beeinträchtigung der alleinigen Gottheit Gottes
bedeuten könnte.
Die absolute Weltüberlegenheit Gottes, seine nicht einholbare Transzendenz betont der
Koran immer wieder: „Gott ist der Erhabene“ (Koran 2,255), „die Sehkraft erreicht Ihn
nicht“ (Koran 6,103), ja „es gibt nichts, was Ihm gleich wäre“ (Koran 42,11). Diese
unendliche Wesensverschiedenheit Gottes von weltlicher Wirklichkeit hat
weitreichende Konsequenzen: über das strikte Bilderverbot im Islam hinaus stellt sich
die Frage, wie überhaupt ein Zugang zu Gott möglich sein kann. Wenn Gott in seinem
Wesen derart unzugänglich ist - der Koran sagt: Auch wenn Gott sich zu erkennen gibt,
bleibt er verborgen (Vgl. Koran 57,3) -, wenn er sich total menschlicher Erkenntnis
entzieht - wie kann Gott dann vom Menschen, in welcher Weise auch immer, erfahren
werden?
Es sind vor allem zwei von Gott ermöglichte Wege, die zu ihm führen: Seine
Offenbarung und seine Schöpfung. In ihnen hat sich Gott den Menschen zugewandt.
Wie selbstverständlich kommt seine Zuwendung in den Eingangsworten der einzelnen
Suren des Korans (mit Ausnahme der neunten Sure) zur Sprache: „Im Namen Gottes,
des Erbarmers, des Barmherzigen ...“. Die Initiative liegt bei Gott. Er stellt sich als
Schöpfer und Lehrer des Menschen vor, so in der zuerst geoffenbarten Sure 96,1-5:
„Lies im Namen deines Herrn, der erschaffen hat, den Menschen erschaffen hat aus
einem Embryo. Lies. Dein Herr ist der Edelmütigste, der dem Menschen durch das
Schreibrohr gelehrt hat, was er nicht wußte ...“. Diese von Gott initiierte Relation zum
Menschen hat ihre letzt-gültige Verbindlichkeit im Koran gefunden. Als
Willensausdruck Gottes findet der Mensch im Koran jene Rechtleitung, hudâ, die von
Gott selbst kommt und die den rechten Weg des Menschen vor Gott garantiert. Wer sich
den vorgegebenen Handlungsnormierungen unterwirft, kann sicher gehen, dass Gott, der
den Menschen in die Existenz gerufen hat, ihn mit seiner Vorsehung ein Leben lang
begleitet, auch dann nicht im Stich lässt, wenn es mit ihm, dem Menschen, zu Ende
geht.
Ebenso deutet das Wunder der Schöpfung auf Gott hin. In ihr kommen seine Allmacht „Wenn Er eine Sache beschlossen hat, sagt Er ihr nur: Sei!, dann ist sie“ (Koran 2,117) 8
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und seine Güte zum Ausdruck. Auch in der Schöpfung zeigt sich Gottes Zuwendung
zum Menschen. Denn Gott hat Welt und Mensch nicht ein für allemal ins Dasein
gerufen, um sie dann ihrem Schicksal zu überlassen. Im Gegenteil: Er begleitet seine
Geschöpfe mit seiner Vorsehung. Er tut es unablässig, denn er setzt jederzeit sein
schöpferisches Wirken fort. In allem kreatürlichen Sein ist Gott als schöpferisch
begründende und erhaltende Ursache zu entdecken. Das hat zur Folge, dass Gottes
Verhältnis zu Welt und Mensch nicht nur durch seine Transzendenz bestimmt ist,
sondern ebenso durch seine Immanenz. Gott ist nicht nur der ferne, transzendente Gott,
sondern ebenso auch der nahe, anwesende Gott; er ist dem Mensch „näher als die
Halsschlagader“ (Koran 50,16).
b) „ ... und Muhammad ist sein Gesandter“
Nach islamischer Tradition war Muhammad etwa vierzig Jahre alt, als er jene
Erfahrungen machte, die so nachhaltig auf ihn einwirken und seine prophetische
Berufung und Sendung einleiten sollten7. Verschiedene Ursachen spielten dabei eine
Rolle: Es waren nicht primär politische oder soziale Fragen, an denen sich Muhammads
Erfahrung seiner eigenen Berufung und Sendung entzündete, sondern zutiefst religiöse
Impulse. Ferner hat der Verfall des altarabischen Polytheismus, der offensichtlich zur
Zeit Muhammads von keiner tieferen Bedeutung mehr war, auf ihn eingewirkt und ihn
nach einigen Jahren der Zurückgezogenheit und zeitweisen Abgeschiedenheit
veranlasst, mit seiner Botschaft an die Öffentlichkeit zu treten. Kernaussagen sind die
Lehre vom alleinigen und allmächtigen Schöpfergott sowie ausgeprägte eschatologische
Vorstellungen, in denen von der Unerbittlichkeit der göttlichen Abrechnung die Rede
ist.
 Charisma und Macht
Überzeugt von der Wahrheit dieser Botschaft, sah Muhammad sich verpflichtet, sie
seinen Landsleuten mitzuteilen, um sie so auf den Weg des Heils zu führen. Kollektiv
empfindend, wusste er sich für seine Mitmenschen verantwortlich. Doch die Mehrheit
lehnte ihn ab. Es kam zur Konfrontation. Muhammad und seine Getreuen verließen ihre
Heimatstadt Mekka und wanderten nach Medina aus. Es war das Jahr 622. Durch die
Übersiedlung von Mekka nach Medina seiner Sippe und seinem Stamm entwurzelt,
versuchte Muhammad in Medina eine neue Gemeinschaft aufzubauen, indem er die mit
ihm emigrierten Mekkaner und die neu hinzugewonnenen Gläubigen aus Medina zur
„umma al-islâmiyya“, zur „islamischen Gemeinschaft“ zusammenschloss. Der religiöse
Charismatiker von Mekka wurde zum politisch-mächtigen Anführer einer sich neu
formierenden Interessen- und Glaubensgemeinschaft. Sie war gehalten, mit eben
denselben Mitteln ihre Existenz zu sichern wie die benachbarten Stämme. Zwangsläufig
ist so das neue muslimische Gemeinwesen von Medina zu einem politischkämpferischen Stadtstaat geworden. Während das Christentum in einen Staat
hineingeboren wurde, hat der Islam einen Staat hervorgebracht. Damit ist der Islam von
seiner Entwicklung her gleichzeitig und untrennbar Religion, gesellschaftliche
Gemeinschaft sowie politisch-rechtliche Größe. Alle drei Aspekte sind untrennbar
miteinander verbunden. Das „Haus des Islam“ (dâr al-Islâm) verkörpert eine religiöse
und politisch-rechtliche Ganzheit. So verschieden die Muslime ihrer sozio-kulturellen
Herkunft nach auch sein mögen - ob Araber, Türken, Inder, Pakistani, Indonesier,
Afrikaner oder Iraner - sie alle gehören zum „dâr al-Islâm“. Nach der bereits im Jahre
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623 von Muhammad erlassenen ersten Gemeindeordnung gehören alle Muslime
zusammen und bilden aufgrund ihres Glaubens eine solidarische Gemeinschaft. Diese
Richtlinien gelten in der islamischen Tradition als Modell für eine ideale Gesetzgebung
in den islamischen Staaten und als vorbildliches Muster für das echte islamische Leben
innerhalb der islamischen Gemeinschaft.
Von Anfang an war der Islam politisch orientiert. Muhammad war ja nicht nur der
Verkünder einer religiösen Lehre, sondern auch einer theokratischen Staatsidee. So
versteht sich der Islam von seinem Ursprung her gleichermaßen als „dīn“ – Religion –
und „dawla“ – Staat -: „Al-Islām dīn wa dawla“, so wird gesagt, d.h. als
Idealvorstellung ist der Islam religiöse und politische Gemeinschaft zugleich.8 Das
Staatsvolk ist das Gottesvolk, das religiöse Gesetz – sharī‘a – Staatsgesetz. „Ihr
(Muslime)“, heißt es im Koran 3,110: „Ihr (Muslime) seid die beste Gemeinschaft, die
je unter den Menschen hervorgebracht worden ist. Ihr gebietet das Rechte und verbietet
das Verwerfliche und glaubt an Gott.“ In diesem Sinn gilt dann das als Ausspruch
Muhammads überlieferte Motto: „Der Islam herrscht und wird nicht beherrscht.“9
Daraus resultiert die Pflicht der muslimischen Gemeinschaft, sich als Glaubensbrüder
und -schwestern für die Belange des Islams einzusetzen.
-
Der Einsatz „auf dem Weg Gottes“: djihad
„Rücket aus, ob leicht oder schwer, und setzt euch mit eurem Vermögen und mit eurer
eigenen Person auf dem Weg Gottes ein“, so steht es im Koran.10 Diese Pflicht, sich mit
Leib und Leben für den Glauben gegen alle Widerstände selbst aus den eigenen Reihen
einzusetzen11, gilt für die muslimische Gemeinschaft als Gesamtheit, d. h. die ganze
islamische umma auf Weltebene muss sich darum bemühen, dass sich dieser
koranischen Vorschrift entsprechend das Gesetz Gottes durchsetzen kann.12 Unter den
Gegebenheiten zur Zeit Muhammads bedeutete das den bewaffneten Kampf. Dem
entspricht bereits der koranische Befund ebenso wie die spätere Interpretation in den
Rechtsbüchern. Nach muslimischer Auffassung ist die Welt – so die klassische Theorie
– in zwei Lager geteilt:
1)
in das Gebiet des Islams (dār al-Islām) und
2)
in das Gebiet des Krieges (dār al-harb),
das bedeutet: die Welt besteht aus zwei Lagern:
das der Muslime und das der Nicht-Muslime.13 Zur Verteidigung des islamischen
Gebietes, das „dār al-Islām“ und zur Ausweitung seines Bereiches zwecks Einführung
der islamischen Lebensordnung ist der djihād, der Einsatz „auf dem Wege Gottes“, als
probates Mittel gefordert. Der djihād seinerseits kann die verschiedensten Formen
annehmen: von militärischem Kampf, sprich Krieg, über propagandistische
Solidaritätskundgebungen für die „mustad ‘afīn“, d. h. für „Arme und Entrechtete“, bis
hin
zur
finanziellen
und
politisch-ideologischen
Unterstützung
von
Freiheitsbewegungen in aller Welt und egal welcher Provenienz, ganz zu schweigen von
den internationalen Missionsaktivitäten dank der arabischen Petro-Dollar als
Investitionshilfe und Finanzierungsquelle für islamische Zentren.
Diese innerislamische Solidarität fundamentalistischer Kreise gründet in ihrer
Auflehnung gegen Fremdherrschaft, soziale Ungerechtigkeit und kulturelle
Entwurzelung, und zwar im Namen des Islams, von dem der Koran sagt: „Und wer hat
eine schönere Religion als der, der sich völlig Gott hingibt und dabei rechtschaffen ist
...?“14 Getrieben vom Eifer, durch eine Weltrevolution die islamische, weil beste
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Der Islam – Was der Westen lernen muss
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11. Handruper Forum
Ordnung, zum alleinigen Gesetz für die ganze Menschheit einzurichten, machen sie sich
auf, mit ihren fundamentalistischen Verheißungen immer mehr Anhänger in der
islamischen Welt für sich zu gewinnen. Der von ihnen anvisierte islamische Gottesstaat
verspricht den Gläubigen nicht nur die Glückseligkeit im Jenseits, sondern schon jetzt
das Heil im Diesseits.
11
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 „Siegel der Propheten“ (Koran 33,40)
Muhammad – religiöser Charismatiker und politischer Anführer zugleich – verstand
sich theologisch gesehen als „das Siegel der Propheten“ (Koran 33,40), d.h. er sah sich
mit seiner Berufung und Sendung nicht nur in Übereinstimmung mit den früheren
Propheten und Gesandten, sondern darüber hinaus als das abschließende Glied dieser
langen Traditionskette. Als Abschluss und Höhepunkt der Offenbarungsgeschichte,
eben als „das Siegel der Propheten“, ist er derjenige, der die gespaltene Menschheit
wieder in Gott, ihrem Ursprung und Ziel, zusammenführt. Deswegen ist mit ihm,
Muhammad, eine neue Zeit angebrochen, die Zeit der Versöhnung der einen
Menschheitsfamilie im Leben des Islams, der fraglosen Unterwerfung unter Gottes
Willen15.
3. Der Koran: Gottes letztes Wort
 Inlibration: Buchwerdung von Gottes Wort
Zentrale Glaubensaussage des Islam ist im Gegensatz zum Christentum: Gottes Wort ist
Buch geworden, nicht Gott ist Mensch geworden. Nicht die Inkarnation steht im
Mittelpunkt, sondern die Inlibration, die Buchwerdung von Gottes Wort im Koran. Als
zeitlich jüngste von Gott gesandte Schrift ist sie vom Inhalt her Gottes letztes Wort an
die Menschheit, unnachahmlich und unüberbietbar (Koran 17,88). Weil Gottes Wort,
trägt der Koran die untrüglichen Merkmale seiner Authentizität in sich selbst. Die
geglaubte Verbalinspiration verleiht ihm uneingeschränkte Autorität in der
muslimischen Welt, gilt er doch als die arabische Version jener Offenbarungsschrift, die
bei Gott hinterlegt ist und „Mutter des Buches“ (umm al-kitâb) genannt wird (Koran 3,7
u.ö.)16.
Weil aus muslimischer Sicht Gott sich und seinen Willen in endgültiger Weise im
Koran geoffenbart hat, ist der Koran das vorzügliche Medium, durch das der Mensch
Gott erkennen und erfahren kann. Schon verhältnismäßig früh als das ungeschaffene
Wort Gottes - gleich ewig mit ihm - anerkannt, ist der Koran für jeden Muslim der
Dreh- und Angelpunkt seines Selbstverständnisses und seiner Weltdeutung. Die gesamte
Lebensordnung gewinnt von ihm her ihre lebensgestaltende und -prägende Kraft.
-
Einführung der Scharia
Aufgrund der Tatsache, „daß in der islamischen Tradition Religion und Staat besonders
eng verbunden waren, und das Hauptkennzeichen der Islamizität des Staates in der
Durchführung des auf Offenbarung zurückgeführten religiösen Rechts, der Scharia,
gesehen wurde“17, streben die Verfechter des Islamismus die Wiederherstellung eines
islamischen Staates an, verbunden mit der Wiedereinführung der Scharia. Damit würde
ein Recht zur Grundlage der politischen Ordnung gemacht, das einzig und allein die
Musline als Vollbürger anerkennt, während Nicht-Muslime dem Wohlwollen der
Herrschenden ausgeliefert wären.
 Die „Entwestlichung des Wissens“
In seinem Beitrag „Islamischer Fundamentalismus gegen den Westen“18analysiert
Bassam Tibi – selbst Muslim – jenes Fremdbild vom Westen, das sich in den Köpfen
führender muslimischer Fundamentalisten festgesetzt hat. Er zeigt vier
Gedankenkomplexe auf19:
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(1) Ausgangspunkt ist die Kritik am westlichen Kolonialismus als einem angeblich
speziell gegen den Islam gerichteten Unternehmen; in Anlehnung an die Kreuzzüge
sprechen sie in unseren Tagen von einem „neuen Kreuzzüglertum“ des Westens.
(2) Die theologische Weltsicht des Islams sehen sie durch westliche Wissenschaft
gefährdet (Autonomie menschlicher Vernunft, Sittlichkeit usw.) und fordern eine
“Entwestlichung des Wissens“ durch Rückgriff auf das unüberbietbare Wissen des
Korans.
(3) Die Krise der europäischen Moderne wird als Sinnkrise einer säkularen Welt
interpretiert.
(4)
Diese Sinnkrise wird dem weltpolitischen Herrschaftsdenken des Westens ein
Ende setzen und dem Islam zur Weltführung verhelfen.20
„Diese antiwestliche Ideologie“, so B.Tibi, „bietet eine Alternative zu der
‘westlichbeherrschten Welt‘, eine Alternative, in der der Islam die Führung innehat.
Westliche Universalität, auch die der Menschenrechte, soll durch die islamische
Universalität, in deren Doktrin es ein Konzept individueller Menschenrechte gar nicht
gibt, ausgetauscht werden“21. Damit sind wir bei einem der zentralen Punkte des
islamischen Fundamentalismus angelangt. Es geht um die grundsätzliche Frage der
Universalität der Menschenrechte. Sind sie unveräußerliche Rechte des Individuums
oder dürfen sie “einem wie immer gearteten Kulturrelativismus geopfert werden“22?
Oder anders gefragt: „Rechte der Menschheit oder Rechte der Muslime“23? Hier sind
kritische Anfragen dringend geboten.
4.
„Dir sind wir ergeben“
Das komplexe religiös-politische Phänomen „Islam“ bedarf einer differenzierten Sichtung
und Darstellung. Schwarz-Weiß-Malerei hilft nicht weiter. Defizitäres Wissen ist
aufzuarbeiten, um auch das Positive jener Weltreligion zu sehen, das uns die Medien allzu
oft vorenthalten, jene Dimension, die wir Spiritualität nennen:
Und im Zentrum muslimischer Spiritualität steht das unerschütterliche Bekenntnis der
Einzigkeit des transzendenten Gottes. Dabei kommt es nicht ausschließlich darauf an,
verbaliter zu bestätigen, dass es nur einen Gott gibt, „keine andere Gottheit außer Gott“,
wie das islamische Glaubensbekenntnis sagt, sondern vielmehr glaubend zum Ausdruck zu
bringen, dass letztlich Gott allein „wirklich“ und „eigentlich“ existiert24, während alles
andere Existente neben ihm - wie Welt und Mensch - nicht im eigentlichen Sinn des
Wortes existiert, sondern unablässig „zerfällt“, d.h. ins Nichts zurückfällt, um von Gott
andauernd neu ins Leben gerufen zu werden: Alles vergeht, sagt Koran 55,26-27, „bleiben
wird nur das Antlitz deines Herrn, das erhabene und ehrwürdige“. Alle Geschöpfe und an
ihrer Spitze der Mensch haben ihren Sinn und Zweck nur insofern, als sie „geschaffen
wurden, den Herrn anzubeten“25. In diesem Sinne spiegelt die islamische Spiritualität die
Geschichte unzähliger Menschen in ihrem Versuch wider, sich dem glaubend zu
unterwerfen, von dem sie ausgegangen sind und zu dem sie zurückkehren: Gott. Er, der
souveräne Schöpfer und Herr des Universums und doch zugleich dem Menschen näher als
die eigene Halsschlagader, wie Koran 50,16 bekennt, ist transzendent und immanent
zugleich: „Die Blicke erreichen Ihn nicht“, so Koran 6,103, doch „wohin ihr euch auch
wenden möget, dort ist das Antlitz Gottes“ (Koran 2,115)26. Von diesem Glauben getragen
und im Wissen um die in der Schöpfung verankerte Relation Gottes zum Menschen27,
bekennen Muslime in aller Welt: „Dir sind wir ergeben“.
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1
A. Ta’heri, „Der Koran ist unser Programm“. Wie der politische Islam die moslemischen Nationen
aufwühlt, in: Die Zeit Nr. 36 vom 28.08.1987, 9.
2
Vgl. L. Hagemann, Zwischen Religion und Politik. Islamischer Fundamentalismus auf dem Vormarsch?, in:
Ders./E. Pulsfort, „Ihr alle aber seid Brüder“. Festschrift für A.Th. Khoury (Religionswissenschaftliche
Studien, Bd. 14). Würzburg-Altenberge ²1991, 244-260.
3
Der Koran ist zitiert nach A. Th. Khoury, Der Koran, Übersetzung. Gütersloh 21992.
4
Vgl. L. Hagemann, Propheten-Zeugen des Glaubens. Koranische und biblische Deutungen
(Religionswissenschaftliche Studien, Bd. 26). Würzburg-Altenberge 21993.
5
Vgl. ders., Christentum und Islam zwischen Konfrontation und Begegnung (Religionswissenschaftliche
Studien, Bd. 4). Würzburg-Altenberge 31994, 27ff.; R. Paret, Mohammed und der Koran. Stuttgart 51985; A.
Th. Khoury, Wer war Muhammad? Lebensgeschichte und prophetischer Anspruch. Freiburg - Basel - Wien
1990.
6
Vgl. C. Colpe, Das Siegel der Propheten. Historische Beziehungen zwischen Judentum, Judenchristentum,
Heidentum und frühem Islam. Berlin 1989.
7
Siehe Anm. 5.
Vgl. L. Hagemann, Christentum und Islam a.a.O. 44-47 mit weiterführenden Literaturangaben; ders. Zur
Politisierung des Islam, in: Dialog in der Sackgasse? Christen und Muslime zwischen Annäherung und
Abschottung (Religionswissenschaftliche Studien, Bd. 46). Würzburg-Altenberge 1998 (Zusammen mit R.
Albert). 205 S.
9
Vgl. Bukhr, Sahh, Kairo 1897/H1315, K 23, 80; vgl. Koran 4,141.
10
Koran 9,41.
11
Vgl. ebd. 9,23.
12
Vgl. L. Hagemann, Christen und Islam a.a.O. 48f.
13
Vgl. A. Th. Khoury, Toleranz im Islam (Religionswissenschaftliche Studien, Bd. 8). Würzburg-Altenberge
1986, 103ff.
14
Koran 4,125.
8
15
Vgl. A. Th. Khoury, Muhammad, in: Ders., L. Hagemann, P. Heine, Islam-Lexikon, Bd. 2. Freiburg Basel - Wien 21999, 543-566 (Lit.).
16
Vgl. A. Th. Khoury, Der Koran. Arabisch-Deutsch. Übersetzung und wissenschaftlicher Kommentar,
Bd. 1. Gütersloh 1990, 65ff.
17
R. Wielandt, Zeitgenössischer islamischer Fundamentalismus – Hintergründe und Perspektiven, in: K.
Kienzler (Hg.), Der neue Fundamentalismus. Rettung oder Gefahr für Gesellschaft und Religion? Düsseldorf
1990, 46-66.
18
In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ B 22 (1990) 40-46.
19
Ebd. 42.
20
Vgl. auch A. Th. Khoury/L. Hagemann, Christentum und Christen im Denken zeitgenössischer Muslime
(Religionswissenschaftliche Studien, Bd. 7). Würzburg-Altenberge 21994, 165ff.
21
Siehe oben Anm. 19.
22
Ebd. 46.
23
Ebd. 45.
24
Vgl. R. Gramlich, Mystische Dimensionen des islamischen Monotheismus, in: A. Falaturi/W. Strolz,
Glauben an den einen Gott. Freiburg 1975, 195ff; A. Schimmel, Mystische Dimensionen des Islam, Köln
1985 u.ö.
25
R. Caspar, Islamische Mystik I, in : Cibedo-Texte Nr. 12 (1981), 5; vgl. R. Gramlich, Mystische
Dimensionen des islamischen Monotheismus, a.a.O. 191ff.
26
Vgl. L. Hagemann, Die Welt ist sein Geschöpf. Zum Verhältnis von Transzendenz und Immanenz, in: A.
Bsteh (Hg.), Der Islam als Anfrage an christliche Theologie und Philosophie (Studien zur Religionstheologie,
Bd. 1). Mödling 1994, 91-96.
27
Vgl. J. Bouman, Gott und Mensch im Koran. Eine Strukturform religiöser Anthropologie anhand des
Beispiels Allah und Muhammad. Darmstadt 1977; L. Hagemann, „... mein Leben und mein Sterben gehören
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Gott“ (Koran 6,162). Strukturen islamischer Anthropologie, in: H. Hoffmann (Hg.), Werde Mensch. Wert
und Würde des Menschen in den Weltreligionen. Trier 1999, 121-142.
Literaturhinweise (Auswahl)
Bouman, J.: Gott und Mensch im Koran. Eine Strukturform religiöser Anthropologie
anhand des Beispiels Allah und Muhammad. Darmstadt 1977.
Bsteh, A. (Hg.): Der Islam als Anfrage an christliche Theologie und Philosophie (Studien
zur Religionstheologie, Bd. 1). Mödling 1994.
Colpe, C.: Das Siegel der Propheten. Historische Beziehungen zwischen Judentum,
Judenchristentum, Heidentum und frühem Islam. Berlin 1989
Falaturi, A./Strolz, W.: Glauben an den einen Gott. Freiburg 1975.
Gramlich, R.: Islamische Mystik. Sufische Texte aus zehn Jahrhunderten. Stuttgart - Berlin
- Köln 1992.
Hagemann, L./Pulsfort, E. (Hg.): „Ihr alle aber seid Brüder“. Festschrift für A. Th. Khoury
(Religionswissenschaftliche Studien, Bd. 14). Würzburg - Altenberge 21991.
Hagemann, L.: Propheten - Zeugen des Glaubens. Koranische und biblische Deutungen
(Religionswissenschaftliche Studien, Bd. 26). Würzburg-Altenberge ²1993.
Hagemann, L.: Christentum und Islam zwischen Konfrontation und Begegnung
(Religionswissenschaftliche Studien, Bd. 4). Würzburg-Altenberge ³1994.
Hagemann, L./Khoury, A.Th. (Hg.): Blick in die Zukunft (Religionswissenschaftliche
Studien, Bd. 43). Würzburg-Altenberge 1998.
Hagemann, L./Albert, R. (Hg.): Dialog in der Sackgasse? Christen und Muslime zwischen
Annäherung und Abschottung (Religionswissenschaftliche Studien, Bd. 46). WürzburgAltenberge 1998.
Hagemann, L.: Christentum contra Islam. Eine Geschichte gescheiterter Beziehungen.
Darmstadt 1999.
Hoffmann, H. (Hg.): Werde Mensch. Wert und Würde des Menschen in den
Weltreligionen. Trier 1999.
Khoury, A. Th.: Der Koran. Übersetzung und wissenschaftlicher Kommentar, Bd. 1ff.
Gütersloh 1990ff.
Khoury, A. Th.: Wer war Muhammad? Lebensgeschichte und prophetischer Anspruch.
Freiburg - Basel - Wien 1990.
Khoury, A. Th.: Der Koran. Übersetzung. Gütersloh 21992.
Khoury, A.Th./Hagemann, L./Heine, P.: Islam-Lexikon. 3 Bde. Freiburg, 21999.
Paret, R.: Mohammed und der Koran. Stuttgart 51985.
Schimmel, A.: Mystische Dimensionen des Islam. Die Geschichte des Sufismus. Köln
1985.
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