1 Literatur und Gedächtnis – Zur Zielbestimmung

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Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen
Erinnerungsprinzip in Emma Braslavskys Aus dem Sinn
Inhaltsverzeichnis
Seite
1 Literatur und Gedächtnis – Zur Zielbestimmung ........................................ 3
2 Methodologischer Ansatz und Forschungsstand .......................................... 6
2.1 Gedächtnis und Erinnerungskulturen als Forschungsobjekte .......................................... 6
2.2 Individuelles und kollektives Gedächtnis nach Halbwachs ........................................... 7
2.3 Europäisches Bildgedächtnis nach Aby Warburg ............................................................ 9
2.4 Noras Erinnerungsorte .................................................................................................. 10
2.5 Jan Assmanns Konzept des kulturellen Gedächtnisses .................................................. 11
2.5.1 Kommunikatives und kulturelles Gedächtnis als zwei ›Gedächtnis – Rahmen‹ ..... 11
2.5.2 Gedächtnis als ars und vis ........................................................................................ 13
2.5.3 Funktions- und Speichergedächtnis als zwei Modi der Erinnerung ........................ 14
2.6 Erinnerungskulturen nach dem Konzept des Gieβener Sonderforschungsbereich 434 .. 16
2.7 Heimat und der Topos der ̦verlorenen Heimatʼ ............................................................ 18
2.7.1 Heimatbegriff und seine Tabuisierung..................................................................... 18
2.7.2 Der Topos der ̦verlorenen Heimatʼ als Erinnerungsfigur ....................................... 20
2.8 Literatur in narratologischer Perspektive ...................................................................... 23
2.8.1 Erzählen im Rahmen der dichterischen Rede .......................................................... 23
2.8.2 Zum Verhältnis zwischen dem Erzählen und dem Erzählten .................................. 25
3 Gruppe als Gedächtnismedium in Aus dem Sinn von Emma Braslavsky 27
3.1 Figuren und Figurenkonstellationen ............................................................................... 27
3.1.1 Eduard Meiβerls Denken, Fühlen und Handeln ....................................................... 27
3.1.2 Paul Händls Denken, Fühlen und Handeln .............................................................. 30
3.1.3 Figuren und ihr soziales Umfeld .............................................................................. 32
3.2 Erzählinstanz .................................................................................................................. 33
3.2.1 Erzählung von Ereignissen ...................................................................................... 33
3.2.1.1 Motivierung von Ereignissen in narratologischer Sicht
33
3.2.1.2 Motivationale Verkettung von Ereignissen in Braslavskys Roman
35
3.2.2 Erzählung von Worten ............................................................................................. 37
3.3 Raumentwurf .................................................................................................................. 39
2
3.3.1 Semantisierung von Räumen in narrativen Texten .................................................. 39
3.3.2 Räumliche Ordnung in Emma Braslavskys Aus dem Sinn ...................................... 40
3.4 Zeitliche Situations- und Ereignisrahmen ...................................................................... 44
3.5 Das Verhältnis zwischen dem Erzählen und dem Erzählten – Fazit .............................. 46
4 Zusammenfassung .......................................................................................... 48
5 Praktischer Teil – Didaktisierungsvorschläge ............................................. 49
5.1 Stundenentwurf Nr. 1 ..................................................................................................... 49
5.2 Stundenentwurf Nr. 2 ..................................................................................................... 57
6 Literatur .......................................................................................................... 63
3
1 Literatur und Gedächtnis – Zur Zielbestimmung
In der vorliegenden Arbeit wird auf den Zusammenhang zwischen der Literatur, dem
Gedächtnis und der Erinnerungskultur aufmerksam gemacht, denn heutzutage lässt sich nicht
nur im wissenschaftlichen Bereich ein immer gröβeres Interesse an den Gedächtnis- und
Erinnerungskulturen feststellen.
Mit dem Begriff „Erinnerungskultur” bezeichnet man den Versuch, Teile der Vergangenheit,
anders gesagt unserer Geschichte, im Bewusstsein, im Gedächtnis zu halten und diese gezielt
zu vergegenwärtigen. In der Erinnerung wird Vergangenes in einer bestimmten Gestalt
vergegenwärtigt, so dass sie eine Beziehung zwischen dem Gegenwärtigen und dem
Gewesenen bildet. Die Erinnerungen gewährleisten eine Art Anbindung des Gestern an das
Heute, sind die Verbindungen zur Gegenwart. Diese Vergegenwärtigung und die Wirkung der
geschichtlichen Ereignisse gestalten die Identität der Menschen sowohl als Individuum als
auch als Kollektiv. Dabei bilden sie die Identifikationsverhältnisse, die zur Selbstversicherung
und Einordnung des Einzelnen in der sozialen und politischen Welt dienen. Die erwähnten
gewissen Entwicklungsphasen, d.h. die Formierung eigener Identität jeder offenen
Gesellschaft erfolgen auch durch die Bewältigung einer Reihe von gesellschaftlichen
Tabuthemen.
Mit den Erinnerungskulturen hängt auch das Gedächtnis zusammen, das „einen prozesshaften
Charakter“1 hat, in dem Sinne, dass einerseits manche Ereignisse verschwinden können, wenn
an sie nicht erinnert wird. Andererseits werden sie aber behalten, wenn sie hervorgerufen
werden. Das bedeutet, unser Gedächtnis verändert sich, d.h. es ist nicht statisch, sondern
dynamisch. Es existiert in einem ständigen Prozess der Verwandlung und Neuformierung.
Darauf, ob wir bestimmte Ereignisse vergessen oder behalten, hat die Häufigkeit des
Erinnerns den Einfluss. Das Vergessen und das Behalten hängt aber auch von der
Gesellschaftsform und von den Herrschenden ab. Mit den Gesellschaftsformen sind offene,
d.h. demokratische und geschlossene, d.h. totalitäre Gesellschaften gemeint. Im ersten Fall
wird an alles erinnert, abgesehen davon, ob die Ereignisse peinlich oder angenehm sind. Das
politische Umfeld begünstigt das Gedächtnis und das Erinnern. Eine wichtige Rolle dabei
spielen auch die Medien, die in der offenen Gesellschaft frei sind und grenzenlos über die
Geschichte sprechen und schreiben können. Dadurch hat die Gesellschaft einen besseren und
1
Zimniak, Paweł: „Verlorene Heimat“ - Zum deutschen Topos in der polnischen Erinnerungkultur nach 1945,
S.1.
4
freieren Zugang zur Vergangenheit. In der geschlossenen Gesellschaftsform dagegen spielen
die Interessen der Herrschenden die wichtigste Rolle und ihnen ist alles unterordnet. Die
politische Klasse beeinflusst die Gestalt des Gedächtnisses, indem einige historische
Tatsachen in der Gesellschaft nicht funktionieren, nicht zugelassen oder instrumentalisiert
werden.
Die Erinnerung und das damit verbundene Gedächtnis ist in den letzten Jahren ein wichtiges
literarisches Thema geworden. Der Zusammenhang zwischen Literatur und Gedächtnis hat in
jüngster Zeit verstärkt Beachtung gefunden, denn Literatur ist ein wichtiges Medium, das das
kulturelle Gedächtnis und die kollektive Identität prägt. Literarische Texte, unabhängig davon
ob das ein Roman, ein lyrisches Gedicht, eine Liebesgeschichte oder ein Text der
Trivialliteratur ist, dienten in der Vergangenheit – so Astrid Erll – als Medien des kollektiven
Gedächtnisses.2 Und dieselbe Rolle spielen sie auch heutzutage. Auβerdem hat die Literatur
auch andere wichtige Aufgaben im Zusammenhang mit dem kollektiven Gedächtnis. Nach
der Position von Astrid Erll:
Sie (=Texte aller Gattungen und Genres) erfüllen vielfältige erinnerungskulturelle
Funktionen, wie die Herausbildung von Vorstellungen über vergangene
Lebenswelten, die Vermittlung von Geschichtsbildern, die Aushandlung von
Erinnerungskonkurrenzen und die Reflexion über Prozesse und Probleme des
kollektiven Gedächtnisses.3
Das bedeutet also, die literarischen Texte vermitteln bestimmte Welten, Bilder, auch die
Bilder von Geschichte, wodurch wir unsere Vorstellungen, Ansichten über die Vergangenheit,
über die Menschen und ihr Leben bilden. Diese fiktionalen Texte können unterschiedliche,
oder sogar widersprüchliche Bilder enthalten und dann kommt es zur Reflexion dessen, was
durch die Literatur vermittelt wird.
Viele deutsche Schriftsteller nehmen Erfahrungen und Erinnerungen als Ausgangspunkt in
den Büchern an. Diese werden oft am Beispiel verschiedener Generationen verdeutlicht, wie
z.B. im Buch „Die Unvollendeten” von Reinhard Jirgl.
Zur Grundlage der Untersuchung wird Emma Braslavskys Aus dem Sinn (2007). Bei der
Auseinandersetzung mit diesem Text ist der Aufbau der Figuren und ihre Relationen
zueinander bemerkenswert. Beim Figurenentwurf ist es besonders relevant, wie sich der
Raum ihres Denkens, Fühlens und Handelns entwickelt. Da sich die Figuren im
Spannungsfeld zwischen den Erinnerungen an die verlorene Heimat und dem Leben in einem
2
Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und
Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B.Metzler 2005, S.143-165 (hier 143).
3
Ebd., S.143.
5
fremden Ort bewegen, wird zu bestimmen sein, in welche Richtung die einzelnen
Wahrnehmungsperspektiven gehen und wie die Vergangenheit die Gestaltung der Gegenwart
und der Zukunft bestimmt. Auβerdem muss es aufgezeigt werden, wie die Kategorie des
Raumes im untersuchten Text vollzogen wird. Es sollte weiterhin exemplifiziert werden, wie
sich die Erzählsituation und die Zeitgestaltung gestaltet. Es sollte auch nachgewiesen werden,
inwieweit die Erinnerungen wichtig sind, wenn man um eigene Identität kämpft. Es sollte die
Frage nach der Rolle eines totalitären Systems in Bezug auf die Gestaltung und den Zugang
zu bestimmten Erinnerungen gestellt werden.
6
2 Methodologischer Ansatz und Forschungsstand
2.1 Gedächtnis und Erinnerungskulturen als Forschungsobjekte
Es soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Reflexion und die Pflege der
Kulturgüter schon seit immer „zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen“4
gehört und dass wir den Beginn der Sachgeschichte des kollektiven Gedächtnisses schon in
der Antike suchen können. Aber erst das 20. Jahrhundert bringt uns eine wissenschaftliche
Auseinandersetzung mit dem Phänomen des kollektiven Gedächtnisses. Die Art und Weise,
wie die Menschen als Kollektiv den Bezug auf die Vergangenheit nehmen, hat - so Astrid Erll
– „im Mittelpunkt kulturwissenschaftlicher Theoriebildung gestanden“.5
Die heutige Forschung des kollektiven Gedächtnisses basiert auf zwei Theorien, d.h. auf den
Begriff mémoire collective von Maurice Halbwachs und auf das europäische Bildgedächtnis
von Aby Warburg. Die zwei genannten Wissenschaftler waren die ersten, die dieses
Phänomen systematisch untersucht haben. Ihre Untersuchungen und Schriften gelten als
Grundlage der Theoriebildung zum kollektiven Gedächtnis. In den 80-er Jahren des 20.
Jahrhunderts hat die Forschung vom Gedächtnis wieder an Bedeutung gewonnen. An dieser
Stelle sollen zwei Namen erwähnt werden, nämlich Pierre Nora und Aleida und Jan Assmann.
Die letzten sind die bedeutendsten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, die sich besonders
mit dem Begriff des kulturelles Gedächtnis im deutschsprachigen Raum auseinandergesetzt
und ihn geprägt haben. Mit diesem von Assmann entwickelten Begriff hängt auch das
Konzept der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung zusammen, das weit diskutiert
wird. Im Mittelpunkt der Theorie des kulturellen Gedächtnisses steht die systematische und
begriffliche Differenzierung des Verhältnisses zwischen Kultur und Gedächtnis. Dabei
handelt es sich um den Zusammenhang von kultureller Erinnerungen, ihren Einfluss auf die
Bildung der kollektiven Identität und politischer Legitimierung.
Hinsichtlich des Begriffs „Erinnerungskulturen“ soll der Gieβener Sonderforschungsbereich
genannt werden. Diesem SFB an der Justus-Liebig-Universität Gieβen verdanken wir das
Modell zur Beschreibung von kulturellen Erinnerungsprozessen. Im Rahmen dieses Modells
4
Erll, Astrid: Die Erfindung des kollektiven Gedächtnisses: Eine kurze Geschichte der kulturwissenschaftlichen
Gedächtnisforschung. In: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart/Weimar: J.B.
Metzler 2005, S.13-39 (hier 13).
5
Ebd., S.13.
7
wird auf Dynamik, Kreativität, Prozesshaftigkeit und Pluralität der kulturellen Erinnerung
hingewiesen.
2.2 Individuelles und kollektives Gedächtnis nach Halbwachs
Der französische Soziologe Maurice Halbwachs in seinen dem Gedächtnis gewidmeten
Schriften unterschied zwischen dem individuellen und kollektiven Gedächtnis. Er versuchte
auch zu beweisen, dass individuelle Erinnerungen sozial bedingt sind, dass das individuelle
Gedächtnis sich in einer bestimmten Person durch ihre Teilnahme an sozialen Prozessen
aufbaut.
Nach der Position von Halbwachs ist „der Rückgriff auf soziale Bezugsrahmen erforderliche
Voraussetzung für jede individuelle Erinnerung“.6 Zu diesen sozialen Rahmen zählt er zuerst
die Menschen, die neben uns leben. Jeder von uns ist ein soziales Wesen und ohne den
Kontakt zu den anderen Menschen hat er keinen Zugang zu solchen kollektiven Phänomenen
wie z.B. Sprache oder Sitten. Nach Halbwachs hat er dann auch keinen Zugang zum eigenem
Gedächtnis, eigenen Erinnerungen. Ein Grund dafür scheint daran zu liegen, dass wir die
Erfahrungen durch die Interaktion mit den anderen Menschen machen. Und diese können uns
dann Hilfe leisten, um sich an irgendetwas zu erinnern, denn sie waren die Zeugen der
Ereignisse und deswegen können den Erinnerungsprozess vereinfachen. Halbwachs
interpretierte also das Gedächtnis als soziales Phänomen, das der Mensch erst im Prozess
seiner Sozialisation erwirbt. Laut Halbwachs werden die Erinnerungen durch Interaktion und
Kommunikation in sozialen Gruppen vermittelt. Er machte darauf aufmerksam, dass unsere
persönlichen Erinnerungen sich aus unseren Beziehungen zu verschiedenen sozialen Gruppen
wie z.B. Familie, Religionsgemeinschaft, Freunde oder Milieus ergeben. Durch diese
Kontakte, z.B. durch die Sprache, die als Medium von Erinnerungen dient, kommt es zum
Austausch von Erinnerungen. Von daher machen wir je nach Gruppe unterschiedliche,
spezifische Erfahrungen und verfügen dann über verschiedenartige Erfahrungen und
Erinnerungen. Das individuelle Gedächtnis ist also das Ergebnis der Teilnahme an mehreren
Gruppengedächtnissen. Daraus resultiert die Tatsache, dass das, was den Unterschied
zwischen den Gedächtnisse der Menschen macht, die Gruppenzugehörigkeit und daraus
folgende Erinnerungsinhalte sind.
6
Ebd., S.15.
8
Die Erfahrungen anderer prägen in manchen Situationen unsere eigene Erinnerungen, z.B. im
Fall eines Kindes, das sich an eigene Kindheit oft nur durch die Erzählungen seiner Eltern
erinnern kann.
Das kollektive Gedächtnis bilden also Teile von individuellen Gedächtnissen, die zu diesem
verschmelzen. Die Substanz des kollektiven Gedächtnisses machen demnach die
Erinnerungen an Ereignisse und Erfahrungen, mit denen die Mehrheit der Gruppemitglieder
konfrontiert oder beschäftigt war.
Daraus lässt sich ableiten, dass das kollektive und individuelle Gedächtnis „in einer
Beziehung wechselseitiger Abhängigkeit stehen“.7 Unsere Erinnerungen sind nach Halbwachs
kollektiv, denn sie uns von anderen Menschen ins Gedächtnis zurückgerufen werden. D. h.
Wir brauchen das kollektive Gedächtnis um die individuellen Erinnerungen zu bestätigen und
zu präzisieren.
Halbwachs unterschied auch zwischen der Geschichte und dem Gedächtnis. Für ihn sind diese
zwei Phänomene unvereinbar.
Geschichte – so Halbwachs – beginnt an dem Punkt, wenn die Vergangenheit nicht erinnert
oder gelebt wird. Sie zeichnet die Objektivität aus, denn sie ordnet neutral alle vergangenen
Ereignisse. Das Ziel der Geschichte ist laut Halbwachs die Vergangenheit. Die Geschichte
wird von Epoche zu Epoche neu retuschiert, d.h. überarbeit, es werden Veränderungen
angebracht , um sie den aktuellen Denkweisen der Menschen und ihren Vorstellungen von
Vergangenheit anzupassen.
Das kollektive Gedächtnis dagegen ist partikular. Ihre Träger sind Gruppen, die zeitliche und
räumliche Begrenzung charakterisiert. Der Vergangenheitsbezug im Rahmen dieses
Erinnerungsraumes hat eine Funktion – Identitätsbildung, die zur Selbstversicherung und
Einordnung des Individuums in der sozialen oder politischen Welt dient.
Die Mitglieder der Gruppe erinnern sich daran, was ihren Interessen und Selbstbild entspricht.
Von daher ist der Umgang mit Vergangenheit eher selektiv. Die Erinnerungen sind kein
Abbild der Vergangenheit, sondern nur ihre Rekonstruktion. Das ist auch der Grund dafür,
dass hier „Verzerrungen und Umgewichtungen bis hin zur Fiktion möglich“ sind. 8 Die
Erinnerungen werden so konstruiert, dass sie den aktuellen Vorstellungen und Konventionen
der Gruppen entsprechen. Die Teilhabe am kollektiven Gedächtnis ist ein Zeichen dafür, dass
„der sich zu Erinnernde zur Gruppe gehört“.9 D.h. wenn der sich zu Erinnernde mit anderen
7
Ebd., S.16.
Ebd., S.17.
9
Ebd., S.17.
8
9
die Erinnerungen nicht teilt, gehört er zu dem Kollektiv nicht mehr. Die Teilnahme der
Erinnerungen entscheidet darüber, ob derjenige zu einer bestimmten Gruppe gehört oder
nicht, ob er ihr Teil ist oder nicht. Andererseits durch die Zugehörigkeit zu sozialen
Konstellationen und durch die Kommunikation bildet sich das Gedächtnis im Individuum.
Zusammenfassend behält das kollektive Gedächtnis von der Vergangenheit das, was im
Bewusstsein der Gruppe noch lebendig ist. Das kollektive Gedächtnis lebt also im
Bewusstsein dieser sozialen Konstellation. Dieser Erinnerungsraum sichert Eigenart und
Kontinuität einer Gruppe, denn hat Identitätsbildungsfunktion. Die Geschichte dagegen, die
die Jahrhunderte periodisiert einteilt, steht auβerhalb und über den Gruppen. Es gibt nur eine
Geschichte, von daher ist sie universal. Sie unterbricht und übergeht Zeiten und dokumentiert
alle Entwicklungen und Ereignisse, die sich über alle Perioden hin erstrecken.
2.3 Europäisches Bildgedächtnis nach Aby Warburg
Der Kunst- und Kulturhistoriker Aby Warburg hat in seinen Überlegungen zum kollektiven
Gedächtnis die materielle Dimension im Vordergrund gestellt. Im Mittelpunkt ihrer Interesse
hat das Kunstwerk als zentrales Medium des kollektiven Gedächtnisses gestanden. Nach
seiner Position beinhaltet dieses Kunstwerk eine Energie, die in unserem Gedächtnis Spuren
hinterlässt. Es zeichnet sich auch dadurch aus, dass es „lange Zeiten überdauern“ und „weite
Räume durchqueren“10 kann. Als Beispiel kann hier die Antikkultur gelten, auf die unter
anderen die Künstler in der Renaissance zurückgegriffen haben. Sie haben in den antiken
Vorbildern die Erregung zur eigenen Arbeit gesucht. In Bezug darauf hat Warburg den
Begriff „Pathosformeln“ entwickelt, mit Hilfe dessen er solche Symbole bezeichnet, „in
denen sich das antike Pathos niederschlagen hatte“.11 Die Pathosformeln speichern eine Kraft,
eine Energie, diese Symbole sind eine Art „kultureller ‹Energiekonserve›“.12
Warburg hat ein Konzept des kollektiven Bildgedächtnisses entworfen, indem er ein Projekt
Mnemosyne-Atlas entwickelt hat. Der Begriff „Mnemosyne“ ist Bezeichnung für die
griechische Schutzgöttin des Gedächtnisses und der Erinnerungskunst. In diesem Projekt
handelt es sich um ein Archiv von Pathosformeln, einen Bildatlas , der „ein epochen- und
länderüberschreitendes Bildgedächtnis veranschaulichen sollte.“13 Das Ziel des Projekts war
auch, mit Hilfe von Bildern das vielfältige Weiterleben der Antike in der europäischen Kultur
10
Ebd., S.20.
Ebd., S.19.
12
Ebd., S.19.
13
Ebd., S.20.
11
10
anschaulich zu machen und eine Erinnerungsgemeinschaft zu schaffen, die Europa und Asien
übergreift. Dar Bilderatlas von ca. 1140 Bildern soll als ein Gedächtnis wirken, das zur
Erinnerung, Nach- und Vorahnung kultureller Formungen befähigt. Mit diesem Atlas wollte
Warburg darauf hinweisen, dass das Bild im Kollektivgedächtnis dieselbe Rolle spielt wie das
Engramm im Zentralnervensystem des Individuums.
Das Konzept vom Bildgedächtnis nach Aby Warburg beruht auf die materielle Dimension,
weil Bilder ein Teil materieller Medien sind, die die ganzen Epochen überdauern vermögen.
Warburg hat betont, dass die Bilder eine Art soziales Gedächtnis sind, die zur Bildung eines
Kollektivgedächtnisses eine immense Rolle spielen.
2.4 Noras Erinnerungsorte
Der Begriff „Erinnerungsorte“ (lieux de mémoire) geht auf den französischen Historiker
Pierre Nora zurück. Nora verwendete ihn in Ablehnung an die loci memoriae der
Gedächtniskunst als Kristallisationspunkt von Identität. Er führte ihn bei der Forschung von
Erinnerungsorten für Frankreich ein.
Mit diesem Begriff sind nicht nur geographische Orte, sondern auch reale und mythische
Gestalten, Ereignisse, Gebäude, Denkmale, Begriffe, Lieder, Feste, Bücher, Kunstwerke einer
Kultur gemeint. Damit verband Nora die Vorstellung, dass sich das kollektive Gedächtnis
einer sozialen Gruppe an bestimmten Orten kristallisiert. Diese ʻOrte̓ haben eine besondere
Symbolkraft,
eine
symbolische
Bedeutung,
die
für
die
jeweilige
Gruppe
eine
identitätsstiftende Funktion hat.
Für Nora gab es damals, d.h. im 20. Jahrhundert kein kollektives Gedächtnis und die von ihm
eingeführten Erinnerungsorte sollten als „eine Art künstlicher Platzhalter für das nicht mehr
vorhandene natürliche kollektive Gedächtnis“14 dienen. D.h. Erinnerungsorte verweisen auf
das abwesende lebendige Gedächtnis und auf die Aspekte der Vergangenheit, an die erinnert
wird.
Nora sonderte drei Dimensionen der Erinnerungsorte heraus, die die Voraussetzungen
angeben, die ein Ereignis oder Gegenstand einer Kultur erfüllen müssen, um als
Erinnerungsort bezeichnet zu werden. Das sind folgende Kriterien:
-
Materielle Dimension: Bei diesem Kriterium geht es nicht darum, ob etwas fassbar ist,
ob wir etwas anfassen können, wie z.B. Buch oder Gebäude, denn auch vergangene
Ereignisse oder Lieder zu Erinnerungsorten gehören. Laut Nora kann ein Gegenstand
14
Ebd., S.23.
11
zum Erinnerungsort werden, wenn er ein „materieller Ausschnitt einer Zeiteinheit“15
ist.
-
Funktionale Dimension: Die Objektivationen, die den Status des Erinnerungsortes
erreichen, müssen in der Gesellschaft eine wichtige Funktion erfüllen. Als Beispiel
kann die Schweigeminute erwähnt werden, die eine bestimmte und allen bekannte
Aufgabe in den Gesellschaften hat. Sie soll uns ein Ereignis oder eine Person in
Erinnerung bringen. Diese kurze Zeit ist am meisten eine Art Ehrerbietung.
-
Symbolische Dimension: Entscheidend ist auch, ob ein Gegenstand der Kultur
Wirkungskraft als Symbol besitzt, eine symbolische Bedeutung hat. Er kann diese
Symbolkraft schon im Moment der Entstehung haben oder erst nach einiger Zeit
gewinnen.
Viele Kritiker haben Nora die Frage gestellt, ob alles zum Erinnerungsort werden kann.
Der französische Historiker antwortete, dass diesen Status alle solchen kulturellen Phänomene
erreichen können, die durch das Kollektiv bewusst oder unbewusst mit der Vergangenheit
oder nationaler Identität in Verbindung gebracht werden.
2.5 Jan Assmanns Konzept des kulturellen Gedächtnisses
2.5.1 Kommunikatives und kulturelles Gedächtnis als zwei ›Gedächtnis – Rahmen‹
Aleida und Jan Assmann weisen in ihrer Überlegungen zum kollektiven Gedächtnis darauf
hin, dass das auf die Alltagskommunikation basierte kollektive Gedächtnis sich vom
kollektiven Gedächtnis, das auf „symbolträchtige kulturelle Objektivationen“16 fuβt,
unterscheidet. Von daher differenzieren sie zwischen die so genannten zwei ›Gedächtnis Rahmen‹, d.h. zwischen dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis. Jan Assmann
sondert bestimmte Merkmale der beiden
Gedächtnisformen heraus, um aufzuzeigen,
inwieweit sie sich voneinander unterscheiden. Zu den Merkmalen des kommunikativen und
des kulturellen Gedächtnisses gehören: Inhalt, Formen, Medien, Zeitstruktur und Träger
(= Menschen) des Gedächtnisses.
Das kommunikative Gedächtnis zeichnet sich dadurch aus, dass es durch die
Wechselbeziehung, durch die Interaktion im Alltag entsteht. Das ist der soziale Raum, in dem
15
Ebd., S.24.
Ebd., S.27.
16
12
Menschen ihre Sichtweisen miteinander austauschen und sich über Dinge, die passiert sind,
verständigen. Es ist die Erinnerung, die sich durch Kommunikation ständig verändert.
Es ist also eher informell und wenig geformt. Diese Gedächtnisform entsteht durch die
Kommunikation zwischen den Menschen, daher jeder Mitglied der Gesellschaft ist befugt das
vergangene Geschehen zu erinnern und zu interpretieren. Nach Assmann macht sich diese
Gedächtnisform an den persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen fest, die die Menschen
mit ihren Zeitgenossen teilen. Das
kommunikative Gedächtnis speichert also die
Geschichtserfahrung im Rahmen individueller Biographien aufgrund der geteilten
Erinnerungen mit den Mitmenschen. Es resultiert aus den lebendigen Erinnerungen einer
Gemeinschaft, die zugleich stark durch soziale Einflüsse geprägt wird. Von daher ist es sehr
viel kurzfristiger ausgerichtet, d.h. es umfasst einen Zeitraum von etwa 80 – 100 Jahren, also
drei bis vier Generationen und deswegen wird als eine Art Kurzzeitgedächtnis einer
Gesellschaft bezeichnet. Dieser beschränkte Zeithorizont verursacht, dass sich die Inhalte des
kommunikativen Gedächtnisses ständig verändern. Die Träger sind in diesem Fall die
Zeitzeugen bestimmter Geschehnisse einer Erinnerungsgemeinschaft. Die Teilhabe an dieser
Erinnerung ist diffus, insofern, dass jeder durch Kommunikation auf das kommunikative
Gedächtnis Einfluss nehmen kann. Diese diffuse Teilhabe gibt diesem Gedächtnis den
Charakter einer privaten Deutung der Vergangenheit. Es ist das inoffizielle Gedächtnis einer
Gruppe, das Alltagsgedächtnis einer Gesellschaft. Die Wiedergabe des kommunikativen
Gedächtnisses erfolgt hauptsächlich mündlich und damit könnte mehr oder weniger schnell in
Vergessenheit geraten, wenn es kein technologischer Fortschritt wäre. Bei der Weitergabe
dieser Form vom Gedächtnis spielen Affekte wie Hass, Liebe, Scham und Trauer eine
entscheidende Rolle.
Ein typischer Fall des kommunikativen Gedächtnisses ist das Generationengedächtnis. Es
bezeichnet das Gedankengut von den Menschen, die nach Assmann Träger genannt werden,
die gemeinsam in einer bestimmten Zeit leben. Daraus resultiert, dass sie ein spezifisches
Gedächtnis entwickeln. Dieses Generationengedächtnis geht dann verloren, wenn die Träger
nicht mehr leben, denn die historischen Ereignisse werden von Generation zu Generation
überliefert.
Das kulturelle Gedächtnis dagegen ist alltagsfern, reicht weiter in die Vergangenheit als das
kommunikative. Für diese Gedächtnisform ist es charakteristisch, dass es mythische
Urgeschichte, mythische Zeit in einer absoluten Vergangenheit beinhaltet. Es markiert also
einen sehr viel breiteren Zeithorizont im Vergleich zum kommunikativen Gedächtnis und
deshalb gilt als das Langzeitgedächtnis einer Gesellschaft. Das kulturelle Gedächtnis ist
13
gestiftet, wohl geformt und bildet den Gegenstand formeller Kommunikation. Die Träger
dieses Gedächtnisses kann nicht jeder sein, wie es im ersten Fall ist, sondern nur Spezialisten,
wie z.B. Archivare, Priester, die zur Interpretation von Inhalten des kulturellen Gedächtnisses
ausgebildet sind. Das kulturelle Gedächtnis zeichnet sich also durch differenzierte Teilhabe
aus. Nicht alle Mitglieder eines Kollektivs beeinflussen es in gleichberechtigtem Maβe.
Insofern spricht man vom kulturellen Gedächtnis auch als vom offiziellen Gedächtnis einer
Gruppe. Da es die Tradition als Verfahren hat– statt der Kommunikation, wie es im Fall des
kommunikativen Gedächtnisses ist – umfasst es einen viel gröβeren zeitlichen Rahmen als
Alltagsgedächtnis. Im Mittelpunkt dieser Gedächtnisform stehen – so Assmann – Ereignisse
einer fernen Vergangenheit, wie z.B. der Kampf um Troja. Das kulturelle Gedächtnis wird
über die Generationenfolge weitergegeben und ist vom Tod seiner Träger nicht bedroht. Die
Medien zur Aufbewahrung dieses Gedächtnisses sind: Lieder, Sprichwörter, heilige Texte,
Bilder, Ornamenten oder Gesetze. Das wichtigste Medium ist aber in der abendländischen
Kulturtraditionen die Schrift.
Nach der Position von Assmann entsteht zwischen den beiden ›Gedächtnis - Rahmen‹ eine
Lücke, die s.g. „floating gap“.17 Dieser Begriff wird von Ethnologen Jan Vansina geprägt und
scheint eine Übergangszeit, eine Brücke vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis zu
sein, in der um die definite Form und den Inhalt des kulturellen Gedächtnisses gekämpft wird.
Anders gesagt: Das ist eine flieβende Lücke zwischen lebendiger Erinnerung und offizieller
Erinnerung und gilt als typisches Phänomen schriftloser Geschichtserinnerung.
2.5.2 Gedächtnis als ars und vis
Aleida Assmann widmet sich den Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses in
der Neuzeit. Um den Grundunterschied der beiden „Memorialfunktionen“
18
zu erläutern,
greift sie auf die lateinischen Begriffe ars und vis zurück. Demzufolge differenziert sie
zwischen dem Gedächtnis als ars und dem Gedächtnis als vis.
Das Gedächtnis als ars bezieht sich auf das Verfahren, Technik der Speicherung nach dem
topographischen, d.h. räumlichen Vorbild. Das soll eine identische, nicht veränderte
Rückholung
der
gespeicherten
Informationen
garantieren.
Anders
gesagt:
Diese
Gedächtnisform wird laut Aleida Assmann als ein Wissensspeicher verstanden, in dem die
17
Ebd., S.28.
Ebd., S.31.
18
14
Informationen aufbewahrt werden und je nach Bedarf „in der gleichen Form abgeruft werden
können.“19
Beim Gedächtnis als vis fällt der Fokus auf die Dimension der Zeit und auf den damit
verbundenen Einfluss auf die Gedächtnisinhalte. Im Mittelpunkt dieser Gedächtnisform steht
daher die Tatsache, dass die Erinnerungen prozesshaftig sind, d.h. sich verändern. Die
Erinnerungen sind Veränderungen unterworfen, was im Zusammenhang mit der Zeit steht.
Dieser Prozess der Veränderung aufgrund seiner zeitlichen Dynamik vollzieht eine
Erneuerung, Verformung und Umwertung des Erinnerten. Auβerdem können unsere
Erinnerungen rekonstruiert, d.h. wiederhergestellt werden. Das Gedächtnis als vis beinhaltet
auch das Vergessen. Das lässt sich nachvollziehen, denn unser Gedächtnis enthält eine groβe
Menge von Informationen, aber nur wenige von diesen werden ausgewählt. An dieser Stelle
muss betont werden, dass diese Auswahl von der gegenwärtigen Situation abhängt, d.h. wir
erinnern uns daran, was für uns in einem konkreten Moment wichtig ist, was unseren
Bedürfnissen entspricht.
2.5.3 Funktions- und Speichergedächtnis als zwei Modi der Erinnerung
Aleida Assmann differenziert das Gedächtnis weiter und unterscheidet dabei zwischen dem
Funktions- und Speichergedächtnis. Das zweite Gedächtnispaar wird anders als das
„bewohnte Gedächtnis“ und als das „unbewohnte Gedächtnis“20 bezeichnet. Diese eher
abstrakte Beschreibung der beiden Gedächtnisformen mit „bewohnt“ und „unbewohnt“ lässt
sich einfacher mit „aktiv“ und „passiv“ ausdrücken.
Beim bewohnten Funktionsgedächtnis handelt es sich um die aktiven Erinnerungen einer
Gesellschaft, die zurückgeruft werden können und deren man sich bewusst ist. Es besteht aus
Elementen, die bestimmte Bedeutung für die oben genannte Gruppe haben. Dieser
Erinnerungsraum des Funktionsgedächtnisses ist also gruppenbezogen, verbindet sich mit
bestimmten Werten, die die Gemeinschaft für wichtig hält und orientiert sich an der Zukunft.
Bei diesem Gedächtnistyp geht es daher um ein solches Gedächtnis, das von einer
Menschengruppe angeeignet wird. Es ist Resultat eines Prozesses, in dem die Erinnerungen
ausgewählt und verknüpft werden. Wie schon die Bezeichnung darauf hinweist, ist das ein
aktives Gedächtnis, d.h. die Tatsache, dass man sich mit den Erinnerungen
aktiv
auseinandersetzt, führt dazu, dass bestimmte im Funktionsgedächtnis aufbewahrte Elemente
19
20
Ebd., S.31.
Ebd., S.31.
15
nicht ganz verstummen,
sondern über Generationen immer neu, anders aufgenommen
werden. Die Zeitstruktur ist also diachron. Die Erinnerungen sind laut Aleida Assmann „eine
Art Anbindung des Gestern an das Heute“.21
Aleida und Jan Assmann weisen auf drei Motive des bewohnten Funktionsgedächtnisses hin.
Diese lassen sich auf politischer und religiöser Ebene beschreiben. Als das erste Motiv dieses
Gedächtnistyps gilt die Legimitation. Sie dient vor allem den politischen Herrschern, ihre
Macht rückblickend zu berechtigen und auf diese Art und Weise eigene Position für die
Zukunft zu festigen. Um das zu erreichen, gehen sie mit dem Funktionsgedächtnis selektiv
um und rufen nur diese Erinnerungen ab, die ihre Person in der Öffentlichkeit ins rechte Licht
rücken. Daraus resultiert das zweite Motiv dieses Erinnerungsraumes – die Delegitimierung.
Die Gruppen, die durch ein solches Handeln delegitimiert werden, streben danach, das
inoffizielle Gedächtnis zu erhalten und mit dessen Hilfe eine kritische und subversive d.h.
destruktive, zerstörerische Gegenposition zu bilden. Als das dritte Motiv des bewohnten
Funktionsgedächtnisses soll die Distinktion erwähnt werden. Nach der Position von Aleida
und Jan Assmann nimmt sie Bezug auf religiöse Feste und Traditionen zwecks der Festigung
einer kollektiven Identität. Dabei stützt die Distinktion auch die Gedächtnisse der Nationen.
Als Ergänzung muss noch betont werden, dass die Distinktion sich nicht nur auf Religion
oder Kultur beschränkt, sondern kann auch die Politik betreffen.
Das unbewohnte Speichergedächtnis beinhaltet die passiven, latenten, d. h. versteckten
Erinnerungen. Diese werden nicht bewusst wahrgenommen und sogar formuliert. Aleida und
Jan Assmann nach beruhen sie z.B. auf verdrängte oder vergessene Erfahrungen. Dieser
Gedächtnistyp ist eine Art kulturelles Archiv, in dem die materiellen Überreste vergangener
Epochen aufbewahrt werden und zu denen wir den unmittelbaren Bezug verloren haben,
d.h.es wird als tote, unverfügbare Ansammlung von Fakten verstanden. Zu den Medien und
Institutionen dieser Gedächtnisform gehören z.B. Kunst, Wissenschaft, Museum oder
Literatur.
Aleida
Assmann
weist
aber
darauf
hin,
dass
alle
Elemente
des
Speichergedächtnisses in das bewohnte Funktionsgedächtnis übergehen können.
Laut Aleida und Jan Assmann hat das unbewohnte Speichergedächtnis eine wesentliche
Eigenschaft. Als diese gilt die Distanzierung. Die Distanzierung des Speichergedächtnisses
zum Funktionsgedächtnis ermöglicht das aktuelle Funktionsgedächtnis dadurch zu
verbessern, dass man alte Erinnerungen zurückruft und diese in die Gegenwart einflieβen
21
Ebd., S.32.
16
lässt. Dazu soll noch ergänzt werden, dass eben diese Eigenschaft des Speichergedächtnisses
vor allem bei Politikern unbeliebt ist. Das lässt sich nachvollziehen, denn diese alten
Erinnerungen können ihr Bild zerstören oder mindestens kann ihre Position erschüttert
werden. Von daher wird versucht, dieses Speichergedächtnis auszulöschen und nicht wieder
auferstehen zu lassen.
Beide Gedächtniserinnerungsräume sehen Assmann und Assmann nicht in Opposition
zueinander, sondern betonen die perspektivische Wechselbeziehung zwischen ihnen. Dabei
bedienen sie sich der Begriffe „Vordergrund‘ und „Hintergrund“. In diesem Zusammenhang
ist das Funktionsgedächtnis als Vordergrund zu verstehen und das Speichergedächtnis als
Hintergrund. Laut Aleida Assmann ermöglicht diese Bezogenheit von Vorder- und
Hintergrund die Veränderung des bewussten Gedächtnisses, sowie die Auflösung und
Neuzusammensetzung von Konfigurationen. Auβerdem besteht die Möglichkeit, dass aktuelle
Elemente unwichtig werden und latente Elemente dagegen auftauchen und aufgrund dessen
neue Verhältnisse geschaffen werden.
2.6 Erinnerungskulturen nach dem Konzept des Gieβener Sonderforschungsbereich 434
Der Sonderforschungsbereich 434 an der Justus – Universität in Gieβen zielt auf eine
Rekonstruktion der Geschichte des Erinnerns. Seine Untersuchungsgegenstände sind Inhalte
und Formen der kulturellen Erinnerung im Zeitraum von der Antike bis ins 21. Jahrhundert.
Dieses Konzept fordert die interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener kulturwissenschaftlichen Disziplinen, wie z.B. Philosophie, Soziologie, Literaturwissenschaft,
Kunstgeschichte und Geschichtswissenschaft. Das Ziel ist es auch, Formen und Funktionen
des Erinnerns in ihrer Dynamik, Kreativität, Prozesshaftigkeit und Pluralität zu analysieren.
Zuerst soll erklärt werden, was der Begriff „Erinnerungskultur“ beinhaltet. Erll zittiert die
Definition von „Erinnerungskultur“, die folgendes lautet:
„ Der Begriff [Erinnerungskulturen] verweist auf die Pluralität von
Vergangenheitsbezügen, die sich nicht nur diachron in unterschiedlichen
Ausgestaltungen des kulturellen Gedächtnisses manifestiert, sondern auch
synchron in verschiedenartigen Modi der Konstruktion der Erinnerung, die
komplementäre ebenso wie konkurrierende, universale wie partikulare, auf
Interaktion wie auf Distanz- und Speichermedien beruhende Entwürfe beinhalten
können“.22
22
Ebd., S.34.
17
Dieser Begriff weist daraufhin , dass der Bezug auf die Vergangenheit auf verschiedenen Art
und Weise genommen werden kann. Diese Pluralität der Erinnerung kommt zum Ausdruck
nicht nur diachron, d.h. im Laufe der Geschichte, sondern auch synchron in verschiedenen
Formen der Erinnerung. Die Erinnerungsgestalt enthält gegensätzliche, konkurrierende,
allgemeine und partielle Konzepte, die auf Interaktion sowie auf „Distanz- und
Speichermedien“ basieren.
Das Anliegen des Sonderforschungsbereiches 434 ist auch die Rahmenbedingungen des
Erinnerns, die Ausformung spezifischer Erinnerungskulturen und unterschiedliche Formen
der Erinnerung zu untersuchen.
Hinsichtlich der Rahmenbedingungen des Erinnerns werden drei Faktoren herausgesondert:
-
Die Gesellschaftsformation – dabei handelt es sich um Form der Gesellschaft,
innerhalb
der
erinnert
wird,
z.B.
feudale,
bürgerliche
Gesellschaft
oder
Adelsgesellschaft.
-
Die Wissensordnung bedeutet die Gesamtheit von Regeln, nach denen eine
Gesellschaft funktioniert.
-
Das Zeitbewusstsein wird von drei Faktoren des historischen Wandels bestimmt, d.h.
von seiner Geschwindigkeit, Art und seinem Umfang.
Die zweite Ebene von Erinnerungsprozessen bezieht sich auf Form, Gestalt von
Erinnerungskulturen. Im Zentrum der Interessen stehen hier vier Aspekte:
-
Die Erinnerungshoheit steht im Zusammenhang mit der Entwicklung der Erinnerungskulturen in einer Gesellschaft und auch damit, dass sie miteinander konkurrieren.
-
Die Erinnerungsinteressen von verschiedenen Gruppen der Gesellschaft – dabei muss
darauf
aufmerksam
gemacht
werden,
dass
sie
miteinander
konkurrieren,
nebeneinander herrschen und aufeinander einen Einfluss nehmen können.
-
Die Erinnerungstechniken, d.h. durch welche Strategien, auf welche Art und Weise
sich eine Gesellschaft an vergangene Ereignisse erinnert, z.B. Mündlichkeit,
Schriftlichkeit, mnemotechnische Strategien.
-
Die Erinnerungsgattungen – dabei handelt es sich um die Darstellungs-/PräsentationsWeise des Vergangenen, wie z.B. im Bereich der Literatur – historischer Roman, der
Kunst – Historienbild, der Medien – Geschichtsfilm.
Die dritte Ebene nimmt Bezug auf „die Äuβerungsformen und Inszenisierungsweisen“23 der
Vergangenheit.
23
Ebd., S.35.
18
-
Hiermit werden das Gedächtnis und die Erinnerung voneinander unterschieden.
Kulturelles Gedächtnis wird als eine schlussfolgernde Formation begreift, Erinnerung
dagegen als Aufnahme und ein neuer Entwurf der Vergangenheit.
-
Im Zentrum der Interessen steht auch eine Differenzierung zwischen „erfahrener und
nicht-erfahrenen Vergangenheit“.24 Zum einen wird auf die Vergangenheit unserer
individuellen Erfahrungen hingewiesen, d.h. wir erinnern uns an das Vergangene
aufgrund unserer persönlichen Erfahrungen, aufgrund dessen, was wir selbst erlebt
haben. Zum anderen unterscheidet man die Vergangenheit als den Erwerb der
Erinnerungen der anderen. Die beiden Formen, die in einer wechselseitigen Beziehung
zueinander stehen, verlangen andere Strategien, Techniken der Erinnerung.
2.7 Heimat und der Topos der ̦verlorenen Heimatʼ
2.7.1 Heimatbegriff und seine Tabuisierung
Der Heimatbegriff ist nicht einfach zu definieren. Nicht zuletzt deswegen, dass er
verschiedene Ebenen umfasst, nicht nur in Bezug auf einen Raum, Ort, sondern auch
beinhaltet die innere Dimension, die mit bestimmten Gefühlen, ästhetischen Komponenten im
Zusammenhang steht. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Heimat zunächst auf den Ort (auch
als Landschaft verstanden) bezogen, in den der Mensch hineingeboren wird, wo die frühen
Sozialisationserlebnisse stattfinden, die weithin Identität, Charakter, Mentalität, Einstellungen
und schließlich auch Weltauffassungen prägen. „Heimat“ ist aber auch „ein Mysterium, das
von einer menschlichen Nähe, Wärme und Sicherheit geprägt“25 ist. „Heimat“ ist zugleich
auch das Gefühl der kulturellen Identifikation mit den Traditionen, Sitten, Bräuchen, der
Sprache und Landschaft.
Das Aufkommen des Nationalsozialismus verursachte „eine wesentliche Stärkung der
politischen Dimension des Heimat-Begriffs“.26 In der Zeit des Nationalsozialismus hatte er
eine ganz besondere Aufgabe, nämlich die Stärkung des kollektiven Bewusstseins hinsichtlich
nationaler Zugehörigkeit und Eigenart. Das Individuum sollte sich mit der neuen Staatsform
identifizieren. Zur diesen Zeit ist der Heimatbegriff, im Zusammenhang mit der Blut- und
Boden-Ideologie, mit der Politik des Lebensraumes und der Rassenideologie, zum Mittel der
24
Ebd., S.35.
Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. Literarische Fallstudien.
Wrocław/Dresden: Neisse Verlag 2007, S.25-81 (hier S.67).
26
Ebd., S.68.
25
19
Steuerung von groβen Menschenmassen geworden. Er war Träger einer Ideologie, die eigene
Heimat von den anderen abgegrenzt und höherwertig betrachtet hat.
Der Missbrauch und
die
Instrumentalisierung des
Heimatbegriffs zur
Zeit
des
Nationalsozialismus und die Tatsache, dass er ideologisch belastet war, hat dazu beigetragen,
dass er nach 1945 ein Tabubegriff war. Er war in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg
ein sehr konservativer Begriff, der aus den öffentlichen Diskussionen verschwunden ist. Es
lassen sich drei Faktoren heraussondern, die für die Tabuisierung bis zum Verschwinden des
Heimatbegriffs verantwortlich waren. Als erster gilt die ideologisch – politische Überstrapaziertheit des Begriffs, d.h. der oben schon erwähnte Missbrauch des Begriffs in der Zeit des
Nationalsozialismus. Er wurde mit der Rassenideologie, mit der Blut- und Boden-Ideologie
und auch mit den Vertreibungen, Zwangsausweisungen und der Flucht assoziiert , wodurch er
einen „politisch – ideologischen Beigeschmack“27 bekommen hat. Es gab zwar Versuche,
„den Begriff zu entpolitisieren und zu entideologisieren“, 28 aber sie sind gescheitert. Als
zweiter Faktor müssen solche Begriffe wie „Wiederaufbau“ oder „Wirtschaftswachstum“
genannt werden, die in den ersten Nachkriegsjahren an Bedeutung gewonnen haben. Sie
haben den schon zur Vergangenheit gehörenden Begriff „Heimat“ verdrängt, weil er einfach
wenige Durchschlagskraft besitzt hat. Man hat sich damals auf den Wiederaufbau des
zerstörten deutschen Staates konzentriert. Als der dritte Faktor, der für die Tabuisierung des
Heimat-Begriffs mitverantwortlich war, gelten die wachsende Skepsis der politisch
engagierten Jugend, die sich vom Krieg und allen mit ihm verbundenen Erfahrungen
distanzieren wollte. Die jungen Menschen wollten sich auch von den Werten ihrer
Vätergeneration distanzieren, mit denen sie nichts zu tun haben wollten. Daraus resultiert
auch die Tatsache, dass sie sich vom Erfahrungsdruck entlassen mochten. Ihnen waren einige
historische Fakten peinlich, von daher wollten sie diese vergessen.
An dieser Stelle muss aber ergänzt werden, dass eine solche Haltung der Geschichte
gegenüber keine richtige ist. Der Historiker Peter Burke schreibt dazu folgendes:
Diese Kenntnis [von unangenehmen Erinnerungen P.Z] könnte z.B. vor der
gefährlichen Illusion bewahren, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als einen
schlichten Kampf zwischen Helden und Schurken, zwischen Gut und Böse, Recht
und Unrecht aufzufassen.29
27
Ebd., S.72.
Ebd., S.72.
29
Zimniak, Paweł: „Verlorene Heimat“- Zum deutschen Topos in der polnischen Erinnerungskultur nach 1945,
S.2-3.
28
20
Burke weist darauf hin, dass wir auch mit den unangenehmen Erfahrungen umgehen sollten,
weil auch diese zu unserer Geschichte, Vergangenheit gehören. Nach seiner Position soll man
sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen, sogar wenn sie unangenehm, peinlich ist. Das
ist notwendig, um Schlussfolgerungen aus der Geschichte zu ziehen, um keine dieselben
Fehler in der Zukunft zu begehen.
2.7.2 Der Topos der ̦verlorenen Heimatʼ als Erinnerungsfigur
Der deutsche Topos der ̦verlorenen Heimatʼ ist eine Erinnerungsfigur, die sich auf konkrete
Ereignis, Zeit und Raum bezieht. Damit sollte gesagt werden, dass die Erinnerungen nicht
abstrakt sind, sondern immer Erinnerungen an etwas Konkretes. Diese Erinnerungsfigur der
deutschen Topos der ̦verlorenen Heimatʼ referiert auf eine ganz bestimmte historische Zeit,
d.h. auf die Zeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg und auf ein bestimmtes Ereignis,
d.h. auf die Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung u.a. aus dem Gebiet Polens oder
Sudetenland.
Mit dem Topos der ̦verlorenen Heimatʼ hängt die Vertreibung zusammen. Sie ist in den
letzten Jahren ein wichtiges und brisantes Thema geworden, die heftige Diskussionen sowohl
in Deutschland als auch in Polen hervorgerufen hat. Schuld daran war u.a. das Projekt vom
„Zentrum gegen Vertreibungen“, das von beiden Seiten mit verschiedener Argumentationsweise kommentiert wurde.
„Vertreibung“ ist ein historisches Phänomen, das vor allem während und nach dem Zweiten
Weltkrieg anhand von Ideologien und politischer Entscheidungen Millionen von Menschen
ihre Heimat weggenommen hat. Von daher ist das „ein emotional hochgradig besetztes
Thema.“30 Das lässt sich nachvollziehen, denn die Vertreibung steht im Zusammenhang mit
Leidenserfahrungen, persönlichen Tragödien der Menschen, die ihre Heimat verlassen
mussten. Dabei ist aber wichtig, dass wir alle Vertreibungsakte nicht auf dieselbe Art und
Weise bewerten, sondern sie immer in einem konkreten Kontext sehen sollen. Die
Gleichsetzung von aller durchgeführten Vertreibungen kann doch dazu beitragen, dass die
Unterschiede zwischen Tätern und Opfern nivelliert werden und wir mit „der negierten
Verantwortlichkeit“31 zu tun haben werden. Von daher ist es unerlässlich, die historischen
Ereignisse zu analysieren, sie aufzuklären, sich mit ihnen tiefer auseinanderzusetzen und
dabei die völlige Differenzierung zu behalten. Wir müssen vermeiden, die Geschichte
30
Brodersen, Ingke/Dammann, Rüdiger: Aufklären statt aufrechnen. In: Kafka, Zeitschrift für Mitteleuropa
Nr. 13/2004, S.4-7 (hier S.4).
31
Ebd., S.4.
21
einseitig und zusammenhangslos zu betrachten. Diese analytische Beschäftigung mit so
schwierigen Themen wie „Vertreibung“ ist deswegen so notwendig, damit wir als Europäer
die Vergangenheit offen gelassen und ohne irgendwelche Tabus betrachten können, auch
wenn sie peinlich ist.
In Bezug auf das historische Phänomen „Vertreibung“ muss auch darauf hingewiesen werden,
dass die Reflexion über die Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung auch einen
„Machtkampf um Begriffe“32 bedeutet. Damit wird die Tatsache gemeint, dass bei der
Bearbeitung dieses Themas in wissenschaftlichen Publikationen Schwankungen vom Begriff
„Vertreibung“ auftauchen. Man versucht also die Begriffe einzusetzen, mit den Begriffen zu
operieren, die dasselbe Ereignis nennen, aber unterschiedlich lauten. Es ist von solchen
Begriffen die Rede wie: „Vertreibung“, „Zwangsaussiedlung“, „Bevölkerungs-Transfer“,
„Deprivation“ und „odsun“.33
Eine wichtige Stimme in der Diskussion um Begriffe ist die Stimme der polnischen
Historikerin Krystyny Kersten. Sie lehnt den Begriff „Vertreibung“ ab und führt den Begriff
des Bevölkerungs-Transfers ein. „Die vorgeschlagene Ablehnung Begriffs „Vertreibung“
wird mit seiner politischen Vereinnahmungs- und Instrumentalisierungsmöglichkeit
begründet“,34 d.h. Kersten lehnt diesen Begriff aus diesem Grund ab, dass er politisch
instrumentalisiert werden kann. Das wurde schon getan, wenn man die ganze Diskussion um
das „Zentrum gegen Vertreibungen“ verfolgt. Wobei man aber betonen muss, dass dieser
Begriff in der deutschen Gesetzgebung als ein normaler Begriff im Vertriebenengesetz ohne
politischen Gedanken funktioniert. Nicht zuletzt deswegen wird für einen neutralen Begriff
„Aussiedlung“ plädiert. Diese Bezeichnung scheint aber wenig Sinn zu machen, es sei denn,
dass dieses Wort in der Zusammensetzung als „Zwangsaussiedlung“ erscheint, denn allein
„Aussiedlung“ trifft den gewaltsamen Vorgang der Vertreibung nicht. Auch aus diesem
Grund, dass die Menschen auch in der Friedenszeit ausgesiedelt werden können, z.B. wenn
eine Autobahn gebaut wird. Also solche Bezeichnung ist zu den Verdrängungsprozessen von
Menschen aus ihrer Heimat nicht adäquat. Von daher soll man den Begriff nur als „Zwangsaussiedlung“ benutzen, damit der Akzent auf das Wort „Zwang“ fällt, weil nur dann betont
wird, dass man sich dafür nicht freiwillig entschieden hat, sondern dass es unter dem Zwang,
der Gewalt geschehen ist. Die nächste Stimme in diesem Diskurs ist die Stimme der
polnischen Germanisten Hubert Orłowski, der den Begriff „Deprivation“ vorschlägt, weil er
Zimniak, Paweł: „Verlorene Heimat“- Zum deutschen Topos in der polnischen Erinnerungskultur nach 1945,
S.8.
33
Ebd., S.9.
34
Ebd., S.9.
32
22
kein politisch brisanter Begriff ist. Die „Deprivation bezeichnet allgemein und im Sinne das
Heimatverlustes einen defizitären Zustand, einen Zustand des Mangels“,35 denn wenn man
vertrieben wird, verliert man seine Heimat. Die Vertreibung bedeutet einen Heimatverlust und
Heimatverlust bedeutet einen Verlust von Bindungen und Verbindungen materieller und
ideeller Art. Wenn man seine eigene Heimat aufhebt, d.h. vertrieben wird, so gibt man sein
soziales Umfeld auf, so verliert man auch einen Bezug zu seinem Ort, Raum, von daher ein
Zustand des Mangels. Die Deprivation gilt „als Gegenbegriff zur In-Besitz-Haltung“,36 d.h.
sie bedeutet auch eine gewisse Beraubung, Beschneidung der Existenz. Als ein Beispiel kann
der Hunger erwähnt werden, im Sinne des Fehlens von vitalen und lebensnotwendigen
Gütern. Das ist eine Form der Nahrungsdeprivation. Orłowski hat diesen Begriff auf den
Heimatverlust übertragen, weil er auch ein gewisses Herausreiβen aus einer bekannten
Umgebung bedeutet. Wenn man zwangsausgesiedelt wird, gehen die Relationen verloren. Die
soziale Gemeinschaft hört auf einmal auf, zu existieren. Die anderen Begriffe, die man für die
Bezeichnung von Verdrängungsprozessen verwendet hat, waren ziemlich verharmlosend wie
z.B. der Begriff „der Umsiedler“, der in der ehemaligen DDR durchsetzt wurde. Das ist aber
keine adäquate Bezeichnung für diesen gewaltsamen Vorgang. Die Anwendung dieses
Begriffs ist darauf zurückzuführen, dass man in der DDR keine politische Brisanz schaffen
wollte, um die Sowjetunion nicht zu ärgern. Ein anderer Begriff ist das tschechische Wort
„odsun“. Die Tschechien sprechen von „odsun“ als „Abschub“, die Menschen werden also
abgeschoben. Heute wird dieses Wort in Bezug auf Abschiebenprozeduren benutzt, wenn
jemand Asyl bekommen will.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass keine von den vorgeschlagenen Bezeichnungen
hundertprozentig den Begriff „Vertreibung“ ersetzen kann. Solche Begriffe wie:
„Umsiedlung“, „Aussiedlung“ oder „odsun“ können kaum akzeptiert werden, weil sie den
Vorgang in der ganzen Substanz nicht treffen. „Deprivation“ ist einerseits ein Begriff, der
neutral, nicht politisch brisant ist, andererseits sollte aber diese Unfreiwilligkeit des
Vertreibungsvorgangs angedeutet werden, was aber diese Bezeichnung nicht garantiert.
35
36
Ebd., S.9.
Ebd., S.9.
23
2.8 Literatur in narratologischer Perspektive
2.8.1 Erzählen im Rahmen der dichterischen Rede
Zuerst soll erklärt werden, was die Substanz des Begriffs „Erzählen“ ausmacht. Als
„Erzählen“ definiert man „ eine Art mündlicher oder schriftlicher Rede, in der jemand
jemandem etwas besonderes mitteilt“.37 Wobei man sagen muss, dass eine Rede nur dann als
Erzählung
gilt,
wenn
„diese
Rede
einen
ihr
zeitlich
vorausliegenden
Vorgang
vergegenwärtigt“,38 d.h. wenn jemand einer anderen Person ein Geschehen vergegenwärtigt.
Das ist darauf zurückzuführen, dass man nur über die Sachverhalte erzählen kann, die früher
stattgefunden haben, die zeitlich vorausgehen.
Im Bereich der dichterischen Rede und in Bezug auf das Erzählen tauchen drei folgende
Begriffe: fingiert, fiktional und fiktiv auf. Oft werden sie synonymisch verwendet, was aber
falsch ist. Bei der Auseinandersetzung mit den fiktionalen Texten soll festgestellt werden,
inwieweit sich diese Begriffe unterscheiden:
-
Bezeichnung „fingiert“ können wir für den Bereich der Literatur gleich fallen lassen,
weil obwohl „fingiert“ „(vor)täuschen bedeutet, obwohl die Welt im Rahmen der
Literatur eine fiktionale Welt ist, ist die Lüge, die Vortäuschung kein Zweck der
Literatur.
In Bezug auf diesen Begriff erwähnen Scheffel und Martinez zwei gegensätzliche
Standpunkte, nämlich von Platon und Aristoteles. Schon Platon hat versucht den Zweck der
Dichtung zu bestimmen und er war der Meinung, dass Literatur überflüssig und sogar
schädlich ist. Eine gegensätzliche These hat Aristoteles vertreten, der seine Gedanken im
Werk „Poetik“ formuliert hat. Nach seiner Position ist die Dichtung nützlich, notwendig und
philosophischer als Geschichtsschreibung. Seine Begründung dieser These war, dass die
Geschichtsschreiber nur das wirkliche Geschehen, historische Ereignisse mitteilen, während
die Dichter mit den möglichen Welten spielen. Sie schildern keine Wirklichkeit, sondern nur
das, was geschehen kann.
-
„Fiktional“ steht im Gegensatz zu „faktual, authentisch“ und ist auf den pragmatischen
Status einer Rede bezogen. Literarische Welten sind fiktionale Welten, weil sie mit
37
Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Merkmale fiktionalen Erzählens. In: Martinez, Matias/Scheffel, Michael:
Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S.9-25 (hier S.9).
38
Ebd., S.9.
24
Möglichkeiten, Fiktionen spielen. Sie können zwar auf die Wirklichkeit Bezug
nehmen, ihre Elemente enthalten, aber spielen mit ihr nicht.
-
„Fiktiv“ ist Oppositionsbegriff zu „real“ und bezieht sich auf „den ontologischen
Status des in dieser Rede Aussagten“.39 Das Erzählen im Rahmen der Literatur ist ein
fiktives Erzählen, weil es von fiktiven Welten, Vorgängen erzählt wird, die nicht
wirklich stattgefunden haben.
In Bezug auf die Literatur haben wir mit der doppelbesetzten Kommunikation zu tun.
Das bedeutet, dass es in den fiktionalen Texten zwei Sprecher, zwei Erzählinstanzen gibt: den
realen Autor und den fiktiven Erzähler als eine vom Autor geschaffene Figur. Fiktionale
Texte sind einerseits ein Teil der realen Kommunikation (so wie faktuale Texte), weil der
Autor, der die Sätze produziert eine reale Person ist und diese Sätze von einem realen Leser
gelesen werden. Andererseits sind die fiktionalen Texte auch ein Teil der imaginärer
Kommunikation, weil das keine Face-to-face Kommunikation ist. Der Autor hat den Leser
nicht vor den Augen und umgekehrt. Das ist keine unmittelbare Kommunikation, der Autor
und der Leser können nur durch den Text kommunizieren.
Hinsichtlich zwei Erzählinstanzen lässt sich folgendes feststellen. Der reale Autor als ein
Sprecher schreibt von erfundenen, erdichteten, fiktiven Vorgängen und nicht von der
Wirklichkeit. Die Sätze, die er produziert sind real, aber inauthentisch, denn sie können nicht
als Behauptungen des Autors gelten. Er schreibt nicht mit dem Anspruch auf das
Wahrheitsgehalt. Der fiktive Erzähler, der vom Autor auf die Bühne gesetzt wird, agiert in der
fiktionalen Welt. Er als fiktive Gestalt reflektiert auf fiktive Sachverhalte. Seine Sätze sind,
im Gegensatz zum realen Autor, als authentisch aufzufassen, weil sie als Behauptungen des
Erzählers begriffen werden können. Sie sind aber auch imaginär, weil im Rahmen einer
imaginären Welt, im Rahmen der Literatur.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Erzählen im Bereich der dichterischen Rede
ein fiktionales Erzählen ist. Die dargestellten Welten sind fiktional und die Figuren fiktiv,
weil sie im Rahmen einer fiktionalen Welt auftreten. Fiktionale Texte sind nicht in der
empirischen, d.h. wirklichen, erfahrungsorientierten Welt verwurzelt, weil sie mit den
erdichteten Welten spielen. Sie reflektieren über keine Wirklichkeit, sondern über erfundene
Personen, Sachverhalte, Ereignisse. Diese Texte charakterisiert komplexere doppelbesetzte
Kommunikation, was sie von den faktualen Texten unterscheidet.
39
Ebd., S.13.
25
2.8.2 Zum Verhältnis zwischen dem Erzählen und dem Erzählten
Wenn man mit den Texten im Rahmen der dichterischen Rede umgeht, soll man zwei Ebenen
berücksichtigen, nämlich:
a) die Ebene des Erzählens, d.h. Ebene des Wie, der Vermittlung der Geschichte
b) die Ebene des Erzählten, d.h. Ebene des Was, der Geschichte selbst.
Darauf weisen Matias Martinez und Michael Scheffel in ihrem Beitrag „ Das Erzählen und
das Erzählte“40 hin. Sie erklären, warum das Wechselverhältnis zwischen dem Erzählen und
dem Erzählten so wichtig ist, warum wir als Leser beide Ebenen in Betracht ziehen sollen. Sie
machen darauf aufmerksam, dass wir als Interpreter sich nicht nur auf den Inhalt der
Geschichte konzentrieren sollten, sondern auch das erzählerische Medium, d.h. die
verwendeten Verfahren der Präsentation berücksichtigen sollten. Wir können zwar die Ebene
der Vermittlung ausblenden und die ganze Aufmerksamkeit auf die erzählte Welt lenken, aber
das ist, nach Scheffel und Martinez, eine falsche Haltung. Nach ihrer Position ist die
Abtrennung zwischen dem Was und dem Wie wenig sinnvoll, weil wir „bei fiktionalen
Texten nur über den Text selbst Zugang zur erzählten Welt“41 haben. D.h. wir als Leser haben
keine andere Zugänge zum Text als nur durch die Vermittlung, die Art und Weise der
Präsentation. Der fiktionale Text ist für uns die einzige Quelle über Personen, Sachverhalte,
Ereignisse im Gegensatz zu den faktualen Texten. Im Fall der faktualen Texte sieht das ganz
anders aus. Als Beispiel kann ein Zeitungsbericht über einen Verkehrsunfall dienen. Dieser
Bericht ist keine einzige Informationsquelle, denn wir können auch z.B. Zeugen befragen,
Polizeiprotokolle lesen usw. Wir können also an das Was über verschiedene
Vermittlungsmöglichkeiten herankommen. In den fiktionalen Texten dagegen müssen wir uns
nur auf den Text einlassen und der Ebene des Wie zuwenden und nicht nur die Ebene der
Geschichte berücksichtigen.
Nach der Position von Scheffel und Martinez ist unsere Lesererfahrung, unsere
Wahrnehmung der erzählten Welt von der Präsentation abhängig. Um das zu
veranschaulichen bedienen sich die Autoren zwei Beispiele:
-
Als erstes gilt das Werk von Goethe „Leiden des jungen Werthers“, das in Form eines
Briefromanes geschrieben wurde. Goethe hat sich entschieden, Werthers Schicksal
nicht im distanzierten Bericht eines allwissenden Erzählers zu schreiben, sondern die
40
41
Ebd., S.9-25.
Ebd., S.20.
26
ganze Geschichte wurde in der Ich-Perspektive gestaltet. Dadurch wurde die
Subjektivität, die Identifikation des Lesers mit den dargestellten Ereignissen verstärkt
und gefördert. Nicht zuletzt diese Ich-Form hat dazu beigetragen, dass dieses Werk
„Werther-Fieber“ hervorgerufen hat, infolge dessen viele junge Menschen, so wie der
Protagonist, Selbstmord begangen haben.
-
Als zweites Beispiel kann „Das Schloss“ von Franz Kafka erwähnt werden. Scheffel
und Martinez zittieren die erste Fassung des Romans: „Es war spät abend als ich
ankam“. In dem zweiten Satz wird die Ich-Form durch die Er-Erzählform ersetzt und
der Satz lautet: „Es war spät abend als K. ankam“. Dadurch wollen die Autoren
zeigen, dass obwohl die beiden Sätze dieselbe Information liefern, ist ihre ästhetische
Wirkung durch die Veränderung der Erzählform anders. Durch die Einführung der
auktorialen Perspektive entsteht eine gröβere Distanz als in der ersten Fassung, in der
der Satz in der Ich-Form erfolgt.
Anhand der genannten Beispiele lässt sich folgendes ableiten:
-
Information/Geschichte kann auf verschiedene Art und Weise vermittelt werden.
-
Die Vermittlung der Story hat einen groβen Einfluss auf die Wirkung des Textes auf
den Leser, auf den Identifikationsgrad mit den dargestellten Personen und Ereignissen.
Je nach den verwendeten Verfahren der Präsentation kann die Geschichte anders, mit
unterschiedlicher Kraft auf uns wirken.
Von daher ist es unerlässlich, dass wir als Interpreter sowohl das Erzählte, d.h. Geschichte
selbst, als auch das Erzählen, die Darstellung der Geschichte berücksichtigen, denn das letzte
genauso wichtig ist. Nach Scheffel und Martinez stehen die beiden im engeren Verhältnis
zueinander, denn das Erzählte wird durch das Erzählen anders.
27
3 Gruppe als Gedächtnismedium in Aus dem Sinn von Emma Braslavsky
3.1 Figuren und Figurenkonstellationen
Obwohl das Thema mit dem sich Emma Braslavsky in ihrem Roman auseinandersetzt, d.h.
das Thema der Vertreibung, des Heimatverlustes, kein einfaches und lustiges Thema ist,
behält das Buch bei aller Ernsthaftigkeit des Themas etwas Leichtes uns Spielerisches –
Figuren, die mit Hilfe von Groteskelementen geschaffen wurden. Fast jede Figur ist hier ein
Freak mit einem sympathischen Spleen, wie z.B. Eduard mit seinem Uhrentick und
Faszination von Zahlen und Zeit oder Ella mit ihrer merkwürdigen Vorliebe für Vornamen
mit E oder Eduards Vater, der von Füβen fasziniert ist.
Braslavsky zeigt auch mit Hilfe von Eduard- und Paulfigur zwei Protagonisten, die
oppositionelle Charaktere, Handelnsweisen und Einstellung zum Heimatverlust und zur
Demonstrationsteilnahme aufzeigen, worauf im nächsten Unterkapitel hingewiesen wird.
3.1.1 Eduard Meiβerls Denken, Fühlen und Handeln
Eduard Meiβerl, 29-jährige Mathematiker und Zeitforscher wird als anti-revisionistisch
eingestellte Figur dargestellt. Obwohl er so wie Paul als Kind seine Heimat verliert, hegt er
keine politischen Ansprüche an Egerland, aus dem er und seine Familie 1944 vertrieben
wurden. Durch die Verkettung unglücklicher Umstände gerät er auf eine Sudeten –
Demonstration in sowjetisch besetzten Prag, an der er nicht teilnehmen will. Infolge dieser
Teilnahme kommt er zuerst ins Stasi-Gefängnis und dann in eine Klinik, um die volle
Verantwortung für die Demoteilnahme zu vermeiden und sich schneller mit seiner Familie zu
sehen. Dort wird er mit Elektroschocks behandelt, was zu seinem Gedächtnisschwund
beiträgt.
Eduard wird als junger, bescheidener, ordentlicher Mann geschildert, der sein Leben, so wie
andere ruhig führen will. Er scheint eine Figur zu sein, die sich mit ihrem
Vertriebenenschicksal abgefunden hat. Sein Heimatbesuch und das Treffen mit Miri, einer
Freundin aus den Kindertagen, wecken in ihm keine Heimatgefühle. Eduard identifiziert sich
mit Tuschkau nicht mehr, was im Roman folgendermaßen kommentiert wird:
Er fühlte sich fremd hier nicht wie ‹bei uns drüber›, dass klang immer noch nach
Westen. Heimatgefühle kamen bei ihm in Tuschkau nicht auf; obwohl vertraut,
28
erschien ihm die Stadt wie ein verkauftes, ausrangiertes Bett, in dem andere lagen;
er kannte sich hier nicht mehr aus.42
Aus diesem Zitat geht deutlich hervor, dass Eduard die Stadt, seine Kindheitsstadt fremd
geworden ist. Es gibt nichts, was ihn mit Tuschkau verbinden würde. Auch beim Besuch von
Plätzen, wo er und Miri zusammen gespielt haben, zeigt Eduard keine tiefen Emotionen. Das
Treffen mit Miri ruft zwar in Eduard bestimmte Erinnerungen an den Ort hervor, in dem er
die sorglose Zeit seiner Kindheit verbracht hat, aber für Eduard ist alles, was mit ihm
zusammenhängt, ein geschlossenes Lebenskapitel. Tuschkau bedeutet ihm einen Ort, mit dem
er nichts mehr zu tun haben will, von dem er sich distanzieren und zu dem er nicht
zurückkehren will, was im Text auf folgende Art und Weise geschildert wird: „Eduard war
unsicher […], weil sie seine Erinnerungen an einen Ort brachte, an dem er Verlorenes
begraben hatte und zu dem er nie wieder zurückwollte“.43 Von der Distanziertheit Eduards zur
sudetendeutschen Vergangenheit zeugt auch seine Reaktion an Miris Frage nach der
Vertreibung. An ihre Frage, was mit ihm und seiner Familie während des Krieges passiert ist,
antwortet er „ohne sie anzusehen: War ja nicht so schlimm wie bei dir. Kann mich auch kaum
mehr erinnern“.44 Diese Antwort ist ein Hinweis darauf, dass Eduard die Vertreibung und
alles, was damit zusammenhängt aus seinem Gedächtnis verdrängen will.
Eduard unterscheidet sich von Paul gründlich in Bezug auf seine Einstellung zur Politik. Er
nimmt zwar an Treffen von ANSen teil, aber er ist politisch nicht engagiert. Er definiert sich
selbst als keinen Mitglied dieser Geheimorganisation. Sein Verhältnis zur Politik kommentiert
er folgendermaβen:
Ich habe keine Lust auf Politik. Die ANSen sind plemplem. Ich bin ja kein ANSe,
aber es ist halt Paul.45
Diese skeptische Einstellung Eduards zur Politik hat zu Folge, dass er an der Demonstration
in Prag nicht teilnehmen will. Seine Haltung zu dieser Sache hat seine Quelle auch in der
Vergangenheit. Vor einem Jahr hat er auch an einer Demo in Prag teilgenommen, von der er
erst dann erfahren hat, als er und Paul schon auf der Stelle waren. Das ganze Ereignis endete
glücklich, weil beide nicht verhaftet wurden und am nächsten Tag ruhig ČSSR verlassen
konnten. Dieses Geschehen bleibt aber im Eduards Gedächtnis und verursacht, dass er keine
ähnliche Situation, wie das letzte Jahr, erleben will, indem er sagt: „Diesmal lasse ich mich
42
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: claassen 2007, S. 212.
Ebd., S.210.
44
Ebd., S.217
45
Ebd., S.34.
43
29
nicht wieder in so einen Quatsch reinziehen.“46 Eduard ist eher Realist, der alles nachdenkt,
u.a. auch die Demonstrationsteilnahme in Prag, zu deren Paul ihn auf folgende Art und Weise
zu überreden versucht:
Eduard ich will das ohne dich nicht machen.[…] Wir waren immer gemeinsam an
einer Sache. Wir müssen jetzt unbedingt zusammenhalten. 47
Eduard hat aber die letzte Demo immer noch im Kopf und hat keine Lust, sich der nächsten
Haftgefahr auszusetzen. Für ihn ist auch die Position seiner Mutter zu dieser Sache von
Bedeutung, die sich eindeutig gegen Eduards Teilnahme äuβert. Er sagt dann an einer anderen
Stelle:
Ich weiβ nicht, ob ich da mitmache. Mutter findet’s zu gefährlich. Ich habe genug
vom letzten Jahr. Die kontrollieren mich seitdem. Wenn ich noch mal so was
anstelle, verliere ich meine Arbeit.48
Eduard bewertet die Aktion in Prag anders als Paul, der sie als eine Chance auf das bessere
Leben wahrnimmt. Für Eduard bedeutet sie eine Gefahr, die seine Ruhe stören kann. Er
kommentiert sie folgendermaβen:
Die Idee ist lächerlich[…]. Die werden ins für den Rest unsres Lebens in den Kast
stecken. Paul, du weiβ, dass ich hinter diesem Autonomiequatsch nicht stehe. Ich
fühle mich überhaupt nicht als Sudete. Ich erinnere mich an eine Kindheit in
Tuschkau. Die Stadt hat jetzt einen tschechischen Namen; den kann ich nicht mal
aussprechen! Ich erinnere mich an Tomas und Maria, die wer weiβ wo sind. Das
ist schlimmer für mich, aber das ist vorbei. Der Boden ist mir egal. Ich will die
Tschechen ja nicht in Schutz nehmen. Aber wir sind hier keine Sudeten, wir sind
deutsche Umsiedler. Über uns will niemand reden. Auch drüber nicht. Und die
Tschechen erst recht nicht. Wohnen will ich dort nicht mehr. Mein Zuhause ist
hier, die Leute sind alle hier. Was soll ich dort?49
Aus diesen Worten lässt sich auch ableiten, dass Eduard nach Tuschkau nicht zurückkehren
will, weil er sich in Erfurt wohl fühlt. Er sieht keinen Sinn in seinem Zurückkehr, weil er sich
nicht mehr mit dem damaligen Boden und Land identifizieren kann. Er fühlt sich nicht mehr
als Sudete, sondern definiert sich selbst als einen deutschen Umsiedler, der in Erfurt sein
neues Zuhause gefunden hat.
Trotz Eduards Abneigung gegen den Protest in Prag nimmt er daran unfreiwillig teil. Diese
gezwungene Teilnahme ist als der Wendepunkt in seinem Leben zu sehen. Von diesem
46
Ebd., S.49.
Ebd., S.57
48
Ebd., S.56.
49
Ebd., S.89.
47
30
Moment ändert sich nicht nur relativ geordnetes Leben seiner Familie und Freunde, sondern
auch seine Existenz als Individuum. Die Aufenthalte im Stasi-Gefängnis und dann in der
Klinik, die die Folgen der Demoteilhabe sind, berauben sein ganzes Dasein, das infolge der
staatlich verordneten Amnesie in die Brüche geht. Eduard werden durch die Elektroschocks
nicht nur alle seine Erinnerungen an die schon längst zurückliegende und die jüngste
Vergangenheit entzogen. Die Gehirnwäsche mittels Elektrobehandlungen trägt auch dazu bei,
dass er am Ende seine eigene Identität verliert und nicht mehr weiβ, wer er ist und wie er
heiβt. Eduard erscheint also als das unschuldige Opfer eines skrupellos agierenden
Machtapparates, der alle Widerstandsversuche mit aller Härte und Brutalität niederschlägt.
3.1.2 Paul Händls Denken, Fühlen und Handeln
Paul Händl, Eduards Freund aus Kindertagen, ist zwar keine Hauptfigur des Romans, nimmt
aber viel Platz und bildet einen interessanten Protagonisten, einen Gegensatzcharakter zu
Eduard. Der Grundunterschied zwischen den beiden zeigt sich in Pauls Verhältnis zur Politik
und zum Heimatverlust. Er wird als ein aufbrausender sudetendeutscher Aktivist dargestellt,
der sich selbst folgendes definiert: „Paul Händl, ich bin der Kapitän der Sudeten“.50 Paul hat
sich mit seinem Vertriebenenstatus nicht abgefunden und auch damit, dass er in einem
fremden Land leben muss und kein eigenes haben kann:
Wir sind Sudeten. Ein eigenes Stück Land haben wir hier auch nicht gekriegt. Wir
müssen zwischen allen anderen leben, als hätten wir den Krieg mehr verloren. Auf
diesen ganzen Zentralismus hier hab ich keine Lust! […] Ich finde mich damit
nicht ab; das stinkt mir.51
Die Vertreibung und damit verbundene schlechte Erinnerungen und Erfahrungen üben also
Einfluss auf sein Handeln im Erwachsenleben aus. Seine Vergangenheit wirkt dergestalt, dass
Paul sich politisch engagiert und Anführer der ANSen, des lokalen Geheimbündchen ist, das
um die Rechte der Sudetendeutschen kämpft. Dieser Kampf wird zu Sinn seines Lebens, der
er nicht nur als Rechtkampf sieht, sondern auch als Kampf um die historische Gerechtigkeit
versteht. Seine Ziele d.h. die Autonomie für das Sudetenland in der Verfassung und seine
territoriale Unabhängigkeit will er durch die Demonstration in Prag erreichen. Seine Pläne
kommentiert er folgendes:
50
51
Ebd., S.65.
Ebd., S.30.
31
Mit der Demonstration in März kommen wir aus der Defensive. Diese
Kundgebung erweckt uns wieder zum Leben. Und die neue Verfassung gibt uns
doch recht! […] Wir müssen endlich raus aus diesem Einheitsbrei!52
Paul ist von seinen Ideen so begeistert, dass er alle, u.a. auch Eduard zu überzeugen versucht,
dass die Aktion in Prag keine Gefahr mit sich bringt, in dem er sagt: „Es sei nur eine
friedliche Demonstration, kein Attentat, keine Spionage. Man werde alles anmelden“. 53 An
einer anderen Stelle nimmt er auch Bezug auf den geplanten Protest in sowjetisch besetzten
Prag, den er erklärt wie folgt:
Keine Sorge. Das wird ein sicheres Ding. Eine Demonstration ist doch keine
Spionage. Auβerdem wird es international, da können die nicht einfach alle
einsperren. Das wird bis ins Kleinste geplant, wirst sehen.54
Sein Ehrgeiz, sein Wille, etwas zu verändern und seine groβen Pläne verhüllen Paul völlig die
Realität, d.h. die Tatsache, dass er eine Demonstration im totalitär regierten Land organisiert,
die bedeutenden Folgen nach sich ziehen kann. Er ist von seinen Ideen so verblendet, dass er
keine Gefahr bemerkt und ohne Rücksicht darauf, seinen Plan ausführen will. Er entscheidet
sogar, seinen besten Freund, Eduard mit Hilfe von Intrige in eigene Absichten zu verwickeln,
obwohl sich Eduard eindeutig dagegen äuβert. Der Protest, der eine Chance für die Sudeten
sein sollte, zeigte sich eine schlecht geplante Aktion, die sich für ihn und viele andere tragisch
endet. Paul landet im Stasi-Gefängnis in Erfurt, wo er zusammen mit Eduard in einer Zelle
sitzt. Trotz der Haft verliert er seine Begeisterung nicht und ist immer noch von der
Richtigkeit seines Handeln überzeugt, indem er sagt: „Mir tut nichts leid, Mensch! Es geht
eben nicht immer so glatt, aber wir müssen für unsere Rechte kämpfen“.55 Diese Worte
zeugen davon, dass das psychische Leid und die Beschränkung des Raumes seine Einstellung
zum eigenen Vorgehen nicht verändern. Paul fühlt sich nicht daran schuldig, dass Eduard
auch verhaftet wurde. Er zeigt keine Schuldgefühle, obwohl er gut weiβ, dass das seine
Schuld ist, dass Eduard die Konsequenzen der Demonstration tragen muss, an der er
überhaupt nicht teilnehmen will.
Der Wendepunkt in Pauls Leben bildet der Brief vom Vater - Stasioffizier, in dem er sich von
seinem eigenen Sohn lossagt. Seine Entscheidung wird so erklärt, dass er seine Stellung nicht
risikieren kann, was durch den Kontakt zu Paul passieren kann. Dieses Schreiben zeigt, wie
52
Ebd., S.167.
Ebd., S.154
54
Ebd., S.57-58.
55
Ebd., S.265.
53
32
weit das totalitäre System ins Leben der einfachen Menschen eingreift und die
zwischenmenschliche Beziehungen zerstört. Dieser Brief ist auch so weit wichtig, dass er
Paul zum Selbstmord anstiftet – er erhängt sich in seiner Zelle.
Paul Händl scheint Idealist und zugleich eine tragische Figur zu sein, deren eigene groβe
Ideen zum Selbstmord führen. Er ist ein Gegensatz zu Eduard in dem Sinne, dass er sich nicht
instrumentalisieren lässt, sondern aktiv ist und starke Stimme gegen das Regime darstellt, die
eigene Meinung offen äuβert und die mutigen Ansprüche stellt. Er hat genug Mut, um die
Freiheit seiner Mitmenschen zu kämpfen, wodurch er ins Visier der Staatsicherheit gerät und
zum Opfer der groβen Staatsmaschine wird, mit der er nicht imstande ist, erfolgreich zu
kämpfen. Paul wird als groβe Individualität geschildert, die aber keine Chance hat, mit einer
so gut organisierten Macht zu gewinnen. Seine Tragik folgt also aus dem Aufeinandertreffen
von naivem Streben nach einem bisschen Freiheit und dem maschinellen Regelwerk des
sozialistischen Apparates. Seine Einstellung zum Leben, unbequem zu sein, lässt sich
hervorragend durch seine eigenen Worte zusammenfassen: „Wir müssen der Wind sein, nicht
die Gardinen!“56
3.1.3 Figuren und ihr soziales Umfeld
Braslavsky erzählt in ihrem Roman ein Stück deutscher Geschichte nach dem Kriegsende. Als
Träger dieser Geschichte gilt eine kleine Gruppe, eine kleine Gemeinde vertriebener
Sudetendeutschen, die in Erfurt leben. Alle werden aus ihrer Heimat – Egerland nach
Kriegsende vertrieben, wodurch sie über die gemeinsamen Erinnerungen an das Damals
miteinander verbunden sind. Jetzt versuchen sie ihr Leben neu aufzubauen, was nicht einfach
nicht zuletzt deswegen ist, dass sie nach Nazi – Regime nun dem DDR – Regime trotzen
müssen. Diese Gemeinde stellt eine dynamische Gruppe von Menschen dar, die sich aktiv mit
ihrem Schicksal auseinandersetzt. Als Zeichen ihrer Aktivität gilt das landmannschaftliche
Geheimbündchen – ANSen, das von einem Erfurter Studentenkeller aus operiert wird. Sein
Ziel ist es die Welt auf die Forderung nach Autonomie und Rechte durch eine Demonstration
in Prag aufmerksam zu machen. Die Aktion endet aber ohne Erfolg und es gelingt nicht, die
Situation der Vertriebenen zu verändern. Die geschilderte Gemeinde der Sudetendeutschen
pflegt die eigene Sprache, um die Identität zu bewahren. In Bezug auf die Sprache schafft
Braslavsky einen Dialekt, der ganz spezifische Merkmale aufzeigt. Es ist zwar deutsche
Sprache, aber er unterscheidet sich von dieser z.B. durch andere Buchstaben, z.B. das Wort
56
Ebd., S.167.
33
„nix“ steht für „nichts“ oder „des“ für „das“ oder „net“ für „nicht“.57 Im Roman kommen
auch die Wörter mit a-Umlaut statt mit „e“ vor, z.B. „värträtän“ statt „vertreten“.58
Die Pflege um die Identität spiegelt sich auch in traditionellem Essen, wie Sauerbraten,
Apfelstrudel oder Knödel wider. Beides: Sprache und Essen gelten als Symbole für das
Vergangene, das Damals vor der Vertreibung. Durch die Bewahrung dieser Kulturelemente
schützt diese kleine Gemeinde ihre Herkunft, Vergangenheit und Zugehörigkeit und erfüllt
die Rolle des Gedächtnismedium. Dadurch, dass sie sich davon nicht zurückzieht, sind ihre
Heimatgefühle lebendig, was nicht zuletzt zu Folge hat, dass die jüngeren für die Heimat
kämpfen. Das Verhältnis zur Vergangenheit des älteren Gemeindeteils beeinflusst das
Handeln der jüngeren Generation, die durch die Aufrechterhaltung der Kulturelemente
bestimmte Anhaltspunkte an die verlorene Heimat erhält und weiβ, worum sie kämpft.
3.2 Erzählinstanz
3.2.1 Erzählung von Ereignissen
3.2.1.1 Motivierung von Ereignissen in narratologischer Sicht
Ereignis oder Motiv wird nach Scheffel/Martinez als ein erzähltheoretischer Terminus erfasst,
der die kleinste, elementare Einheit der Handlung darstellt. Der Begriff wurde vom russischen
Formalisten, Boris Tomaševskij geprägt. Er bezog ihn auf die globale, Makrostruktur der
Handlung. Lotman, der den Begriff übernommen hat, versteht Ereignis als „die nicht mehr
weiter unterteilbare Einheit des thematischen Materials eines Erzähltextes“.59 Motive, die in
narrativen Texten vorkommen, lassen sich gruppieren. Man unterscheidet zwischen den
dynamischen Motiven, die die Situation im jeweiligen Text verändern und den statischen
Motiven.
Zu den dynamischen Motiven gehören:
-
Geschehnisse – dabei handelt es sich um nicht absichtliche Zustandsveränderung60.
-
Handlungen – sie verbinden sich mit bestimmter Dynamik, Situationsveränderung,
deren Quelle das Handeln „menschlicher oder anthropomorpher Agenten“61 bildet.
Die statischen Motive unterteilt man in:
57
Vgl.ebd.,
Ebd., S.163.
59
Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt. In: Martinez, Matias/Scheffel,
Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S.108-134 (hier S.108).
60
Vgl.ebd., S.109.
61
Ebd., S.109.
58
34
-
Zustände – sie umfassen die Informationen, die keinen Einfluss auf die Handlung
ausüben.
-
Eigenschaften, die sich auf das Aussehen der Figuren beziehen.
Motive lassen sich auch in Abhängigkeit davon einteilen, „ob sie für den Fortgang der
Haupthandlung unmittelbar kausal notwendig sind.“62 Demzufolge unterscheidet man:
-
verknüpfte Motive, d.h. solche, die für den weiteren Verlauf der Handlung relevant
sind und
-
freie Motive, die ohne Bedeutung für den Fortgang der Texthandlung sind.
Die einzelnen Ereignisse sind in die Gesamtstruktur eingebunden. Sie bilden ein Geschehen,
wenn sie aufeinander in chronologischer Reihenfolge folgen. Von Geschichte können wir
aber erst dann sprechen, wenn die Ereignisse nicht nur auf- sondern auch auseinander folgen,
d.h. in chronologischer und kausaler Hinsicht verknüpft werden, wobei darauf aufmerksam
gemacht werden muss, dass in fiktionalen Texten zur Durchbrechung chronologischer
Abfolge durch Anachronien kommen kann. Hinsichtlich der Geschichte kommt also auch den
Faktor der Kausalität hinzu. In Bezug auf das Geschehen und die Geschichte muss auch auf
die Motivierung der Ereignisse hingewiesen werden. Darunter versteht man den Inbegriff der
Beweggründe für das Geschehen, das in einem erzählenden oder dramatischen Text
dargestellt wird.63 Die Motivierung ist so weit wichtig, dass nur ein solches Geschehen zur
Geschichte sein kann, in dem die Veränderungen motiviert sind. Die Ereignisse in fiktionalen
Texten sind also nicht grundlos, sondern folgen auseinander nach bestimmten Regeln und
Gesetzen, weil sie durch die Motivierung in einen Erklärungszusammenhang integriert
werden.64 Die Motivierung integriert also das im narrativen Text dargestellte Geschehen zum
sinnhaften Zusammenhang einer Geschichte.65
Hinsichtlich der Motivierung unterscheidet man drei Arten von narrativer Motivierung:
-
empirisch-kausale
-
final-numinose
-
kompositorisch-ästhetische
Die empirisch-kausale Motivierung beruht auf der Ursache – Wirkung, Ursache – Folge –
Relation. Dazu gehören: Figurenhandlungen, Geschehnisse, Gemenlagen sich überkreuzender
62
63
Ebd., S.109.
Vgl.ebd., S.110.
Vgl.ebd., S.110.
65
Vgl.ebd., S.111.
64
35
Handlungen, nicht intentionales Geschehen und Zufälle.66 Diese Motivierung bezieht sich auf
das Prinzip der Kausalität, d.h. ein Ereignis ist auf das andere zurückzuführen.
Die final-numinose Motivierung liegt dann vor, wenn der Handlungsverlauf von Anfang an
festgelegt ist und von einer numinosen, fremden, übernatürlichen Instanz beherrscht wird. Als
Beispiel kann die biblische Geschichte von Adams und Evas Vertreibung aus dem Paradies
gelten. Evas Pflücken der verbotenen Frucht wird ihr vom Teufel eingeflüstert. Der Teufel
möchte die Oberhand gewinnen und Gottes Pläne durchkreuzen. Angesichts göttlicher
Allmacht ist aber sein Handlungshorizont nur scheinbar offen. Seine Macht ist nur Werkzeug
göttlicher Vorsehung. Alles ist einer finalen Bestimmung untergeordnet.67
Die kompositorisch-ästhetische Motivierung betrifft ganz andere Dimension narrativer Texte,
indem sie nicht empirischen, sondern künstlerischen Kriterien folgt. Die kompositorische
Motivation erfüllt also eine künstlerische Funktion und ist für die Gesamtstruktur des Textes
von Bedeutung. Dabei sind sowohl verknüpfte, als auch freie Motive kompositorisch
motivierbar. Bei den freien Motiven besteht eine semantische Relation zwischen dem
einzelnen Motiv und der Gesamtheit der Handlung. Diese können entweder metaphorisch
oder metonymisch gebraucht werden. Metaphorische Verwendung nimmt Bezug auf die
Ähnlichkeit, d.h. etwas steht für etwas Anderes. Metonymische Verwendung eines Motivs
betrifft hingegen räumliche, zeitliche oder kausale Nähe.
Die Motivierungsfrage ist ein wichtiger Aspekt, den man in Betracht ziehen soll, wenn man
narrative Texte analysiert. Als Deuter soll man sich fragen, welche von möglichen
Motivierungsarten vorliegt. Diese Frage ist in so weit wichtig, dass man dann anders auf den
Text schaut.
3.2.1.2 Motivationale Verkettung von Ereignissen in Braslavskys Roman
Im Roman Aus dem Sinn von Emma Braslavsky lassen sich fünf Motive heraussondern, die
die Gesamthandlung des Buches bilden. Das sind folgende Ereignisse:
66
67
-
Vertreibung
-
Demonstration in Prag
-
Aufenthalt im Stasi – Gefängnis
-
Elektrobehandlungen in der Klinik
-
Gedächtnisschwund
Vgl.ebd., S.111.
Vgl.ebd., S.111-112.
36
Die genannten Motive können als dynamische und verknüpfte Ereignisse erfasst werden. Alle
fünf sind von groβer Bedeutung für den Verlauf der ganzen Geschichte und sie verändern
völlig die Lebenssituation der dargestellten Figuren. Die erwähnten Motive stehen in der
Ursache-Folge-Relation, von daher spricht man in diesem Fall von kausaler Motivierung der
Ereignisse.
Als das erste und zugleich das wichtigste und entscheidende Ereignis des Romans scheint die
Vertreibung zu sein. Sie ist insoweit relevant, weil sie der Grund der allen nächsten Motive
ist. Die Vertreibung betrifft eine Gruppe von Menschen, die 1944 aus ihrer Heimat vertrieben
wurden. Mit dem Heimatverlust haben sie ihr soziales Umfeld, ihre Unabhängigkeit
aufgegeben, einen Bezug zu ihrem Ort verloren, mit dem sie das ganze Leben lang verbunden
waren. Die Vertreibung bedeutet für sie ein gewaltsames Herausreiβen aus bekannter
Umgebung, infolge dessen ihre soziale Gemeinschaft auf einmal aufgehört hat, zu existieren.
Die unmittelbare Folge dieses Verlustzustands, des Lebens im fremden Land unter fremden
Menschen ist die Demonstration in Prag. Sie soll als Schrei der Vertriebenen um Freiheit,
Gerechtigkeit, Unabhängigkeit und Rechte einer Menschengruppe gesehen werden, die genug
Mut hat, um eigenes Glück zu kämpfen. Diese Aktion zeigt auch eine bestimmte Haltung des
Individuums einer Macht gegenüber, die sich ohne Rücksicht auf die Konsequenzen einem
totalitären System widersetzt. Damit wird die Figur von Paul Händl gemeint, der die Demo
mit groβem Vertrauen auf die Veränderung der Vertriebenenlage organisiert. Der Protest in
Prag ist also einerseits Folge der Vertreibung, andererseits aber die Ursache der Haft und des
Aufenthalts im Stasi-Gefängnis einiger Romanfiguren. Einige Demoteilnehmer werden als
Feinde der Republik verhaftet wie z.B. Eduard und Paul, die ihre Teilnahme an Prager Aktion
im Gefängnis in Erfurt abbüβen. Für den ersten ist das die erste Etappe seiner Strafe. Hier
verbindet sie sich mit der Raumbeschränkung und damit auch mit der Isolation von der
Auβenwelt und Familie. Für Paul ist das Gefängnis ein Ort, an dem er sein junges Leben
endet, indem er Selbstmord begeht. Das weitere Ereignis ergibt sich teilweise aus dem Wille
der Hauptfigur, die volle Verantwortung zu vermeiden. Statt im Gefängnis zu bleiben, erklärt
er sich für verrückt und landet in der Klinik, wo er mit Elektroschocks behandelt wird. Der
Aufenthalt dort, der als leichtere Form der Strafe sein sollte, zeigt sich das dunkelste Kapitel
im Eduards Leben. Er gilt auch als das nächst nach der Demo Wendepunkt in seiner Existenz.
Die Therapie mit Elektroschocks nimmt ihm alle seine Erinnerungen weg, seine Identität weg,
wodurch er seine Heimat und sich selbst vergisst. Damit hängt also das letzte genannte
Ereignis – der Gedächtnisschwund zusammen, der die Situation der Hauptfigur und ihrer
Nächsten völlig ändert. Eduards Amnesie soll als die Folge des Handelns einer totalitären
37
Macht gesehen werden, die ohne Skrupel das Leben eines Individuums zerstört. Die
Motivation eines solchen Vorgehens ist einfach zu erfassen – an der ersten Stelle steht das
System und die damit verbundenen Ideen, die man rücksichtslos schützen will.
3.2.2 Erzählung von Worten
Eduard Meiβerl, die Hauptfigur des Romans erinnert sich als 30-jähriger Mann an seine
Kindheit, indem er seine Erinnerungen niedereschreibt. „Seine persönlichen Kommentare zu
den beobachteten und wahrgenommenen Begebenheiten“68 werden im Text kursiv markiert.
Die Erinnerungen, die schriftlich festgehalten werden, „setzen am Donnerstag, dem
16.10.1969 ein“69 und gehen in das Jahr 1944 zurück. Jede schriftliche Erinnerung wird mit
dem genauen Datum und Wochentag notiert. Die letze Notiz wird am Dienstag, dem
4.11.1969 angefertigt und nimmt Bezug auf das Geschehen im Jahre 1946, auf die
Vertreibung Eduards und seiner Familie aus ihrer Heimat – Egerland.
Eduard gilt hier als homodiegetischer Erzähler, denn er ist Teil der Diegese, d.h. der erzählten
Welt, ist eine von Figuren und schildert einige Ereignisse seines Lebens. Er erzählt aus der
Perspektive des viereinhalbjährigen Kindes von seinen Eltern, seiner Umgebung, seinem
Leben in Egerland, das brutal durch die Vertreibung unterbrochen wird.
Eduards Notizen sind nicht nur Erinnerungen eines jungen Mannes an seine Kindheit, sondern
sie konstruieren ein Lebensbild im totalitär regierten Land. Zu dieser Landschaft gehört u.a.
die Tatsache des Versteckens von Miri, eines jüdischen Mädchens. Eduards Eltern tun das,
obwohl das verboten und von daher sehr gefährlich ist. Das Handeln des Staatsapparates zeigt
sich dadurch, dass Miri und ihr Vater sofort von SS abtransportiert werden, wenn die Macht
davon erfährt. Bemerkenswert ist auch das Verhalten Eduards Familie vor dem Besuch
Händls, der für den Staat arbeitet. Ella versteckt das Kreuz unter der Matratze, Estor „trägt die
Uniform wie einen Schutzanzug“.70 Es wird auch bestimmt, welche Themen beim Besuch
nicht angesprochen werden dürfen: Gott, Miri und ihr Vater und Geheimgänge durch die
Innenhöfe. Eduard erinnert sich an Mutters Worte, die erklären, warum Miri sich vor allen
verstecken muss: „Du hast es gut. Du bist blond und blauäugig. Miri hat schwarzes Haar und
Zimniak, Paweł: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip
in Emma Braslavskys Aus dem Sinn (2007) (Manuskript)
69
Ebd,.
70
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: claassen 2007, S.183.
68
38
grüne Augen. Das ist schon ein Verbrechen hier[…].“71 Dieses Zitat zeugt deutlich von der
Rassenideologie des Dritten Reichs mit ihrer Präferenz für die Blonden und Blauäugigen.
Zu den Pflichten der Menschen, die in diesem totalitären System leben, gehört auch das
Teilnehmen an Kundgebung von Henlein, die nur für die Männer zugänglich ist.
Charakteristisch ist, dass die Väter ihre Söhne mitnehmen müssen. Das kann davon zeugen,
das man versucht auch die jüngere Generation irgendwie zu instrumentalisieren und im Geiste
dieser Staatsform so früh wie möglich zu erziehen. Die Handlungen des Staatsapparates
beziehen sich nicht nur auf die Menschen, sondern auch auf die Gebäude. Eduard erwähnt in
seinen schriftlichen Erinnerungen die Synagoge, die jetzt als Lager der Wehrmacht dient, wo
Uniformen, Fahnen und Plakate gelagert werden. Dieser Sachverhalt bestätigt nur die
fehlende Achtung der Religion und den Kultorten gegenüber. Noch ein von Eduard
beschriebenes Ereignis ist ein Beweis dafür, wie weit der Staat um eigene Position „sorgt“.
Dabei handelt es sich um die Situation mit der Aufnahmewerkstatt, von dem Händl zufällig
erfährt. Er als Vertreter des Staates kommentiert das Ganze folgendes:
Es gibt keine solche [d.h. ungewöhnliche – M.M] Werkstatt.[…] Die Gauleitung
muss es wissen. Auch wenn nur Platten mit Instrumentalmusik hergestellt werden.
Das ist ein Kapitalverbrechen[…].72
Danach wird sofort die Aufnahmewerkstatt von Händl und SS-Leute gestürmt und zwanzig
Leute werden verhaftet und abtransportiert. Das zeigt deutlich, dass die Macht alle
Widerstandsversuche bekämpft, um die Staatsordnung zu schützen. Ihr Verdacht erregt sogar
solche normalen Handlungen der Menschen wie Musikaufnahme, die aber nach ihrer Position
gegen den Staat gerichtet sein und seine Sicherheit bedrohen können.
Die letzte Notiz Eduards beinhaltet seine schlimmsten Erlebnisse und Erinnerungen an
Vertreibung, Verlassen von Tuschkau. Vor dem eigentlichen Ereignis berichtet er aber über
seinen Vater, der neun Monate im Gefängnis sitzt, sechzehn Stunden pro Tag in einer Fabrik
arbeiten muss und verhungert wird. Estor darf auch nicht besucht werden und seine Familie
weiβ nicht, ob er überhaupt noch am Leben ist. Dadurch kommt wieder zum Ausdruck, wie
der totalitäre Staat mit seinen Bürgern umgeht und sie behandelt. Die Vertreibung selbst ist
für Eduards Familie eine persönliche Tragödie. Sie müssen fast alles verlassen und in einen
fremden Ort gehen, ohne Sicherheit, dass es dort besser wird. Eduard beschreibt genau wie
viel Kleidung sie nehmen, wie sie Geld verstecken und wie es ihnen weggenommen wird.
Anderseits sind Eduards Eltern sich dessen bewusst, dass das Verlassen Tuschkaus das
71
72
Ebd,. S.184.
Ebd,. S.223.
39
einzige ist, was sie tun können: „Wir müssen nach vorn schauen, nicht zurück“,73 sagt der
Vater. Nach Eduard Frage nach dem Zuhause antwortet er:
Zu Hause ist da, wo die meisten Erinnerungen sind. Die sind im Kopf. Die Zeit
bringt uns neue Erinnerungen. Wir können auch hier zu Hause sein.74
Seine Hoffnungen erfüllen sich leider nicht ganz. Die Vergangenheit seiner Familie prägt ihr
Leben in Erfurt sehr stark. Diese Stadt ist kein Zuhause geworden. Ihre Erinnerungen gehen
auf Tuschkau zurück, was die Notizen Eduards am besten zeigen.
3.3 Raumentwurf
3.3.1 Semantisierung von Räumen in narrativen Texten
Nach der Position von Jurij M. Lotman soll bei der Auseinandersetzung mit den fiktionalen
Texten die räumliche Kulisse berücksichtigt werden. Die räumliche Ordnung ist von zentralen
Bedeutung für die Bedeutungskonstruierung narrativer Texte, weil den bestimmten Räumen
die Bedeutungen zugewiesen werden, d.h. die Räume werden semantisiert.75 Der Raum, so
wie die Zeit, gehört zu den zentralen Bestandteilen der fiktionalen Wirklichkeitsdarstellung.
Von daher erfüllt er eine bestimmte Funktion in den narrativen Texten. In Bezug auf die
Funktionalisierung von Räumen unterscheidet man:
-
Raum als gestimmter Raum, der mit bestimmten Emotionen, Stimmungen,
Atmosphäre in Verbindung steht.
-
Raum als Aktionsraum, d.h. der dargestellte Raum ist der Schauplatz der Handlung
und setzt die Bedingungsrahmen für die Handlungen der Figuren.
-
Raum als Anschauungsraum, mit dem sich die Figuren restlos identifizieren oder dem
gegenüber sie Distanz manifestieren. Dabei handelt es sich also um die Einstellung
zum geschilderten Raum.
Narrative Texte sind nach dem Verständnis von Lotman erst dann als sujethaft, d.h.
ereignishaft zu erfassen, wenn sie drei Bedingungen erfüllen:
-
Die erzählte Welt muss zwei komplementäre, d.h. sich ergänzende Teilräume
beinhalten.
73
Ebd,. S.327.
Ebd,. S.332.
75
Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Die Bedeutung von Erzählungen: Handlungs- und Tiefenstrukturen..
In: Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S.134-144
(hier S.143).
74
40
-
Zwischen den Teilräumen/Untermengen muss es eine Grenze geben, die einen
klassifikatorischen Charakter hat, d.h.
sie ist unter normalen Umständen
undurchlässig, impermeabel. Sie kann aber vom Helden überschritten werden.
-
Es muss einen Helden geben, der die Handlung trägt und der die Grenzüberschreitung
vollzieht, der die Grenze überschreitet.
Die Existenz einer klassifikatorischen Grenze ist so weit wichtig, dass sie dem Erzähltext „das
Potential für eine narrative Dynamik verleiht, die durch das Überschreiten der Grenze
entfaltet wird.“76 In Abhängigkeit von der Grenzüberschreitung unterscheidet man zwischen:
-
revolutionären Texten, d.h. solchen, in denen die Grenzüberschreitung vollzogen wird
-
restitutiven Texten: hier gibt es zwei Möglichkeiten: entweder wird die Grenzüberschreitung versucht, aber sie scheitert oder sie wird vollzogen, aber wird
rückgängig gemacht.
Die komplementären Teilräume der erzählten Welt stehen in einem Gegensatz zueinander.
Dieser Gegensatz entfaltet sich nach der Position von Lotman auf drei Ebenen:
-
topologisch, d.h. der Raum ist durch Oppositionen, wie: hoch – tief, oben – unten,
innen – auβen, links – rechts differenziert.
-
semantisch, d.h. wertend. Diese Ebene steht im Zusammenhang mit solchen
Wertungen, wie gut – böse, vertraut – fremd, natürlich – künstlich, ländlich –
städtisch, statisch – dynamisch. Mit Hilfe dieser Dimension werden den Räumen
bestimmte Eigenschaften zugeschrieben.
-
topographisch – topographische Oppositionen konkretisieren die dargestellte Welt,
wie z. B. Stadt – Land, Berg – Tal, Himmel – Hölle.77
Die räumliche Ordnung ist nach Lotman für die Gestaltung narrativer Texte von groβer
Bedeutung, weil „jede kulturelle Ordnung der Welt topologisch strukturiert ist.“78 Nach seiner
Position ist die Kategorie des Raumes nicht nur im Bereich der Literatur, sondern auch in
Bezug auf soziale, religiöse, politische und moralische Modelle wichtig. Sie ist nicht zuletzt
deswegen relevant, dass man mit Hilfe dieser Modelle das ihn umgebende Leben begreift.
3.3.2 Räumliche Ordnung in Emma Braslavskys Aus dem Sinn
Die Handlung Aus dem Sinn spielt sich in Erfurt zur Zeit der DDR, in dem eine Gruppe
vertriebener Sudetendeutschen lebt. Diese deutsche Stadt ist einerseits ein Aktionsraum, denn
76
Ebd., S.140.
Vgl.ebd., S.140-141.
78
Ebd., S.143.
77
41
sie ist der Schauplatz der Handlung, wobei betont werden muss, dass Erfurt nicht der einzige
Schauplatz ist. Die räumliche Kulisse bildet auch Tuschkau, eine Stadt in Egerland, aus der
die Protagonisten vertrieben wurden und mit der sie viele Erinnerungen verbinden. Erfurt ist
aber auch ein gestimmter Raum, in dem Sinne, dass das Leben in dieser Stadt nicht unbedingt
positive Gefühle hervorruft. Es weckt eher Ärger, Trauer, Gefühl der Ungerechtigkeit und
Wille, nach der Heimat zurückzuführen. Erfurt kann man auch als Anschauungsraum
definieren, wobei aber sich die Einstellungen zu diesem Ort unter den Figuren unterschiedlich
darstellen. Im Roman kommen die Figuren vor, die sich vielleicht mit Erfurt nicht
identifizieren, aber sich mindestens mit dem Leben hier abgefunden haben, wie z.B. Eduard.
Es gibt aber auch Protagonisten, die sich von ihrer neuen Heimat stark distanzieren, wie Ella,
Eduards Mutter, die nach Tuschkau zurückkehren will. Das Leben der Figuren schwebt also
zwischen dem vertrauten Ort, d.h. der Heimat, die jetzt in ihrer Erinnerungen auftaucht und
der Fremde, in der sie gezwungen sind, zu leben. Im Roman werden zwei spezifische Räume
geschildert, die einen bestimmten Einfluss auf das Verhalten und das ganze Leben der
Figuren ausübt. Damit werden das Stasi-Gefängnis und die Klinik gemeint, wo sich Eduard
und Paul nach der Demonstration in Prag befinden und ihre Strafe verbüβen.
Das Gefängnis stellt einen spezifischen Raum dar, der das Leben die sich dort befindenden
Menschen reglementiert und den Lebensrhythmus bestimmt. Dieser Raum hängt mit dem
Zustand des Abgeschnittenseins von der Auβenwelt, verschiedener Reize und anderer
Menschen zusammen. Die fehlende Freiheit, das Eingesperrtsein, keine Möglichkeit einer Tat
oder Entscheidung sind typische Merkmale dieses Raumes. Eduard und Paul verbringen
zusammen sieben Tage im Stasi – Gefängnis. Diese ganze Zeit sind sie nur auf sich selbst
angewiesen, denn sie dürfen keinen sehen, auch den Anwalt. Der Aufenthalt im Gefängnis
bedeutet also für beide die Isolation von der Familie und der Auβenwelt. Die einzige
Möglichkeit am Anfang den Kontakt zur Welt auβer Gefängnis zu haben, ist das Fenstergitter,
an dem Eduard lange Stunden verbringt. Ihr Leben bestimmen die Mahlzeiten, die sie um
feste Uhrzeiten bekommen. Zu diesem Raum gehören auch bestimmte Gerüche, wie z.B.
Klogestank, an dem sie sich mit der Zeit gewöhnt haben, aber auch Mangel an Geräuschen,
wodurch das Gefängnis als „ein Geisterhaus“79 genannt wird. Die Zelle selbst ist ihnen auch
gut bekannt, sie bemerken solche Details, wie Risse an der Decke, den sie auf dem Bett
liegend mit der Sehkraft folgen. Die Zellelandschaft bildet auch einen groβen Haken für das
Kabel, an dem die Glühbirne hängt. Dieses Ding ist deswegen wichtig, dass es Paul
79
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: claassen 2007, S.266.
42
ermöglicht, Selbstmord zu begehen. Von daher kann der Haken als ein verknüpftes Motiv
gelten, das metonymisch motiviert ist.
Bemerkenswert sind die Reaktionen der beiden Figuren auf diese Situation und auf den
Aufenthalt selbst. Eduard erträgt seine Lage ungewöhnlich ruhig, ohne starken Gefühle,
obwohl er vor allem geärgert sein sollte. Er wartet auf nichts, macht sich keine groβen
Hoffnungen, schnell das Gefängnis zu verlassen. Er findet sich mit diesem Zustand ab und
macht daraus keine Tragödie. Sein Verhältnis zu diesem Raum definieren folgende
Textstellen: „Eduard fühlte, dass er hier wieder zu sich kommen würde“. 80 „Eduard[…] freute
sich nur über das warme Licht der Glühbirne im Raum und darüber, dass es diesmal
Aprikosenmarmelade war […]“.81 Das Leben im Gefängnis vergeht Eduard deswegen relativ
schnell und „unangenehm“, weil er sich eine Beschäftigung ausdenkt, nämlich er zählt die
Zeit. Dazu entwickelt er sogar ein System, wie man ihn messen kann: „Akribisch markiert er
sich jede Viertelstunde mit einer Deckenfranse, indem er sie von den anderen Fransen
separierte. Für volle Stunden nahm er zwei zusammen.“82 Die Zeit fasziniert ihn schon seit
langem und jetzt füllt sie sein Leben und erleichtert diese schwierige Situation zu ertragen.
Auβer der Uhrschläge beschäftigen ihn die Erinnerungen an Anna und seine Mutter, deren
Bilder er ständig ins Gedächtnis zurückruft. Mit der Zeit wird Eduard das Leben im
Gefängnis zur Routine, was im Roman folgendes kommentiert wird:
Eduard vollzog den Tag in Routine, aβ mit Appetit, zählte voran, beobachtete das
Licht bis zum letzten Moment. Glühbirne an, dachte an Anna, an seine Mutter, an
ihre Worte, an seinen Vater, an seien Worte damals, als sie hierherkamen.
Seine Ruhe zerstört den Pauls Selbstmord, den er am siebten Tag ihres Aufenthaltes im
Gefängnis erhängt am groβen Haken findet.
Paul reagiert auf den Aufenthalt im Gefängnis ganz anders. Dieser Unterschied ergibt sich aus
seinem aufrührerischen Charakter, der ihm nicht erlaubt, sich mit der Situation abzufinden.
Am Anfang erlebt er sie still, spricht mit Eduard nicht wegen des Abhörenverdachts, sagt
auch kein Wort über die verlorene Demonstration. Er analysiert die Ereignisse, die ihm zu
diesem Ort gebracht haben. Die Stille, die im Gefängnis herrscht und keine Möglichkeit etwas
Sinnvolles zu tun, ärgern ihn. Die schwierige Lage schwächt seine Begeisterung nicht ab und
auch hier fordert er laut seine Rechte:
80
Ebd., S.262.
Ebd., S.263.
82
Ebd., S.261.
81
43
Er legte sich wieder hin und sagte nach einer Weile laut in den Raum: Ich will
einen Anwalt! Ich will meinen Vater sehen. Ich will baden. Ich habe auch Rechte.
Das hier ist menschenunwürdig.83
Aus diesem Zitat geht auch seine Einstellung zum Gefängnis hervor, das er als Ort betrachtet,
in dem Menschen unwürdig behandelt werden und wo ihre Rechte gebrochen werden. Im
Gegensatz zu Eduard ist Paul sicher, dass sie bald das Gefängnis verlassen. Paul ärgert nicht
nur die ganze Situation, sondern auch das Verhalten von Eduard – seine Ruhe und
Befriedigung bezüglich des Essens, was er folgendermaβen kommentiert: „Du hast wirklich
deinen Verstand verloren. Das hier macht dir wohl noch Spaβ, Mensch!.“84 Er verspottet
Eduard, sein Uhrschlägezählen und seine Schwäche, indem er sagt:
Eduard taugt auch nichts. Freut sich über ein Brot mit Butter. Rechnet und zählt
den ganzen Tag, so ein Idiot! Er ist schwach; dafür kann er ja nichts. Deshalb
muss ich stark bleiben.85
Bemerkenswert ist auch, dass das Gefängnis Pauls Verhältnis zur Demonstration und ihrer
Folgen nicht ändert. Er bewertet sein Vorgehen als richtig und sieht keine Notwendigkeit,
sich zu entschuldigen und die Verantwortung für das Scheitern der Aktion zu übernehmen.
Den Wendepunkt seines Aufenthaltes im Gefängnis bildet der Brief von seinem Vater, der in
Paul zum ersten Mal starke Gefühle weckt, die er auch vor Eduard nicht verbergen kann.
Während der Brieflektüre sinkt er zusammen und auf den Knien liest ihn mehrmals. Das
Schreiben ist für Paul in so weit wichtig, dass er ihm zwei schlechte Nachrichten bringt:
erstens – die Information über den Selbstmord Nadjas (was keine richtige Information ist) und
zweitens – die Nachricht vom Vater, der sich von ihm lossagt. Das ist für Paul ein schwerer
Schlag, der ihn zum Selbstmord anstiftet.
Als der zweite spezifische Raum gilt „die psychiatrische Anstalt namens U. Cerletti.“86
Eduard wird von der Gefängniszelle in eine Anstaltszelle verlegt, wo er den Rest seiner Strafe
verbüβen soll. Das Sich Erklären als nicht zurechnungsfähig und der Aufenthalt hier sollten
für Eduard eine Chance sein, sich schneller mit den Nächsten zu treffen. Es zeigt sich aber,
dass die Klinik eine rücksichtslose Fortsetzung eines Plans ist, der das Ziel hat: Eduard als
Feind des Staates aus dem sozialen Leben auszuschlieβen, indem man ihm alle seien
Erinnerungen wegnimmt. Dabei ist also auffallend, wie weit sich das totalitäre System ins
Leben der einfachen Menschen einmischt. Der Aufenthalt in der Klinik bedeutet für Eduard
83
Ebd., S.262.
Ebd., S.264.
85
Ebd., S.266.
86
Ebd., S.335.
84
44
nicht nur weitere Isolation von allen und alles, sondern auch den Verlust sich selbst, eigener
Erinnerungen und damit seiner Vergangenheit, die ihn als Menschen gebildet hat. Dieser
Raum ist also in so weit wichtig, dass er Eduard als Menschen zerstört, ihm seine Identität
mittels Elektrotherapie wegnimmt. Er wird statt mit sieben mit vierzehn Elekroschocks
behandelt, weil Eduard nach den ersten sieben Behandlungen imstande ist, alle
Gedächtnistestsfragen zu beantworten. Obwohl der Rückkehr Eduards jüngster Erinnerungen
mit der Zeit immer länger dauert, antwortet er auf alle Fragen während des Gedächtnistests.
Diese Situation ist die Voraussetzung für die weitere Therapie, infolge derer er völlig sein
Gedächtnis verliert.
In Bezug auf diesen Raum kommt es zur Grenzüberschreitung, denn Eduard verlässt die
Klinik „ohne ein Wort zu sagen, ohne Schuhe und ohne Sachen.“87 Wichtiger scheint aber die
Tatsache zu sein, dass er die Anstalt als eine andere Person, als Mann ohne Vergangenheit
verlässt, der sich sogar an seinen Namen nicht erinnern kann.
Anhand der analysierten räumlichen Kulisse lässt sich feststellen, dass die im Roman
dargestellten Räume einen starken Einfluss auf die Existenz der Figuren ausüben. Sie wecken
in ihnen unterschiedliche Gefühle und Emotionen und werden zu den Orten, an denen sie ihre
persönlichen Tragödien erleben. Im Fall Pauls ist das Selbstmord, bei Eduard der
Gedächtnisschwund. Diese Ereignisse ändern ihr Leben, aber zugleich auch die Existenz ihrer
Nächsten.
3.4 Zeitliche Situations- und Ereignisrahmen
Hinsichtlich der Zeitgestaltung in den fiktionalen Texten „verfügt der literarischer Erzähler
ungleich freier und artistischer über die Zeitachse“.88 Das bedeutet, dass die chronologische
Reihenfolge der erzählten Ereignisse (d.h. Zeit der Geschichte) nicht identisch mit dem
sprachlichen Ablauf der Erzählung selbst (d.h. Zeit der Erzählung) ist. In den literarischen
Erzählungen kommen Anachronien, d.h. Zeitsprünge vor, die den linearen Ablauf der
Geschichte unterbrechen. Es gibt eben Fälle, in denen der eigentliche Schluss der Handlung
ganz am Anfang des Textes steht – dann haben wir mit der Prolepse, d.h. mit der
Vorausdeutung zu tun – oder wo zum Schluss noch einmal zu einer dramatischen Situation
rückgeblendet wird (Analepse).
87
88
Ebd., S.350.
Schülein, Frieder/Stückrath, Jörn: Erzählen. In: Brackert, Helmut/ Stückrath, Jörn: Literaturwissenschaft. Ein
Grundkurs, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1996, S.54-69 (hier S.65).
45
Im Roman Aus dem Sinn von Emma Braslavsky sind beide Anachronien präsent. Die Autorin
bedient sich der Prolepse, indem sie den Geschichtsschluss schon im ersten Kapitel zeigt. Die
Romaneröffnung Erst ein Ende (Prolog)89 betrifft „die Gegenwartsebene der Erfurter Zeit der
Figuren im späten Sommer 1969 oder im früheren Herbst 1969“90 und stellt die Landschaft
nach der Explosion der Domuhr dar, d.h. das Verschwunden der Siebenziffer aus der Uhr,
was man dem Teufelswerk zuschreibt. Das zweite Ereignis ist das Finden eines jungen
Mannes, der Symptome des Gedächtnisverlustes aufzeigt, was im Roman folgendes
geschildert wird:
Neben den Abbildungen der zerstörten Domuhr und der schweigenden Gloriosa
zeigt die Zeitung das Bild eines jungen Mannes, der im Morgengauen auf dem
Bordstein zwischen den Ziffern und Zeigern an den Straβenbahngleisen gefunden
wurde. Die Polizei bitte hierbei um Hinweise. Seine Identität könne nicht
festgestellt werden; er erinnere sich nicht an seinen Namen.91
Die Autorin bezieht sich noch einmal auf diese Zeit, d.h. im letzten Kapitel Und dann ein
Anfang (Epilog).92 Im Epilog, der als Anfang tituliert wird, „kommt es zur Aufklärung der
Domuhrexplosion, für die die Zisterziensernonne Elisabeth verantwortlich“93 zu sein scheint.
Hier wird auch die Identität des gefundenen Mannes bestätigt, d.h. es besteht kein Zweifel
mehr, wer er ist. Seine Identifikation ist dank seiner Mutter möglich, die seine
„Geburtsdatum, Adresse und kurze biografische Eckdaten angibt, die niemand auβer ihr
beweisen kann“.94 Beide Kapitel, die am Anfang und am Ende des Romans vorkommen,
nehmen Bezug auf dasselbe Ereignisse und dieselbe Zeit d.h. auf die Gegenwart, wodurch sie
einen Zeit- und Ereignisrahmen bilden.
In nächsten Kapiteln wird der Leser mit den Motiven (d.h. Ereignissen) konfrontiert, die zu
den im ersten und letzten Kapitel dargestellten Events geführt haben. Die Autorin benutzt also
die Analepse, einen Zeitspring in die Vergangenheit und es werden alle Ereignisse vermittelt,
die die Domuhrexplosion und den Gedächtnisschwund der Hauptfigur zeitlich vorausliegen.
Die Rückwendung kommt nochmal im Roman vor, wenn sich die Hauptfigur, Eduard Meiβerl
an seine Kindertage erinnert. Der Blick des Lesers wird dann auf das Jahr 1944 gerichtet und
alle Geschehen werden aus der Perspektive des viereinhalbjährigen Kindes erzählt.
89
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: claassen 2007, S.12.
Zimniak, Paweł: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip
in Emma Braslavskys Aus dem Sinn (2007) (Manuskript)
91
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: claassen 2007, S.15.
92
Ebd., S.351.
93
Zimniak, Paweł: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip
in Emma Braslavskys Aus dem Sinn (2007) (Manuskript)
94
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: claassen 2007, S.362.
90
46
Emma Braslavsky schafft durch die gestörte chronologische Reihenfolge der Ereignisse einen
interessanten Roman. Die Tatsache, dass der Leser schon am Anfang des Buches mit einem
überraschenden Bild konfrontiert wird, zwingt ihm weiter zu lesen, ist für ihn ein starkes
Impuls um zu erfahren, wie es dazu gekommen ist. Die Rückwendungen wiederum geben
dem Leser die Möglichkeit, die Vergangenheit der Hauptfigur kennenzulernen, was ihm eine
andere Perspektive auf sein weiteres Handeln bietet.
3.5 Das Verhältnis zwischen dem Erzählen und dem Erzählten – Fazit
Die Untersuchung eines literarischen Textes kann nicht nur auf die Analyse des Inhalts (d.h.
des Erzählten) reduziert werden. Sie soll auch die Art und Weise der Vermittlung (d.h. das
Erzählen) der im narrativen Text dargestellten Sachverhalte umfassen.
Die in den vorigen Kapiteln vollzogene Analyse des Romans Aus dem Sinn von Emma
Braslavsky wurde unter Berücksichtigung der beiden Ebenen durchgeführt. Dabei wurde
besonders Augenmerk auf den Aufbau von Figuren, die Erzählsituation, die Raum- und
Zeitgestaltung gelegt. Hinsichtlich des Figurenentwurfs wurden zwei gegensätzliche
Protagonistenprofile verarbeitet, bei denen den Schwerpunkt auf ihre Lebenseinstellung und
ihr Verhältnis zum politischen Engagement gelegt wurde. Auf diese Art und Weise sind zwei
oppositionelle Porträts entstanden, die zwei unterschiedliche Individuen innerhalb eines
totalitären Systems zeigen. Es wurde auch berücksichtigt, welchen Einfluss auf sie ihr
soziales Umfeld nimmt und sie als Menschen bildet. In Bezug auf die Erzählinstanz wurde
zwischen der Erzählung von Ereignissen und der Erzählung von Worten unterschieden. Im
ersten Fall wurden die wichtigsten Motive des Romans herausgesondert und im kausalen
Zusammenhand präsentiert. Im zweiten wurden die Notizen des Hauptfigurs analysiert, d.h.
es wurde darauf aufmerksam gemacht, woran sich 30- jährige Mann erinnert und von welchen
Ereignissen er aus der Perspektive des viereinhalbjährigen Kindes erzählt. In Hinsicht auf die
räumliche Kulisse wurde die Gegenüberstellung zwischen dem vertrauten Ort der Heimat und
dem fremden Erfurt hergestellt, d.h. es wurde darauf hingewiesen, wie sich die Figuren auf
die erwähnten Orte beziehen, welche Position sie ihnen gegenüber repräsentieren. Es wurde
auch aufgezeigt, wie zwei andere spezifische Räume des Romans: Stasi-Gefängnis und die
psychiatrische Anstalt das Leben der Figuren beeinflussen und es völlig ändern. Im letzten
Punkt der Romananalyse wurde Bezug auf die Zeitgestaltung genommen, indem auf die
gestörte chronologische Abfolge von der Ereignisdarstellung hingewiesen wurde. Es wurde
festgestellt, dass sich die Autorin der Zeitsprünge in die Vergangenheit und in die Zukunft bei
47
der Vermittlung der Geschichte bedient. In Hinsicht darauf wurde gezeigt, dass der Anfang
und das Ende des Romans aufeinander Bezug nehmen, wodurch sie einen zeitlichen
Situations- und Ereignisrahmen bilden.
Die vorgenommenen Kriterien der Textanalyse haben erlaubt, den Roman unter die wichtigen
Aspekten zu untersuchen. Sie haben ermöglicht, festzustellen, inwieweit sie im analysierten
Text vollzogen werden. Die durchgeführte Analyse gibt und das Bild, wie der Text
konstruiert wurde und dadurch wie er auf den Leser wirkt.
48
4 Zusammenfassung
Die vorliegende Diplomarbeit stellt eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen des
Gedächtnisses und damit verbundener Erinnerungen aus der Sicht einer Gruppe vertriebener
Sudetendeutschen.
Im ersten Kapitel wird erläutert, was die Begriffe der Erinnerungskultur und des
Gedächtnisses bedeuten. Es wird auf den Zusammenhang zwischen den Erinnerungen und der
Identitätsbildung hingewiesen. Weiterhin wird aufgezeigt, wie unterschiedlich das Gedächtnis
je nach der Gesellschaftsform, d.h. in offenen und geschlossen Gesellschaften funktioniert
und wie die Staatsordnung die Gestalt des Gedächtnisses beeinflusst. Es wird auch darauf
aufmerksam gemacht, welche Rolle die Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses
spielt.
Im zweiten Kapitel werden Theorien analysiert, die sich mit dem Phänomen des
Gedächtnisses befasst haben. Es wird berücksichtigt, wie unterschiedlich es verstanden wird,
was es beinhaltet, welche Dimensionen es umfasst und wie es unterteilt wird. Dabei handelt
es sich um die Auseinandersetzung mit den Theorien von Maurice Halbwachs, Aby Warburg,
Pierre Nora, Aleida und Jan Assmann. In diesem Kapitel wird auch der Heimatbegriff
erläutert und es wird auf seine Tabuisierung nach 1945 hingewiesen. Dieses Kapitel
beinhaltet auch die Erklärung einiger wichtiger narratologischer Fragen wie: der Begriff des
Erzählens, die doppelbesetzte Kommunikation in narrativen Texten und das Verhältnis
zwischen dem Erzählen und dem Erzählten.
Im dritten Kapitel wird die Analyse des Romans Aus dem Sinn von Emma Braslavsky
vollzogen. Dabei werden folgende Kriterien berücksichtigt: Figurenentwurf, Erzählinstanz,
Raum- und Zeitgestaltung. Es wird die Gedanken- und Gefühlswelt der zwei Figuren
aufgezeigt, die in einer Opposition zueinander stehen. In Bezug auf die Erzählsituation
werden die Ereignisse unter dem Aspekt ihrer kausalen Motivierung analysiert. Es wird auch
gezeigt, wie sich das Kriterium des Raumes entwickelt und welches Verhältnis dazu Figuren
haben. Zum Schluss wird auf die zeitliche Ordnung des Romans hingewiesen.
Das fünfte und letzte Kapitel enthält die Didaktisierungsvorschläge, wie man diese Thematik
in den DaF- Unterricht einbeziehen kann. Die Stundenentwürfe zeigen, auf welche Art und
Weise der Lehrer mit solchen Begriffen wie: Erinnerungen, Gedächtnis, Vertreibung, Heimat,
das totalitäre System umgehen kann.
49
5 Praktischer Teil – Didaktisierungsvorschläge
5.1 Stundenentwurf Nr. 1
Zielgruppe:
Zeit:
Thema:
III. Studienjahr
90 Minuten
Heimat – ein Ort oder ein Gefühl?
Pragmatische Ziele: Ich kann sagen, was für mich das Wort „Heimat“ bedeutet.
Ich kann mit dem Text arbeiten.
Kognitives Ziel:
Ich weiβ, dass der Heimatbegriff vielschichtig ist und verschiedene
Komponente umfasst.
Sozial-affektive Ziele: Ich kann zu zweit arbeiten und an der Diskussion teilnehmen.
I. Begrüβung
Die Studenten werden mit einem Guten Tag begrüβt. Die Anwesenheitsliste wird
nachgeprüft.
Sozialform: Frontalunterricht
Feinziel:
Zeit: 3 Minuten
II. Thema- und Zielangabe
Der Seminarleiter gibt das Thema und das Ziel an. Sie werden auf Deutsch formuliert und an
die Tafel geschrieben.
Sozialform: Frontalunterricht
Feinziel: Ich weiβ, womit ich mich heute im Unterricht beschäftigen werde.
Zeit: 2 Minuten
Materialien: Tafel, Kreide, Hefte
III. Aufmunterung
Der Seminarleiter stellt den Studenten folgende Fragen:
1. Was verstehen Sie unter dem Begriff „Heimat“?
2. Was bedeutet für Sie „Heimat“?
3. Welche Assoziationen haben Sie, wenn Sie das Wort „Heimat“ hören?
50
Die Antworten, Ideen, Assoziationen werden an die Tafel geschrieben. Dann bildet jeder
Student individuell seine eigene Definition des Heimatbegriffs.
Sozialform: Plenum/Einzelarbeit
Feinziel: Ich kann sagen, was ich unter dem Begriff „Heimat“ verstehe und was er sie/ für
mich bedeutet.
Zeit: 10 Minuten
Materialien: Tafel, Kreide, Hefte
IV. Einführungsphase
Der Seminarleiter präsentiert den Studenten die Definition des Heimatbegriffs nach Romy
Suckow (Anlage 1). Die Studenten sollen ihre eigenen Definitionen mit dieser vergleichen
und feststellen, ob es Gemeinsamkeiten oder Unterschiede gibt. Sie sollen auch feststellen,
welche Aspekte die Begriffserklärung nach Suckow umfasst und welche ihre eigene.
Die Studenten sollten zur Schlussfolgerung kommen, dass der Heimatbegriff schwer
definierbar und vielschichtig ist und dass je nach Person, die ihn erklärt, kann er
unterschiedliche Komponente enthalten kann.
Sozialform: Plenum
Feinziel: Ich kann meine eigene Definition des Begriffs „Heimat“ mit den dargestellten
anderen Definitionen vergleichen.
Ich weiβ, dass der Heimatbegriff vielschichtig ist und verschiedene Komponente
umfasst.
Zeit: 12 Minuten
Materialien: Tafel, Kreide, Hefte
V. Übungsphase
Die Studenten lesen den Text Heimat von Joachim Kronsbein (Anlage 2). Nach der Lektüre
sollen sie auf sieben Fragen antworten (Anlage 2), die sich auf den Textinhalt beziehen.
Sozialform: Einzelarbeit
Feinziel: Ich kann den Text selektiv lesen und die Fragen beantworten, die die bestimmten
Informationen betreffen.
Zeit: 30 Minuten
Materialien: Übungsblatt
51
VI. Anwendungsphase
Die Studenten arbeiten zu zweit. Sie bekommen elf Zitate bekannter Personen (Anlage 3), die
sich zum Heimatbegriff geäuβert haben. Die Aufgabe besteht darin, zwei Aussagen zu wählen
und sie zu interpretieren. Jedes Paar wählt zwei Aussagen. Die Studenten sollen bei der
Interpretation erklären, warum sie genau diese Zitate gewählt haben, wie sie sie verstehen und
was der Autor dadurch sagen wollte.
Sozialform: Partnerarbeit
Feinziel: Ich kann die Aussagen zum Heimatbegriff richtig interpretieren und aus ihnen
Schlussfolgerungen ziehen.
Zeit: 20 Minuten
Materialien: Übungsblatt
VII. Testphase
Die Studenten präsentieren ihre Interpretationen von Zitaten vor der ganzen Gruppe. Später
ist diese Darstellung Anregung zur Diskussion, was „Heimat“ bedeutet, wie man sie verstehen
und als Begriff erfassen kann.
Sozialform: Plenum
Feinziel: Ich präsentiere meine Interpretation von Zitaten über Heimat im Plenum.
Ich kann darüber diskutieren, was der Heimatbegriff für mich bedeutet.
Zeit: 13 Minuten
52
Übungsblatt zum Didaktisierungsvorschlag Nr. 1
Anlage 1:
Vorbemerkung zum Heimatbegriff
Der Heimatbegriff bezeichnet subjektiv von einzelnen Menschen oder kollektiv von Gruppen,
Stämmen, Völkern, Nationen erlebte territoriale Einheit, zu der ein Gefühl besonders enger
Verbundenheit besteht. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Heimat zunächst auf den Ort (auch
als Landschaft verstanden) bezogen, in den der Mensch hineingeboren wird, wo die frühen
Sozialisationserlebnisse stattfinden, die weithin Identität, Charakter, Mentalität, Einstellungen
und schließlich auch Weltauffassungen prägen. Insoweit kommen dem Begriff grundlegend eine
äußere, auf den Erfahrungsraum zielende, und eine auf die Modellierung der Gefühle und
Einstellungen zielende innere Dimension zu, die (zumal der Begriff Heimat zunächst mit der
Erfahrung der Kindheit verbunden ist) dem Begriff eine meist stark gefühlsbetonte,
ästhetische, nicht zuletzt ideologische Komponente verleihen.
Quelle: Suckow, Romy: Warum gilt der Heimatbegriff als ideologisch belastet? –
Die Unterrichtsinhalte des Sachunterrichts zur Zeit des Dritten Reiches, unter:
http://www.hausarbeiten.de/faecher/hausarbeit/sak/24929.html/Zugriff am 29.04.08
Anlage 2:
HEIMAT
Alle haben eine, aber niemand kann seine so trefflich – diffus und genau zugleich –
benennen wie wir Deutschen: die Heimat. Die Franzosen sprechen mit Pathos von „la patrie“
und meinen gleich das Groβe und Ganze, die nationale Gesamt-Glorie, die Briten nennen das
Stückchen Gegend, aus der sie kommen, viel schlichter ihr „home“ und denken dabei in
allererster Linie an ihr Castle, und wenn es nur ein schmales Reihenhaus bei Manchester ist.
Nur die Deutschen haben einen anständigen, einmaligen Begriff für das unfassliche
Gefühl, irgendwo, auβerhalb der eigenen vier Wände zu Hause sein: Heimat eben – mit allem
irrationalen Drum und Dran.
Ganz weit und warm wird es manchem bei diesem Zauberwort ums Herz, und der
mentale Blick schweift sogleich im Vogelflug von Rügen bis Ruhpolding.
Andere kommen mit weniger Aufwand aus und denken nur an den Apfelpfannkuchen
mit Zimt, den die Oma daheim im Bergischen Land so köstlich aus der Gusseisernen frisch
auf den blaugeblümten Arzbergteller gleiten lieβ. Einmal im Monat, immer mittwochs. Welch
ein Aroma, welche Lust. Kein Pfannekuchen danach konnte ja mithalten.
Anderen reicht der Blick auf die moorigen Landschaften mit krüppeligen Kiefern oder
gar auf das Heizkraftwerk an der Ecke, um sich ganz sicher zu sein: Hier bin ich zu Hause –
und manchmal sogar recht gern.
53
Heimat sind Gerüche, Geräusche, sind Farben und Formen, ist Sprache und – wohl
zum gröβten Teil – Erinnerung. Ein kleiner, unscheinbarer Schubs – schon beginnen sie sich
zu drehen, die unberechenbaren Assoziationsketten.
Ein halber Satz, irgendwo in der Fremde aufgeschnappt, auf einer Piazza in der
Toskana, ein paar der vertrauten Worte mit der seltsam singenden und kruden Satzmelodie,
den eingestreuten Lisplern und dem resoluten, bekräftigenden „Wa!“ am Ende, schon pflanzt
sie sich auf einmal in der Imagination übermächtig auf, die Heimatstadt Berlin mit ihrer
Muttersprache. Solche akuten Anfälle von Heimatgefühl überfallen den Menschen nur
woanders. Denn: „In der Fremde erfährt man, was die Heimat wert ist“, wusste der
Romancier Ernst Wiechert und hatte sicher recht.
Nur was nicht mehr da ist, fehlt. Und nur so stellt sich das innere Kribbeln richtig ein,
schmerzhaft und wonnig-wehmütig, das aus einer banalen geographischen Herkunft eine
echte Heimat voller Nestwärme macht: das Heimatgefühl. Keine Gedankenschärfe kann es
ganz ergründen, keine Logik voll entschlüsseln.
Nur im Sehnen nach dem Nicht-Mehr oder Bald-Wieder kann es keimen. Dann läuft
die Erinnerungsmaschinerie mit voller Kraft, dann tut sich der Mensch ein Bisschen Leid und
leidet gern. Da trifft Weltschmerz auf Wohlgefühl, und das Gemüt legt die Füβe auf den
Tisch und macht es sich gemütlich. Und dabei ist es dem Gemüt total egal, ob es sich am
Kölner Dom erwärmt oder am Bahnhof von Neheim-Hüsten, am Brandenburger Tor oder am
stauträchtigen Autobahnabschnitt bei Schloss Burg Wermelskirchen an der Al.
Heimat, das sind Rituale, Architektur, Landschaft und Tradition. Von allem etwas, und
bei jedem anders gemischt.
Und schlieβlich ist da der Humor. Norddeutsch-trocken, friesisch-herb kann er etwa
sein, leicht salzig wie ein Matjes und undefinierbar wie das rötliche Küchen-Kuddelmuddel
namens Labskaus. Genau so wie das Matsch-Gericht aus Kartoffeln, Rindfleisch und Roter
Beete muss man die Lebensart der Nordlichter schon mehr mögen mit ihrer ans Lakonische
andockenden Nüchternheit.
Als eine süddeutsche Touristin sich Jahre nach der groβen Flutkatastrophe von 1962
bei einer Wirtin am Hamburger Fischmarkt teilnahmsvoll nach den Schrecken der
Überschwemmung erkundigte, fiel die Antwort `nen büschen zurückhaltend aus: „Das
Wasser, dasscha nu wieder wech, nech.“
In seiner ganzen philosophischen Tragweite kann das nur nachschmecken, wer bei
Köm und Kluntjes Heimatgefühle entwickelt. Und das werden nicht dieselben sein, die vor
Weiβwurst, Weizenbier und schneebedecktem Watzmann heimelige Wärme aufsteigen
fühlen.
Selbst die oder der Wartburg mag nur wenigen viel bedeuten, genau wie das
Teutoburger Hermannsdenkmal oder das Kaiserstandbild am Dreiländereck. Aber wenn in
seinem Schatten schmuste, sein erstes Eis bekam oder einen Anpfiff vom Papa, der wird`s
nicht vergessen und das Bauwerk brauchen für sein inneres Fotoalbum, Ableitung „Heimat,
engere.“
Darin glüht dann auch der Sonnenuntergang vor heimischer Balkonkulisse bis in alle
Ewigkeit nach, da streben die Bäume auf dem Dorfplatz noch wie in ferner Kinderzeit
unwirklich hoch in den Himmel – und auf wundersame Weise ist immer Hochsommer.
54
Uns selbst die stillgelegte Zeche vor der Haustür mit den düsteren Kohlehalden
schimmert plötzlich wie ein Kleinod aus dem Schatzkästlein detailverliebter
Industriearchäologen und Zeitgeistforscher. Es ist die Suche nach irgendeinem Sinn, die in
der Rückschau das Vergangene wichtig und richtig macht, die alle Lebensstationen zu einer
Kette reiht, deren Glieder nur auf eine einzige Weise zueinander passen, nur in dieser
Reihenfolge. Das Leben erklärt sich, wenn überhaupt, nur aus der Rückschau. Und dazu
braucht ein ordentlicher Mensch auch eine Heimat.
Heimatgefühle entwickelt, wer weiβ, wohin er gehört. Oder es doch wenigstens einmal
herausfinden möchte. In diesem Sinne: Auf, zurück nach Hause!
Quelle: Kronsbein, Joachim: Heimat. In: SPIEGEL Spezial 06/1999.
Worterklärungen:
- „la patrie“ = französisch „Vaterland“
- Castle = englich „Burg“
- die Gusseisernen = hier: eine Bratpfanne aus Gusseisen
- der Arzbergteller = ein Porzellanteller der Firma Arzberg
- Piazza = ital. Wort für „der Platz“
- Köm = norddeutsche Bezeichnung für Kümmelschnaps
- Kluntjes = friesische Bezeichnung für dicke, weiβe Kandiszuckerstücke
- der Watzmann = ein Berg
- Dreiländereck = Ortsbezeichnung am Rhein in der Nähe von Koblenz
FRAGEN ZUM TEXT „HEIMAT“
1. Wodurch unterscheidet sich nach dem Autor des Artikels der Begriff „Heimat“ in
Frankreich, England und in Deutschland?
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…………………………………………………………………………………………………
…………………………………………………………………………………………………
…………………………………………………………………………………………………
2. Führen Sie zwei Beispiele von Heimatgefühlen, die man nach Ansicht des Autors bei
Deutschen antreffen kann!
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…………………………………………………………………………………………………
3. Wie wird im Text der Satz: „In der Fremde erfährt man, was die Heimat wert ist“ erklärt?
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55
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…………………………………………………………………………………………………
4. Wie definieren Deutsche den Begriff „Heimat“? Geben Sie vier Beispiele an!
…………………………………………………………………………………………………
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…………………………………………………………………………………………………
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5. Wann löst ein Kulturdenkmal bei jemandem ein Heimatgefühl aus?
…………………………………………………………………………………………………
…………………………………………………………………………………………………
…………………………………………………………………………………………………
6. Wie wird das Bedürfnis nach Heimat erklärt? Nennen Sie zwei im Text erwähnte Gründe!
…………………………………………………………………………………………………
…………………………………………………………………………………………………
…………………………………………………………………………………………………
…………………………………………………………………………………………………
7. Welche Schlussfolgerung zieht der Autor für sich selbst in den letzten zwei Zeilen des
Textes?
…………………………………………………………………………………………………
…………………………………………………………………………………………………
…………………………………………………………………………………………………
…………………………………………………………………………………………………
Anlage 3:
Nicht da ist man daheim,
wo man seinen Wohnsitz hat,
sondern da, wo man verstanden wird.
(Christian Morgenstern)
Heimat ist ein geistiger Raum,
in den wir mit einem jeden Jahre
tiefer eindringen.
(Reinhold Schneider)
Heimat ist immer noch Sehnsucht
nach der Kindheit.
(Heinrich Böll)
56
Die wahre Heimat ist eigentlich die Sprache. Sie
bestimmt die Sehnsucht danach, und die
Entfernung vom Heimischen geht immer durch
die Sprache am schnellsten.
(Wilhelm Freiherr von Humboldt )
Du kleiner Ort, wo ich das erste Licht gesogen,
den ersten Schmerz, die erste Lust empfand,
sei immerhin unscheinbar, unbekannt,
mein Herz bleibt doch vor allen dir gewogen,
fühlt überall zu dir sich hingezogen,
fühlt selbst im Paradies sich noch aus dir verbannt.
(Christoph Martin Wieland)
…Die
Heimat
Ist also wohl das Teuerste, was Menschen
Besitzen…
(Friedrich Schiller)
Denn nichts ist doch süßer als unsere Heimat
und Eltern, wenn man auch in der Fern'
ein Haus voll köstlicher Güter unter fremden Leuten,
getrennt von den Seinen, bewohnet.
(Homer)
Heimat sind die Menschen, die wir
verstehen und die uns verstehen.
(Max Frisch)
Ein Mensch, der keine Heimat hat,
gleicht einem windverwehten Blatt.
(Erich Limpach)
Heimat ist nicht der Ort, sondern die
Gemeinschaft der Gefühle.
(Bodeninschrift in der Galerie der Gegenwart in Hamburg)
Heimat ist für mich überall dort,
wo ein Mensch ist, zu dem ich kommen kann,
ohne gefragt zu werden, weshalb ich da bin,
der mir einen Tee anbietet, weil er weiß,
daß ich Tee trinke, und wo ich bei dieser Tasse
Tee schweigen darf.
(Reiner Kunze)
Quellen: www.dewi-ziehm.de/zitate/heimat.html
www.gutzitiert.de/zitat_thema_heimat.html - 38k projekt-heimat.de/download/Zitate%20Heimat.doc
57
5.2 Stundenentwurf Nr. 2
Zielgruppe:
Zeit:
Thema:
III. Studienjahr
90 Minuten
Das Individuum im totalitären System.
Pragmatische Ziele: Ich kann die Figuren von Eduard Meiβerl und Paul Händl
charakterisieren.
Ich kann mit dem literarischen Text arbeiten.
Ich kann sagen, welchen Einfluss das totalitäre System auf die
Menschen ausübt.
Kognitives Ziel:
Ich weiβ, was für das totalitäre System gekennzeichnet ist.
Sozial-affektives Ziel: Ich kann in der Gruppe arbeiten und an der Diskussion teilnehmen.
I. Begrüβung
Die Studenten werden mit einem Guten Tag begrüβt. Die Anwesenheitsliste wird
nachgeprüft.
Sozialform: Frontalunterricht
Feinziel:
Zeit: 3 Minuten
II. Thema- und Zielangabe
Der Seminarleiter gibt das Thema und das Ziel an. Sie werden auf Deutsch formuliert und an
die Tafel geschrieben.
Sozialform: Frontalunterricht
Feinziel: Ich weiβ, womit ich mich heute im Unterricht beschäftigen werde.
Zeit: 2 Minuten
Materialien: Tafel, Kreide, Hefte
III. Einführungsphase
Der Seminarleiter zeichnet ein Assoziogramm (Anlage 1) an die Tafel. Die Studenten sollen
angeben, welche Assoziationen bei ihnen der Begriff „das totalitäre System“ weckt. Alle
Assoziationen werden an die Tafel notiert.
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Sozialform: Plenum
Feinziel: Ich kann sagen, was ich mit dem Begriff „das totalitäre System“ assoziiere.
Zeit: 10 Minuten
Materialien: Tafel, Kreide, Hefte
IV. Übungsphase
Übung 1:
Der Seminarleiter fordert ein paar Studenten auf. Sie sollen anhand des Azzoziogramms
sagen, was für das totalitäre System charakteristisch ist. Dabei können die Studenten solche
Wendungen benutzen wie:
- Das totalitäre System ist dadurch gekennzeichnet, dass…
- Das totalitäre System charakterisiert…
- Das totalitäre System zeichnet sich dadurch aus, dass…
- Für das totalitäre System ist es charakteristisch, dass…
Sozialform: Plenum
Feinziel: Ich kann aufgrund des Assoziogramms sagen, wodurch sich das totalitäre System
auszeichnet.
Zeit: 10 Minuten
Übung 2:
Die Studenten werden in vier Gruppen geteilt. Zwei erste Gruppen bekommen Textstellen
(Anlage 2) des Romans Aus dem Sinn von Emma Braslavsky, die sich auf die Figur des
Eduard Meiβerls beziehen. Zwei anderen Gruppen erhalten Zitate, die die Figur des Paul
Händls betreffen. Jede Gruppe soll aufgrund von angegebenen Romanfragmenten je nach
Protagonist zwei Profile konstruieren. Dabei sollen sie vor allem solche Aspekte
berücksichtigen wie:
-
Einstellung zur verlorenen Heimat
-
Verhältnis zum politischen Engagement (v.a. Anteilnahme an der
Demonstration in Prag)
Auf diese Art und Weise sollen zwei oppositionelle Porträts entstehen, die zwei
unterschiedliche Individuen innerhalb eines totalitären Systems zeigen.
Sozialform: Gruppenarbeit
Feinziel: Ich kann anhand der Textstellen die Figuren von Eduard Meiβerl und Paul Händl
charakterisieren.
Zeit: 25 Minuten
Materialien: Übungsblatt mit den Textfragmenten
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V. Anwendungsphase
Die Studenten präsentieren die Ergebnisse ihrer Gruppenarbeit, d.h. die Protagonistenprofile,
die sie gebildet haben. Die Gruppen, die die andere Figur charakterisiert haben, notieren sich
die wichtigsten Informationen entsprechend über Eduard Meiβerl oder über Paul Händl.
Sozialform: Plenum
Feinziel: Ich präsentiere die Charakteristika von Eduard Meiβerl und Paul Händl.
Ich weiβ, welche Individuen innerhalb eines totalitären Systems Eduard Meiβerl und
Paul Händl repräsentieren.
Zeit: 22 Minuten
VI. Testphase
Die Studenten diskutieren über beide Figuren, versuchen sie zu vergleichen und festzustellen,
wie das politische System, in dem sie beide leben, ihr Leben beeinflusst hat.
Sozialform: Plenum
Feinziel: Ich diskutiere über beide Figuren und kann sagen, welchen Einfluss das totalitäre
System auf die Menschen ausübt.
Zeit: 18 Minuten
60
Übungsblatt zum Didaktisierungsvorschlag Nr. 2
Anlage 1:
das totalitäre
System
Anlage 2:
Eduard Meiβerl
Paul Händl
I. „Er fühlte sich fremd hier [ in Tuschkau
- M.M ] nicht wie ‹bei uns drüber›, dass
klang immer noch nach Westen.
Heimatgefühle kamen bei ihm in Tuschkau
nicht auf; obwohl vertraut, erschien ihm
die Stadt wie ein verkauftes, ausrangiertes
Bett, in dem andere lagen; er kannte sich
hier nicht mehr aus.“95
I. „Wir sind Sudeten. Ein eigenes Stück
Land haben wir hier auch nicht gekriegt.
Wir müssen zwischen allen anderen leben,
als hätten wir den Krieg mehr verloren.
Auf diesen ganzen Zentralismus hier hab
ich keine Lust! […] Ich finde mich damit
nicht ab; das stinkt mir.“97
II. „Eduard war unsicher […], weil sie
[Miri – M.M] seine Erinnerungen an einen
Ort [Tuschkau – M.M] brachte, an dem er
Verlorenes begraben hatte und zu dem er
nie wieder zurückwollte.“96
II. „Mit der Demonstration in März
kommen wir aus der Defensive. Diese
Kundgebung erweckt uns wieder zum
Leben. Und die neue Verfassung gibt uns
doch recht! […] Wir müssen endlich raus
aus diesem Einheitsbrei!“98
95
Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin:
claassen 2007, S.212.
96
Ebd., S.210.
97
98
Ebd., S.30.
Ebd., S.167.
61
III. „Ich habe keine Lust auf Politik. Die
ANSen sind plemplem. Ich bin ja kein
ANSe, aber es ist halt Paul.“99
III. „Mir tut nichts leid, Mensch! Es geht
eben nicht immer so glatt, aber wir müssen
für unsere Rechte kämpfen.“103
IV. „Die Idee [Aktion in Prag - M.M] ist
lächerlich[…]. Die werden ins für den Rest
unsres Lebens in den Kast stecken. Paul,
du weiβ, dass ich hinter diesem
Autonomiequatsch nicht stehe. Ich fühle
mich überhaupt nicht als Sudete. Ich
erinnere mich an eine Kindheit in
Tuschkau. Die Stadt hat jetzt einen
tschechischen Namen; den kann ich nicht
mal aussprechen! Ich erinnere mich an
Tomas und Maria, die wer weiβ wo sind.
Das ist schlimmer für mich, aber das ist
vorbei. Der Boden ist mir egal. Ich will die
Tschechen ja nicht in Schutz nehmen. Aber
wir sind hier keine Sudeten, wir sind
deutsche Umsiedler. Über uns will
niemand reden. Auch drüber nicht. Und die
Tschechen erst recht nicht. Wohnen will
ich dort nicht mehr. Mein Zuhause ist hier,
die Leute sind alle hier. Was soll ich
dort?“100
IV. „Wir müssen der Wind sein, nicht die
Gardinen!“ 104
V. „Ich weiβ nicht, ob ich da [an der
Demonstartion in Prag – M.M] mitmache.
Mutter findet’s zu gefährlich. Ich habe
genug vom letzten Jahr. Die kontrollieren
mich seitdem. Wenn ich noch mal so was
anstelle, verliere ich meine Arbeit.“101
VI. „Diesmal lasse ich mich nicht wieder
in so einen Quatsch [Demonstration in
Prag – M.M.] reinziehen.“102
VII. „Eduard sah hier kein politisches
Problem mehr, nur ein geschichtliches.
Paul müsse das nicht in Prag auskämpfen,
V. „Er legte sich wieder hin und sagte nach
einer Weile laut in den Raum: Ich will
einen Anwalt! Ich will meinen Vater
sehen. Ich will baden. Ich habe auch
Rechte. Das hier [im Stasi-Gefängnis –
M.M] ist menschenunwürdig.“105
VI. „[…] er habe den Sinn seines Lebens
wiedergefunden. Er setzte sich von nun an
für die Rechte der Sudeten ein. Er kämpfe
für historische Gerechtigkeit.“106
VII. „Paul Händl, ich bin der Kapitän der
Sudeten.“107
VIII. „Paul stellte sich in der Mitte. Wir
können jetzt mit der neuen Verfassung eine
Petition ausarbeiten, in der wir mit den
anderen Sudeten hüben wie drüben einen
eigenen Kulturraum fordern. So wie ein
autonomes Gebiet.“108
IX. „ Verstehst du, das ist unsre Chance.
So machen wir’s. Wenn sich viele Sudeten
von dort, hier und drüben an dem Tag mit
einem groβen Presseaufmarsch vor dem
Parlament in Prag versammeln und
öffentlich Selbstbestimmung fordern, dann
können die uns endlich nicht mehr
ignorieren. He, ich rede von der vielleicht
gröβten Kundgebung in der sudetischen
Geschichte.“109
103
Ebd., S.265.
Ebd., S.167.
105
Ebd., S.262.
106
Ebd., S.156.
107
Ebd., S.65.
108
Ebd., S.31.
109
Ebd., S.89.
104
99
Ebd., S.34.
Ebd., S.89.
101
Ebd., S.56.
102
Ebd., S.49.
100
62
sondern in den Geschichtsbüchern, für die
wolle er sein Leben nicht riskieren.“110
110
Ebd., S.89-90.
63
6 Literatur
Primärliteratur
BRASLAVSKY, EMMA: Aus dem Sinn. Berlin: claassen 2007.
Sekundärliteratur
BRODERSEN, INGKE/DAMMANN, RÜDIGER: Aufklären statt aufrechnen. In: Kafka,
Zeitschrift für Mitteleuropa Nr. 13/2004, S.4-7.
ERLL, ASTRID: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll, Astrid:
Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B.Metzler 2005,
S.143-165.
ERLL, ASTRID: Die Erfindung des kollektiven Gedächtnisses: Eine kurze Geschichte der
kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. In: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und
Erinnerungskulturen, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S.13-39.
MARTINEZ, MATIAS/SCHEFFEL, MICHAEL: Merkmale fiktionalen Erzählens. In:
Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S.925.
MARTINEZ, MATIAS/SCHEFFEL, MICHAEL: Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt. In:
Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999,
S.108-134.
MARTINEZ, MATIAS/SCHEFFEL, MICHAEL: Die Bedeutung von Erzählungen: Handlungsund Tiefenstrukturen. In: Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die
Erzähltheorie, München 1999, S.134-144.
SCHÜLEIN, FRIEDER/STÜCKRATH, JÖRN: Erzählen. In: Brackert, Helmut/ Stückrath,
Jörn: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1996, S.54-69.
ZIMNIAK, PAWEŁ: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. Literarische
Fallstudien. Wrocław/Dresden: Neisse Verlag 2007, S.25-81.
ZIMNIAK, PAWEŁ: „Verlorene Heimat“ - Zum deutschen Topos in der polnischen
Erinnerungkultur nach 1945.
ZIMNIAK, PAWEŁ: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen
Erinnerungsprinzip in Emma Braslavskys Aus dem Sinn (2007) (Manuskript)
64
Internet:
KLEE, NEMO: Kollektives Gedächtnis, Herrschaft und Befreiung, Theoretische und
persönliche Überlegungen, unter: www.grundrisse.net/grundrisse16/16nemo_klee.htm/
Zugriff am: 25.11.2007
MATUSSEK, PETER: Erinnerung und Gedächtnis, unter: www.peter-matussek.de/pub/A
32.html/ Zugriff am: 18.11.2007
MAYER, RUTH: Kommunikatives Gedächtnis. Aus: Mayer, Ruth: Diaspora, transcript Verlag, unter: www.forum-interkultur.net/190.0.html/ Zugriff am: 20.11.2007
NUR ORHAN, KALBIYE: Das kulturelle Gedächtnis, unter: www. seminare.design.fhaachen.de/mind/discuss/msgReader$218/ Zugriff am: 8.12.2007
65
Streszczenie
W ostatnich latach można zauważyć większe zainteresowanie dyskursem pamięci, nie tylko w
zakresie nauki, ale i w literaturze. Motyw pamięci i wspomnień można odnaleźć w wielu
filmach i książkach, czego przykładem jest powieść Aus dem Sinn Emmy Braslavsky, której
analiza została zawarta w rozdziale trzecim.
Niniejsza praca składa się z dwóch części: teoretycznej i praktycznej. Część pierwsza zawiera
dwa rozdziały. W rozdziale pierwszym zostały zdefiniowane takie pojęcia jak kultura pamięci
i jej wpływ na tworzenie tożsamości człowieka jako jednostki, jak i kolektywu. W tej części
wyjaśniono również dynamiczny charakter pamięci, z którym związany jest fenomen
zapamiętywania i zapominania w zależności od rodzaju społeczeństwa, w jakim dana
jednostka funkcjonuje. Rozdział ten określa również funkcję literatury jako medium w
procesie budowania kolektywnej pamięci poprzez przekazywanie różnych światów, obrazów i
wyobrażeń o przeszłości.
W rozdziale drugim zostały zawarte teorie dotyczące dyskursu pamięci. Przy tym zostało
uwzględnione, jak różnie jest pojmowana pamięć, jakie aspekty obejmuje i w jaki sposób
została podzielona. Rozdział ten obejmuje również wyjaśnienie pojęcie „ojczyzna” oraz
czynniki, które sprawiły, że stało się ono tematem tabu po II wojnie światowej. Poza tym
zostały zdefiniowane takie pojęcia narratologiczne jak: opowiadanie, podwójna komunikacje
w tekstach narracyjnych oraz związek pomiędzy płaszczyzną treści i jej prezentacji.
Rozdział trzeci zawiera analizę powieści Aus dem Sinn autorstwa Emmy Braslavsky.
Pierwszym krokiem była interpretacja dwóch głównych postaci na podstawie ich różnego
nastawienia do utraty ojczyzny, systemu politycznego, w którym żyją, a przez to do
odmiennego zaangażowania politycznego. Charakterystyka ta pokazuję dwie zupełnie
różnorakie postawy ludzi funkcjonujących w systemie totalitarnym. Analiza ta obejmowała
również środowisko postaci i jego wpływ na ich działania, postawę wobec problemów, z
jakimi się zmagają. Poza tym została omówiona realizacja kryteriów przestrzeni i czasu. W
odniesieniu do pierwszego aspektu przeciwstawiono ojczyznę bohaterów – Tuschkau
nowemu, obcemu miastu – Erfurtowi, w którym żyją po wypędzeniu. Ukazano również ich
stosunek do wymienionych miejsc i wpływ, jaki wywarła na nich utarta ojczyzny.
Przedstawione zostały także dwa specyficzne miejsca: więzienie i klinka psychiatryczna oraz
ich oddziaływanie na życie dwóch głównych postaci powieści. Analiza kategorii czasu
dowiodła zaburzenie chronologii przedstawionych wydarzeń poprzez ukazywanie zdarzeń z
przeszłości i przyszłości. Podczas analizy książki zostały zestawione najważniejsze zdarzenia,
66
które tworzą jej treść i wykazano, że znajdują się one w związku przyczynowo-skutkowym.
Przy analizie zwrócono uwagę na pozycję narratora, tj. 4,5-letniego głównego bohatera, który
jako dorosły mężczyzna spisuje swoje wspomnienia w postaci notatek.
W części praktycznej niniejszej pracy zostały zawarte propozycje konspektów lekcyjnych,
opierających się m.in. na pracy z tekstem literackim. Przedstawione propozycje przeznaczone
są dla studentów Nauczycielskiego Kolegium Języków Obcych. Konspekty te dowodzą, że
praca z tekstem literackim stanowi idealny materiał stymulujący do dyskusji, w której
studenci mogą wyrazić swoje zdanie. Dyskusje są również dobrą okazją do rozwijania
zdolności i umiejętności językowych oraz wzbogacają i poszerzają horyzonty myślowe ich
uczestników.
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