Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip in Emma Braslavskys Aus dem Sinn Inhaltsverzeichnis Seite 1 Literatur und Gedächtnis – Zur Zielbestimmung ........................................ 3 2 Methodologischer Ansatz und Forschungsstand .......................................... 6 2.1 Gedächtnis und Erinnerungskulturen als Forschungsobjekte .......................................... 6 2.2 Individuelles und kollektives Gedächtnis nach Halbwachs ........................................... 7 2.3 Europäisches Bildgedächtnis nach Aby Warburg ............................................................ 9 2.4 Noras Erinnerungsorte .................................................................................................. 10 2.5 Jan Assmanns Konzept des kulturellen Gedächtnisses .................................................. 11 2.5.1 Kommunikatives und kulturelles Gedächtnis als zwei ›Gedächtnis – Rahmen‹ ..... 11 2.5.2 Gedächtnis als ars und vis ........................................................................................ 13 2.5.3 Funktions- und Speichergedächtnis als zwei Modi der Erinnerung ........................ 14 2.6 Erinnerungskulturen nach dem Konzept des Gieβener Sonderforschungsbereich 434 .. 16 2.7 Heimat und der Topos der ̦verlorenen Heimatʼ ............................................................ 18 2.7.1 Heimatbegriff und seine Tabuisierung..................................................................... 18 2.7.2 Der Topos der ̦verlorenen Heimatʼ als Erinnerungsfigur ....................................... 20 2.8 Literatur in narratologischer Perspektive ...................................................................... 23 2.8.1 Erzählen im Rahmen der dichterischen Rede .......................................................... 23 2.8.2 Zum Verhältnis zwischen dem Erzählen und dem Erzählten .................................. 25 3 Gruppe als Gedächtnismedium in Aus dem Sinn von Emma Braslavsky 27 3.1 Figuren und Figurenkonstellationen ............................................................................... 27 3.1.1 Eduard Meiβerls Denken, Fühlen und Handeln ....................................................... 27 3.1.2 Paul Händls Denken, Fühlen und Handeln .............................................................. 30 3.1.3 Figuren und ihr soziales Umfeld .............................................................................. 32 3.2 Erzählinstanz .................................................................................................................. 33 3.2.1 Erzählung von Ereignissen ...................................................................................... 33 3.2.1.1 Motivierung von Ereignissen in narratologischer Sicht 33 3.2.1.2 Motivationale Verkettung von Ereignissen in Braslavskys Roman 35 3.2.2 Erzählung von Worten ............................................................................................. 37 3.3 Raumentwurf .................................................................................................................. 39 2 3.3.1 Semantisierung von Räumen in narrativen Texten .................................................. 39 3.3.2 Räumliche Ordnung in Emma Braslavskys Aus dem Sinn ...................................... 40 3.4 Zeitliche Situations- und Ereignisrahmen ...................................................................... 44 3.5 Das Verhältnis zwischen dem Erzählen und dem Erzählten – Fazit .............................. 46 4 Zusammenfassung .......................................................................................... 48 5 Praktischer Teil – Didaktisierungsvorschläge ............................................. 49 5.1 Stundenentwurf Nr. 1 ..................................................................................................... 49 5.2 Stundenentwurf Nr. 2 ..................................................................................................... 57 6 Literatur .......................................................................................................... 63 3 1 Literatur und Gedächtnis – Zur Zielbestimmung In der vorliegenden Arbeit wird auf den Zusammenhang zwischen der Literatur, dem Gedächtnis und der Erinnerungskultur aufmerksam gemacht, denn heutzutage lässt sich nicht nur im wissenschaftlichen Bereich ein immer gröβeres Interesse an den Gedächtnis- und Erinnerungskulturen feststellen. Mit dem Begriff „Erinnerungskultur” bezeichnet man den Versuch, Teile der Vergangenheit, anders gesagt unserer Geschichte, im Bewusstsein, im Gedächtnis zu halten und diese gezielt zu vergegenwärtigen. In der Erinnerung wird Vergangenes in einer bestimmten Gestalt vergegenwärtigt, so dass sie eine Beziehung zwischen dem Gegenwärtigen und dem Gewesenen bildet. Die Erinnerungen gewährleisten eine Art Anbindung des Gestern an das Heute, sind die Verbindungen zur Gegenwart. Diese Vergegenwärtigung und die Wirkung der geschichtlichen Ereignisse gestalten die Identität der Menschen sowohl als Individuum als auch als Kollektiv. Dabei bilden sie die Identifikationsverhältnisse, die zur Selbstversicherung und Einordnung des Einzelnen in der sozialen und politischen Welt dienen. Die erwähnten gewissen Entwicklungsphasen, d.h. die Formierung eigener Identität jeder offenen Gesellschaft erfolgen auch durch die Bewältigung einer Reihe von gesellschaftlichen Tabuthemen. Mit den Erinnerungskulturen hängt auch das Gedächtnis zusammen, das „einen prozesshaften Charakter“1 hat, in dem Sinne, dass einerseits manche Ereignisse verschwinden können, wenn an sie nicht erinnert wird. Andererseits werden sie aber behalten, wenn sie hervorgerufen werden. Das bedeutet, unser Gedächtnis verändert sich, d.h. es ist nicht statisch, sondern dynamisch. Es existiert in einem ständigen Prozess der Verwandlung und Neuformierung. Darauf, ob wir bestimmte Ereignisse vergessen oder behalten, hat die Häufigkeit des Erinnerns den Einfluss. Das Vergessen und das Behalten hängt aber auch von der Gesellschaftsform und von den Herrschenden ab. Mit den Gesellschaftsformen sind offene, d.h. demokratische und geschlossene, d.h. totalitäre Gesellschaften gemeint. Im ersten Fall wird an alles erinnert, abgesehen davon, ob die Ereignisse peinlich oder angenehm sind. Das politische Umfeld begünstigt das Gedächtnis und das Erinnern. Eine wichtige Rolle dabei spielen auch die Medien, die in der offenen Gesellschaft frei sind und grenzenlos über die Geschichte sprechen und schreiben können. Dadurch hat die Gesellschaft einen besseren und 1 Zimniak, Paweł: „Verlorene Heimat“ - Zum deutschen Topos in der polnischen Erinnerungkultur nach 1945, S.1. 4 freieren Zugang zur Vergangenheit. In der geschlossenen Gesellschaftsform dagegen spielen die Interessen der Herrschenden die wichtigste Rolle und ihnen ist alles unterordnet. Die politische Klasse beeinflusst die Gestalt des Gedächtnisses, indem einige historische Tatsachen in der Gesellschaft nicht funktionieren, nicht zugelassen oder instrumentalisiert werden. Die Erinnerung und das damit verbundene Gedächtnis ist in den letzten Jahren ein wichtiges literarisches Thema geworden. Der Zusammenhang zwischen Literatur und Gedächtnis hat in jüngster Zeit verstärkt Beachtung gefunden, denn Literatur ist ein wichtiges Medium, das das kulturelle Gedächtnis und die kollektive Identität prägt. Literarische Texte, unabhängig davon ob das ein Roman, ein lyrisches Gedicht, eine Liebesgeschichte oder ein Text der Trivialliteratur ist, dienten in der Vergangenheit – so Astrid Erll – als Medien des kollektiven Gedächtnisses.2 Und dieselbe Rolle spielen sie auch heutzutage. Auβerdem hat die Literatur auch andere wichtige Aufgaben im Zusammenhang mit dem kollektiven Gedächtnis. Nach der Position von Astrid Erll: Sie (=Texte aller Gattungen und Genres) erfüllen vielfältige erinnerungskulturelle Funktionen, wie die Herausbildung von Vorstellungen über vergangene Lebenswelten, die Vermittlung von Geschichtsbildern, die Aushandlung von Erinnerungskonkurrenzen und die Reflexion über Prozesse und Probleme des kollektiven Gedächtnisses.3 Das bedeutet also, die literarischen Texte vermitteln bestimmte Welten, Bilder, auch die Bilder von Geschichte, wodurch wir unsere Vorstellungen, Ansichten über die Vergangenheit, über die Menschen und ihr Leben bilden. Diese fiktionalen Texte können unterschiedliche, oder sogar widersprüchliche Bilder enthalten und dann kommt es zur Reflexion dessen, was durch die Literatur vermittelt wird. Viele deutsche Schriftsteller nehmen Erfahrungen und Erinnerungen als Ausgangspunkt in den Büchern an. Diese werden oft am Beispiel verschiedener Generationen verdeutlicht, wie z.B. im Buch „Die Unvollendeten” von Reinhard Jirgl. Zur Grundlage der Untersuchung wird Emma Braslavskys Aus dem Sinn (2007). Bei der Auseinandersetzung mit diesem Text ist der Aufbau der Figuren und ihre Relationen zueinander bemerkenswert. Beim Figurenentwurf ist es besonders relevant, wie sich der Raum ihres Denkens, Fühlens und Handelns entwickelt. Da sich die Figuren im Spannungsfeld zwischen den Erinnerungen an die verlorene Heimat und dem Leben in einem 2 Erll, Astrid: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B.Metzler 2005, S.143-165 (hier 143). 3 Ebd., S.143. 5 fremden Ort bewegen, wird zu bestimmen sein, in welche Richtung die einzelnen Wahrnehmungsperspektiven gehen und wie die Vergangenheit die Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft bestimmt. Auβerdem muss es aufgezeigt werden, wie die Kategorie des Raumes im untersuchten Text vollzogen wird. Es sollte weiterhin exemplifiziert werden, wie sich die Erzählsituation und die Zeitgestaltung gestaltet. Es sollte auch nachgewiesen werden, inwieweit die Erinnerungen wichtig sind, wenn man um eigene Identität kämpft. Es sollte die Frage nach der Rolle eines totalitären Systems in Bezug auf die Gestaltung und den Zugang zu bestimmten Erinnerungen gestellt werden. 6 2 Methodologischer Ansatz und Forschungsstand 2.1 Gedächtnis und Erinnerungskulturen als Forschungsobjekte Es soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Reflexion und die Pflege der Kulturgüter schon seit immer „zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen“4 gehört und dass wir den Beginn der Sachgeschichte des kollektiven Gedächtnisses schon in der Antike suchen können. Aber erst das 20. Jahrhundert bringt uns eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen des kollektiven Gedächtnisses. Die Art und Weise, wie die Menschen als Kollektiv den Bezug auf die Vergangenheit nehmen, hat - so Astrid Erll – „im Mittelpunkt kulturwissenschaftlicher Theoriebildung gestanden“.5 Die heutige Forschung des kollektiven Gedächtnisses basiert auf zwei Theorien, d.h. auf den Begriff mémoire collective von Maurice Halbwachs und auf das europäische Bildgedächtnis von Aby Warburg. Die zwei genannten Wissenschaftler waren die ersten, die dieses Phänomen systematisch untersucht haben. Ihre Untersuchungen und Schriften gelten als Grundlage der Theoriebildung zum kollektiven Gedächtnis. In den 80-er Jahren des 20. Jahrhunderts hat die Forschung vom Gedächtnis wieder an Bedeutung gewonnen. An dieser Stelle sollen zwei Namen erwähnt werden, nämlich Pierre Nora und Aleida und Jan Assmann. Die letzten sind die bedeutendsten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, die sich besonders mit dem Begriff des kulturelles Gedächtnis im deutschsprachigen Raum auseinandergesetzt und ihn geprägt haben. Mit diesem von Assmann entwickelten Begriff hängt auch das Konzept der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung zusammen, das weit diskutiert wird. Im Mittelpunkt der Theorie des kulturellen Gedächtnisses steht die systematische und begriffliche Differenzierung des Verhältnisses zwischen Kultur und Gedächtnis. Dabei handelt es sich um den Zusammenhang von kultureller Erinnerungen, ihren Einfluss auf die Bildung der kollektiven Identität und politischer Legitimierung. Hinsichtlich des Begriffs „Erinnerungskulturen“ soll der Gieβener Sonderforschungsbereich genannt werden. Diesem SFB an der Justus-Liebig-Universität Gieβen verdanken wir das Modell zur Beschreibung von kulturellen Erinnerungsprozessen. Im Rahmen dieses Modells 4 Erll, Astrid: Die Erfindung des kollektiven Gedächtnisses: Eine kurze Geschichte der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. In: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S.13-39 (hier 13). 5 Ebd., S.13. 7 wird auf Dynamik, Kreativität, Prozesshaftigkeit und Pluralität der kulturellen Erinnerung hingewiesen. 2.2 Individuelles und kollektives Gedächtnis nach Halbwachs Der französische Soziologe Maurice Halbwachs in seinen dem Gedächtnis gewidmeten Schriften unterschied zwischen dem individuellen und kollektiven Gedächtnis. Er versuchte auch zu beweisen, dass individuelle Erinnerungen sozial bedingt sind, dass das individuelle Gedächtnis sich in einer bestimmten Person durch ihre Teilnahme an sozialen Prozessen aufbaut. Nach der Position von Halbwachs ist „der Rückgriff auf soziale Bezugsrahmen erforderliche Voraussetzung für jede individuelle Erinnerung“.6 Zu diesen sozialen Rahmen zählt er zuerst die Menschen, die neben uns leben. Jeder von uns ist ein soziales Wesen und ohne den Kontakt zu den anderen Menschen hat er keinen Zugang zu solchen kollektiven Phänomenen wie z.B. Sprache oder Sitten. Nach Halbwachs hat er dann auch keinen Zugang zum eigenem Gedächtnis, eigenen Erinnerungen. Ein Grund dafür scheint daran zu liegen, dass wir die Erfahrungen durch die Interaktion mit den anderen Menschen machen. Und diese können uns dann Hilfe leisten, um sich an irgendetwas zu erinnern, denn sie waren die Zeugen der Ereignisse und deswegen können den Erinnerungsprozess vereinfachen. Halbwachs interpretierte also das Gedächtnis als soziales Phänomen, das der Mensch erst im Prozess seiner Sozialisation erwirbt. Laut Halbwachs werden die Erinnerungen durch Interaktion und Kommunikation in sozialen Gruppen vermittelt. Er machte darauf aufmerksam, dass unsere persönlichen Erinnerungen sich aus unseren Beziehungen zu verschiedenen sozialen Gruppen wie z.B. Familie, Religionsgemeinschaft, Freunde oder Milieus ergeben. Durch diese Kontakte, z.B. durch die Sprache, die als Medium von Erinnerungen dient, kommt es zum Austausch von Erinnerungen. Von daher machen wir je nach Gruppe unterschiedliche, spezifische Erfahrungen und verfügen dann über verschiedenartige Erfahrungen und Erinnerungen. Das individuelle Gedächtnis ist also das Ergebnis der Teilnahme an mehreren Gruppengedächtnissen. Daraus resultiert die Tatsache, dass das, was den Unterschied zwischen den Gedächtnisse der Menschen macht, die Gruppenzugehörigkeit und daraus folgende Erinnerungsinhalte sind. 6 Ebd., S.15. 8 Die Erfahrungen anderer prägen in manchen Situationen unsere eigene Erinnerungen, z.B. im Fall eines Kindes, das sich an eigene Kindheit oft nur durch die Erzählungen seiner Eltern erinnern kann. Das kollektive Gedächtnis bilden also Teile von individuellen Gedächtnissen, die zu diesem verschmelzen. Die Substanz des kollektiven Gedächtnisses machen demnach die Erinnerungen an Ereignisse und Erfahrungen, mit denen die Mehrheit der Gruppemitglieder konfrontiert oder beschäftigt war. Daraus lässt sich ableiten, dass das kollektive und individuelle Gedächtnis „in einer Beziehung wechselseitiger Abhängigkeit stehen“.7 Unsere Erinnerungen sind nach Halbwachs kollektiv, denn sie uns von anderen Menschen ins Gedächtnis zurückgerufen werden. D. h. Wir brauchen das kollektive Gedächtnis um die individuellen Erinnerungen zu bestätigen und zu präzisieren. Halbwachs unterschied auch zwischen der Geschichte und dem Gedächtnis. Für ihn sind diese zwei Phänomene unvereinbar. Geschichte – so Halbwachs – beginnt an dem Punkt, wenn die Vergangenheit nicht erinnert oder gelebt wird. Sie zeichnet die Objektivität aus, denn sie ordnet neutral alle vergangenen Ereignisse. Das Ziel der Geschichte ist laut Halbwachs die Vergangenheit. Die Geschichte wird von Epoche zu Epoche neu retuschiert, d.h. überarbeit, es werden Veränderungen angebracht , um sie den aktuellen Denkweisen der Menschen und ihren Vorstellungen von Vergangenheit anzupassen. Das kollektive Gedächtnis dagegen ist partikular. Ihre Träger sind Gruppen, die zeitliche und räumliche Begrenzung charakterisiert. Der Vergangenheitsbezug im Rahmen dieses Erinnerungsraumes hat eine Funktion – Identitätsbildung, die zur Selbstversicherung und Einordnung des Individuums in der sozialen oder politischen Welt dient. Die Mitglieder der Gruppe erinnern sich daran, was ihren Interessen und Selbstbild entspricht. Von daher ist der Umgang mit Vergangenheit eher selektiv. Die Erinnerungen sind kein Abbild der Vergangenheit, sondern nur ihre Rekonstruktion. Das ist auch der Grund dafür, dass hier „Verzerrungen und Umgewichtungen bis hin zur Fiktion möglich“ sind. 8 Die Erinnerungen werden so konstruiert, dass sie den aktuellen Vorstellungen und Konventionen der Gruppen entsprechen. Die Teilhabe am kollektiven Gedächtnis ist ein Zeichen dafür, dass „der sich zu Erinnernde zur Gruppe gehört“.9 D.h. wenn der sich zu Erinnernde mit anderen 7 Ebd., S.16. Ebd., S.17. 9 Ebd., S.17. 8 9 die Erinnerungen nicht teilt, gehört er zu dem Kollektiv nicht mehr. Die Teilnahme der Erinnerungen entscheidet darüber, ob derjenige zu einer bestimmten Gruppe gehört oder nicht, ob er ihr Teil ist oder nicht. Andererseits durch die Zugehörigkeit zu sozialen Konstellationen und durch die Kommunikation bildet sich das Gedächtnis im Individuum. Zusammenfassend behält das kollektive Gedächtnis von der Vergangenheit das, was im Bewusstsein der Gruppe noch lebendig ist. Das kollektive Gedächtnis lebt also im Bewusstsein dieser sozialen Konstellation. Dieser Erinnerungsraum sichert Eigenart und Kontinuität einer Gruppe, denn hat Identitätsbildungsfunktion. Die Geschichte dagegen, die die Jahrhunderte periodisiert einteilt, steht auβerhalb und über den Gruppen. Es gibt nur eine Geschichte, von daher ist sie universal. Sie unterbricht und übergeht Zeiten und dokumentiert alle Entwicklungen und Ereignisse, die sich über alle Perioden hin erstrecken. 2.3 Europäisches Bildgedächtnis nach Aby Warburg Der Kunst- und Kulturhistoriker Aby Warburg hat in seinen Überlegungen zum kollektiven Gedächtnis die materielle Dimension im Vordergrund gestellt. Im Mittelpunkt ihrer Interesse hat das Kunstwerk als zentrales Medium des kollektiven Gedächtnisses gestanden. Nach seiner Position beinhaltet dieses Kunstwerk eine Energie, die in unserem Gedächtnis Spuren hinterlässt. Es zeichnet sich auch dadurch aus, dass es „lange Zeiten überdauern“ und „weite Räume durchqueren“10 kann. Als Beispiel kann hier die Antikkultur gelten, auf die unter anderen die Künstler in der Renaissance zurückgegriffen haben. Sie haben in den antiken Vorbildern die Erregung zur eigenen Arbeit gesucht. In Bezug darauf hat Warburg den Begriff „Pathosformeln“ entwickelt, mit Hilfe dessen er solche Symbole bezeichnet, „in denen sich das antike Pathos niederschlagen hatte“.11 Die Pathosformeln speichern eine Kraft, eine Energie, diese Symbole sind eine Art „kultureller ‹Energiekonserve›“.12 Warburg hat ein Konzept des kollektiven Bildgedächtnisses entworfen, indem er ein Projekt Mnemosyne-Atlas entwickelt hat. Der Begriff „Mnemosyne“ ist Bezeichnung für die griechische Schutzgöttin des Gedächtnisses und der Erinnerungskunst. In diesem Projekt handelt es sich um ein Archiv von Pathosformeln, einen Bildatlas , der „ein epochen- und länderüberschreitendes Bildgedächtnis veranschaulichen sollte.“13 Das Ziel des Projekts war auch, mit Hilfe von Bildern das vielfältige Weiterleben der Antike in der europäischen Kultur 10 Ebd., S.20. Ebd., S.19. 12 Ebd., S.19. 13 Ebd., S.20. 11 10 anschaulich zu machen und eine Erinnerungsgemeinschaft zu schaffen, die Europa und Asien übergreift. Dar Bilderatlas von ca. 1140 Bildern soll als ein Gedächtnis wirken, das zur Erinnerung, Nach- und Vorahnung kultureller Formungen befähigt. Mit diesem Atlas wollte Warburg darauf hinweisen, dass das Bild im Kollektivgedächtnis dieselbe Rolle spielt wie das Engramm im Zentralnervensystem des Individuums. Das Konzept vom Bildgedächtnis nach Aby Warburg beruht auf die materielle Dimension, weil Bilder ein Teil materieller Medien sind, die die ganzen Epochen überdauern vermögen. Warburg hat betont, dass die Bilder eine Art soziales Gedächtnis sind, die zur Bildung eines Kollektivgedächtnisses eine immense Rolle spielen. 2.4 Noras Erinnerungsorte Der Begriff „Erinnerungsorte“ (lieux de mémoire) geht auf den französischen Historiker Pierre Nora zurück. Nora verwendete ihn in Ablehnung an die loci memoriae der Gedächtniskunst als Kristallisationspunkt von Identität. Er führte ihn bei der Forschung von Erinnerungsorten für Frankreich ein. Mit diesem Begriff sind nicht nur geographische Orte, sondern auch reale und mythische Gestalten, Ereignisse, Gebäude, Denkmale, Begriffe, Lieder, Feste, Bücher, Kunstwerke einer Kultur gemeint. Damit verband Nora die Vorstellung, dass sich das kollektive Gedächtnis einer sozialen Gruppe an bestimmten Orten kristallisiert. Diese ʻOrte̓ haben eine besondere Symbolkraft, eine symbolische Bedeutung, die für die jeweilige Gruppe eine identitätsstiftende Funktion hat. Für Nora gab es damals, d.h. im 20. Jahrhundert kein kollektives Gedächtnis und die von ihm eingeführten Erinnerungsorte sollten als „eine Art künstlicher Platzhalter für das nicht mehr vorhandene natürliche kollektive Gedächtnis“14 dienen. D.h. Erinnerungsorte verweisen auf das abwesende lebendige Gedächtnis und auf die Aspekte der Vergangenheit, an die erinnert wird. Nora sonderte drei Dimensionen der Erinnerungsorte heraus, die die Voraussetzungen angeben, die ein Ereignis oder Gegenstand einer Kultur erfüllen müssen, um als Erinnerungsort bezeichnet zu werden. Das sind folgende Kriterien: - Materielle Dimension: Bei diesem Kriterium geht es nicht darum, ob etwas fassbar ist, ob wir etwas anfassen können, wie z.B. Buch oder Gebäude, denn auch vergangene Ereignisse oder Lieder zu Erinnerungsorten gehören. Laut Nora kann ein Gegenstand 14 Ebd., S.23. 11 zum Erinnerungsort werden, wenn er ein „materieller Ausschnitt einer Zeiteinheit“15 ist. - Funktionale Dimension: Die Objektivationen, die den Status des Erinnerungsortes erreichen, müssen in der Gesellschaft eine wichtige Funktion erfüllen. Als Beispiel kann die Schweigeminute erwähnt werden, die eine bestimmte und allen bekannte Aufgabe in den Gesellschaften hat. Sie soll uns ein Ereignis oder eine Person in Erinnerung bringen. Diese kurze Zeit ist am meisten eine Art Ehrerbietung. - Symbolische Dimension: Entscheidend ist auch, ob ein Gegenstand der Kultur Wirkungskraft als Symbol besitzt, eine symbolische Bedeutung hat. Er kann diese Symbolkraft schon im Moment der Entstehung haben oder erst nach einiger Zeit gewinnen. Viele Kritiker haben Nora die Frage gestellt, ob alles zum Erinnerungsort werden kann. Der französische Historiker antwortete, dass diesen Status alle solchen kulturellen Phänomene erreichen können, die durch das Kollektiv bewusst oder unbewusst mit der Vergangenheit oder nationaler Identität in Verbindung gebracht werden. 2.5 Jan Assmanns Konzept des kulturellen Gedächtnisses 2.5.1 Kommunikatives und kulturelles Gedächtnis als zwei ›Gedächtnis – Rahmen‹ Aleida und Jan Assmann weisen in ihrer Überlegungen zum kollektiven Gedächtnis darauf hin, dass das auf die Alltagskommunikation basierte kollektive Gedächtnis sich vom kollektiven Gedächtnis, das auf „symbolträchtige kulturelle Objektivationen“16 fuβt, unterscheidet. Von daher differenzieren sie zwischen die so genannten zwei ›Gedächtnis Rahmen‹, d.h. zwischen dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis. Jan Assmann sondert bestimmte Merkmale der beiden Gedächtnisformen heraus, um aufzuzeigen, inwieweit sie sich voneinander unterscheiden. Zu den Merkmalen des kommunikativen und des kulturellen Gedächtnisses gehören: Inhalt, Formen, Medien, Zeitstruktur und Träger (= Menschen) des Gedächtnisses. Das kommunikative Gedächtnis zeichnet sich dadurch aus, dass es durch die Wechselbeziehung, durch die Interaktion im Alltag entsteht. Das ist der soziale Raum, in dem 15 Ebd., S.24. Ebd., S.27. 16 12 Menschen ihre Sichtweisen miteinander austauschen und sich über Dinge, die passiert sind, verständigen. Es ist die Erinnerung, die sich durch Kommunikation ständig verändert. Es ist also eher informell und wenig geformt. Diese Gedächtnisform entsteht durch die Kommunikation zwischen den Menschen, daher jeder Mitglied der Gesellschaft ist befugt das vergangene Geschehen zu erinnern und zu interpretieren. Nach Assmann macht sich diese Gedächtnisform an den persönlichen Erinnerungen und Erfahrungen fest, die die Menschen mit ihren Zeitgenossen teilen. Das kommunikative Gedächtnis speichert also die Geschichtserfahrung im Rahmen individueller Biographien aufgrund der geteilten Erinnerungen mit den Mitmenschen. Es resultiert aus den lebendigen Erinnerungen einer Gemeinschaft, die zugleich stark durch soziale Einflüsse geprägt wird. Von daher ist es sehr viel kurzfristiger ausgerichtet, d.h. es umfasst einen Zeitraum von etwa 80 – 100 Jahren, also drei bis vier Generationen und deswegen wird als eine Art Kurzzeitgedächtnis einer Gesellschaft bezeichnet. Dieser beschränkte Zeithorizont verursacht, dass sich die Inhalte des kommunikativen Gedächtnisses ständig verändern. Die Träger sind in diesem Fall die Zeitzeugen bestimmter Geschehnisse einer Erinnerungsgemeinschaft. Die Teilhabe an dieser Erinnerung ist diffus, insofern, dass jeder durch Kommunikation auf das kommunikative Gedächtnis Einfluss nehmen kann. Diese diffuse Teilhabe gibt diesem Gedächtnis den Charakter einer privaten Deutung der Vergangenheit. Es ist das inoffizielle Gedächtnis einer Gruppe, das Alltagsgedächtnis einer Gesellschaft. Die Wiedergabe des kommunikativen Gedächtnisses erfolgt hauptsächlich mündlich und damit könnte mehr oder weniger schnell in Vergessenheit geraten, wenn es kein technologischer Fortschritt wäre. Bei der Weitergabe dieser Form vom Gedächtnis spielen Affekte wie Hass, Liebe, Scham und Trauer eine entscheidende Rolle. Ein typischer Fall des kommunikativen Gedächtnisses ist das Generationengedächtnis. Es bezeichnet das Gedankengut von den Menschen, die nach Assmann Träger genannt werden, die gemeinsam in einer bestimmten Zeit leben. Daraus resultiert, dass sie ein spezifisches Gedächtnis entwickeln. Dieses Generationengedächtnis geht dann verloren, wenn die Träger nicht mehr leben, denn die historischen Ereignisse werden von Generation zu Generation überliefert. Das kulturelle Gedächtnis dagegen ist alltagsfern, reicht weiter in die Vergangenheit als das kommunikative. Für diese Gedächtnisform ist es charakteristisch, dass es mythische Urgeschichte, mythische Zeit in einer absoluten Vergangenheit beinhaltet. Es markiert also einen sehr viel breiteren Zeithorizont im Vergleich zum kommunikativen Gedächtnis und deshalb gilt als das Langzeitgedächtnis einer Gesellschaft. Das kulturelle Gedächtnis ist 13 gestiftet, wohl geformt und bildet den Gegenstand formeller Kommunikation. Die Träger dieses Gedächtnisses kann nicht jeder sein, wie es im ersten Fall ist, sondern nur Spezialisten, wie z.B. Archivare, Priester, die zur Interpretation von Inhalten des kulturellen Gedächtnisses ausgebildet sind. Das kulturelle Gedächtnis zeichnet sich also durch differenzierte Teilhabe aus. Nicht alle Mitglieder eines Kollektivs beeinflussen es in gleichberechtigtem Maβe. Insofern spricht man vom kulturellen Gedächtnis auch als vom offiziellen Gedächtnis einer Gruppe. Da es die Tradition als Verfahren hat– statt der Kommunikation, wie es im Fall des kommunikativen Gedächtnisses ist – umfasst es einen viel gröβeren zeitlichen Rahmen als Alltagsgedächtnis. Im Mittelpunkt dieser Gedächtnisform stehen – so Assmann – Ereignisse einer fernen Vergangenheit, wie z.B. der Kampf um Troja. Das kulturelle Gedächtnis wird über die Generationenfolge weitergegeben und ist vom Tod seiner Träger nicht bedroht. Die Medien zur Aufbewahrung dieses Gedächtnisses sind: Lieder, Sprichwörter, heilige Texte, Bilder, Ornamenten oder Gesetze. Das wichtigste Medium ist aber in der abendländischen Kulturtraditionen die Schrift. Nach der Position von Assmann entsteht zwischen den beiden ›Gedächtnis - Rahmen‹ eine Lücke, die s.g. „floating gap“.17 Dieser Begriff wird von Ethnologen Jan Vansina geprägt und scheint eine Übergangszeit, eine Brücke vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis zu sein, in der um die definite Form und den Inhalt des kulturellen Gedächtnisses gekämpft wird. Anders gesagt: Das ist eine flieβende Lücke zwischen lebendiger Erinnerung und offizieller Erinnerung und gilt als typisches Phänomen schriftloser Geschichtserinnerung. 2.5.2 Gedächtnis als ars und vis Aleida Assmann widmet sich den Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses in der Neuzeit. Um den Grundunterschied der beiden „Memorialfunktionen“ 18 zu erläutern, greift sie auf die lateinischen Begriffe ars und vis zurück. Demzufolge differenziert sie zwischen dem Gedächtnis als ars und dem Gedächtnis als vis. Das Gedächtnis als ars bezieht sich auf das Verfahren, Technik der Speicherung nach dem topographischen, d.h. räumlichen Vorbild. Das soll eine identische, nicht veränderte Rückholung der gespeicherten Informationen garantieren. Anders gesagt: Diese Gedächtnisform wird laut Aleida Assmann als ein Wissensspeicher verstanden, in dem die 17 Ebd., S.28. Ebd., S.31. 18 14 Informationen aufbewahrt werden und je nach Bedarf „in der gleichen Form abgeruft werden können.“19 Beim Gedächtnis als vis fällt der Fokus auf die Dimension der Zeit und auf den damit verbundenen Einfluss auf die Gedächtnisinhalte. Im Mittelpunkt dieser Gedächtnisform steht daher die Tatsache, dass die Erinnerungen prozesshaftig sind, d.h. sich verändern. Die Erinnerungen sind Veränderungen unterworfen, was im Zusammenhang mit der Zeit steht. Dieser Prozess der Veränderung aufgrund seiner zeitlichen Dynamik vollzieht eine Erneuerung, Verformung und Umwertung des Erinnerten. Auβerdem können unsere Erinnerungen rekonstruiert, d.h. wiederhergestellt werden. Das Gedächtnis als vis beinhaltet auch das Vergessen. Das lässt sich nachvollziehen, denn unser Gedächtnis enthält eine groβe Menge von Informationen, aber nur wenige von diesen werden ausgewählt. An dieser Stelle muss betont werden, dass diese Auswahl von der gegenwärtigen Situation abhängt, d.h. wir erinnern uns daran, was für uns in einem konkreten Moment wichtig ist, was unseren Bedürfnissen entspricht. 2.5.3 Funktions- und Speichergedächtnis als zwei Modi der Erinnerung Aleida Assmann differenziert das Gedächtnis weiter und unterscheidet dabei zwischen dem Funktions- und Speichergedächtnis. Das zweite Gedächtnispaar wird anders als das „bewohnte Gedächtnis“ und als das „unbewohnte Gedächtnis“20 bezeichnet. Diese eher abstrakte Beschreibung der beiden Gedächtnisformen mit „bewohnt“ und „unbewohnt“ lässt sich einfacher mit „aktiv“ und „passiv“ ausdrücken. Beim bewohnten Funktionsgedächtnis handelt es sich um die aktiven Erinnerungen einer Gesellschaft, die zurückgeruft werden können und deren man sich bewusst ist. Es besteht aus Elementen, die bestimmte Bedeutung für die oben genannte Gruppe haben. Dieser Erinnerungsraum des Funktionsgedächtnisses ist also gruppenbezogen, verbindet sich mit bestimmten Werten, die die Gemeinschaft für wichtig hält und orientiert sich an der Zukunft. Bei diesem Gedächtnistyp geht es daher um ein solches Gedächtnis, das von einer Menschengruppe angeeignet wird. Es ist Resultat eines Prozesses, in dem die Erinnerungen ausgewählt und verknüpft werden. Wie schon die Bezeichnung darauf hinweist, ist das ein aktives Gedächtnis, d.h. die Tatsache, dass man sich mit den Erinnerungen aktiv auseinandersetzt, führt dazu, dass bestimmte im Funktionsgedächtnis aufbewahrte Elemente 19 20 Ebd., S.31. Ebd., S.31. 15 nicht ganz verstummen, sondern über Generationen immer neu, anders aufgenommen werden. Die Zeitstruktur ist also diachron. Die Erinnerungen sind laut Aleida Assmann „eine Art Anbindung des Gestern an das Heute“.21 Aleida und Jan Assmann weisen auf drei Motive des bewohnten Funktionsgedächtnisses hin. Diese lassen sich auf politischer und religiöser Ebene beschreiben. Als das erste Motiv dieses Gedächtnistyps gilt die Legimitation. Sie dient vor allem den politischen Herrschern, ihre Macht rückblickend zu berechtigen und auf diese Art und Weise eigene Position für die Zukunft zu festigen. Um das zu erreichen, gehen sie mit dem Funktionsgedächtnis selektiv um und rufen nur diese Erinnerungen ab, die ihre Person in der Öffentlichkeit ins rechte Licht rücken. Daraus resultiert das zweite Motiv dieses Erinnerungsraumes – die Delegitimierung. Die Gruppen, die durch ein solches Handeln delegitimiert werden, streben danach, das inoffizielle Gedächtnis zu erhalten und mit dessen Hilfe eine kritische und subversive d.h. destruktive, zerstörerische Gegenposition zu bilden. Als das dritte Motiv des bewohnten Funktionsgedächtnisses soll die Distinktion erwähnt werden. Nach der Position von Aleida und Jan Assmann nimmt sie Bezug auf religiöse Feste und Traditionen zwecks der Festigung einer kollektiven Identität. Dabei stützt die Distinktion auch die Gedächtnisse der Nationen. Als Ergänzung muss noch betont werden, dass die Distinktion sich nicht nur auf Religion oder Kultur beschränkt, sondern kann auch die Politik betreffen. Das unbewohnte Speichergedächtnis beinhaltet die passiven, latenten, d. h. versteckten Erinnerungen. Diese werden nicht bewusst wahrgenommen und sogar formuliert. Aleida und Jan Assmann nach beruhen sie z.B. auf verdrängte oder vergessene Erfahrungen. Dieser Gedächtnistyp ist eine Art kulturelles Archiv, in dem die materiellen Überreste vergangener Epochen aufbewahrt werden und zu denen wir den unmittelbaren Bezug verloren haben, d.h.es wird als tote, unverfügbare Ansammlung von Fakten verstanden. Zu den Medien und Institutionen dieser Gedächtnisform gehören z.B. Kunst, Wissenschaft, Museum oder Literatur. Aleida Assmann weist aber darauf hin, dass alle Elemente des Speichergedächtnisses in das bewohnte Funktionsgedächtnis übergehen können. Laut Aleida und Jan Assmann hat das unbewohnte Speichergedächtnis eine wesentliche Eigenschaft. Als diese gilt die Distanzierung. Die Distanzierung des Speichergedächtnisses zum Funktionsgedächtnis ermöglicht das aktuelle Funktionsgedächtnis dadurch zu verbessern, dass man alte Erinnerungen zurückruft und diese in die Gegenwart einflieβen 21 Ebd., S.32. 16 lässt. Dazu soll noch ergänzt werden, dass eben diese Eigenschaft des Speichergedächtnisses vor allem bei Politikern unbeliebt ist. Das lässt sich nachvollziehen, denn diese alten Erinnerungen können ihr Bild zerstören oder mindestens kann ihre Position erschüttert werden. Von daher wird versucht, dieses Speichergedächtnis auszulöschen und nicht wieder auferstehen zu lassen. Beide Gedächtniserinnerungsräume sehen Assmann und Assmann nicht in Opposition zueinander, sondern betonen die perspektivische Wechselbeziehung zwischen ihnen. Dabei bedienen sie sich der Begriffe „Vordergrund‘ und „Hintergrund“. In diesem Zusammenhang ist das Funktionsgedächtnis als Vordergrund zu verstehen und das Speichergedächtnis als Hintergrund. Laut Aleida Assmann ermöglicht diese Bezogenheit von Vorder- und Hintergrund die Veränderung des bewussten Gedächtnisses, sowie die Auflösung und Neuzusammensetzung von Konfigurationen. Auβerdem besteht die Möglichkeit, dass aktuelle Elemente unwichtig werden und latente Elemente dagegen auftauchen und aufgrund dessen neue Verhältnisse geschaffen werden. 2.6 Erinnerungskulturen nach dem Konzept des Gieβener Sonderforschungsbereich 434 Der Sonderforschungsbereich 434 an der Justus – Universität in Gieβen zielt auf eine Rekonstruktion der Geschichte des Erinnerns. Seine Untersuchungsgegenstände sind Inhalte und Formen der kulturellen Erinnerung im Zeitraum von der Antike bis ins 21. Jahrhundert. Dieses Konzept fordert die interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener kulturwissenschaftlichen Disziplinen, wie z.B. Philosophie, Soziologie, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Geschichtswissenschaft. Das Ziel ist es auch, Formen und Funktionen des Erinnerns in ihrer Dynamik, Kreativität, Prozesshaftigkeit und Pluralität zu analysieren. Zuerst soll erklärt werden, was der Begriff „Erinnerungskultur“ beinhaltet. Erll zittiert die Definition von „Erinnerungskultur“, die folgendes lautet: „ Der Begriff [Erinnerungskulturen] verweist auf die Pluralität von Vergangenheitsbezügen, die sich nicht nur diachron in unterschiedlichen Ausgestaltungen des kulturellen Gedächtnisses manifestiert, sondern auch synchron in verschiedenartigen Modi der Konstruktion der Erinnerung, die komplementäre ebenso wie konkurrierende, universale wie partikulare, auf Interaktion wie auf Distanz- und Speichermedien beruhende Entwürfe beinhalten können“.22 22 Ebd., S.34. 17 Dieser Begriff weist daraufhin , dass der Bezug auf die Vergangenheit auf verschiedenen Art und Weise genommen werden kann. Diese Pluralität der Erinnerung kommt zum Ausdruck nicht nur diachron, d.h. im Laufe der Geschichte, sondern auch synchron in verschiedenen Formen der Erinnerung. Die Erinnerungsgestalt enthält gegensätzliche, konkurrierende, allgemeine und partielle Konzepte, die auf Interaktion sowie auf „Distanz- und Speichermedien“ basieren. Das Anliegen des Sonderforschungsbereiches 434 ist auch die Rahmenbedingungen des Erinnerns, die Ausformung spezifischer Erinnerungskulturen und unterschiedliche Formen der Erinnerung zu untersuchen. Hinsichtlich der Rahmenbedingungen des Erinnerns werden drei Faktoren herausgesondert: - Die Gesellschaftsformation – dabei handelt es sich um Form der Gesellschaft, innerhalb der erinnert wird, z.B. feudale, bürgerliche Gesellschaft oder Adelsgesellschaft. - Die Wissensordnung bedeutet die Gesamtheit von Regeln, nach denen eine Gesellschaft funktioniert. - Das Zeitbewusstsein wird von drei Faktoren des historischen Wandels bestimmt, d.h. von seiner Geschwindigkeit, Art und seinem Umfang. Die zweite Ebene von Erinnerungsprozessen bezieht sich auf Form, Gestalt von Erinnerungskulturen. Im Zentrum der Interessen stehen hier vier Aspekte: - Die Erinnerungshoheit steht im Zusammenhang mit der Entwicklung der Erinnerungskulturen in einer Gesellschaft und auch damit, dass sie miteinander konkurrieren. - Die Erinnerungsinteressen von verschiedenen Gruppen der Gesellschaft – dabei muss darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie miteinander konkurrieren, nebeneinander herrschen und aufeinander einen Einfluss nehmen können. - Die Erinnerungstechniken, d.h. durch welche Strategien, auf welche Art und Weise sich eine Gesellschaft an vergangene Ereignisse erinnert, z.B. Mündlichkeit, Schriftlichkeit, mnemotechnische Strategien. - Die Erinnerungsgattungen – dabei handelt es sich um die Darstellungs-/PräsentationsWeise des Vergangenen, wie z.B. im Bereich der Literatur – historischer Roman, der Kunst – Historienbild, der Medien – Geschichtsfilm. Die dritte Ebene nimmt Bezug auf „die Äuβerungsformen und Inszenisierungsweisen“23 der Vergangenheit. 23 Ebd., S.35. 18 - Hiermit werden das Gedächtnis und die Erinnerung voneinander unterschieden. Kulturelles Gedächtnis wird als eine schlussfolgernde Formation begreift, Erinnerung dagegen als Aufnahme und ein neuer Entwurf der Vergangenheit. - Im Zentrum der Interessen steht auch eine Differenzierung zwischen „erfahrener und nicht-erfahrenen Vergangenheit“.24 Zum einen wird auf die Vergangenheit unserer individuellen Erfahrungen hingewiesen, d.h. wir erinnern uns an das Vergangene aufgrund unserer persönlichen Erfahrungen, aufgrund dessen, was wir selbst erlebt haben. Zum anderen unterscheidet man die Vergangenheit als den Erwerb der Erinnerungen der anderen. Die beiden Formen, die in einer wechselseitigen Beziehung zueinander stehen, verlangen andere Strategien, Techniken der Erinnerung. 2.7 Heimat und der Topos der ̦verlorenen Heimatʼ 2.7.1 Heimatbegriff und seine Tabuisierung Der Heimatbegriff ist nicht einfach zu definieren. Nicht zuletzt deswegen, dass er verschiedene Ebenen umfasst, nicht nur in Bezug auf einen Raum, Ort, sondern auch beinhaltet die innere Dimension, die mit bestimmten Gefühlen, ästhetischen Komponenten im Zusammenhang steht. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Heimat zunächst auf den Ort (auch als Landschaft verstanden) bezogen, in den der Mensch hineingeboren wird, wo die frühen Sozialisationserlebnisse stattfinden, die weithin Identität, Charakter, Mentalität, Einstellungen und schließlich auch Weltauffassungen prägen. „Heimat“ ist aber auch „ein Mysterium, das von einer menschlichen Nähe, Wärme und Sicherheit geprägt“25 ist. „Heimat“ ist zugleich auch das Gefühl der kulturellen Identifikation mit den Traditionen, Sitten, Bräuchen, der Sprache und Landschaft. Das Aufkommen des Nationalsozialismus verursachte „eine wesentliche Stärkung der politischen Dimension des Heimat-Begriffs“.26 In der Zeit des Nationalsozialismus hatte er eine ganz besondere Aufgabe, nämlich die Stärkung des kollektiven Bewusstseins hinsichtlich nationaler Zugehörigkeit und Eigenart. Das Individuum sollte sich mit der neuen Staatsform identifizieren. Zur diesen Zeit ist der Heimatbegriff, im Zusammenhang mit der Blut- und Boden-Ideologie, mit der Politik des Lebensraumes und der Rassenideologie, zum Mittel der 24 Ebd., S.35. Zimniak, Paweł: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. Literarische Fallstudien. Wrocław/Dresden: Neisse Verlag 2007, S.25-81 (hier S.67). 26 Ebd., S.68. 25 19 Steuerung von groβen Menschenmassen geworden. Er war Träger einer Ideologie, die eigene Heimat von den anderen abgegrenzt und höherwertig betrachtet hat. Der Missbrauch und die Instrumentalisierung des Heimatbegriffs zur Zeit des Nationalsozialismus und die Tatsache, dass er ideologisch belastet war, hat dazu beigetragen, dass er nach 1945 ein Tabubegriff war. Er war in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ein sehr konservativer Begriff, der aus den öffentlichen Diskussionen verschwunden ist. Es lassen sich drei Faktoren heraussondern, die für die Tabuisierung bis zum Verschwinden des Heimatbegriffs verantwortlich waren. Als erster gilt die ideologisch – politische Überstrapaziertheit des Begriffs, d.h. der oben schon erwähnte Missbrauch des Begriffs in der Zeit des Nationalsozialismus. Er wurde mit der Rassenideologie, mit der Blut- und Boden-Ideologie und auch mit den Vertreibungen, Zwangsausweisungen und der Flucht assoziiert , wodurch er einen „politisch – ideologischen Beigeschmack“27 bekommen hat. Es gab zwar Versuche, „den Begriff zu entpolitisieren und zu entideologisieren“, 28 aber sie sind gescheitert. Als zweiter Faktor müssen solche Begriffe wie „Wiederaufbau“ oder „Wirtschaftswachstum“ genannt werden, die in den ersten Nachkriegsjahren an Bedeutung gewonnen haben. Sie haben den schon zur Vergangenheit gehörenden Begriff „Heimat“ verdrängt, weil er einfach wenige Durchschlagskraft besitzt hat. Man hat sich damals auf den Wiederaufbau des zerstörten deutschen Staates konzentriert. Als der dritte Faktor, der für die Tabuisierung des Heimat-Begriffs mitverantwortlich war, gelten die wachsende Skepsis der politisch engagierten Jugend, die sich vom Krieg und allen mit ihm verbundenen Erfahrungen distanzieren wollte. Die jungen Menschen wollten sich auch von den Werten ihrer Vätergeneration distanzieren, mit denen sie nichts zu tun haben wollten. Daraus resultiert auch die Tatsache, dass sie sich vom Erfahrungsdruck entlassen mochten. Ihnen waren einige historische Fakten peinlich, von daher wollten sie diese vergessen. An dieser Stelle muss aber ergänzt werden, dass eine solche Haltung der Geschichte gegenüber keine richtige ist. Der Historiker Peter Burke schreibt dazu folgendes: Diese Kenntnis [von unangenehmen Erinnerungen P.Z] könnte z.B. vor der gefährlichen Illusion bewahren, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als einen schlichten Kampf zwischen Helden und Schurken, zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht aufzufassen.29 27 Ebd., S.72. Ebd., S.72. 29 Zimniak, Paweł: „Verlorene Heimat“- Zum deutschen Topos in der polnischen Erinnerungskultur nach 1945, S.2-3. 28 20 Burke weist darauf hin, dass wir auch mit den unangenehmen Erfahrungen umgehen sollten, weil auch diese zu unserer Geschichte, Vergangenheit gehören. Nach seiner Position soll man sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen, sogar wenn sie unangenehm, peinlich ist. Das ist notwendig, um Schlussfolgerungen aus der Geschichte zu ziehen, um keine dieselben Fehler in der Zukunft zu begehen. 2.7.2 Der Topos der ̦verlorenen Heimatʼ als Erinnerungsfigur Der deutsche Topos der ̦verlorenen Heimatʼ ist eine Erinnerungsfigur, die sich auf konkrete Ereignis, Zeit und Raum bezieht. Damit sollte gesagt werden, dass die Erinnerungen nicht abstrakt sind, sondern immer Erinnerungen an etwas Konkretes. Diese Erinnerungsfigur der deutschen Topos der ̦verlorenen Heimatʼ referiert auf eine ganz bestimmte historische Zeit, d.h. auf die Zeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg und auf ein bestimmtes Ereignis, d.h. auf die Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung u.a. aus dem Gebiet Polens oder Sudetenland. Mit dem Topos der ̦verlorenen Heimatʼ hängt die Vertreibung zusammen. Sie ist in den letzten Jahren ein wichtiges und brisantes Thema geworden, die heftige Diskussionen sowohl in Deutschland als auch in Polen hervorgerufen hat. Schuld daran war u.a. das Projekt vom „Zentrum gegen Vertreibungen“, das von beiden Seiten mit verschiedener Argumentationsweise kommentiert wurde. „Vertreibung“ ist ein historisches Phänomen, das vor allem während und nach dem Zweiten Weltkrieg anhand von Ideologien und politischer Entscheidungen Millionen von Menschen ihre Heimat weggenommen hat. Von daher ist das „ein emotional hochgradig besetztes Thema.“30 Das lässt sich nachvollziehen, denn die Vertreibung steht im Zusammenhang mit Leidenserfahrungen, persönlichen Tragödien der Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten. Dabei ist aber wichtig, dass wir alle Vertreibungsakte nicht auf dieselbe Art und Weise bewerten, sondern sie immer in einem konkreten Kontext sehen sollen. Die Gleichsetzung von aller durchgeführten Vertreibungen kann doch dazu beitragen, dass die Unterschiede zwischen Tätern und Opfern nivelliert werden und wir mit „der negierten Verantwortlichkeit“31 zu tun haben werden. Von daher ist es unerlässlich, die historischen Ereignisse zu analysieren, sie aufzuklären, sich mit ihnen tiefer auseinanderzusetzen und dabei die völlige Differenzierung zu behalten. Wir müssen vermeiden, die Geschichte 30 Brodersen, Ingke/Dammann, Rüdiger: Aufklären statt aufrechnen. In: Kafka, Zeitschrift für Mitteleuropa Nr. 13/2004, S.4-7 (hier S.4). 31 Ebd., S.4. 21 einseitig und zusammenhangslos zu betrachten. Diese analytische Beschäftigung mit so schwierigen Themen wie „Vertreibung“ ist deswegen so notwendig, damit wir als Europäer die Vergangenheit offen gelassen und ohne irgendwelche Tabus betrachten können, auch wenn sie peinlich ist. In Bezug auf das historische Phänomen „Vertreibung“ muss auch darauf hingewiesen werden, dass die Reflexion über die Vertreibung der deutschen Zivilbevölkerung auch einen „Machtkampf um Begriffe“32 bedeutet. Damit wird die Tatsache gemeint, dass bei der Bearbeitung dieses Themas in wissenschaftlichen Publikationen Schwankungen vom Begriff „Vertreibung“ auftauchen. Man versucht also die Begriffe einzusetzen, mit den Begriffen zu operieren, die dasselbe Ereignis nennen, aber unterschiedlich lauten. Es ist von solchen Begriffen die Rede wie: „Vertreibung“, „Zwangsaussiedlung“, „Bevölkerungs-Transfer“, „Deprivation“ und „odsun“.33 Eine wichtige Stimme in der Diskussion um Begriffe ist die Stimme der polnischen Historikerin Krystyny Kersten. Sie lehnt den Begriff „Vertreibung“ ab und führt den Begriff des Bevölkerungs-Transfers ein. „Die vorgeschlagene Ablehnung Begriffs „Vertreibung“ wird mit seiner politischen Vereinnahmungs- und Instrumentalisierungsmöglichkeit begründet“,34 d.h. Kersten lehnt diesen Begriff aus diesem Grund ab, dass er politisch instrumentalisiert werden kann. Das wurde schon getan, wenn man die ganze Diskussion um das „Zentrum gegen Vertreibungen“ verfolgt. Wobei man aber betonen muss, dass dieser Begriff in der deutschen Gesetzgebung als ein normaler Begriff im Vertriebenengesetz ohne politischen Gedanken funktioniert. Nicht zuletzt deswegen wird für einen neutralen Begriff „Aussiedlung“ plädiert. Diese Bezeichnung scheint aber wenig Sinn zu machen, es sei denn, dass dieses Wort in der Zusammensetzung als „Zwangsaussiedlung“ erscheint, denn allein „Aussiedlung“ trifft den gewaltsamen Vorgang der Vertreibung nicht. Auch aus diesem Grund, dass die Menschen auch in der Friedenszeit ausgesiedelt werden können, z.B. wenn eine Autobahn gebaut wird. Also solche Bezeichnung ist zu den Verdrängungsprozessen von Menschen aus ihrer Heimat nicht adäquat. Von daher soll man den Begriff nur als „Zwangsaussiedlung“ benutzen, damit der Akzent auf das Wort „Zwang“ fällt, weil nur dann betont wird, dass man sich dafür nicht freiwillig entschieden hat, sondern dass es unter dem Zwang, der Gewalt geschehen ist. Die nächste Stimme in diesem Diskurs ist die Stimme der polnischen Germanisten Hubert Orłowski, der den Begriff „Deprivation“ vorschlägt, weil er Zimniak, Paweł: „Verlorene Heimat“- Zum deutschen Topos in der polnischen Erinnerungskultur nach 1945, S.8. 33 Ebd., S.9. 34 Ebd., S.9. 32 22 kein politisch brisanter Begriff ist. Die „Deprivation bezeichnet allgemein und im Sinne das Heimatverlustes einen defizitären Zustand, einen Zustand des Mangels“,35 denn wenn man vertrieben wird, verliert man seine Heimat. Die Vertreibung bedeutet einen Heimatverlust und Heimatverlust bedeutet einen Verlust von Bindungen und Verbindungen materieller und ideeller Art. Wenn man seine eigene Heimat aufhebt, d.h. vertrieben wird, so gibt man sein soziales Umfeld auf, so verliert man auch einen Bezug zu seinem Ort, Raum, von daher ein Zustand des Mangels. Die Deprivation gilt „als Gegenbegriff zur In-Besitz-Haltung“,36 d.h. sie bedeutet auch eine gewisse Beraubung, Beschneidung der Existenz. Als ein Beispiel kann der Hunger erwähnt werden, im Sinne des Fehlens von vitalen und lebensnotwendigen Gütern. Das ist eine Form der Nahrungsdeprivation. Orłowski hat diesen Begriff auf den Heimatverlust übertragen, weil er auch ein gewisses Herausreiβen aus einer bekannten Umgebung bedeutet. Wenn man zwangsausgesiedelt wird, gehen die Relationen verloren. Die soziale Gemeinschaft hört auf einmal auf, zu existieren. Die anderen Begriffe, die man für die Bezeichnung von Verdrängungsprozessen verwendet hat, waren ziemlich verharmlosend wie z.B. der Begriff „der Umsiedler“, der in der ehemaligen DDR durchsetzt wurde. Das ist aber keine adäquate Bezeichnung für diesen gewaltsamen Vorgang. Die Anwendung dieses Begriffs ist darauf zurückzuführen, dass man in der DDR keine politische Brisanz schaffen wollte, um die Sowjetunion nicht zu ärgern. Ein anderer Begriff ist das tschechische Wort „odsun“. Die Tschechien sprechen von „odsun“ als „Abschub“, die Menschen werden also abgeschoben. Heute wird dieses Wort in Bezug auf Abschiebenprozeduren benutzt, wenn jemand Asyl bekommen will. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass keine von den vorgeschlagenen Bezeichnungen hundertprozentig den Begriff „Vertreibung“ ersetzen kann. Solche Begriffe wie: „Umsiedlung“, „Aussiedlung“ oder „odsun“ können kaum akzeptiert werden, weil sie den Vorgang in der ganzen Substanz nicht treffen. „Deprivation“ ist einerseits ein Begriff, der neutral, nicht politisch brisant ist, andererseits sollte aber diese Unfreiwilligkeit des Vertreibungsvorgangs angedeutet werden, was aber diese Bezeichnung nicht garantiert. 35 36 Ebd., S.9. Ebd., S.9. 23 2.8 Literatur in narratologischer Perspektive 2.8.1 Erzählen im Rahmen der dichterischen Rede Zuerst soll erklärt werden, was die Substanz des Begriffs „Erzählen“ ausmacht. Als „Erzählen“ definiert man „ eine Art mündlicher oder schriftlicher Rede, in der jemand jemandem etwas besonderes mitteilt“.37 Wobei man sagen muss, dass eine Rede nur dann als Erzählung gilt, wenn „diese Rede einen ihr zeitlich vorausliegenden Vorgang vergegenwärtigt“,38 d.h. wenn jemand einer anderen Person ein Geschehen vergegenwärtigt. Das ist darauf zurückzuführen, dass man nur über die Sachverhalte erzählen kann, die früher stattgefunden haben, die zeitlich vorausgehen. Im Bereich der dichterischen Rede und in Bezug auf das Erzählen tauchen drei folgende Begriffe: fingiert, fiktional und fiktiv auf. Oft werden sie synonymisch verwendet, was aber falsch ist. Bei der Auseinandersetzung mit den fiktionalen Texten soll festgestellt werden, inwieweit sich diese Begriffe unterscheiden: - Bezeichnung „fingiert“ können wir für den Bereich der Literatur gleich fallen lassen, weil obwohl „fingiert“ „(vor)täuschen bedeutet, obwohl die Welt im Rahmen der Literatur eine fiktionale Welt ist, ist die Lüge, die Vortäuschung kein Zweck der Literatur. In Bezug auf diesen Begriff erwähnen Scheffel und Martinez zwei gegensätzliche Standpunkte, nämlich von Platon und Aristoteles. Schon Platon hat versucht den Zweck der Dichtung zu bestimmen und er war der Meinung, dass Literatur überflüssig und sogar schädlich ist. Eine gegensätzliche These hat Aristoteles vertreten, der seine Gedanken im Werk „Poetik“ formuliert hat. Nach seiner Position ist die Dichtung nützlich, notwendig und philosophischer als Geschichtsschreibung. Seine Begründung dieser These war, dass die Geschichtsschreiber nur das wirkliche Geschehen, historische Ereignisse mitteilen, während die Dichter mit den möglichen Welten spielen. Sie schildern keine Wirklichkeit, sondern nur das, was geschehen kann. - „Fiktional“ steht im Gegensatz zu „faktual, authentisch“ und ist auf den pragmatischen Status einer Rede bezogen. Literarische Welten sind fiktionale Welten, weil sie mit 37 Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Merkmale fiktionalen Erzählens. In: Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S.9-25 (hier S.9). 38 Ebd., S.9. 24 Möglichkeiten, Fiktionen spielen. Sie können zwar auf die Wirklichkeit Bezug nehmen, ihre Elemente enthalten, aber spielen mit ihr nicht. - „Fiktiv“ ist Oppositionsbegriff zu „real“ und bezieht sich auf „den ontologischen Status des in dieser Rede Aussagten“.39 Das Erzählen im Rahmen der Literatur ist ein fiktives Erzählen, weil es von fiktiven Welten, Vorgängen erzählt wird, die nicht wirklich stattgefunden haben. In Bezug auf die Literatur haben wir mit der doppelbesetzten Kommunikation zu tun. Das bedeutet, dass es in den fiktionalen Texten zwei Sprecher, zwei Erzählinstanzen gibt: den realen Autor und den fiktiven Erzähler als eine vom Autor geschaffene Figur. Fiktionale Texte sind einerseits ein Teil der realen Kommunikation (so wie faktuale Texte), weil der Autor, der die Sätze produziert eine reale Person ist und diese Sätze von einem realen Leser gelesen werden. Andererseits sind die fiktionalen Texte auch ein Teil der imaginärer Kommunikation, weil das keine Face-to-face Kommunikation ist. Der Autor hat den Leser nicht vor den Augen und umgekehrt. Das ist keine unmittelbare Kommunikation, der Autor und der Leser können nur durch den Text kommunizieren. Hinsichtlich zwei Erzählinstanzen lässt sich folgendes feststellen. Der reale Autor als ein Sprecher schreibt von erfundenen, erdichteten, fiktiven Vorgängen und nicht von der Wirklichkeit. Die Sätze, die er produziert sind real, aber inauthentisch, denn sie können nicht als Behauptungen des Autors gelten. Er schreibt nicht mit dem Anspruch auf das Wahrheitsgehalt. Der fiktive Erzähler, der vom Autor auf die Bühne gesetzt wird, agiert in der fiktionalen Welt. Er als fiktive Gestalt reflektiert auf fiktive Sachverhalte. Seine Sätze sind, im Gegensatz zum realen Autor, als authentisch aufzufassen, weil sie als Behauptungen des Erzählers begriffen werden können. Sie sind aber auch imaginär, weil im Rahmen einer imaginären Welt, im Rahmen der Literatur. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Erzählen im Bereich der dichterischen Rede ein fiktionales Erzählen ist. Die dargestellten Welten sind fiktional und die Figuren fiktiv, weil sie im Rahmen einer fiktionalen Welt auftreten. Fiktionale Texte sind nicht in der empirischen, d.h. wirklichen, erfahrungsorientierten Welt verwurzelt, weil sie mit den erdichteten Welten spielen. Sie reflektieren über keine Wirklichkeit, sondern über erfundene Personen, Sachverhalte, Ereignisse. Diese Texte charakterisiert komplexere doppelbesetzte Kommunikation, was sie von den faktualen Texten unterscheidet. 39 Ebd., S.13. 25 2.8.2 Zum Verhältnis zwischen dem Erzählen und dem Erzählten Wenn man mit den Texten im Rahmen der dichterischen Rede umgeht, soll man zwei Ebenen berücksichtigen, nämlich: a) die Ebene des Erzählens, d.h. Ebene des Wie, der Vermittlung der Geschichte b) die Ebene des Erzählten, d.h. Ebene des Was, der Geschichte selbst. Darauf weisen Matias Martinez und Michael Scheffel in ihrem Beitrag „ Das Erzählen und das Erzählte“40 hin. Sie erklären, warum das Wechselverhältnis zwischen dem Erzählen und dem Erzählten so wichtig ist, warum wir als Leser beide Ebenen in Betracht ziehen sollen. Sie machen darauf aufmerksam, dass wir als Interpreter sich nicht nur auf den Inhalt der Geschichte konzentrieren sollten, sondern auch das erzählerische Medium, d.h. die verwendeten Verfahren der Präsentation berücksichtigen sollten. Wir können zwar die Ebene der Vermittlung ausblenden und die ganze Aufmerksamkeit auf die erzählte Welt lenken, aber das ist, nach Scheffel und Martinez, eine falsche Haltung. Nach ihrer Position ist die Abtrennung zwischen dem Was und dem Wie wenig sinnvoll, weil wir „bei fiktionalen Texten nur über den Text selbst Zugang zur erzählten Welt“41 haben. D.h. wir als Leser haben keine andere Zugänge zum Text als nur durch die Vermittlung, die Art und Weise der Präsentation. Der fiktionale Text ist für uns die einzige Quelle über Personen, Sachverhalte, Ereignisse im Gegensatz zu den faktualen Texten. Im Fall der faktualen Texte sieht das ganz anders aus. Als Beispiel kann ein Zeitungsbericht über einen Verkehrsunfall dienen. Dieser Bericht ist keine einzige Informationsquelle, denn wir können auch z.B. Zeugen befragen, Polizeiprotokolle lesen usw. Wir können also an das Was über verschiedene Vermittlungsmöglichkeiten herankommen. In den fiktionalen Texten dagegen müssen wir uns nur auf den Text einlassen und der Ebene des Wie zuwenden und nicht nur die Ebene der Geschichte berücksichtigen. Nach der Position von Scheffel und Martinez ist unsere Lesererfahrung, unsere Wahrnehmung der erzählten Welt von der Präsentation abhängig. Um das zu veranschaulichen bedienen sich die Autoren zwei Beispiele: - Als erstes gilt das Werk von Goethe „Leiden des jungen Werthers“, das in Form eines Briefromanes geschrieben wurde. Goethe hat sich entschieden, Werthers Schicksal nicht im distanzierten Bericht eines allwissenden Erzählers zu schreiben, sondern die 40 41 Ebd., S.9-25. Ebd., S.20. 26 ganze Geschichte wurde in der Ich-Perspektive gestaltet. Dadurch wurde die Subjektivität, die Identifikation des Lesers mit den dargestellten Ereignissen verstärkt und gefördert. Nicht zuletzt diese Ich-Form hat dazu beigetragen, dass dieses Werk „Werther-Fieber“ hervorgerufen hat, infolge dessen viele junge Menschen, so wie der Protagonist, Selbstmord begangen haben. - Als zweites Beispiel kann „Das Schloss“ von Franz Kafka erwähnt werden. Scheffel und Martinez zittieren die erste Fassung des Romans: „Es war spät abend als ich ankam“. In dem zweiten Satz wird die Ich-Form durch die Er-Erzählform ersetzt und der Satz lautet: „Es war spät abend als K. ankam“. Dadurch wollen die Autoren zeigen, dass obwohl die beiden Sätze dieselbe Information liefern, ist ihre ästhetische Wirkung durch die Veränderung der Erzählform anders. Durch die Einführung der auktorialen Perspektive entsteht eine gröβere Distanz als in der ersten Fassung, in der der Satz in der Ich-Form erfolgt. Anhand der genannten Beispiele lässt sich folgendes ableiten: - Information/Geschichte kann auf verschiedene Art und Weise vermittelt werden. - Die Vermittlung der Story hat einen groβen Einfluss auf die Wirkung des Textes auf den Leser, auf den Identifikationsgrad mit den dargestellten Personen und Ereignissen. Je nach den verwendeten Verfahren der Präsentation kann die Geschichte anders, mit unterschiedlicher Kraft auf uns wirken. Von daher ist es unerlässlich, dass wir als Interpreter sowohl das Erzählte, d.h. Geschichte selbst, als auch das Erzählen, die Darstellung der Geschichte berücksichtigen, denn das letzte genauso wichtig ist. Nach Scheffel und Martinez stehen die beiden im engeren Verhältnis zueinander, denn das Erzählte wird durch das Erzählen anders. 27 3 Gruppe als Gedächtnismedium in Aus dem Sinn von Emma Braslavsky 3.1 Figuren und Figurenkonstellationen Obwohl das Thema mit dem sich Emma Braslavsky in ihrem Roman auseinandersetzt, d.h. das Thema der Vertreibung, des Heimatverlustes, kein einfaches und lustiges Thema ist, behält das Buch bei aller Ernsthaftigkeit des Themas etwas Leichtes uns Spielerisches – Figuren, die mit Hilfe von Groteskelementen geschaffen wurden. Fast jede Figur ist hier ein Freak mit einem sympathischen Spleen, wie z.B. Eduard mit seinem Uhrentick und Faszination von Zahlen und Zeit oder Ella mit ihrer merkwürdigen Vorliebe für Vornamen mit E oder Eduards Vater, der von Füβen fasziniert ist. Braslavsky zeigt auch mit Hilfe von Eduard- und Paulfigur zwei Protagonisten, die oppositionelle Charaktere, Handelnsweisen und Einstellung zum Heimatverlust und zur Demonstrationsteilnahme aufzeigen, worauf im nächsten Unterkapitel hingewiesen wird. 3.1.1 Eduard Meiβerls Denken, Fühlen und Handeln Eduard Meiβerl, 29-jährige Mathematiker und Zeitforscher wird als anti-revisionistisch eingestellte Figur dargestellt. Obwohl er so wie Paul als Kind seine Heimat verliert, hegt er keine politischen Ansprüche an Egerland, aus dem er und seine Familie 1944 vertrieben wurden. Durch die Verkettung unglücklicher Umstände gerät er auf eine Sudeten – Demonstration in sowjetisch besetzten Prag, an der er nicht teilnehmen will. Infolge dieser Teilnahme kommt er zuerst ins Stasi-Gefängnis und dann in eine Klinik, um die volle Verantwortung für die Demoteilnahme zu vermeiden und sich schneller mit seiner Familie zu sehen. Dort wird er mit Elektroschocks behandelt, was zu seinem Gedächtnisschwund beiträgt. Eduard wird als junger, bescheidener, ordentlicher Mann geschildert, der sein Leben, so wie andere ruhig führen will. Er scheint eine Figur zu sein, die sich mit ihrem Vertriebenenschicksal abgefunden hat. Sein Heimatbesuch und das Treffen mit Miri, einer Freundin aus den Kindertagen, wecken in ihm keine Heimatgefühle. Eduard identifiziert sich mit Tuschkau nicht mehr, was im Roman folgendermaßen kommentiert wird: Er fühlte sich fremd hier nicht wie ‹bei uns drüber›, dass klang immer noch nach Westen. Heimatgefühle kamen bei ihm in Tuschkau nicht auf; obwohl vertraut, 28 erschien ihm die Stadt wie ein verkauftes, ausrangiertes Bett, in dem andere lagen; er kannte sich hier nicht mehr aus.42 Aus diesem Zitat geht deutlich hervor, dass Eduard die Stadt, seine Kindheitsstadt fremd geworden ist. Es gibt nichts, was ihn mit Tuschkau verbinden würde. Auch beim Besuch von Plätzen, wo er und Miri zusammen gespielt haben, zeigt Eduard keine tiefen Emotionen. Das Treffen mit Miri ruft zwar in Eduard bestimmte Erinnerungen an den Ort hervor, in dem er die sorglose Zeit seiner Kindheit verbracht hat, aber für Eduard ist alles, was mit ihm zusammenhängt, ein geschlossenes Lebenskapitel. Tuschkau bedeutet ihm einen Ort, mit dem er nichts mehr zu tun haben will, von dem er sich distanzieren und zu dem er nicht zurückkehren will, was im Text auf folgende Art und Weise geschildert wird: „Eduard war unsicher […], weil sie seine Erinnerungen an einen Ort brachte, an dem er Verlorenes begraben hatte und zu dem er nie wieder zurückwollte“.43 Von der Distanziertheit Eduards zur sudetendeutschen Vergangenheit zeugt auch seine Reaktion an Miris Frage nach der Vertreibung. An ihre Frage, was mit ihm und seiner Familie während des Krieges passiert ist, antwortet er „ohne sie anzusehen: War ja nicht so schlimm wie bei dir. Kann mich auch kaum mehr erinnern“.44 Diese Antwort ist ein Hinweis darauf, dass Eduard die Vertreibung und alles, was damit zusammenhängt aus seinem Gedächtnis verdrängen will. Eduard unterscheidet sich von Paul gründlich in Bezug auf seine Einstellung zur Politik. Er nimmt zwar an Treffen von ANSen teil, aber er ist politisch nicht engagiert. Er definiert sich selbst als keinen Mitglied dieser Geheimorganisation. Sein Verhältnis zur Politik kommentiert er folgendermaβen: Ich habe keine Lust auf Politik. Die ANSen sind plemplem. Ich bin ja kein ANSe, aber es ist halt Paul.45 Diese skeptische Einstellung Eduards zur Politik hat zu Folge, dass er an der Demonstration in Prag nicht teilnehmen will. Seine Haltung zu dieser Sache hat seine Quelle auch in der Vergangenheit. Vor einem Jahr hat er auch an einer Demo in Prag teilgenommen, von der er erst dann erfahren hat, als er und Paul schon auf der Stelle waren. Das ganze Ereignis endete glücklich, weil beide nicht verhaftet wurden und am nächsten Tag ruhig ČSSR verlassen konnten. Dieses Geschehen bleibt aber im Eduards Gedächtnis und verursacht, dass er keine ähnliche Situation, wie das letzte Jahr, erleben will, indem er sagt: „Diesmal lasse ich mich 42 Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: claassen 2007, S. 212. Ebd., S.210. 44 Ebd., S.217 45 Ebd., S.34. 43 29 nicht wieder in so einen Quatsch reinziehen.“46 Eduard ist eher Realist, der alles nachdenkt, u.a. auch die Demonstrationsteilnahme in Prag, zu deren Paul ihn auf folgende Art und Weise zu überreden versucht: Eduard ich will das ohne dich nicht machen.[…] Wir waren immer gemeinsam an einer Sache. Wir müssen jetzt unbedingt zusammenhalten. 47 Eduard hat aber die letzte Demo immer noch im Kopf und hat keine Lust, sich der nächsten Haftgefahr auszusetzen. Für ihn ist auch die Position seiner Mutter zu dieser Sache von Bedeutung, die sich eindeutig gegen Eduards Teilnahme äuβert. Er sagt dann an einer anderen Stelle: Ich weiβ nicht, ob ich da mitmache. Mutter findet’s zu gefährlich. Ich habe genug vom letzten Jahr. Die kontrollieren mich seitdem. Wenn ich noch mal so was anstelle, verliere ich meine Arbeit.48 Eduard bewertet die Aktion in Prag anders als Paul, der sie als eine Chance auf das bessere Leben wahrnimmt. Für Eduard bedeutet sie eine Gefahr, die seine Ruhe stören kann. Er kommentiert sie folgendermaβen: Die Idee ist lächerlich[…]. Die werden ins für den Rest unsres Lebens in den Kast stecken. Paul, du weiβ, dass ich hinter diesem Autonomiequatsch nicht stehe. Ich fühle mich überhaupt nicht als Sudete. Ich erinnere mich an eine Kindheit in Tuschkau. Die Stadt hat jetzt einen tschechischen Namen; den kann ich nicht mal aussprechen! Ich erinnere mich an Tomas und Maria, die wer weiβ wo sind. Das ist schlimmer für mich, aber das ist vorbei. Der Boden ist mir egal. Ich will die Tschechen ja nicht in Schutz nehmen. Aber wir sind hier keine Sudeten, wir sind deutsche Umsiedler. Über uns will niemand reden. Auch drüber nicht. Und die Tschechen erst recht nicht. Wohnen will ich dort nicht mehr. Mein Zuhause ist hier, die Leute sind alle hier. Was soll ich dort?49 Aus diesen Worten lässt sich auch ableiten, dass Eduard nach Tuschkau nicht zurückkehren will, weil er sich in Erfurt wohl fühlt. Er sieht keinen Sinn in seinem Zurückkehr, weil er sich nicht mehr mit dem damaligen Boden und Land identifizieren kann. Er fühlt sich nicht mehr als Sudete, sondern definiert sich selbst als einen deutschen Umsiedler, der in Erfurt sein neues Zuhause gefunden hat. Trotz Eduards Abneigung gegen den Protest in Prag nimmt er daran unfreiwillig teil. Diese gezwungene Teilnahme ist als der Wendepunkt in seinem Leben zu sehen. Von diesem 46 Ebd., S.49. Ebd., S.57 48 Ebd., S.56. 49 Ebd., S.89. 47 30 Moment ändert sich nicht nur relativ geordnetes Leben seiner Familie und Freunde, sondern auch seine Existenz als Individuum. Die Aufenthalte im Stasi-Gefängnis und dann in der Klinik, die die Folgen der Demoteilhabe sind, berauben sein ganzes Dasein, das infolge der staatlich verordneten Amnesie in die Brüche geht. Eduard werden durch die Elektroschocks nicht nur alle seine Erinnerungen an die schon längst zurückliegende und die jüngste Vergangenheit entzogen. Die Gehirnwäsche mittels Elektrobehandlungen trägt auch dazu bei, dass er am Ende seine eigene Identität verliert und nicht mehr weiβ, wer er ist und wie er heiβt. Eduard erscheint also als das unschuldige Opfer eines skrupellos agierenden Machtapparates, der alle Widerstandsversuche mit aller Härte und Brutalität niederschlägt. 3.1.2 Paul Händls Denken, Fühlen und Handeln Paul Händl, Eduards Freund aus Kindertagen, ist zwar keine Hauptfigur des Romans, nimmt aber viel Platz und bildet einen interessanten Protagonisten, einen Gegensatzcharakter zu Eduard. Der Grundunterschied zwischen den beiden zeigt sich in Pauls Verhältnis zur Politik und zum Heimatverlust. Er wird als ein aufbrausender sudetendeutscher Aktivist dargestellt, der sich selbst folgendes definiert: „Paul Händl, ich bin der Kapitän der Sudeten“.50 Paul hat sich mit seinem Vertriebenenstatus nicht abgefunden und auch damit, dass er in einem fremden Land leben muss und kein eigenes haben kann: Wir sind Sudeten. Ein eigenes Stück Land haben wir hier auch nicht gekriegt. Wir müssen zwischen allen anderen leben, als hätten wir den Krieg mehr verloren. Auf diesen ganzen Zentralismus hier hab ich keine Lust! […] Ich finde mich damit nicht ab; das stinkt mir.51 Die Vertreibung und damit verbundene schlechte Erinnerungen und Erfahrungen üben also Einfluss auf sein Handeln im Erwachsenleben aus. Seine Vergangenheit wirkt dergestalt, dass Paul sich politisch engagiert und Anführer der ANSen, des lokalen Geheimbündchen ist, das um die Rechte der Sudetendeutschen kämpft. Dieser Kampf wird zu Sinn seines Lebens, der er nicht nur als Rechtkampf sieht, sondern auch als Kampf um die historische Gerechtigkeit versteht. Seine Ziele d.h. die Autonomie für das Sudetenland in der Verfassung und seine territoriale Unabhängigkeit will er durch die Demonstration in Prag erreichen. Seine Pläne kommentiert er folgendes: 50 51 Ebd., S.65. Ebd., S.30. 31 Mit der Demonstration in März kommen wir aus der Defensive. Diese Kundgebung erweckt uns wieder zum Leben. Und die neue Verfassung gibt uns doch recht! […] Wir müssen endlich raus aus diesem Einheitsbrei!52 Paul ist von seinen Ideen so begeistert, dass er alle, u.a. auch Eduard zu überzeugen versucht, dass die Aktion in Prag keine Gefahr mit sich bringt, in dem er sagt: „Es sei nur eine friedliche Demonstration, kein Attentat, keine Spionage. Man werde alles anmelden“. 53 An einer anderen Stelle nimmt er auch Bezug auf den geplanten Protest in sowjetisch besetzten Prag, den er erklärt wie folgt: Keine Sorge. Das wird ein sicheres Ding. Eine Demonstration ist doch keine Spionage. Auβerdem wird es international, da können die nicht einfach alle einsperren. Das wird bis ins Kleinste geplant, wirst sehen.54 Sein Ehrgeiz, sein Wille, etwas zu verändern und seine groβen Pläne verhüllen Paul völlig die Realität, d.h. die Tatsache, dass er eine Demonstration im totalitär regierten Land organisiert, die bedeutenden Folgen nach sich ziehen kann. Er ist von seinen Ideen so verblendet, dass er keine Gefahr bemerkt und ohne Rücksicht darauf, seinen Plan ausführen will. Er entscheidet sogar, seinen besten Freund, Eduard mit Hilfe von Intrige in eigene Absichten zu verwickeln, obwohl sich Eduard eindeutig dagegen äuβert. Der Protest, der eine Chance für die Sudeten sein sollte, zeigte sich eine schlecht geplante Aktion, die sich für ihn und viele andere tragisch endet. Paul landet im Stasi-Gefängnis in Erfurt, wo er zusammen mit Eduard in einer Zelle sitzt. Trotz der Haft verliert er seine Begeisterung nicht und ist immer noch von der Richtigkeit seines Handeln überzeugt, indem er sagt: „Mir tut nichts leid, Mensch! Es geht eben nicht immer so glatt, aber wir müssen für unsere Rechte kämpfen“.55 Diese Worte zeugen davon, dass das psychische Leid und die Beschränkung des Raumes seine Einstellung zum eigenen Vorgehen nicht verändern. Paul fühlt sich nicht daran schuldig, dass Eduard auch verhaftet wurde. Er zeigt keine Schuldgefühle, obwohl er gut weiβ, dass das seine Schuld ist, dass Eduard die Konsequenzen der Demonstration tragen muss, an der er überhaupt nicht teilnehmen will. Der Wendepunkt in Pauls Leben bildet der Brief vom Vater - Stasioffizier, in dem er sich von seinem eigenen Sohn lossagt. Seine Entscheidung wird so erklärt, dass er seine Stellung nicht risikieren kann, was durch den Kontakt zu Paul passieren kann. Dieses Schreiben zeigt, wie 52 Ebd., S.167. Ebd., S.154 54 Ebd., S.57-58. 55 Ebd., S.265. 53 32 weit das totalitäre System ins Leben der einfachen Menschen eingreift und die zwischenmenschliche Beziehungen zerstört. Dieser Brief ist auch so weit wichtig, dass er Paul zum Selbstmord anstiftet – er erhängt sich in seiner Zelle. Paul Händl scheint Idealist und zugleich eine tragische Figur zu sein, deren eigene groβe Ideen zum Selbstmord führen. Er ist ein Gegensatz zu Eduard in dem Sinne, dass er sich nicht instrumentalisieren lässt, sondern aktiv ist und starke Stimme gegen das Regime darstellt, die eigene Meinung offen äuβert und die mutigen Ansprüche stellt. Er hat genug Mut, um die Freiheit seiner Mitmenschen zu kämpfen, wodurch er ins Visier der Staatsicherheit gerät und zum Opfer der groβen Staatsmaschine wird, mit der er nicht imstande ist, erfolgreich zu kämpfen. Paul wird als groβe Individualität geschildert, die aber keine Chance hat, mit einer so gut organisierten Macht zu gewinnen. Seine Tragik folgt also aus dem Aufeinandertreffen von naivem Streben nach einem bisschen Freiheit und dem maschinellen Regelwerk des sozialistischen Apparates. Seine Einstellung zum Leben, unbequem zu sein, lässt sich hervorragend durch seine eigenen Worte zusammenfassen: „Wir müssen der Wind sein, nicht die Gardinen!“56 3.1.3 Figuren und ihr soziales Umfeld Braslavsky erzählt in ihrem Roman ein Stück deutscher Geschichte nach dem Kriegsende. Als Träger dieser Geschichte gilt eine kleine Gruppe, eine kleine Gemeinde vertriebener Sudetendeutschen, die in Erfurt leben. Alle werden aus ihrer Heimat – Egerland nach Kriegsende vertrieben, wodurch sie über die gemeinsamen Erinnerungen an das Damals miteinander verbunden sind. Jetzt versuchen sie ihr Leben neu aufzubauen, was nicht einfach nicht zuletzt deswegen ist, dass sie nach Nazi – Regime nun dem DDR – Regime trotzen müssen. Diese Gemeinde stellt eine dynamische Gruppe von Menschen dar, die sich aktiv mit ihrem Schicksal auseinandersetzt. Als Zeichen ihrer Aktivität gilt das landmannschaftliche Geheimbündchen – ANSen, das von einem Erfurter Studentenkeller aus operiert wird. Sein Ziel ist es die Welt auf die Forderung nach Autonomie und Rechte durch eine Demonstration in Prag aufmerksam zu machen. Die Aktion endet aber ohne Erfolg und es gelingt nicht, die Situation der Vertriebenen zu verändern. Die geschilderte Gemeinde der Sudetendeutschen pflegt die eigene Sprache, um die Identität zu bewahren. In Bezug auf die Sprache schafft Braslavsky einen Dialekt, der ganz spezifische Merkmale aufzeigt. Es ist zwar deutsche Sprache, aber er unterscheidet sich von dieser z.B. durch andere Buchstaben, z.B. das Wort 56 Ebd., S.167. 33 „nix“ steht für „nichts“ oder „des“ für „das“ oder „net“ für „nicht“.57 Im Roman kommen auch die Wörter mit a-Umlaut statt mit „e“ vor, z.B. „värträtän“ statt „vertreten“.58 Die Pflege um die Identität spiegelt sich auch in traditionellem Essen, wie Sauerbraten, Apfelstrudel oder Knödel wider. Beides: Sprache und Essen gelten als Symbole für das Vergangene, das Damals vor der Vertreibung. Durch die Bewahrung dieser Kulturelemente schützt diese kleine Gemeinde ihre Herkunft, Vergangenheit und Zugehörigkeit und erfüllt die Rolle des Gedächtnismedium. Dadurch, dass sie sich davon nicht zurückzieht, sind ihre Heimatgefühle lebendig, was nicht zuletzt zu Folge hat, dass die jüngeren für die Heimat kämpfen. Das Verhältnis zur Vergangenheit des älteren Gemeindeteils beeinflusst das Handeln der jüngeren Generation, die durch die Aufrechterhaltung der Kulturelemente bestimmte Anhaltspunkte an die verlorene Heimat erhält und weiβ, worum sie kämpft. 3.2 Erzählinstanz 3.2.1 Erzählung von Ereignissen 3.2.1.1 Motivierung von Ereignissen in narratologischer Sicht Ereignis oder Motiv wird nach Scheffel/Martinez als ein erzähltheoretischer Terminus erfasst, der die kleinste, elementare Einheit der Handlung darstellt. Der Begriff wurde vom russischen Formalisten, Boris Tomaševskij geprägt. Er bezog ihn auf die globale, Makrostruktur der Handlung. Lotman, der den Begriff übernommen hat, versteht Ereignis als „die nicht mehr weiter unterteilbare Einheit des thematischen Materials eines Erzähltextes“.59 Motive, die in narrativen Texten vorkommen, lassen sich gruppieren. Man unterscheidet zwischen den dynamischen Motiven, die die Situation im jeweiligen Text verändern und den statischen Motiven. Zu den dynamischen Motiven gehören: - Geschehnisse – dabei handelt es sich um nicht absichtliche Zustandsveränderung60. - Handlungen – sie verbinden sich mit bestimmter Dynamik, Situationsveränderung, deren Quelle das Handeln „menschlicher oder anthropomorpher Agenten“61 bildet. Die statischen Motive unterteilt man in: 57 Vgl.ebd., Ebd., S.163. 59 Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt. In: Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S.108-134 (hier S.108). 60 Vgl.ebd., S.109. 61 Ebd., S.109. 58 34 - Zustände – sie umfassen die Informationen, die keinen Einfluss auf die Handlung ausüben. - Eigenschaften, die sich auf das Aussehen der Figuren beziehen. Motive lassen sich auch in Abhängigkeit davon einteilen, „ob sie für den Fortgang der Haupthandlung unmittelbar kausal notwendig sind.“62 Demzufolge unterscheidet man: - verknüpfte Motive, d.h. solche, die für den weiteren Verlauf der Handlung relevant sind und - freie Motive, die ohne Bedeutung für den Fortgang der Texthandlung sind. Die einzelnen Ereignisse sind in die Gesamtstruktur eingebunden. Sie bilden ein Geschehen, wenn sie aufeinander in chronologischer Reihenfolge folgen. Von Geschichte können wir aber erst dann sprechen, wenn die Ereignisse nicht nur auf- sondern auch auseinander folgen, d.h. in chronologischer und kausaler Hinsicht verknüpft werden, wobei darauf aufmerksam gemacht werden muss, dass in fiktionalen Texten zur Durchbrechung chronologischer Abfolge durch Anachronien kommen kann. Hinsichtlich der Geschichte kommt also auch den Faktor der Kausalität hinzu. In Bezug auf das Geschehen und die Geschichte muss auch auf die Motivierung der Ereignisse hingewiesen werden. Darunter versteht man den Inbegriff der Beweggründe für das Geschehen, das in einem erzählenden oder dramatischen Text dargestellt wird.63 Die Motivierung ist so weit wichtig, dass nur ein solches Geschehen zur Geschichte sein kann, in dem die Veränderungen motiviert sind. Die Ereignisse in fiktionalen Texten sind also nicht grundlos, sondern folgen auseinander nach bestimmten Regeln und Gesetzen, weil sie durch die Motivierung in einen Erklärungszusammenhang integriert werden.64 Die Motivierung integriert also das im narrativen Text dargestellte Geschehen zum sinnhaften Zusammenhang einer Geschichte.65 Hinsichtlich der Motivierung unterscheidet man drei Arten von narrativer Motivierung: - empirisch-kausale - final-numinose - kompositorisch-ästhetische Die empirisch-kausale Motivierung beruht auf der Ursache – Wirkung, Ursache – Folge – Relation. Dazu gehören: Figurenhandlungen, Geschehnisse, Gemenlagen sich überkreuzender 62 63 Ebd., S.109. Vgl.ebd., S.110. Vgl.ebd., S.110. 65 Vgl.ebd., S.111. 64 35 Handlungen, nicht intentionales Geschehen und Zufälle.66 Diese Motivierung bezieht sich auf das Prinzip der Kausalität, d.h. ein Ereignis ist auf das andere zurückzuführen. Die final-numinose Motivierung liegt dann vor, wenn der Handlungsverlauf von Anfang an festgelegt ist und von einer numinosen, fremden, übernatürlichen Instanz beherrscht wird. Als Beispiel kann die biblische Geschichte von Adams und Evas Vertreibung aus dem Paradies gelten. Evas Pflücken der verbotenen Frucht wird ihr vom Teufel eingeflüstert. Der Teufel möchte die Oberhand gewinnen und Gottes Pläne durchkreuzen. Angesichts göttlicher Allmacht ist aber sein Handlungshorizont nur scheinbar offen. Seine Macht ist nur Werkzeug göttlicher Vorsehung. Alles ist einer finalen Bestimmung untergeordnet.67 Die kompositorisch-ästhetische Motivierung betrifft ganz andere Dimension narrativer Texte, indem sie nicht empirischen, sondern künstlerischen Kriterien folgt. Die kompositorische Motivation erfüllt also eine künstlerische Funktion und ist für die Gesamtstruktur des Textes von Bedeutung. Dabei sind sowohl verknüpfte, als auch freie Motive kompositorisch motivierbar. Bei den freien Motiven besteht eine semantische Relation zwischen dem einzelnen Motiv und der Gesamtheit der Handlung. Diese können entweder metaphorisch oder metonymisch gebraucht werden. Metaphorische Verwendung nimmt Bezug auf die Ähnlichkeit, d.h. etwas steht für etwas Anderes. Metonymische Verwendung eines Motivs betrifft hingegen räumliche, zeitliche oder kausale Nähe. Die Motivierungsfrage ist ein wichtiger Aspekt, den man in Betracht ziehen soll, wenn man narrative Texte analysiert. Als Deuter soll man sich fragen, welche von möglichen Motivierungsarten vorliegt. Diese Frage ist in so weit wichtig, dass man dann anders auf den Text schaut. 3.2.1.2 Motivationale Verkettung von Ereignissen in Braslavskys Roman Im Roman Aus dem Sinn von Emma Braslavsky lassen sich fünf Motive heraussondern, die die Gesamthandlung des Buches bilden. Das sind folgende Ereignisse: 66 67 - Vertreibung - Demonstration in Prag - Aufenthalt im Stasi – Gefängnis - Elektrobehandlungen in der Klinik - Gedächtnisschwund Vgl.ebd., S.111. Vgl.ebd., S.111-112. 36 Die genannten Motive können als dynamische und verknüpfte Ereignisse erfasst werden. Alle fünf sind von groβer Bedeutung für den Verlauf der ganzen Geschichte und sie verändern völlig die Lebenssituation der dargestellten Figuren. Die erwähnten Motive stehen in der Ursache-Folge-Relation, von daher spricht man in diesem Fall von kausaler Motivierung der Ereignisse. Als das erste und zugleich das wichtigste und entscheidende Ereignis des Romans scheint die Vertreibung zu sein. Sie ist insoweit relevant, weil sie der Grund der allen nächsten Motive ist. Die Vertreibung betrifft eine Gruppe von Menschen, die 1944 aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Mit dem Heimatverlust haben sie ihr soziales Umfeld, ihre Unabhängigkeit aufgegeben, einen Bezug zu ihrem Ort verloren, mit dem sie das ganze Leben lang verbunden waren. Die Vertreibung bedeutet für sie ein gewaltsames Herausreiβen aus bekannter Umgebung, infolge dessen ihre soziale Gemeinschaft auf einmal aufgehört hat, zu existieren. Die unmittelbare Folge dieses Verlustzustands, des Lebens im fremden Land unter fremden Menschen ist die Demonstration in Prag. Sie soll als Schrei der Vertriebenen um Freiheit, Gerechtigkeit, Unabhängigkeit und Rechte einer Menschengruppe gesehen werden, die genug Mut hat, um eigenes Glück zu kämpfen. Diese Aktion zeigt auch eine bestimmte Haltung des Individuums einer Macht gegenüber, die sich ohne Rücksicht auf die Konsequenzen einem totalitären System widersetzt. Damit wird die Figur von Paul Händl gemeint, der die Demo mit groβem Vertrauen auf die Veränderung der Vertriebenenlage organisiert. Der Protest in Prag ist also einerseits Folge der Vertreibung, andererseits aber die Ursache der Haft und des Aufenthalts im Stasi-Gefängnis einiger Romanfiguren. Einige Demoteilnehmer werden als Feinde der Republik verhaftet wie z.B. Eduard und Paul, die ihre Teilnahme an Prager Aktion im Gefängnis in Erfurt abbüβen. Für den ersten ist das die erste Etappe seiner Strafe. Hier verbindet sie sich mit der Raumbeschränkung und damit auch mit der Isolation von der Auβenwelt und Familie. Für Paul ist das Gefängnis ein Ort, an dem er sein junges Leben endet, indem er Selbstmord begeht. Das weitere Ereignis ergibt sich teilweise aus dem Wille der Hauptfigur, die volle Verantwortung zu vermeiden. Statt im Gefängnis zu bleiben, erklärt er sich für verrückt und landet in der Klinik, wo er mit Elektroschocks behandelt wird. Der Aufenthalt dort, der als leichtere Form der Strafe sein sollte, zeigt sich das dunkelste Kapitel im Eduards Leben. Er gilt auch als das nächst nach der Demo Wendepunkt in seiner Existenz. Die Therapie mit Elektroschocks nimmt ihm alle seine Erinnerungen weg, seine Identität weg, wodurch er seine Heimat und sich selbst vergisst. Damit hängt also das letzte genannte Ereignis – der Gedächtnisschwund zusammen, der die Situation der Hauptfigur und ihrer Nächsten völlig ändert. Eduards Amnesie soll als die Folge des Handelns einer totalitären 37 Macht gesehen werden, die ohne Skrupel das Leben eines Individuums zerstört. Die Motivation eines solchen Vorgehens ist einfach zu erfassen – an der ersten Stelle steht das System und die damit verbundenen Ideen, die man rücksichtslos schützen will. 3.2.2 Erzählung von Worten Eduard Meiβerl, die Hauptfigur des Romans erinnert sich als 30-jähriger Mann an seine Kindheit, indem er seine Erinnerungen niedereschreibt. „Seine persönlichen Kommentare zu den beobachteten und wahrgenommenen Begebenheiten“68 werden im Text kursiv markiert. Die Erinnerungen, die schriftlich festgehalten werden, „setzen am Donnerstag, dem 16.10.1969 ein“69 und gehen in das Jahr 1944 zurück. Jede schriftliche Erinnerung wird mit dem genauen Datum und Wochentag notiert. Die letze Notiz wird am Dienstag, dem 4.11.1969 angefertigt und nimmt Bezug auf das Geschehen im Jahre 1946, auf die Vertreibung Eduards und seiner Familie aus ihrer Heimat – Egerland. Eduard gilt hier als homodiegetischer Erzähler, denn er ist Teil der Diegese, d.h. der erzählten Welt, ist eine von Figuren und schildert einige Ereignisse seines Lebens. Er erzählt aus der Perspektive des viereinhalbjährigen Kindes von seinen Eltern, seiner Umgebung, seinem Leben in Egerland, das brutal durch die Vertreibung unterbrochen wird. Eduards Notizen sind nicht nur Erinnerungen eines jungen Mannes an seine Kindheit, sondern sie konstruieren ein Lebensbild im totalitär regierten Land. Zu dieser Landschaft gehört u.a. die Tatsache des Versteckens von Miri, eines jüdischen Mädchens. Eduards Eltern tun das, obwohl das verboten und von daher sehr gefährlich ist. Das Handeln des Staatsapparates zeigt sich dadurch, dass Miri und ihr Vater sofort von SS abtransportiert werden, wenn die Macht davon erfährt. Bemerkenswert ist auch das Verhalten Eduards Familie vor dem Besuch Händls, der für den Staat arbeitet. Ella versteckt das Kreuz unter der Matratze, Estor „trägt die Uniform wie einen Schutzanzug“.70 Es wird auch bestimmt, welche Themen beim Besuch nicht angesprochen werden dürfen: Gott, Miri und ihr Vater und Geheimgänge durch die Innenhöfe. Eduard erinnert sich an Mutters Worte, die erklären, warum Miri sich vor allen verstecken muss: „Du hast es gut. Du bist blond und blauäugig. Miri hat schwarzes Haar und Zimniak, Paweł: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip in Emma Braslavskys Aus dem Sinn (2007) (Manuskript) 69 Ebd,. 70 Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: claassen 2007, S.183. 68 38 grüne Augen. Das ist schon ein Verbrechen hier[…].“71 Dieses Zitat zeugt deutlich von der Rassenideologie des Dritten Reichs mit ihrer Präferenz für die Blonden und Blauäugigen. Zu den Pflichten der Menschen, die in diesem totalitären System leben, gehört auch das Teilnehmen an Kundgebung von Henlein, die nur für die Männer zugänglich ist. Charakteristisch ist, dass die Väter ihre Söhne mitnehmen müssen. Das kann davon zeugen, das man versucht auch die jüngere Generation irgendwie zu instrumentalisieren und im Geiste dieser Staatsform so früh wie möglich zu erziehen. Die Handlungen des Staatsapparates beziehen sich nicht nur auf die Menschen, sondern auch auf die Gebäude. Eduard erwähnt in seinen schriftlichen Erinnerungen die Synagoge, die jetzt als Lager der Wehrmacht dient, wo Uniformen, Fahnen und Plakate gelagert werden. Dieser Sachverhalt bestätigt nur die fehlende Achtung der Religion und den Kultorten gegenüber. Noch ein von Eduard beschriebenes Ereignis ist ein Beweis dafür, wie weit der Staat um eigene Position „sorgt“. Dabei handelt es sich um die Situation mit der Aufnahmewerkstatt, von dem Händl zufällig erfährt. Er als Vertreter des Staates kommentiert das Ganze folgendes: Es gibt keine solche [d.h. ungewöhnliche – M.M] Werkstatt.[…] Die Gauleitung muss es wissen. Auch wenn nur Platten mit Instrumentalmusik hergestellt werden. Das ist ein Kapitalverbrechen[…].72 Danach wird sofort die Aufnahmewerkstatt von Händl und SS-Leute gestürmt und zwanzig Leute werden verhaftet und abtransportiert. Das zeigt deutlich, dass die Macht alle Widerstandsversuche bekämpft, um die Staatsordnung zu schützen. Ihr Verdacht erregt sogar solche normalen Handlungen der Menschen wie Musikaufnahme, die aber nach ihrer Position gegen den Staat gerichtet sein und seine Sicherheit bedrohen können. Die letzte Notiz Eduards beinhaltet seine schlimmsten Erlebnisse und Erinnerungen an Vertreibung, Verlassen von Tuschkau. Vor dem eigentlichen Ereignis berichtet er aber über seinen Vater, der neun Monate im Gefängnis sitzt, sechzehn Stunden pro Tag in einer Fabrik arbeiten muss und verhungert wird. Estor darf auch nicht besucht werden und seine Familie weiβ nicht, ob er überhaupt noch am Leben ist. Dadurch kommt wieder zum Ausdruck, wie der totalitäre Staat mit seinen Bürgern umgeht und sie behandelt. Die Vertreibung selbst ist für Eduards Familie eine persönliche Tragödie. Sie müssen fast alles verlassen und in einen fremden Ort gehen, ohne Sicherheit, dass es dort besser wird. Eduard beschreibt genau wie viel Kleidung sie nehmen, wie sie Geld verstecken und wie es ihnen weggenommen wird. Anderseits sind Eduards Eltern sich dessen bewusst, dass das Verlassen Tuschkaus das 71 72 Ebd,. S.184. Ebd,. S.223. 39 einzige ist, was sie tun können: „Wir müssen nach vorn schauen, nicht zurück“,73 sagt der Vater. Nach Eduard Frage nach dem Zuhause antwortet er: Zu Hause ist da, wo die meisten Erinnerungen sind. Die sind im Kopf. Die Zeit bringt uns neue Erinnerungen. Wir können auch hier zu Hause sein.74 Seine Hoffnungen erfüllen sich leider nicht ganz. Die Vergangenheit seiner Familie prägt ihr Leben in Erfurt sehr stark. Diese Stadt ist kein Zuhause geworden. Ihre Erinnerungen gehen auf Tuschkau zurück, was die Notizen Eduards am besten zeigen. 3.3 Raumentwurf 3.3.1 Semantisierung von Räumen in narrativen Texten Nach der Position von Jurij M. Lotman soll bei der Auseinandersetzung mit den fiktionalen Texten die räumliche Kulisse berücksichtigt werden. Die räumliche Ordnung ist von zentralen Bedeutung für die Bedeutungskonstruierung narrativer Texte, weil den bestimmten Räumen die Bedeutungen zugewiesen werden, d.h. die Räume werden semantisiert.75 Der Raum, so wie die Zeit, gehört zu den zentralen Bestandteilen der fiktionalen Wirklichkeitsdarstellung. Von daher erfüllt er eine bestimmte Funktion in den narrativen Texten. In Bezug auf die Funktionalisierung von Räumen unterscheidet man: - Raum als gestimmter Raum, der mit bestimmten Emotionen, Stimmungen, Atmosphäre in Verbindung steht. - Raum als Aktionsraum, d.h. der dargestellte Raum ist der Schauplatz der Handlung und setzt die Bedingungsrahmen für die Handlungen der Figuren. - Raum als Anschauungsraum, mit dem sich die Figuren restlos identifizieren oder dem gegenüber sie Distanz manifestieren. Dabei handelt es sich also um die Einstellung zum geschilderten Raum. Narrative Texte sind nach dem Verständnis von Lotman erst dann als sujethaft, d.h. ereignishaft zu erfassen, wenn sie drei Bedingungen erfüllen: - Die erzählte Welt muss zwei komplementäre, d.h. sich ergänzende Teilräume beinhalten. 73 Ebd,. S.327. Ebd,. S.332. 75 Vgl. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Die Bedeutung von Erzählungen: Handlungs- und Tiefenstrukturen.. In: Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S.134-144 (hier S.143). 74 40 - Zwischen den Teilräumen/Untermengen muss es eine Grenze geben, die einen klassifikatorischen Charakter hat, d.h. sie ist unter normalen Umständen undurchlässig, impermeabel. Sie kann aber vom Helden überschritten werden. - Es muss einen Helden geben, der die Handlung trägt und der die Grenzüberschreitung vollzieht, der die Grenze überschreitet. Die Existenz einer klassifikatorischen Grenze ist so weit wichtig, dass sie dem Erzähltext „das Potential für eine narrative Dynamik verleiht, die durch das Überschreiten der Grenze entfaltet wird.“76 In Abhängigkeit von der Grenzüberschreitung unterscheidet man zwischen: - revolutionären Texten, d.h. solchen, in denen die Grenzüberschreitung vollzogen wird - restitutiven Texten: hier gibt es zwei Möglichkeiten: entweder wird die Grenzüberschreitung versucht, aber sie scheitert oder sie wird vollzogen, aber wird rückgängig gemacht. Die komplementären Teilräume der erzählten Welt stehen in einem Gegensatz zueinander. Dieser Gegensatz entfaltet sich nach der Position von Lotman auf drei Ebenen: - topologisch, d.h. der Raum ist durch Oppositionen, wie: hoch – tief, oben – unten, innen – auβen, links – rechts differenziert. - semantisch, d.h. wertend. Diese Ebene steht im Zusammenhang mit solchen Wertungen, wie gut – böse, vertraut – fremd, natürlich – künstlich, ländlich – städtisch, statisch – dynamisch. Mit Hilfe dieser Dimension werden den Räumen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben. - topographisch – topographische Oppositionen konkretisieren die dargestellte Welt, wie z. B. Stadt – Land, Berg – Tal, Himmel – Hölle.77 Die räumliche Ordnung ist nach Lotman für die Gestaltung narrativer Texte von groβer Bedeutung, weil „jede kulturelle Ordnung der Welt topologisch strukturiert ist.“78 Nach seiner Position ist die Kategorie des Raumes nicht nur im Bereich der Literatur, sondern auch in Bezug auf soziale, religiöse, politische und moralische Modelle wichtig. Sie ist nicht zuletzt deswegen relevant, dass man mit Hilfe dieser Modelle das ihn umgebende Leben begreift. 3.3.2 Räumliche Ordnung in Emma Braslavskys Aus dem Sinn Die Handlung Aus dem Sinn spielt sich in Erfurt zur Zeit der DDR, in dem eine Gruppe vertriebener Sudetendeutschen lebt. Diese deutsche Stadt ist einerseits ein Aktionsraum, denn 76 Ebd., S.140. Vgl.ebd., S.140-141. 78 Ebd., S.143. 77 41 sie ist der Schauplatz der Handlung, wobei betont werden muss, dass Erfurt nicht der einzige Schauplatz ist. Die räumliche Kulisse bildet auch Tuschkau, eine Stadt in Egerland, aus der die Protagonisten vertrieben wurden und mit der sie viele Erinnerungen verbinden. Erfurt ist aber auch ein gestimmter Raum, in dem Sinne, dass das Leben in dieser Stadt nicht unbedingt positive Gefühle hervorruft. Es weckt eher Ärger, Trauer, Gefühl der Ungerechtigkeit und Wille, nach der Heimat zurückzuführen. Erfurt kann man auch als Anschauungsraum definieren, wobei aber sich die Einstellungen zu diesem Ort unter den Figuren unterschiedlich darstellen. Im Roman kommen die Figuren vor, die sich vielleicht mit Erfurt nicht identifizieren, aber sich mindestens mit dem Leben hier abgefunden haben, wie z.B. Eduard. Es gibt aber auch Protagonisten, die sich von ihrer neuen Heimat stark distanzieren, wie Ella, Eduards Mutter, die nach Tuschkau zurückkehren will. Das Leben der Figuren schwebt also zwischen dem vertrauten Ort, d.h. der Heimat, die jetzt in ihrer Erinnerungen auftaucht und der Fremde, in der sie gezwungen sind, zu leben. Im Roman werden zwei spezifische Räume geschildert, die einen bestimmten Einfluss auf das Verhalten und das ganze Leben der Figuren ausübt. Damit werden das Stasi-Gefängnis und die Klinik gemeint, wo sich Eduard und Paul nach der Demonstration in Prag befinden und ihre Strafe verbüβen. Das Gefängnis stellt einen spezifischen Raum dar, der das Leben die sich dort befindenden Menschen reglementiert und den Lebensrhythmus bestimmt. Dieser Raum hängt mit dem Zustand des Abgeschnittenseins von der Auβenwelt, verschiedener Reize und anderer Menschen zusammen. Die fehlende Freiheit, das Eingesperrtsein, keine Möglichkeit einer Tat oder Entscheidung sind typische Merkmale dieses Raumes. Eduard und Paul verbringen zusammen sieben Tage im Stasi – Gefängnis. Diese ganze Zeit sind sie nur auf sich selbst angewiesen, denn sie dürfen keinen sehen, auch den Anwalt. Der Aufenthalt im Gefängnis bedeutet also für beide die Isolation von der Familie und der Auβenwelt. Die einzige Möglichkeit am Anfang den Kontakt zur Welt auβer Gefängnis zu haben, ist das Fenstergitter, an dem Eduard lange Stunden verbringt. Ihr Leben bestimmen die Mahlzeiten, die sie um feste Uhrzeiten bekommen. Zu diesem Raum gehören auch bestimmte Gerüche, wie z.B. Klogestank, an dem sie sich mit der Zeit gewöhnt haben, aber auch Mangel an Geräuschen, wodurch das Gefängnis als „ein Geisterhaus“79 genannt wird. Die Zelle selbst ist ihnen auch gut bekannt, sie bemerken solche Details, wie Risse an der Decke, den sie auf dem Bett liegend mit der Sehkraft folgen. Die Zellelandschaft bildet auch einen groβen Haken für das Kabel, an dem die Glühbirne hängt. Dieses Ding ist deswegen wichtig, dass es Paul 79 Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: claassen 2007, S.266. 42 ermöglicht, Selbstmord zu begehen. Von daher kann der Haken als ein verknüpftes Motiv gelten, das metonymisch motiviert ist. Bemerkenswert sind die Reaktionen der beiden Figuren auf diese Situation und auf den Aufenthalt selbst. Eduard erträgt seine Lage ungewöhnlich ruhig, ohne starken Gefühle, obwohl er vor allem geärgert sein sollte. Er wartet auf nichts, macht sich keine groβen Hoffnungen, schnell das Gefängnis zu verlassen. Er findet sich mit diesem Zustand ab und macht daraus keine Tragödie. Sein Verhältnis zu diesem Raum definieren folgende Textstellen: „Eduard fühlte, dass er hier wieder zu sich kommen würde“. 80 „Eduard[…] freute sich nur über das warme Licht der Glühbirne im Raum und darüber, dass es diesmal Aprikosenmarmelade war […]“.81 Das Leben im Gefängnis vergeht Eduard deswegen relativ schnell und „unangenehm“, weil er sich eine Beschäftigung ausdenkt, nämlich er zählt die Zeit. Dazu entwickelt er sogar ein System, wie man ihn messen kann: „Akribisch markiert er sich jede Viertelstunde mit einer Deckenfranse, indem er sie von den anderen Fransen separierte. Für volle Stunden nahm er zwei zusammen.“82 Die Zeit fasziniert ihn schon seit langem und jetzt füllt sie sein Leben und erleichtert diese schwierige Situation zu ertragen. Auβer der Uhrschläge beschäftigen ihn die Erinnerungen an Anna und seine Mutter, deren Bilder er ständig ins Gedächtnis zurückruft. Mit der Zeit wird Eduard das Leben im Gefängnis zur Routine, was im Roman folgendes kommentiert wird: Eduard vollzog den Tag in Routine, aβ mit Appetit, zählte voran, beobachtete das Licht bis zum letzten Moment. Glühbirne an, dachte an Anna, an seine Mutter, an ihre Worte, an seinen Vater, an seien Worte damals, als sie hierherkamen. Seine Ruhe zerstört den Pauls Selbstmord, den er am siebten Tag ihres Aufenthaltes im Gefängnis erhängt am groβen Haken findet. Paul reagiert auf den Aufenthalt im Gefängnis ganz anders. Dieser Unterschied ergibt sich aus seinem aufrührerischen Charakter, der ihm nicht erlaubt, sich mit der Situation abzufinden. Am Anfang erlebt er sie still, spricht mit Eduard nicht wegen des Abhörenverdachts, sagt auch kein Wort über die verlorene Demonstration. Er analysiert die Ereignisse, die ihm zu diesem Ort gebracht haben. Die Stille, die im Gefängnis herrscht und keine Möglichkeit etwas Sinnvolles zu tun, ärgern ihn. Die schwierige Lage schwächt seine Begeisterung nicht ab und auch hier fordert er laut seine Rechte: 80 Ebd., S.262. Ebd., S.263. 82 Ebd., S.261. 81 43 Er legte sich wieder hin und sagte nach einer Weile laut in den Raum: Ich will einen Anwalt! Ich will meinen Vater sehen. Ich will baden. Ich habe auch Rechte. Das hier ist menschenunwürdig.83 Aus diesem Zitat geht auch seine Einstellung zum Gefängnis hervor, das er als Ort betrachtet, in dem Menschen unwürdig behandelt werden und wo ihre Rechte gebrochen werden. Im Gegensatz zu Eduard ist Paul sicher, dass sie bald das Gefängnis verlassen. Paul ärgert nicht nur die ganze Situation, sondern auch das Verhalten von Eduard – seine Ruhe und Befriedigung bezüglich des Essens, was er folgendermaβen kommentiert: „Du hast wirklich deinen Verstand verloren. Das hier macht dir wohl noch Spaβ, Mensch!.“84 Er verspottet Eduard, sein Uhrschlägezählen und seine Schwäche, indem er sagt: Eduard taugt auch nichts. Freut sich über ein Brot mit Butter. Rechnet und zählt den ganzen Tag, so ein Idiot! Er ist schwach; dafür kann er ja nichts. Deshalb muss ich stark bleiben.85 Bemerkenswert ist auch, dass das Gefängnis Pauls Verhältnis zur Demonstration und ihrer Folgen nicht ändert. Er bewertet sein Vorgehen als richtig und sieht keine Notwendigkeit, sich zu entschuldigen und die Verantwortung für das Scheitern der Aktion zu übernehmen. Den Wendepunkt seines Aufenthaltes im Gefängnis bildet der Brief von seinem Vater, der in Paul zum ersten Mal starke Gefühle weckt, die er auch vor Eduard nicht verbergen kann. Während der Brieflektüre sinkt er zusammen und auf den Knien liest ihn mehrmals. Das Schreiben ist für Paul in so weit wichtig, dass er ihm zwei schlechte Nachrichten bringt: erstens – die Information über den Selbstmord Nadjas (was keine richtige Information ist) und zweitens – die Nachricht vom Vater, der sich von ihm lossagt. Das ist für Paul ein schwerer Schlag, der ihn zum Selbstmord anstiftet. Als der zweite spezifische Raum gilt „die psychiatrische Anstalt namens U. Cerletti.“86 Eduard wird von der Gefängniszelle in eine Anstaltszelle verlegt, wo er den Rest seiner Strafe verbüβen soll. Das Sich Erklären als nicht zurechnungsfähig und der Aufenthalt hier sollten für Eduard eine Chance sein, sich schneller mit den Nächsten zu treffen. Es zeigt sich aber, dass die Klinik eine rücksichtslose Fortsetzung eines Plans ist, der das Ziel hat: Eduard als Feind des Staates aus dem sozialen Leben auszuschlieβen, indem man ihm alle seien Erinnerungen wegnimmt. Dabei ist also auffallend, wie weit sich das totalitäre System ins Leben der einfachen Menschen einmischt. Der Aufenthalt in der Klinik bedeutet für Eduard 83 Ebd., S.262. Ebd., S.264. 85 Ebd., S.266. 86 Ebd., S.335. 84 44 nicht nur weitere Isolation von allen und alles, sondern auch den Verlust sich selbst, eigener Erinnerungen und damit seiner Vergangenheit, die ihn als Menschen gebildet hat. Dieser Raum ist also in so weit wichtig, dass er Eduard als Menschen zerstört, ihm seine Identität mittels Elektrotherapie wegnimmt. Er wird statt mit sieben mit vierzehn Elekroschocks behandelt, weil Eduard nach den ersten sieben Behandlungen imstande ist, alle Gedächtnistestsfragen zu beantworten. Obwohl der Rückkehr Eduards jüngster Erinnerungen mit der Zeit immer länger dauert, antwortet er auf alle Fragen während des Gedächtnistests. Diese Situation ist die Voraussetzung für die weitere Therapie, infolge derer er völlig sein Gedächtnis verliert. In Bezug auf diesen Raum kommt es zur Grenzüberschreitung, denn Eduard verlässt die Klinik „ohne ein Wort zu sagen, ohne Schuhe und ohne Sachen.“87 Wichtiger scheint aber die Tatsache zu sein, dass er die Anstalt als eine andere Person, als Mann ohne Vergangenheit verlässt, der sich sogar an seinen Namen nicht erinnern kann. Anhand der analysierten räumlichen Kulisse lässt sich feststellen, dass die im Roman dargestellten Räume einen starken Einfluss auf die Existenz der Figuren ausüben. Sie wecken in ihnen unterschiedliche Gefühle und Emotionen und werden zu den Orten, an denen sie ihre persönlichen Tragödien erleben. Im Fall Pauls ist das Selbstmord, bei Eduard der Gedächtnisschwund. Diese Ereignisse ändern ihr Leben, aber zugleich auch die Existenz ihrer Nächsten. 3.4 Zeitliche Situations- und Ereignisrahmen Hinsichtlich der Zeitgestaltung in den fiktionalen Texten „verfügt der literarischer Erzähler ungleich freier und artistischer über die Zeitachse“.88 Das bedeutet, dass die chronologische Reihenfolge der erzählten Ereignisse (d.h. Zeit der Geschichte) nicht identisch mit dem sprachlichen Ablauf der Erzählung selbst (d.h. Zeit der Erzählung) ist. In den literarischen Erzählungen kommen Anachronien, d.h. Zeitsprünge vor, die den linearen Ablauf der Geschichte unterbrechen. Es gibt eben Fälle, in denen der eigentliche Schluss der Handlung ganz am Anfang des Textes steht – dann haben wir mit der Prolepse, d.h. mit der Vorausdeutung zu tun – oder wo zum Schluss noch einmal zu einer dramatischen Situation rückgeblendet wird (Analepse). 87 88 Ebd., S.350. Schülein, Frieder/Stückrath, Jörn: Erzählen. In: Brackert, Helmut/ Stückrath, Jörn: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1996, S.54-69 (hier S.65). 45 Im Roman Aus dem Sinn von Emma Braslavsky sind beide Anachronien präsent. Die Autorin bedient sich der Prolepse, indem sie den Geschichtsschluss schon im ersten Kapitel zeigt. Die Romaneröffnung Erst ein Ende (Prolog)89 betrifft „die Gegenwartsebene der Erfurter Zeit der Figuren im späten Sommer 1969 oder im früheren Herbst 1969“90 und stellt die Landschaft nach der Explosion der Domuhr dar, d.h. das Verschwunden der Siebenziffer aus der Uhr, was man dem Teufelswerk zuschreibt. Das zweite Ereignis ist das Finden eines jungen Mannes, der Symptome des Gedächtnisverlustes aufzeigt, was im Roman folgendes geschildert wird: Neben den Abbildungen der zerstörten Domuhr und der schweigenden Gloriosa zeigt die Zeitung das Bild eines jungen Mannes, der im Morgengauen auf dem Bordstein zwischen den Ziffern und Zeigern an den Straβenbahngleisen gefunden wurde. Die Polizei bitte hierbei um Hinweise. Seine Identität könne nicht festgestellt werden; er erinnere sich nicht an seinen Namen.91 Die Autorin bezieht sich noch einmal auf diese Zeit, d.h. im letzten Kapitel Und dann ein Anfang (Epilog).92 Im Epilog, der als Anfang tituliert wird, „kommt es zur Aufklärung der Domuhrexplosion, für die die Zisterziensernonne Elisabeth verantwortlich“93 zu sein scheint. Hier wird auch die Identität des gefundenen Mannes bestätigt, d.h. es besteht kein Zweifel mehr, wer er ist. Seine Identifikation ist dank seiner Mutter möglich, die seine „Geburtsdatum, Adresse und kurze biografische Eckdaten angibt, die niemand auβer ihr beweisen kann“.94 Beide Kapitel, die am Anfang und am Ende des Romans vorkommen, nehmen Bezug auf dasselbe Ereignisse und dieselbe Zeit d.h. auf die Gegenwart, wodurch sie einen Zeit- und Ereignisrahmen bilden. In nächsten Kapiteln wird der Leser mit den Motiven (d.h. Ereignissen) konfrontiert, die zu den im ersten und letzten Kapitel dargestellten Events geführt haben. Die Autorin benutzt also die Analepse, einen Zeitspring in die Vergangenheit und es werden alle Ereignisse vermittelt, die die Domuhrexplosion und den Gedächtnisschwund der Hauptfigur zeitlich vorausliegen. Die Rückwendung kommt nochmal im Roman vor, wenn sich die Hauptfigur, Eduard Meiβerl an seine Kindertage erinnert. Der Blick des Lesers wird dann auf das Jahr 1944 gerichtet und alle Geschehen werden aus der Perspektive des viereinhalbjährigen Kindes erzählt. 89 Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: claassen 2007, S.12. Zimniak, Paweł: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip in Emma Braslavskys Aus dem Sinn (2007) (Manuskript) 91 Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: claassen 2007, S.15. 92 Ebd., S.351. 93 Zimniak, Paweł: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip in Emma Braslavskys Aus dem Sinn (2007) (Manuskript) 94 Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: claassen 2007, S.362. 90 46 Emma Braslavsky schafft durch die gestörte chronologische Reihenfolge der Ereignisse einen interessanten Roman. Die Tatsache, dass der Leser schon am Anfang des Buches mit einem überraschenden Bild konfrontiert wird, zwingt ihm weiter zu lesen, ist für ihn ein starkes Impuls um zu erfahren, wie es dazu gekommen ist. Die Rückwendungen wiederum geben dem Leser die Möglichkeit, die Vergangenheit der Hauptfigur kennenzulernen, was ihm eine andere Perspektive auf sein weiteres Handeln bietet. 3.5 Das Verhältnis zwischen dem Erzählen und dem Erzählten – Fazit Die Untersuchung eines literarischen Textes kann nicht nur auf die Analyse des Inhalts (d.h. des Erzählten) reduziert werden. Sie soll auch die Art und Weise der Vermittlung (d.h. das Erzählen) der im narrativen Text dargestellten Sachverhalte umfassen. Die in den vorigen Kapiteln vollzogene Analyse des Romans Aus dem Sinn von Emma Braslavsky wurde unter Berücksichtigung der beiden Ebenen durchgeführt. Dabei wurde besonders Augenmerk auf den Aufbau von Figuren, die Erzählsituation, die Raum- und Zeitgestaltung gelegt. Hinsichtlich des Figurenentwurfs wurden zwei gegensätzliche Protagonistenprofile verarbeitet, bei denen den Schwerpunkt auf ihre Lebenseinstellung und ihr Verhältnis zum politischen Engagement gelegt wurde. Auf diese Art und Weise sind zwei oppositionelle Porträts entstanden, die zwei unterschiedliche Individuen innerhalb eines totalitären Systems zeigen. Es wurde auch berücksichtigt, welchen Einfluss auf sie ihr soziales Umfeld nimmt und sie als Menschen bildet. In Bezug auf die Erzählinstanz wurde zwischen der Erzählung von Ereignissen und der Erzählung von Worten unterschieden. Im ersten Fall wurden die wichtigsten Motive des Romans herausgesondert und im kausalen Zusammenhand präsentiert. Im zweiten wurden die Notizen des Hauptfigurs analysiert, d.h. es wurde darauf aufmerksam gemacht, woran sich 30- jährige Mann erinnert und von welchen Ereignissen er aus der Perspektive des viereinhalbjährigen Kindes erzählt. In Hinsicht auf die räumliche Kulisse wurde die Gegenüberstellung zwischen dem vertrauten Ort der Heimat und dem fremden Erfurt hergestellt, d.h. es wurde darauf hingewiesen, wie sich die Figuren auf die erwähnten Orte beziehen, welche Position sie ihnen gegenüber repräsentieren. Es wurde auch aufgezeigt, wie zwei andere spezifische Räume des Romans: Stasi-Gefängnis und die psychiatrische Anstalt das Leben der Figuren beeinflussen und es völlig ändern. Im letzten Punkt der Romananalyse wurde Bezug auf die Zeitgestaltung genommen, indem auf die gestörte chronologische Abfolge von der Ereignisdarstellung hingewiesen wurde. Es wurde festgestellt, dass sich die Autorin der Zeitsprünge in die Vergangenheit und in die Zukunft bei 47 der Vermittlung der Geschichte bedient. In Hinsicht darauf wurde gezeigt, dass der Anfang und das Ende des Romans aufeinander Bezug nehmen, wodurch sie einen zeitlichen Situations- und Ereignisrahmen bilden. Die vorgenommenen Kriterien der Textanalyse haben erlaubt, den Roman unter die wichtigen Aspekten zu untersuchen. Sie haben ermöglicht, festzustellen, inwieweit sie im analysierten Text vollzogen werden. Die durchgeführte Analyse gibt und das Bild, wie der Text konstruiert wurde und dadurch wie er auf den Leser wirkt. 48 4 Zusammenfassung Die vorliegende Diplomarbeit stellt eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Gedächtnisses und damit verbundener Erinnerungen aus der Sicht einer Gruppe vertriebener Sudetendeutschen. Im ersten Kapitel wird erläutert, was die Begriffe der Erinnerungskultur und des Gedächtnisses bedeuten. Es wird auf den Zusammenhang zwischen den Erinnerungen und der Identitätsbildung hingewiesen. Weiterhin wird aufgezeigt, wie unterschiedlich das Gedächtnis je nach der Gesellschaftsform, d.h. in offenen und geschlossen Gesellschaften funktioniert und wie die Staatsordnung die Gestalt des Gedächtnisses beeinflusst. Es wird auch darauf aufmerksam gemacht, welche Rolle die Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses spielt. Im zweiten Kapitel werden Theorien analysiert, die sich mit dem Phänomen des Gedächtnisses befasst haben. Es wird berücksichtigt, wie unterschiedlich es verstanden wird, was es beinhaltet, welche Dimensionen es umfasst und wie es unterteilt wird. Dabei handelt es sich um die Auseinandersetzung mit den Theorien von Maurice Halbwachs, Aby Warburg, Pierre Nora, Aleida und Jan Assmann. In diesem Kapitel wird auch der Heimatbegriff erläutert und es wird auf seine Tabuisierung nach 1945 hingewiesen. Dieses Kapitel beinhaltet auch die Erklärung einiger wichtiger narratologischer Fragen wie: der Begriff des Erzählens, die doppelbesetzte Kommunikation in narrativen Texten und das Verhältnis zwischen dem Erzählen und dem Erzählten. Im dritten Kapitel wird die Analyse des Romans Aus dem Sinn von Emma Braslavsky vollzogen. Dabei werden folgende Kriterien berücksichtigt: Figurenentwurf, Erzählinstanz, Raum- und Zeitgestaltung. Es wird die Gedanken- und Gefühlswelt der zwei Figuren aufgezeigt, die in einer Opposition zueinander stehen. In Bezug auf die Erzählsituation werden die Ereignisse unter dem Aspekt ihrer kausalen Motivierung analysiert. Es wird auch gezeigt, wie sich das Kriterium des Raumes entwickelt und welches Verhältnis dazu Figuren haben. Zum Schluss wird auf die zeitliche Ordnung des Romans hingewiesen. Das fünfte und letzte Kapitel enthält die Didaktisierungsvorschläge, wie man diese Thematik in den DaF- Unterricht einbeziehen kann. Die Stundenentwürfe zeigen, auf welche Art und Weise der Lehrer mit solchen Begriffen wie: Erinnerungen, Gedächtnis, Vertreibung, Heimat, das totalitäre System umgehen kann. 49 5 Praktischer Teil – Didaktisierungsvorschläge 5.1 Stundenentwurf Nr. 1 Zielgruppe: Zeit: Thema: III. Studienjahr 90 Minuten Heimat – ein Ort oder ein Gefühl? Pragmatische Ziele: Ich kann sagen, was für mich das Wort „Heimat“ bedeutet. Ich kann mit dem Text arbeiten. Kognitives Ziel: Ich weiβ, dass der Heimatbegriff vielschichtig ist und verschiedene Komponente umfasst. Sozial-affektive Ziele: Ich kann zu zweit arbeiten und an der Diskussion teilnehmen. I. Begrüβung Die Studenten werden mit einem Guten Tag begrüβt. Die Anwesenheitsliste wird nachgeprüft. Sozialform: Frontalunterricht Feinziel: Zeit: 3 Minuten II. Thema- und Zielangabe Der Seminarleiter gibt das Thema und das Ziel an. Sie werden auf Deutsch formuliert und an die Tafel geschrieben. Sozialform: Frontalunterricht Feinziel: Ich weiβ, womit ich mich heute im Unterricht beschäftigen werde. Zeit: 2 Minuten Materialien: Tafel, Kreide, Hefte III. Aufmunterung Der Seminarleiter stellt den Studenten folgende Fragen: 1. Was verstehen Sie unter dem Begriff „Heimat“? 2. Was bedeutet für Sie „Heimat“? 3. Welche Assoziationen haben Sie, wenn Sie das Wort „Heimat“ hören? 50 Die Antworten, Ideen, Assoziationen werden an die Tafel geschrieben. Dann bildet jeder Student individuell seine eigene Definition des Heimatbegriffs. Sozialform: Plenum/Einzelarbeit Feinziel: Ich kann sagen, was ich unter dem Begriff „Heimat“ verstehe und was er sie/ für mich bedeutet. Zeit: 10 Minuten Materialien: Tafel, Kreide, Hefte IV. Einführungsphase Der Seminarleiter präsentiert den Studenten die Definition des Heimatbegriffs nach Romy Suckow (Anlage 1). Die Studenten sollen ihre eigenen Definitionen mit dieser vergleichen und feststellen, ob es Gemeinsamkeiten oder Unterschiede gibt. Sie sollen auch feststellen, welche Aspekte die Begriffserklärung nach Suckow umfasst und welche ihre eigene. Die Studenten sollten zur Schlussfolgerung kommen, dass der Heimatbegriff schwer definierbar und vielschichtig ist und dass je nach Person, die ihn erklärt, kann er unterschiedliche Komponente enthalten kann. Sozialform: Plenum Feinziel: Ich kann meine eigene Definition des Begriffs „Heimat“ mit den dargestellten anderen Definitionen vergleichen. Ich weiβ, dass der Heimatbegriff vielschichtig ist und verschiedene Komponente umfasst. Zeit: 12 Minuten Materialien: Tafel, Kreide, Hefte V. Übungsphase Die Studenten lesen den Text Heimat von Joachim Kronsbein (Anlage 2). Nach der Lektüre sollen sie auf sieben Fragen antworten (Anlage 2), die sich auf den Textinhalt beziehen. Sozialform: Einzelarbeit Feinziel: Ich kann den Text selektiv lesen und die Fragen beantworten, die die bestimmten Informationen betreffen. Zeit: 30 Minuten Materialien: Übungsblatt 51 VI. Anwendungsphase Die Studenten arbeiten zu zweit. Sie bekommen elf Zitate bekannter Personen (Anlage 3), die sich zum Heimatbegriff geäuβert haben. Die Aufgabe besteht darin, zwei Aussagen zu wählen und sie zu interpretieren. Jedes Paar wählt zwei Aussagen. Die Studenten sollen bei der Interpretation erklären, warum sie genau diese Zitate gewählt haben, wie sie sie verstehen und was der Autor dadurch sagen wollte. Sozialform: Partnerarbeit Feinziel: Ich kann die Aussagen zum Heimatbegriff richtig interpretieren und aus ihnen Schlussfolgerungen ziehen. Zeit: 20 Minuten Materialien: Übungsblatt VII. Testphase Die Studenten präsentieren ihre Interpretationen von Zitaten vor der ganzen Gruppe. Später ist diese Darstellung Anregung zur Diskussion, was „Heimat“ bedeutet, wie man sie verstehen und als Begriff erfassen kann. Sozialform: Plenum Feinziel: Ich präsentiere meine Interpretation von Zitaten über Heimat im Plenum. Ich kann darüber diskutieren, was der Heimatbegriff für mich bedeutet. Zeit: 13 Minuten 52 Übungsblatt zum Didaktisierungsvorschlag Nr. 1 Anlage 1: Vorbemerkung zum Heimatbegriff Der Heimatbegriff bezeichnet subjektiv von einzelnen Menschen oder kollektiv von Gruppen, Stämmen, Völkern, Nationen erlebte territoriale Einheit, zu der ein Gefühl besonders enger Verbundenheit besteht. Im allgemeinen Sprachgebrauch ist Heimat zunächst auf den Ort (auch als Landschaft verstanden) bezogen, in den der Mensch hineingeboren wird, wo die frühen Sozialisationserlebnisse stattfinden, die weithin Identität, Charakter, Mentalität, Einstellungen und schließlich auch Weltauffassungen prägen. Insoweit kommen dem Begriff grundlegend eine äußere, auf den Erfahrungsraum zielende, und eine auf die Modellierung der Gefühle und Einstellungen zielende innere Dimension zu, die (zumal der Begriff Heimat zunächst mit der Erfahrung der Kindheit verbunden ist) dem Begriff eine meist stark gefühlsbetonte, ästhetische, nicht zuletzt ideologische Komponente verleihen. Quelle: Suckow, Romy: Warum gilt der Heimatbegriff als ideologisch belastet? – Die Unterrichtsinhalte des Sachunterrichts zur Zeit des Dritten Reiches, unter: http://www.hausarbeiten.de/faecher/hausarbeit/sak/24929.html/Zugriff am 29.04.08 Anlage 2: HEIMAT Alle haben eine, aber niemand kann seine so trefflich – diffus und genau zugleich – benennen wie wir Deutschen: die Heimat. Die Franzosen sprechen mit Pathos von „la patrie“ und meinen gleich das Groβe und Ganze, die nationale Gesamt-Glorie, die Briten nennen das Stückchen Gegend, aus der sie kommen, viel schlichter ihr „home“ und denken dabei in allererster Linie an ihr Castle, und wenn es nur ein schmales Reihenhaus bei Manchester ist. Nur die Deutschen haben einen anständigen, einmaligen Begriff für das unfassliche Gefühl, irgendwo, auβerhalb der eigenen vier Wände zu Hause sein: Heimat eben – mit allem irrationalen Drum und Dran. Ganz weit und warm wird es manchem bei diesem Zauberwort ums Herz, und der mentale Blick schweift sogleich im Vogelflug von Rügen bis Ruhpolding. Andere kommen mit weniger Aufwand aus und denken nur an den Apfelpfannkuchen mit Zimt, den die Oma daheim im Bergischen Land so köstlich aus der Gusseisernen frisch auf den blaugeblümten Arzbergteller gleiten lieβ. Einmal im Monat, immer mittwochs. Welch ein Aroma, welche Lust. Kein Pfannekuchen danach konnte ja mithalten. Anderen reicht der Blick auf die moorigen Landschaften mit krüppeligen Kiefern oder gar auf das Heizkraftwerk an der Ecke, um sich ganz sicher zu sein: Hier bin ich zu Hause – und manchmal sogar recht gern. 53 Heimat sind Gerüche, Geräusche, sind Farben und Formen, ist Sprache und – wohl zum gröβten Teil – Erinnerung. Ein kleiner, unscheinbarer Schubs – schon beginnen sie sich zu drehen, die unberechenbaren Assoziationsketten. Ein halber Satz, irgendwo in der Fremde aufgeschnappt, auf einer Piazza in der Toskana, ein paar der vertrauten Worte mit der seltsam singenden und kruden Satzmelodie, den eingestreuten Lisplern und dem resoluten, bekräftigenden „Wa!“ am Ende, schon pflanzt sie sich auf einmal in der Imagination übermächtig auf, die Heimatstadt Berlin mit ihrer Muttersprache. Solche akuten Anfälle von Heimatgefühl überfallen den Menschen nur woanders. Denn: „In der Fremde erfährt man, was die Heimat wert ist“, wusste der Romancier Ernst Wiechert und hatte sicher recht. Nur was nicht mehr da ist, fehlt. Und nur so stellt sich das innere Kribbeln richtig ein, schmerzhaft und wonnig-wehmütig, das aus einer banalen geographischen Herkunft eine echte Heimat voller Nestwärme macht: das Heimatgefühl. Keine Gedankenschärfe kann es ganz ergründen, keine Logik voll entschlüsseln. Nur im Sehnen nach dem Nicht-Mehr oder Bald-Wieder kann es keimen. Dann läuft die Erinnerungsmaschinerie mit voller Kraft, dann tut sich der Mensch ein Bisschen Leid und leidet gern. Da trifft Weltschmerz auf Wohlgefühl, und das Gemüt legt die Füβe auf den Tisch und macht es sich gemütlich. Und dabei ist es dem Gemüt total egal, ob es sich am Kölner Dom erwärmt oder am Bahnhof von Neheim-Hüsten, am Brandenburger Tor oder am stauträchtigen Autobahnabschnitt bei Schloss Burg Wermelskirchen an der Al. Heimat, das sind Rituale, Architektur, Landschaft und Tradition. Von allem etwas, und bei jedem anders gemischt. Und schlieβlich ist da der Humor. Norddeutsch-trocken, friesisch-herb kann er etwa sein, leicht salzig wie ein Matjes und undefinierbar wie das rötliche Küchen-Kuddelmuddel namens Labskaus. Genau so wie das Matsch-Gericht aus Kartoffeln, Rindfleisch und Roter Beete muss man die Lebensart der Nordlichter schon mehr mögen mit ihrer ans Lakonische andockenden Nüchternheit. Als eine süddeutsche Touristin sich Jahre nach der groβen Flutkatastrophe von 1962 bei einer Wirtin am Hamburger Fischmarkt teilnahmsvoll nach den Schrecken der Überschwemmung erkundigte, fiel die Antwort `nen büschen zurückhaltend aus: „Das Wasser, dasscha nu wieder wech, nech.“ In seiner ganzen philosophischen Tragweite kann das nur nachschmecken, wer bei Köm und Kluntjes Heimatgefühle entwickelt. Und das werden nicht dieselben sein, die vor Weiβwurst, Weizenbier und schneebedecktem Watzmann heimelige Wärme aufsteigen fühlen. Selbst die oder der Wartburg mag nur wenigen viel bedeuten, genau wie das Teutoburger Hermannsdenkmal oder das Kaiserstandbild am Dreiländereck. Aber wenn in seinem Schatten schmuste, sein erstes Eis bekam oder einen Anpfiff vom Papa, der wird`s nicht vergessen und das Bauwerk brauchen für sein inneres Fotoalbum, Ableitung „Heimat, engere.“ Darin glüht dann auch der Sonnenuntergang vor heimischer Balkonkulisse bis in alle Ewigkeit nach, da streben die Bäume auf dem Dorfplatz noch wie in ferner Kinderzeit unwirklich hoch in den Himmel – und auf wundersame Weise ist immer Hochsommer. 54 Uns selbst die stillgelegte Zeche vor der Haustür mit den düsteren Kohlehalden schimmert plötzlich wie ein Kleinod aus dem Schatzkästlein detailverliebter Industriearchäologen und Zeitgeistforscher. Es ist die Suche nach irgendeinem Sinn, die in der Rückschau das Vergangene wichtig und richtig macht, die alle Lebensstationen zu einer Kette reiht, deren Glieder nur auf eine einzige Weise zueinander passen, nur in dieser Reihenfolge. Das Leben erklärt sich, wenn überhaupt, nur aus der Rückschau. Und dazu braucht ein ordentlicher Mensch auch eine Heimat. Heimatgefühle entwickelt, wer weiβ, wohin er gehört. Oder es doch wenigstens einmal herausfinden möchte. In diesem Sinne: Auf, zurück nach Hause! Quelle: Kronsbein, Joachim: Heimat. In: SPIEGEL Spezial 06/1999. Worterklärungen: - „la patrie“ = französisch „Vaterland“ - Castle = englich „Burg“ - die Gusseisernen = hier: eine Bratpfanne aus Gusseisen - der Arzbergteller = ein Porzellanteller der Firma Arzberg - Piazza = ital. Wort für „der Platz“ - Köm = norddeutsche Bezeichnung für Kümmelschnaps - Kluntjes = friesische Bezeichnung für dicke, weiβe Kandiszuckerstücke - der Watzmann = ein Berg - Dreiländereck = Ortsbezeichnung am Rhein in der Nähe von Koblenz FRAGEN ZUM TEXT „HEIMAT“ 1. Wodurch unterscheidet sich nach dem Autor des Artikels der Begriff „Heimat“ in Frankreich, England und in Deutschland? ………………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………… 2. Führen Sie zwei Beispiele von Heimatgefühlen, die man nach Ansicht des Autors bei Deutschen antreffen kann! ………………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………… 3. Wie wird im Text der Satz: „In der Fremde erfährt man, was die Heimat wert ist“ erklärt? ………………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………… 55 ………………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………… 4. Wie definieren Deutsche den Begriff „Heimat“? Geben Sie vier Beispiele an! ………………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………… 5. Wann löst ein Kulturdenkmal bei jemandem ein Heimatgefühl aus? ………………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………… 6. Wie wird das Bedürfnis nach Heimat erklärt? Nennen Sie zwei im Text erwähnte Gründe! ………………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………… 7. Welche Schlussfolgerung zieht der Autor für sich selbst in den letzten zwei Zeilen des Textes? ………………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………… ………………………………………………………………………………………………… Anlage 3: Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern da, wo man verstanden wird. (Christian Morgenstern) Heimat ist ein geistiger Raum, in den wir mit einem jeden Jahre tiefer eindringen. (Reinhold Schneider) Heimat ist immer noch Sehnsucht nach der Kindheit. (Heinrich Böll) 56 Die wahre Heimat ist eigentlich die Sprache. Sie bestimmt die Sehnsucht danach, und die Entfernung vom Heimischen geht immer durch die Sprache am schnellsten. (Wilhelm Freiherr von Humboldt ) Du kleiner Ort, wo ich das erste Licht gesogen, den ersten Schmerz, die erste Lust empfand, sei immerhin unscheinbar, unbekannt, mein Herz bleibt doch vor allen dir gewogen, fühlt überall zu dir sich hingezogen, fühlt selbst im Paradies sich noch aus dir verbannt. (Christoph Martin Wieland) …Die Heimat Ist also wohl das Teuerste, was Menschen Besitzen… (Friedrich Schiller) Denn nichts ist doch süßer als unsere Heimat und Eltern, wenn man auch in der Fern' ein Haus voll köstlicher Güter unter fremden Leuten, getrennt von den Seinen, bewohnet. (Homer) Heimat sind die Menschen, die wir verstehen und die uns verstehen. (Max Frisch) Ein Mensch, der keine Heimat hat, gleicht einem windverwehten Blatt. (Erich Limpach) Heimat ist nicht der Ort, sondern die Gemeinschaft der Gefühle. (Bodeninschrift in der Galerie der Gegenwart in Hamburg) Heimat ist für mich überall dort, wo ein Mensch ist, zu dem ich kommen kann, ohne gefragt zu werden, weshalb ich da bin, der mir einen Tee anbietet, weil er weiß, daß ich Tee trinke, und wo ich bei dieser Tasse Tee schweigen darf. (Reiner Kunze) Quellen: www.dewi-ziehm.de/zitate/heimat.html www.gutzitiert.de/zitat_thema_heimat.html - 38k projekt-heimat.de/download/Zitate%20Heimat.doc 57 5.2 Stundenentwurf Nr. 2 Zielgruppe: Zeit: Thema: III. Studienjahr 90 Minuten Das Individuum im totalitären System. Pragmatische Ziele: Ich kann die Figuren von Eduard Meiβerl und Paul Händl charakterisieren. Ich kann mit dem literarischen Text arbeiten. Ich kann sagen, welchen Einfluss das totalitäre System auf die Menschen ausübt. Kognitives Ziel: Ich weiβ, was für das totalitäre System gekennzeichnet ist. Sozial-affektives Ziel: Ich kann in der Gruppe arbeiten und an der Diskussion teilnehmen. I. Begrüβung Die Studenten werden mit einem Guten Tag begrüβt. Die Anwesenheitsliste wird nachgeprüft. Sozialform: Frontalunterricht Feinziel: Zeit: 3 Minuten II. Thema- und Zielangabe Der Seminarleiter gibt das Thema und das Ziel an. Sie werden auf Deutsch formuliert und an die Tafel geschrieben. Sozialform: Frontalunterricht Feinziel: Ich weiβ, womit ich mich heute im Unterricht beschäftigen werde. Zeit: 2 Minuten Materialien: Tafel, Kreide, Hefte III. Einführungsphase Der Seminarleiter zeichnet ein Assoziogramm (Anlage 1) an die Tafel. Die Studenten sollen angeben, welche Assoziationen bei ihnen der Begriff „das totalitäre System“ weckt. Alle Assoziationen werden an die Tafel notiert. 58 Sozialform: Plenum Feinziel: Ich kann sagen, was ich mit dem Begriff „das totalitäre System“ assoziiere. Zeit: 10 Minuten Materialien: Tafel, Kreide, Hefte IV. Übungsphase Übung 1: Der Seminarleiter fordert ein paar Studenten auf. Sie sollen anhand des Azzoziogramms sagen, was für das totalitäre System charakteristisch ist. Dabei können die Studenten solche Wendungen benutzen wie: - Das totalitäre System ist dadurch gekennzeichnet, dass… - Das totalitäre System charakterisiert… - Das totalitäre System zeichnet sich dadurch aus, dass… - Für das totalitäre System ist es charakteristisch, dass… Sozialform: Plenum Feinziel: Ich kann aufgrund des Assoziogramms sagen, wodurch sich das totalitäre System auszeichnet. Zeit: 10 Minuten Übung 2: Die Studenten werden in vier Gruppen geteilt. Zwei erste Gruppen bekommen Textstellen (Anlage 2) des Romans Aus dem Sinn von Emma Braslavsky, die sich auf die Figur des Eduard Meiβerls beziehen. Zwei anderen Gruppen erhalten Zitate, die die Figur des Paul Händls betreffen. Jede Gruppe soll aufgrund von angegebenen Romanfragmenten je nach Protagonist zwei Profile konstruieren. Dabei sollen sie vor allem solche Aspekte berücksichtigen wie: - Einstellung zur verlorenen Heimat - Verhältnis zum politischen Engagement (v.a. Anteilnahme an der Demonstration in Prag) Auf diese Art und Weise sollen zwei oppositionelle Porträts entstehen, die zwei unterschiedliche Individuen innerhalb eines totalitären Systems zeigen. Sozialform: Gruppenarbeit Feinziel: Ich kann anhand der Textstellen die Figuren von Eduard Meiβerl und Paul Händl charakterisieren. Zeit: 25 Minuten Materialien: Übungsblatt mit den Textfragmenten 59 V. Anwendungsphase Die Studenten präsentieren die Ergebnisse ihrer Gruppenarbeit, d.h. die Protagonistenprofile, die sie gebildet haben. Die Gruppen, die die andere Figur charakterisiert haben, notieren sich die wichtigsten Informationen entsprechend über Eduard Meiβerl oder über Paul Händl. Sozialform: Plenum Feinziel: Ich präsentiere die Charakteristika von Eduard Meiβerl und Paul Händl. Ich weiβ, welche Individuen innerhalb eines totalitären Systems Eduard Meiβerl und Paul Händl repräsentieren. Zeit: 22 Minuten VI. Testphase Die Studenten diskutieren über beide Figuren, versuchen sie zu vergleichen und festzustellen, wie das politische System, in dem sie beide leben, ihr Leben beeinflusst hat. Sozialform: Plenum Feinziel: Ich diskutiere über beide Figuren und kann sagen, welchen Einfluss das totalitäre System auf die Menschen ausübt. Zeit: 18 Minuten 60 Übungsblatt zum Didaktisierungsvorschlag Nr. 2 Anlage 1: das totalitäre System Anlage 2: Eduard Meiβerl Paul Händl I. „Er fühlte sich fremd hier [ in Tuschkau - M.M ] nicht wie ‹bei uns drüber›, dass klang immer noch nach Westen. Heimatgefühle kamen bei ihm in Tuschkau nicht auf; obwohl vertraut, erschien ihm die Stadt wie ein verkauftes, ausrangiertes Bett, in dem andere lagen; er kannte sich hier nicht mehr aus.“95 I. „Wir sind Sudeten. Ein eigenes Stück Land haben wir hier auch nicht gekriegt. Wir müssen zwischen allen anderen leben, als hätten wir den Krieg mehr verloren. Auf diesen ganzen Zentralismus hier hab ich keine Lust! […] Ich finde mich damit nicht ab; das stinkt mir.“97 II. „Eduard war unsicher […], weil sie [Miri – M.M] seine Erinnerungen an einen Ort [Tuschkau – M.M] brachte, an dem er Verlorenes begraben hatte und zu dem er nie wieder zurückwollte.“96 II. „Mit der Demonstration in März kommen wir aus der Defensive. Diese Kundgebung erweckt uns wieder zum Leben. Und die neue Verfassung gibt uns doch recht! […] Wir müssen endlich raus aus diesem Einheitsbrei!“98 95 Braslavsky, Emma: Aus dem Sinn. Berlin: claassen 2007, S.212. 96 Ebd., S.210. 97 98 Ebd., S.30. Ebd., S.167. 61 III. „Ich habe keine Lust auf Politik. Die ANSen sind plemplem. Ich bin ja kein ANSe, aber es ist halt Paul.“99 III. „Mir tut nichts leid, Mensch! Es geht eben nicht immer so glatt, aber wir müssen für unsere Rechte kämpfen.“103 IV. „Die Idee [Aktion in Prag - M.M] ist lächerlich[…]. Die werden ins für den Rest unsres Lebens in den Kast stecken. Paul, du weiβ, dass ich hinter diesem Autonomiequatsch nicht stehe. Ich fühle mich überhaupt nicht als Sudete. Ich erinnere mich an eine Kindheit in Tuschkau. Die Stadt hat jetzt einen tschechischen Namen; den kann ich nicht mal aussprechen! Ich erinnere mich an Tomas und Maria, die wer weiβ wo sind. Das ist schlimmer für mich, aber das ist vorbei. Der Boden ist mir egal. Ich will die Tschechen ja nicht in Schutz nehmen. Aber wir sind hier keine Sudeten, wir sind deutsche Umsiedler. Über uns will niemand reden. Auch drüber nicht. Und die Tschechen erst recht nicht. Wohnen will ich dort nicht mehr. Mein Zuhause ist hier, die Leute sind alle hier. Was soll ich dort?“100 IV. „Wir müssen der Wind sein, nicht die Gardinen!“ 104 V. „Ich weiβ nicht, ob ich da [an der Demonstartion in Prag – M.M] mitmache. Mutter findet’s zu gefährlich. Ich habe genug vom letzten Jahr. Die kontrollieren mich seitdem. Wenn ich noch mal so was anstelle, verliere ich meine Arbeit.“101 VI. „Diesmal lasse ich mich nicht wieder in so einen Quatsch [Demonstration in Prag – M.M.] reinziehen.“102 VII. „Eduard sah hier kein politisches Problem mehr, nur ein geschichtliches. Paul müsse das nicht in Prag auskämpfen, V. „Er legte sich wieder hin und sagte nach einer Weile laut in den Raum: Ich will einen Anwalt! Ich will meinen Vater sehen. Ich will baden. Ich habe auch Rechte. Das hier [im Stasi-Gefängnis – M.M] ist menschenunwürdig.“105 VI. „[…] er habe den Sinn seines Lebens wiedergefunden. Er setzte sich von nun an für die Rechte der Sudeten ein. Er kämpfe für historische Gerechtigkeit.“106 VII. „Paul Händl, ich bin der Kapitän der Sudeten.“107 VIII. „Paul stellte sich in der Mitte. Wir können jetzt mit der neuen Verfassung eine Petition ausarbeiten, in der wir mit den anderen Sudeten hüben wie drüben einen eigenen Kulturraum fordern. So wie ein autonomes Gebiet.“108 IX. „ Verstehst du, das ist unsre Chance. So machen wir’s. Wenn sich viele Sudeten von dort, hier und drüben an dem Tag mit einem groβen Presseaufmarsch vor dem Parlament in Prag versammeln und öffentlich Selbstbestimmung fordern, dann können die uns endlich nicht mehr ignorieren. He, ich rede von der vielleicht gröβten Kundgebung in der sudetischen Geschichte.“109 103 Ebd., S.265. Ebd., S.167. 105 Ebd., S.262. 106 Ebd., S.156. 107 Ebd., S.65. 108 Ebd., S.31. 109 Ebd., S.89. 104 99 Ebd., S.34. Ebd., S.89. 101 Ebd., S.56. 102 Ebd., S.49. 100 62 sondern in den Geschichtsbüchern, für die wolle er sein Leben nicht riskieren.“110 110 Ebd., S.89-90. 63 6 Literatur Primärliteratur BRASLAVSKY, EMMA: Aus dem Sinn. Berlin: claassen 2007. Sekundärliteratur BRODERSEN, INGKE/DAMMANN, RÜDIGER: Aufklären statt aufrechnen. In: Kafka, Zeitschrift für Mitteleuropa Nr. 13/2004, S.4-7. ERLL, ASTRID: Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses. In: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Stuttgart/Weimar: J.B.Metzler 2005, S.143-165. ERLL, ASTRID: Die Erfindung des kollektiven Gedächtnisses: Eine kurze Geschichte der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. In: Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2005, S.13-39. MARTINEZ, MATIAS/SCHEFFEL, MICHAEL: Merkmale fiktionalen Erzählens. In: Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S.925. MARTINEZ, MATIAS/SCHEFFEL, MICHAEL: Das ‹Was›: Handlung und erzählte Welt. In: Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S.108-134. MARTINEZ, MATIAS/SCHEFFEL, MICHAEL: Die Bedeutung von Erzählungen: Handlungsund Tiefenstrukturen. In: Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 1999, S.134-144. SCHÜLEIN, FRIEDER/STÜCKRATH, JÖRN: Erzählen. In: Brackert, Helmut/ Stückrath, Jörn: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek b. Hamburg: Rowohlt 1996, S.54-69. ZIMNIAK, PAWEŁ: Niederschlesien als Erinnerungsraum nach 1945. Literarische Fallstudien. Wrocław/Dresden: Neisse Verlag 2007, S.25-81. ZIMNIAK, PAWEŁ: „Verlorene Heimat“ - Zum deutschen Topos in der polnischen Erinnerungkultur nach 1945. ZIMNIAK, PAWEŁ: Gruppe als Gedächtnismedium – Zum sudetendeutschen Erinnerungsprinzip in Emma Braslavskys Aus dem Sinn (2007) (Manuskript) 64 Internet: KLEE, NEMO: Kollektives Gedächtnis, Herrschaft und Befreiung, Theoretische und persönliche Überlegungen, unter: www.grundrisse.net/grundrisse16/16nemo_klee.htm/ Zugriff am: 25.11.2007 MATUSSEK, PETER: Erinnerung und Gedächtnis, unter: www.peter-matussek.de/pub/A 32.html/ Zugriff am: 18.11.2007 MAYER, RUTH: Kommunikatives Gedächtnis. Aus: Mayer, Ruth: Diaspora, transcript Verlag, unter: www.forum-interkultur.net/190.0.html/ Zugriff am: 20.11.2007 NUR ORHAN, KALBIYE: Das kulturelle Gedächtnis, unter: www. seminare.design.fhaachen.de/mind/discuss/msgReader$218/ Zugriff am: 8.12.2007 65 Streszczenie W ostatnich latach można zauważyć większe zainteresowanie dyskursem pamięci, nie tylko w zakresie nauki, ale i w literaturze. Motyw pamięci i wspomnień można odnaleźć w wielu filmach i książkach, czego przykładem jest powieść Aus dem Sinn Emmy Braslavsky, której analiza została zawarta w rozdziale trzecim. Niniejsza praca składa się z dwóch części: teoretycznej i praktycznej. Część pierwsza zawiera dwa rozdziały. W rozdziale pierwszym zostały zdefiniowane takie pojęcia jak kultura pamięci i jej wpływ na tworzenie tożsamości człowieka jako jednostki, jak i kolektywu. W tej części wyjaśniono również dynamiczny charakter pamięci, z którym związany jest fenomen zapamiętywania i zapominania w zależności od rodzaju społeczeństwa, w jakim dana jednostka funkcjonuje. Rozdział ten określa również funkcję literatury jako medium w procesie budowania kolektywnej pamięci poprzez przekazywanie różnych światów, obrazów i wyobrażeń o przeszłości. W rozdziale drugim zostały zawarte teorie dotyczące dyskursu pamięci. Przy tym zostało uwzględnione, jak różnie jest pojmowana pamięć, jakie aspekty obejmuje i w jaki sposób została podzielona. Rozdział ten obejmuje również wyjaśnienie pojęcie „ojczyzna” oraz czynniki, które sprawiły, że stało się ono tematem tabu po II wojnie światowej. Poza tym zostały zdefiniowane takie pojęcia narratologiczne jak: opowiadanie, podwójna komunikacje w tekstach narracyjnych oraz związek pomiędzy płaszczyzną treści i jej prezentacji. Rozdział trzeci zawiera analizę powieści Aus dem Sinn autorstwa Emmy Braslavsky. Pierwszym krokiem była interpretacja dwóch głównych postaci na podstawie ich różnego nastawienia do utraty ojczyzny, systemu politycznego, w którym żyją, a przez to do odmiennego zaangażowania politycznego. Charakterystyka ta pokazuję dwie zupełnie różnorakie postawy ludzi funkcjonujących w systemie totalitarnym. Analiza ta obejmowała również środowisko postaci i jego wpływ na ich działania, postawę wobec problemów, z jakimi się zmagają. Poza tym została omówiona realizacja kryteriów przestrzeni i czasu. W odniesieniu do pierwszego aspektu przeciwstawiono ojczyznę bohaterów – Tuschkau nowemu, obcemu miastu – Erfurtowi, w którym żyją po wypędzeniu. Ukazano również ich stosunek do wymienionych miejsc i wpływ, jaki wywarła na nich utarta ojczyzny. Przedstawione zostały także dwa specyficzne miejsca: więzienie i klinka psychiatryczna oraz ich oddziaływanie na życie dwóch głównych postaci powieści. Analiza kategorii czasu dowiodła zaburzenie chronologii przedstawionych wydarzeń poprzez ukazywanie zdarzeń z przeszłości i przyszłości. Podczas analizy książki zostały zestawione najważniejsze zdarzenia, 66 które tworzą jej treść i wykazano, że znajdują się one w związku przyczynowo-skutkowym. Przy analizie zwrócono uwagę na pozycję narratora, tj. 4,5-letniego głównego bohatera, który jako dorosły mężczyzna spisuje swoje wspomnienia w postaci notatek. W części praktycznej niniejszej pracy zostały zawarte propozycje konspektów lekcyjnych, opierających się m.in. na pracy z tekstem literackim. Przedstawione propozycje przeznaczone są dla studentów Nauczycielskiego Kolegium Języków Obcych. Konspekty te dowodzą, że praca z tekstem literackim stanowi idealny materiał stymulujący do dyskusji, w której studenci mogą wyrazić swoje zdanie. Dyskusje są również dobrą okazją do rozwijania zdolności i umiejętności językowych oraz wzbogacają i poszerzają horyzonty myślowe ich uczestników.