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Vorwort
„Verunsicherungen – Das Subjekt im gesellschaftlichen Wandel“ (Keupp/Bilden
1989) heißt ein Sammelband, der sich aus sozialpsychologischer Sicht sowohl
mit realen Entwicklungen auf der Ebene des Individuums, aber auch mit
Irritationen bei seiner wissenschaftlichen und philosophischen Erfassung
beschäftigt und der daher ein neues, zeitgemäßes Konzept des Einzelnen in
seiner gesellschaftlichen Eingebundenheit, also von Individualität und Identität,
entwickeln will. Verunsichert ist jedoch nicht nur der Einzelne jeder für sich,
sondern sind auch diejenigen, die es beruflich mit Menschen zu tun haben. Denn
inzwischen sind die vielfältigen Nachrichten vom Ende oder Tod des Subjekts,
des Individuums etc. in Philosophie und Soziologie auch in der Praxis
angekommen. Auch wissenschaftliche Vorstellungen von einer Gesellschaft, die
nur noch aus Systemen und Strukturen besteht, die sich in einem mysteriösen
Eigenleben selber schaffen, weiterentwickeln, in Beziehung zu anderen
Systemen und Strukturen setzen, scheinen inzwischen Praxis geworden zu sein.
Die Praxis, um die es mir geht, ist eine pädagogische und politische Praxis im
weiten Feld von Kunst und Kultur. Dieser Praxis kann es nicht gleichgültig sein,
welche Vorstellungen von Person, Subjektivität und Identität relevant sind, da
sich die Menschen aus dieser Praxis nicht so einfach wegargumentieren lassen,
wie es in philosophischen oder soziologischen Theoriekonstruktionen
gelegentlich der Fall ist. Zudem verwendet man in dieser Praxis ständig – zu
ihrer Beschreibung, ihrer Begründung oder bei dem Versuch, sie zu begreifen –
Begriffe, Thesen und Argumente, die auf eine Konzeption von Persönlichkeit
hinweisen, die eine historische Tradition bzw. systematische Kontexte haben,
aus denen sie stammen. Diese Verwendungsweise ist jedoch oft eher
alltagssprachlich, trotz der Intention, eine Praxis theoretisch faßbar machen zu
wollen.
Im vorliegenden Buch werde ich daher historische Entwicklungen und
systematische Kontexte aufzeigen, zu denen unsere Vorstellungen von „Ich“,
„Selbst“ oder „Person“ gehören. Ich setze damit meine Studien zur realen
Entwicklung des Menschen und den Bildern, die sich Wissenschaft, Philosophie
und Künste von dieser gemacht haben, fort. Langfristiges Ziel dieser Arbeiten
ist eine Persönlichkeitstheorie in pragmatischer Absicht. Beiträge zu einer
solchen Theorie versuche ich in historischen und systematischen Durchgängen
durch Geschichte und relevante Einzelwissenschaften zu finden. Daß diese
Suchbewegungen nicht ohne Willkür verlaufen können, wird sofort klar, wenn
man sich daran erinnert, daß dem Menschen immer schon – seit seinem
Auftauchen auf der Welt – nichts wichtiger war als er selbst. Entsprechend
zahlreich und unüberschaubar sind die Funde an Selbstvergewisserungen, die für
ein solches Projekt zugezogen werden könnten. So hat der amerikanische
Psychologe G. W. Allport kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ca. 50
7
ausformulierte Theorien der Persönlichkeit in seinem Fachgebiet identifiziert
(vgl. etwa Allport 1970, Teil I), und Krewer/Eckensberger (in Hurrelmann/Ulich
1995, S. 573) sprechen von über 2000 Arbeiten zum „Selbst“, die schon 1968
nicht mehr zu integrieren waren.
Es ist jedoch nicht nur die Bewältigung all dieser Wissensberge unmöglich:
Thematisch und methodisch eingeengt wird mein Vorhaben auch durch
Grundüberzeugungen und den Anwendungsbereich. Diese Grundüberzeugungen
über Menschsein schlechthin, über grundsätzliche Möglichkeiten seiner
Entwicklung und Ausprägung sind (zumindest teilweise) anderenorts
ausführlicher entwickelt und begründet worden (Fuchs 1999). Sie werden an
betreffenden Stellen in diesem Text daher nur knapp eingeführt und erläutert.
Das anvisierte Anwendungsfeld bezieht sich auf meinen eigenen
Erfahrungshorizont, und dieser ist ein entwickeltes europäisches Land, das in
seiner Geschichte gerade zu dem Thema dieses Buches eine Fülle an Literatur
hervorgebracht hat. Weitere Einschränkungen ergeben sich zudem aus dem
Geschlecht und der Generationserfahrung des Autors. Vor diesem Hintergrund
ist es daher auch kein Zufall, daß es nicht das „Ich“ oder das „Selbst“, sondern
das Konzept der „Person“ ist, das im Mittelpunkt steht, da dieses traditionell auf
der Nahtstelle zwischen Individuum und Gesellschaft angesiedelt war, etwa im
Vergleich mit den eher auf das (partikulare) Ich bezogenen Konzepten. Solche
Konzepte gibt es allerdings in großer Fülle, die sich hier – wie erläutert werden
wird: auch aus systematischen Gründen – überhaupt nicht abbildet.
Trotz all dieser Begrenzungen erscheint mir die Unternehmung einer
Persönlichkeitstheorie unverzichtbar. Es gilt für sie dasselbe, was ein kluger
Mensch einmal zur Ethik gesagt hat: Jeder Versuch eines Theorieentwurfs kann
eigentlich nur scheitern. Doch auf solche Entwürfe schlechthin zu verzichten,
wäre in jedem Fall ein noch größeres Scheitern. Der hier unternommene
Versuch will daher bewußt machen, was in der Praxis zwar immer wirkt, jedoch
häufig unausgesprochen und verborgen ist. Damit liegt der Text in einem neuen,
allerdings erst beginnenden Trend, der durch verschiedene gesellschaftliche
Felder – national und international – verläuft: Nämlich „das Subjekt im
Mittelpunkt“ zu sehen. Sicherlich ist ein Grund für diese Konjunktur, daß nicht
nur in der Pädagogik, sondern auch im Management und in der Politik erkannt
wird, daß all die großen Pläne, Strategien und Konzepte letztlich von dem
einzelnen Menschen mit seinen je aktuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten,
mit seinen emotionalen, sinnlichen, kognitiven und sozialen Fähigkeiten und
Bedürfnissen verstanden und umgesetzt werden müssen. Es ist daher
unverzichtbar und lohnenswert, sich mit den Bildern vom Menschen und ihren
jeweiligen Begründungen zu befassen.
8
Remscheid, im Frühjahr 2001
9
1. Einleitung
Es gibt eine ganze Reihe von Begriffen, die man bei der Thematik dieses Buches
in den Mittelpunkt stellen könnte und die im Text auch alle auftauchen werden:
der Einzelne, die Person, das Selbst, das Ich, das Subjekt, das Besondere, das
Individuum, aber auch Identität, Individualität oder Individualismus, vielleicht
aber auch Privatheit oder Egoismus. All diese Begriffe haben ihre eigene
philosophische oder fachwissenschaftliche Tradition. Einige spielen – mit
unterschiedlichen Bedeutungen – sogar in verschiedenen Diskursen eine zentrale
Rolle: So ist „Identität“ ein traditionsreicher Begriff der philosophischen Logik
und der Ontologie. Irgendwann übernahmen ihn jedoch Psychologie und
Soziologie und später auch die Pädagogik. In Wort-Kombination wie
„kulturelle“ oder „nationale Identität“ entstehen rasch politische Kampfbegriffe.
Und in bezug auf Störungen und Beschädigungen von Identitäten leben ganze
Heerscharen von Therapeuten von diesem Begriff und finden darin ihre
„berufliche Identität“. All die genannten Begriffe haben zudem eine historische
Tradition, über die etwa das „Historische Wörterbuch der Philosophie“ oder
ähnliche Standardwerke informieren.
Es gibt in der Geschichte Situationen, in denen möglicherweise der von den
genannten Begriffen erfaßte Sachverhalt erst entsteht oder entdeckt wird. Es gibt
ein Ringen um die geeignete sprachliche Form, mit der ein vielleicht zunächst
nur erahnter Sachverhalt erfaßt werden soll, und immer wieder werden
traditionelle philosophische (oder theologische) Begriffe umgedeutet und auf
neu entstehende Sachverhalte bezogen. Die realen Prozesse, um die es geht, sind
zudem vielfältig mit anderen Prozessen, vor allem mit konkret-historischen
Entwicklungen verbunden.
Ich gehe davon aus, daß Konzepte, die es mit dem Individuum zu tun haben,
gerade nicht individualistisch aufgefaßt werden können: Auch der Einzelmensch
in seiner Entwicklung ist immer schon ein soziales Wesen. Ein Ziel dieses
Textes wird daher sein, die Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit des
Individuums und der Formen seiner Beschreibung vorzustellen. An anderer
Stelle (Fuchs 1999) habe ich anthropologische Wissensbestände danach
durchforstet, was heute für ein fundiertes Bild vom Menschen Bestand hat.
Diese Studie orientiert sich an einem schon klassischen methodischen
Dreischritt: der Mensch (als Gattungswesen) in seiner naturgeschichtlichen
Gewordenheit; der je historisch konkrete Mensch in seiner sozial- und
kulturgeschichtlichen Konstitution und der einzelne Mensch in seiner
Ontogenese. Steht in meinem Buch „Mensch und Kultur“ der erste der drei
Schritte im Mittelpunkt, so werde ich in der vorliegenden Untersuchung den
zweiten und dritten Schritt konkretisieren. Hierbei stehen eine Fülle von
wissenschaftlichen Einzeldisziplinen und Forschungsansätze zur Verfügung: die
Mentalitätsgeschichte der französischen Annales-Gruppe (vgl. etwa die
10
Schriften
von
Ph.
Ariès),
die
Historische
Psychologie
und
Sozialisationsforschung (vgl. Jüttemann 1986/1990 oder Jaeger/Staeuble 1988),
die Geschichtswissenschaft (Dülmen 1997), die Geschichte der Philosophie (vgl.
etwa die einschlägigen Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie), die
einzelnen Kunstwissenschaften (Bürger 1998, Abels 1985). Von besonderer
Bedeutung ist dabei das Handbuch Historische Anthropologie „Vom Menschen“
(Wulf 1997). Von besonderer Bedeutung sind historische und systematische
Studien zu den normativen und kulturellen Grundlagen der Moderne. Denn
„Gesellschaft“ funktioniert nur dadurch, daß geteilte Überzeugungen,
gemeinschaftliche Werte und Normen je individuell gelebt werden. Der
vorliegende Text bezieht sich daher immer wieder auf Studien, die sich mit der
„Kultur der Moderne“ befassen, stellt jedoch die individuelle Seite in den
Mittelpunkt. An anderer Stelle (Fuchs 1998 – Macht) habe ich mich
ausführlicher mit der gesellschaftlichen Seite der „Kultur“ befaßt, wobei als
eindrucksvoller aktueller Versuch, komplexe soziale und kulturelle
Entwicklungen „auf den Begriff“ zu bringen, die Schriften von Richard Münch
zu nennen sind, der als konstitutive Wert-Ideen der Moderne Solidarität,
Freiheit, Rationalität und aktive Weltgestaltung herausarbeitet und in
unterschiedlichen Gesellschaften in ihrer – ebenfalls sehr unterschiedlichen –
Ausprägung verfolgt. Andere große Entwürfe wie die von Max Weber oder
Norbert Elias spielen ebenfalls – wenn auch hier nur am Rande – eine Rolle.
In diesem – hier nur angedeuteten – Dschungel von relevantem Wissen und in
dieser Vielzahl verwandter Begriffe „Ich“, „Selbst“, „Subjekt“ etc. versuche ich,
eine Schneise mit dem Konzept der „Persönlichkeit“ zu schlagen, das meiner
human- und kulturwissenschaftlichen Fragestellung in besonderer Weise
entgegenzukommen scheint. Wie dieses Konzept verstanden werden soll und
welche Bezüge zu Fachwissenschaften und zur Geschichte sich ergeben, will ich
in diesem Einleitungskapitel eher narrativ beschreiben. In späteren Kapiteln
wird es historisch und systematisch konkretisiert, so daß der gesamte Text
schließlich als „Definition“ und Beschreibung dessen gelten kann, was aktuell
als „Persönlichkeit“ im Kontext kultureller, sozialer, politischer und
ökonomischer, aber auch individueller Entwicklungen m. E. zu verstehen ist.
Diese Studien liegen im Überschneidungsbereich von Philosophie, Psychologie,
Soziologie und Kulturgeschichte. Sie fassen daher ihren Gegenstand weiter als
es entsprechende einzelwissenschaftliche Theorien und Konzeptionen tun.
Allerdings geht dies zu Lasten der Tiefe. Es ist daher in jedem Fall ein
lohnendes Unterfangen, sich zumindest eine ausformulierte klassische Theorie
der Persönlichkeit genauer anzusehen (etwa Allport 1970, Kon 1983 oder
Fromm 1979).
In der Soziologie ist es vor allem die Sozialisationsforschung, wo man im
Hinblick auf Persönlichkeitskonzeptionen fündig wird (Hurrelmann/Ulich
1984), in der Psychologie heißt die entsprechende Disziplin „Persönlichkeits11
oder
differentielle
Psychologie“
(Schneewind
1992),
in
der
Geschichtswissenschaft sind es solche Ausrichtungen, die sich auf das
Geschehen jenseits der „Haupt- und Staatsaktionen“ beziehen (Dülmen 1997),
und in der Philosophie gibt es aktuell geradezu eine Renaissance einer
„Philosophie der Person“, die sich zwischen der theoretischen Philosophie des
Ich-Bewußtseins und der praktischen Moralphilosophie bewegt (Sturma 1997).
„Persönlichkeit“, so Tillmann (1997, S. 11), läßt sich „bezeichnen als das
spezifische Gefüge von Merkmalen, Eigenschaften, Einstellungen und
Handlungskompetenzen, das einen einzelnen Menschen kennzeichnet.
Entstanden ist dieses organisierte Gefüge auf der biographischen
Lebensgrundlage der Menschen durch die Erfahrungen, die der einzelne im
Laufe seiner Lebensgeschichte gemacht hat.“
Systematisch gehören also zur „Persönlichkeit“ Wissen und Werthaltungen,
Gefühle und Motivationen, Sprache und Handlungen.
Als „Sozialisation“ wird der „Prozeß der Entstehung und Entwicklung der
Persönlichkeit (verstanden) in wechselseitiger Abhängigkeit von der
gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt. Vorrangig
thematisch ist dabei, wie sich der Mensch zu einem gesellschaftlich
handlungsfähigen Subjekt bildet.“ (Ebd., S. 10)
Vor dem Hintergrund dieser Annäherung an wichtige Grundbegriffe will ich
knapp das Verständnis der anderen genannten Begriffe skizzieren. Ausführlicher
werden sie im Text behandelt.
Der „Einzelne“ oder das „Individuum“ – wörtlich das Unteilbare – soll ohne
weitere starke Annahmen über vorhandene Fähigkeiten den je einzelnen
konkreten Menschen erfassen. Eine „Person“ ist ein solcher Einzelner bereits als
Träger bestimmter Rechte. „Subjektivität“ zielt auf die Gestaltungskompetenz
dieses Einzelnen hin. Ein „Ich“ wird zum „Selbst“ infolge eines
Reflexionsprozesses, wobei das Ich sich in seinem sozialen Kontext zum
Gegenstand der Reflexion macht. Dieses so verstandene „Selbst“ ist Moment
einer sowohl philosophisch wie sozialpsychologisch verstandenen Identität,
sicherlich einer der umstrittenen Begriffe zwischen Moderne und Postmoderne
(Keupp/Höfer 1997).
Wie vorläufig diese erste Annäherung an zentrale Begriffe an dieser Stelle nur
sein kann, mag man sich an der Tatsache verdeutlichen, daß alle diese Begriffe
im Brennpunkt des aktuellen Meinungsstreites stehen. Zwischen
philosophischem Liberalismus und Kommunitarismus spielt etwa die Frage eine
entscheidende Rolle, was in der Ethik und Politik Vorrang haben soll: das
Individuum oder die Gemeinschaft (Honneth 1994). Die Denkfigur eines
handlungsfähigen
autonomen
Individuums,
das
sich
in
der
Sozialisationsforschung etwa im Topos des „produktiv realitätsverarbeitenden
12
Subjekts“ (Hurrelmann/Ulich 1998, S. 9ff.) wiederfindet, wird sowohl
philosophisch (Frank/Raulet/van Reijen 1988) wie auch sozialisationstheoretisch
(Breyvogel 1989, S. 16ff.) bestritten. Eine gesellschaftstheoretische Kritik
(Keupp/Bilden 1998) bezieht sich zudem auf all zu geradlinige
Entwicklungsvorstellungen zum Menschen, so wie sie etwa das äußerst
einflußreiche Identitäts-Konzept von Erikson (1973) unterstellte. Zudem wird
diskutiert, ob die Pluralisierung der Gesellschaft überhaupt noch starke
Vorstellungen von Kohärenz und Stabilität in der Identität zuläßt.
Immerhin wird auch in dieser letztgenannten Kontroverse nicht bestritten, wie
eng gesellschaftliche und individuelle Entwicklung zusammenhängen. In der Tat
ist es meines Erachtens unverzichtbar, diesen Zusammenhängen historisch
nachzugehen, da erst dadurch deutlich wird, daß zum einen die kulturelle
„Selbstschöpfung des Menschen“ (Cassirer 1990) noch nicht abgeschlossen ist.
Zum anderen wird dadurch deutlich, daß auch unsere aktuellen Kategorien zur
Erfassung des Einzelnen in seinem sozialkulturellen Kontext und die damit
erfaßten Dimensionen von Menschsein keine anthropologischen Konstanten
sind, sondern in einem Wechselspiel mit gesellschaftlichen Herausforderungen
entstanden
sind.
Historisch
konkrete
gesellschaftliche
„Typen“,
„Charaktermasken“ oder „Individualitätsformen“ sind also wesentlich
mitzuberücksichtigen, wenn man über eine Theorie der Persönlichkeit
nachdenkt. Denn dieses sind die jeweils vorhandenen gesellschaftlichen
Angebote, mit denen sich der Einzelne dann auseinander zu setzen hat.
Neben dem Blick in die Geschichte ist – quasi als Regulativ – ein Blick in
andere Kulturen hilfreich:
„Die abendländische Vorstellung von der Person als einem fest umrissenen,
einzigartigen, mehr oder weniger integrierten motivationalen und kognitiven
Universum, einem dynamischen Zentrum des Bewußtseins, Fühlens, Urteilens
und Handelns, das als unterscheidbares Ganzes organisiert ist und sich sowohl
von anderen solchen Ganzheiten als auch von einem sozialen und natürlichen
Hintergrund abhebt, erweist sich ... im Kontext der anderen Weltkulturen als
eine recht sonderbare Idee.“ (Geertz 1987, S. 294; vgl. dazu Wulff 1978 und in
Fuchs 1993).
Diese ethnologische Sensibilisierung gegenüber einer borniert eurozentrischen
Sichtweise liefert uns zugleich weitere Bestimmungsmerkmale unseres
Zentralbegriffs der „Person“.
Im folgenden will ich die Thematisierung von „Person“/“Persönlichkeit“ –
und verwandter Begriffe – aus der Sicht von Philosophie, Psychologie und
Soziologie verfolgen. Die Genese von Subjektivität wird als innerer
Entwicklungsprozeß verstanden, der unter konkreten gesellschaftlichen
Bedingungen stattfindet und der über ein aktives Tätigwerden des Einzelnen in
seinem Kontext vorangetrieben wird. „Tätigkeit“ ist daher eine zentrale
13
Kategorie zum Verständnis dieses Geschehens. Ein Stück weit wird die
Kategorie der Tätigkeit systematisch in Kapitel 2 entfaltet. Die Ontogenese (3.2)
wird dann als Prozeß der Entfaltung des Systems der Tätigkeiten begriffen. Ein
historischer Blick in die Genese des Ich-Konzepts wird mit einer kleinen
Fallstudie zu Comenius abgeschlossen.
Möglichkeiten der Entwicklung von Persönlichkeit in der heutigen Gesellschaft
(in einem „entwickelten“ Land) werden in den verschiedenen gesellschaftlichen
Bereichen Produktion, Konsum und Zirkulation gesucht. Hier finden aktuelle
gesellschaftliche Entwicklungen – etwa die von der Arbeits- zur
Tätigkeitsgesellschaft – ihren systematischen Ort. In besonderer Weise
fokussieren
sich
all
diese
Tendenzen
und
Prozesse
der
Persönlichkeitsentwicklung heute in der Stadt, die daher gesondert behandelt
wird.
Den Abschluß des Buches bildet ein kurzes Kapitel, das eine Brücke schlagen
soll zwischen den hier vorgetragenen historischen und systematischen
Überlegungen zur Persönlichkeit und den letztlich anvisierten Arbeitsfeldern
(Kultur)-Politik und (Kultur)-Pädagogik. „Bildung“ wird dabei zu jenem
Konzept, das diesen Brückenschlag leisten soll. Ein entsprechendes
anschlußfähiges Konzept von „(Kultureller) Bildung“ wird daher abschließend
skizziert.
14
2. Der Mensch als Gegenstand der Philosophie
2.1 Der Mensch als kulturell verfaßtes Wesen
In einem weiten Verständnis hat es Philosophie ausschließlich mit dem
Menschen zu tun, was sofort einleuchtet, wenn man etwa die berühmten
Kantschen Fragen betrachtet: Was kann ich wissen? Was kann ich hoffen? Was
soll ich tun? Und schließlich: Was ist der Mensch? Die klassischen
philosophischen Disziplinen behandeln also – jeweils bezogen auf den
Menschen – seine Erkenntnisfähigkeit, die Fragen nach Gut und Böse und nach
dem geeigneten politischen Handeln, nach ästhetischen und moralischen
Urteilen. Sie fragen nach dem Platz des Menschen in der Welt – und auch
danach, was möglicherweise jenseits dieser Welt ist. Der Fokus „Mensch“ führt
daher in der Philosophie kaum zu notwendigen Begrenzungen des
Interessengebietes. Auch in einem engeren Verständnis dessen, was eine
philosophische Thematisierung des Menschen ausmacht, bleibt ein weites Feld,
auf das ich hier nur punktuell eingehen will.
Ich beginne mit der Anthropologie, die zeigt, daß der Mensch – und nur der
Mensch – ein kulturell verfaßtes Wesen ist. Was heißt dies? Es bedeutet, daß der
Mensch, der in seiner Vorgeschichte wie jede andere Art den biologischen
Gesetzen der Evolution unterworfen war, ab einem bestimmten Punkt beginnt,
selber seine Geschichte zu machen. Wie genau dieser qualitative „Sprung“, der
sich über eine lange Zeit hinwegzieht, abgelaufen ist, muß hier nicht
interessieren und ist mit letzter Sicherheit noch nicht erforscht. Heberer (in
Mann/Heuß 1991, Bd. 1, S. 87 ff.) hat für diesen Zeitraum den Begriff „Tier –
Mensch – Übergangsfeld“ eingeführt. Wenn also die Untersuchung dieses
Prozesses noch ein weitgehend offenes Forschungsfeld bleibt (Schurig
1975/1976), so kann man jedoch alles, was zu diesem Vorgang gehört und was
die besondere Stellung des Menschen in der Natur ausmacht, systematisch
beschreiben.
So zu tun, als ginge es gar nicht um einen selbst: In dieser saloppen
Formulierung steckt eine tiefgründige anthropologische Erkenntnis, die am
präzisesten Helmut Plessner zum Gegenstand seiner Überlegungen gemacht hat.
Der Mensch ist dasjenige Wesen, das aus seiner Mitte, in der er unproblematisch
und unbewußt mit seiner Welt verzahnt wäre, heraustritt und sich selbst zum
Gegenstand einer Reflexion über seine Position in dieser Welt machen kann.
Diese „exzentrische Positionalität“ – so nennt Plessner dies – ist mit einer Reihe
gravierender Bestimmungsmerkmale des Menschen verbunden, die immer
wieder auf diesen Prozeß der Reflexivität hinführen: Der Mensch als Gegenstand
seines Fragens, was er eigentlich ist, woher er kommt, wohin er geht. Und
diesen Prozeß der Reflexivität gibt es nicht erst bei der rationalen Stufe des
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Erkennens: Bereits unsere Sinne sind reflexiv angelegt. Denn bei dem Sehen,
Hören, Tasten oder Riechen nehme ich nicht nur die Erscheinungen, die
Wahrnehmungsobjekte, also die Gegenstände, die Düfte, die Töne wahr,
sondern ich erlebe mich zugleich selbst in diesem Prozeß des Wahrnehmens,
nämlich als Subjekt des Wahrnehmungsprozesses. Das heißt, ich erlebe mich
sehend, hörend, tastend, fühlend. Und oft genug läßt sich gar nicht
unterscheiden, ob es wirklich der Wahrnehmungsgegenstand ist, der etwa einen
„Sinnesrausch“ auslöst, oder nicht doch dieses Selbstgefühl des Wahrnehmens.
Bereits das Wahrnehmen hat also eine vielschichtige und komplizierte reflexive
Struktur. Der Mensch, der sich handelnd mit der Welt verbindet und sich
dadurch auch von sich selbst entfremdet; der Mensch, der aufgrund dieses
Prozesses
„Ich“
sagen
kann!
Selbstbewußtsein,
Selbstgestaltung,
Selbstzuständigkeit, Selbststeuerung, Selbstorganisation: all diese Begriffe
bringen die Selbstbezüglichkeit zum Ausdruck, haben sie zur Voraussetzung
und werden sehr bald politisch aufgeladen, werden also soziale und politische
Begriffe, da sie zu den politischen Konzepten der Autonomie und Freiheit in der
Moderne führen.
Die naturgeschichtlich mitgegebene Möglichkeit zur Schaffung von Distanz
zu sich ermöglicht auch die Entwicklung von Bildern von sich. Überaus
einflußreich ist das dualistische Bild von Descartes: die Trennung in Körper und
Geist. Nimmt man zu diesen beiden Polen die Seele hinzu, dann hat man nicht
bloß einen Katalog möglicher Beeinträchtigungsformen, die die heutige
Sonderpädagogik, die Medizin und Psychotherapie bestimmen, man hat auch
zugleich einen zentralen Legitimationstopos der Kulturarbeit. Denn diese
Trennung menschlicher Lebensdimensionen erzwingt geradezu den Ruf nach
Ganzheitlichkeit als zentralem politischen und pädagogischen Ziel. Und diese
Ganzheitlichkeit äußert sich in der Realität als Ruf nach einer Rehabilitation des
Sinnlichen – das mit dem Körper verbunden ist –, weil dieses tatsächlich oder
auch nur angeblich von dem Geist, dem Verstand in unserer angeblich rationalen
Welt verdrängt wurde. Die Rettung der Sinnlichkeit, des Körpers oder des
Leibes: all dies ist immer wieder ein zentraler Topos der Kultur- und
Zivilisationskritik, wie sie in Deutschland seit der Romantik über Nietzsche, die
Lebensphilosophie und den Existentialismus bis zur heutigen Postmoderne
betrieben wird (vgl. Fuchs 1998 – Macht). Es scheint jedoch so zu sein, daß bei
aller Proklamation von Ganzheitlichkeit der Mensch doch immer wieder in
dualistisches Denken verfällt: Denn im Namen der Ganzheitlichkeit werden –
auch in den genannten Strömungen – immer wieder Kopf gegen Bauch, Herz
gegen Verstand, der Einzelne gegen die Gesellschaft ausgespielt. Hierauf
komme ich später zurück.
Distanz und Reflexivität sind also zentrale Mechanismen, die notwendig sind
für all jene Bestimmungen, die in einer Theorie der Persönlichkeit relevant sind:
daß sich nämlich menschliches Leben in der Form lebendiger Einzelmenschen
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realisiert. Das Individuum, also das Unteilbare, der Einzelne, der sich
unterscheidet von anderen, Ego und Alter, Peter und Paul – dies ist menschliche
Lebensform selbst dort, wo die Horde, die Gens, der Stamm im Vordergrund
steht und der einzelne Mensch lediglich als Teil eines Ganzen bewußt wird. Wir
werden später sehen, daß dies im wesentlichen die Auffassung des Menschen bis
zum Mittelalter ist. Und wer heutige Gesellschaftsanalysen betrachtet, kann zu
der Vermutung gelangen, daß die Anthropologie bei der Erkenntnis der Distanz
und Verschiedenheit stehen geblieben ist. Denn einmal entdeckt, daß
menschliches Leben ein Leben in Individualität ist, werden sogleich Bilder von
Menschen entworfen, die diesen nur noch als abstrakt-isoliertes Individuum
sehen. Die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft, der Gedanke, daß der
Einzelne Träger von Rechten – also Person – ist, der entstehende Kapitalismus,
der die Idee eines „Besitzindividualismus“ (MacPherson 1967) fördert, bis zu
heutigen Gesellschaftsanalysen, die die Individuen nahezu ausschließlich mit
Wahlentscheidungen beschäftigt sehen, die sie von anderen Individuen
abgrenzen sollen – all dies sind Bilder, mit denen der Mensch (reflexiv) sich
selber verstehen wollte und will (vgl. hierzu etwa Taylor 1994 sowie die Artikel
„Subjekt“ und „Individualität“ in Wulf 1997). In wenigen Zeilen beschreibt Kon
die Etappen der philosophischen Reflexion des Ich von Descartes bis Marx:
„Bei Descartes ist das Ich abstraktes Subjekt der Erkenntnis, bei Locke inneres
Empfinden, bei Hume die Gesamtheit sich ablösender Selbstwahrnehmungen,
bei Fichte universales Subjekt der Tätigkeit. Kant verbindet das
Selbstbewußtsein mit dem sittlichen Ideal, Hegel verfolgt dessen Aufstieg vom
Einzelnen zum Allgemeinen. Feuerbach setzt die sinnlich-leibliche Natur des
Ich wieder in ihre Rechte ein und unterstreicht zugleich dessen dialogisches
Wesen. Marx schließlich setzt das individuelle Ich in Beziehung zum konkreten
Prozeß der Lebenstätigkeit des Individuums und über diese zur Gesamtheit der
gesellschaftlichen Verhältnisse, deren Produkt und Subjekt das Individuum ist.
So wird das Ich zum Angelpunkt der Umwandlung des Sozialen in das
Individuelle und umgekehrt.“ (Kon 1983, S. 22).
Bekanntlich wird der Beginn der neuzeitlichen systematischen Philosophie mit
Descartes (1596–1650) angesetzt („cogito ergo sum“), wobei kulturgeschichtlich
die Zeit der Renaissance – freilich eher mit künstlerischen Mitteln – den Boden
für dieses neuartige Philosophieren bereitet hat. Die Verankerung des Lebens
und der Sicherheit des Wirklichkeitsbezugs des Wissens setzt Descartes nicht
bloß am Ich an, so wie es in der ersten Person Singular in seinem berühmten
Satz zum Ausdruck kommt: Es ist vielmehr das denkende Ich. Dies war
überhaupt nicht selbstverständlich, auch wenn Descartes älterer Zeitgenosse,
Francis Bacon (1561–1626; „Wissen ist Macht“) seine gesellschaftliche Utopie
des Neuen Atlantis auch als Wissens- und Gelehrtenrepublik gedacht hat.
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Die Renaissance hat nämlich ganz andere Zugangsweisen zum Menschen
diskutiert. So beschreibt Descartes' Landsmann, Michel de Montaigne (1533–
1592), in seinen „Essais“ den Menschen – psychologisch facettenreicher – als
genießerisches und leidendes Wesen, stellt also gegenüber der Erkenntnisfunktion die Fähigkeit zur Emotion – in der Tradition griechisch-römischer
Schulen der Lebenskunst – in den Mittelpunkt. Vielleicht war es das Chaos des
30jährigen Krieges, das Toben der „Leidenschaften“, das zu einer kritischen
Bewertung dieser emotionalen Seite des menschlichen Lebens führte.
Norbert Elias verfolgt in seinen Studien zur Zivilisation den Prozeß der
zunehmenden Affektbeherrschung seit dem Mittelalter. Diese Domestizierung
geht einher mit ökonomischen und politischen Prozessen (s. u.), denn auch die
entstehende Staatslehre (etwa Th. Hobbes, 1588 – 1679) will den Wolf im
Menschen zähmen (vgl. König 1992). Die „Entdeckung des Individuums“ im
Ausgang des Mittelalters (Dülmen 1997) – Muchembled (1990) spricht sogar
von „Erfindung“ – brachte zwar einen Anthropozentrismus in der Weltsicht,
jedoch mit stark kognitiver Ausrichtung. Dülmen (1997, S. 64 ff.) benennt fünf
relevante Themen dieser Zeit:
 das Verhältnis Mensch – Tier, weil durch die Entdeckungsreisen und das
Auffinden anders aussehender Menschen Grenzen neu bestimmt werden
mußten;
 das Verhältnis des Menschen zu Gott;
 das Verhältnis des Körpers zur Seele;
 das Verhältnis von Verstand und Leidenschaft
 das Verhältnis von Wildheit und Zivilisation.
Man kann also feststellen, daß seit dieser Zeit in den Hierarchien des
menschlichen Vermögens die intellektuellen Fähigkeiten dominieren, zumal die
neuen Naturwissenschaften („experimentelle Philosophie“ hießen sie) ein großes
Vertrauen in die menschlichen Erkenntniskräfte hervorrufen. Erst in der
Romantik des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts gewinnt eine
Gegenbewegung an Einfluß, die
 das Mündliche gegenüber dem Schriftlichen,
 das Besondere gegenüber dem Allgemeinen,
 das Lokale gegenüber dem Globalen und
 das Zeitgebundene gegenüber dem Überzeitlichen
wiederentdeckt (Toulmin 1991, Kap. 5).
18
Fünf Formen von Individualismus unterscheidet Hasted (1998, S. 14 ff.), die alle
seit Beginn der Neuzeit anzutreffen sind:
 den erkenntnistheoretischen Individualismus, so wie er mit Descartes seinen
Anfang nahm,
 den ökonomischen Individualismus, wie er schließlich von Adam Smith
(„Wealth of the Nations“) als Theorie des (Früh-)Kapitalismus formuliert
wurde,
 den politischen Individualismus mit seinem Vertragsgedanken, so wie er
etwa von J. Locke beschrieben wurde,
 den psychischen Individualismus, so wie er in der Romantik und ihrer
Konzentration auf die Binnenstruktur der Psyche einen Höhepunkt erreichte,
 den existentiellen Individualismus, für den Hasted S. Kierkegaard als
Vertreter anführt.
Die systematische Gegenposition zum Individualismus nennt Hasted
„Holismus“, eine „Position, die einer Ganzheit unter Vernachlässigung oder
Unterordnung des menschlichen Individuums die zentrale Bedeutung beimißt“
(ebd., S. 22).
Gehen wir zunächst wieder zurück an den anthropologischen Ausgangspunkt.
Mit Plessner war der Gedanke der Distanz des Ich von sich selbst („exzentrische
Positionalität“) eingeführt worden. Es wurde angedeutet, wie weit dieses
Distanz-Denken philosophisch trägt, insofern es die Möglichkeit der Erkenntnis
von Individualität und Partikularität darstellt.
Der Mensch überlebt jedoch nicht als einsamer Robinson, und selbst dieser
hatte seinen Freitag. Daher muß der Gedankengang von Plessner ergänzt werden
durch eine einsichtige Antwort auf die Frage: Wie schafft sich der distanzierte
Mensch seine Vermittlung mit der Außenwelt, mit anderen Menschen und
letztlich mit sich selber? Eine erste Antwort wurde bereits oben skizziert: Über
Tätigkeit und Handeln wird das Subjekt mit dem Objekt vermittelt. Dies ist der
Grundgedanke der klassischen Figur Subjekt – Tätigkeit – Objekt. Man kann
sogar sagen: erst in der durch Tätigkeit vermittelten Beziehung werden Objekt
und Subjekt wechselseitig konstituiert. Diese sind also keine „Dinge“, sondern
entstehen erst in einem prozeßhaften Beziehungsgeflecht. Hinter dieser
Formulierung steckt ein Prozeß der Entontologisierung, der mit Beginn der
Neuzeit eine immer größere Schwungkraft erhält und schließlich in der Wende
zum 19. Jahrhundert einen epistemologischen Paradigmenwechsel verursacht
(vgl. Fuchs 1998 – Macht). Seit dieser Zeit sind „Relationalität“, „Operativität“
und „Prozeßhaftigkeit“ Leitlinien quer durch alle Disziplinen bis hin zu
aktuellen Neuansätzen der Sozialisationsforschung, bei der eher dinghafte
Vorstellungen von „Subjekt“ und „Objekt“ nunmehr auch von dieser Art von
19
Beziehungsdenken abgelöst werden (Leu/Krappmann 1999). Der Siegeszug
dieser Denkweise läßt sich etwa daran erkennen, daß eine Ausblendung von
Beziehungs- und Prozeßhaftigkeit als Denkweise der „Verdinglichung“, also als
Verschleierung und Manipulation entlarvt wurde (Lukacs).
Eine Theorie der Tätigkeit, des Handelns oder der Arbeit gibt es sowohl auf der
philosophischen Ebene – ich nenne hier nur so unterschiedliche Denker wie
Marx (MEW 1956 f.) und Arendt (1960). Dieser Tätigkeitsgedanke läßt sich
jedoch auch bis in die konkret psychologische Ebene herunterdeklinieren (vgl.
etwa Ulich 1991).
Ein weiterer Weg, der meines Erachtens kompatibel ist mit einer solchen
Tätigkeitstheorie (Fuchs 2000), ist die Kulturphilosophie von Ernst Cassirer, die
ich daher kurz skizziere (vgl. Fuchs 1999, 2.2).
„Der Mensch hat eine neue Art des Ausdrucks entdeckt: den symbolischen
Ausdruck. Dies ist der gemeinsame Nenner all seiner kulturellen Tätigkeiten: in
Mythos und Poesie, in Sprachen, in Kunst, in Religion und in Wissenschaft.
Diese Betätigungen sind sehr unterschiedlich, aber sie erfüllen alle ein und
dieselbe Aufgabe: die Aufgabe der Objektivierung. In der Sprache objektivieren
wir unsere Sinneswahrnehmungen“ (Cassirer 1949, S. 63).
In diesen Ausführungen sind einige, in meinem Kontext wesentliche
Bestimmungen des Verhältnisses Mensch – Kultur angesprochen: Der Mensch
ist ein aktives Wesen, das – indem es in die Welt eingreift – sich selbst
konstituiert. Der Mensch erschafft sich, indem er die Welt gestaltet, und
umgekehrt. Dies kommt sehr schön in einer komprimierten Bestimmung von
„Kultur“ – es ist quasi eine systematische Zusammenfassung des „Versuchs über
den Menschen“ –, zum Ausdruck:
„Im ganzen genommen könnte man die Kultur als den Prozeß der
fortschreitenden Selbstbefreiung des Menschen beschreiben. Sprache, Kunst,
Religion bilden unterschiedliche Phasen in diesem Prozeß. In ihnen allen
entdeckt und erweist der Mensch eine neue Kraft – die Kraft, sich eine eigene,
eine „ideale“ Welt zu errichten“ (Cassirer 1990, S. 345).
Der Mensch begegnet der Welt also keinesfalls unmittelbar, sondern er schafft
sich eine Vielzahl „symbolischer Formen“. Neben den bereits genannten
gehören noch die Wirtschaft, die Technik und der Staat dazu. All dies sind
„symbolische Formen“, und Kultur kann als das Universum dieser symbolischen
Formen betrachtet werden. Jede dieser Formen hat eine eigene Logik, hat eigene
Möglichkeiten und Grenzen, kann jedoch grundsätzlich das Ganze zum Inhalt
haben. Es gibt also keine Hierarchie der symbolischen Formen, kein
automatisches Bewegungsgesetz, etwa vom Mythos zur Wissenschaft.
Allerdings haben im Universum der symbolischen Formen Mythos und Sprache
20
– auch entwicklungsgeschichtlich – eine gewisse grundlegende Bedeutung, was
auch im Aufbau und in der Gliederung der „Philosophie der symbolischen
Formen“ abzulesen ist. Die Tatsache jedoch, daß jede der symbolischen Formen
das Ganze zum Gegenstand haben kann, daß jede für sich eine spezifische
Weltzugangsweise, eine Lebensform darstellt, ist insbesondere dort ein Problem,
wo die spezifische symbolische Form nicht zur Humanität, sondern zur Barbarei
führt, wie er es in seinem letzten Buch über den „Mythus des Staates“
beschreibt.
Eine Einheit in dieser Pluralität symbolischer Formen ist daher auch nicht in
ihrem Gegenstands- und Anwendungsbereich zu finden, sondern diese sucht
Cassirer im handelnden Subjekt und in der gemeinsamen Funktion all dieser
Formen: der Selbstbefreiung durch die Schaffung einer eigenen „idealen“ Welt.
Dies ist zugleich das Bestimmungsmoment von „Menschsein“ schlechthin (ebd.,
S. 114), das Ziel, auf das alle verschiedenen Formen von „Menschsein“ trotz
aller Unterschiede und Gegensätze hinarbeiten (ebd.). Charakteristisches
Kennzeichen dieser geschaffenen „idealen Welt“ ist Ordnung. Dies ist daher
quasi eine grundlegende anthropologische Konstante: der Bedarf, Ordnung zu
schaffen in den Empfindungen, Wünschen und Gedanken. Dazu schafft sich der
Mensch die symbolischen Formen. Und alle diese Formen lösen ihre
Ordnungsaufgabe, und sie leisten dies durch eine Vermittlung von Subjekt und
Objekt, von Sinn und Sinnlichkeit, nämlich durch je spezifische Symbole:
„Unter einer „symbolischen Form“ soll jede Energie des Geistes verstanden
werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes
sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.“
(Cassirer 1990, S. 175).
Erkennen – im weiten Sinn eines Umgangs mit allen symbolischen Formen – ist
daher kein passiver Prozeß des bloßen Aufnehmens von Eindrücken, sondern
ein produktiver, tätiger Schöpfungsprozeß von Zeichen und Bildern, die diese
Vermittlungsaufgabe zwischen Subjekt und Objekt leisten.
Das Symbol löst das zentrale Problem nicht nur der Erkenntnistheorie (also
die Vermittlung zwischen Denken und Sein), sondern jeglicher Beziehung
zwischen Mensch und Welt. Die symbolische Beziehung des Meinens und
Bedeutens ist eine nicht weiter hintergehbare, ursprüngliche Beziehung. Sie ist
weder ontologisch nur im Sein noch psychologisch nur im Subjekt zu
begründen: „Das Symbolische ist vielmehr Immanenz und Transzendenz in
Einem: sofern in ihm ein prinzipiell überanschaulicher Gehalt in anschaulicher
Form sich äußert.“ (Cassirer 1954, S. 370 und 450). Die Frage nach der
Entstehung der Symbolfunktion ist jedoch „mit wissenschaftlichen Mitteln nicht
lösbar“. (Cassirer 1961, S. 100).
21
Für jede der genannten symbolischen Formen lassen sich die Ausdrucks-,
Darstellungs- und Bedeutungsfunktion unterscheiden, wobei es bei jeder
symbolischen Form in jeder dieser Funktionen Stufen der Entwicklung gibt.
Dies hat Cassirer jedoch nicht mehr systematisch für jede symbolische Form
untersucht. Lediglich über die Ausdrucksfunktion hat er die Stufenfolge:
mimetisch, analogisch, symbolisch (Cassirer 1953, 134 –148) unterschieden.
Der Mensch im Verständnis von Cassirer braucht also Mittel im Zugang zu sich
und der Welt: Der Mensch ist mittelverwendendes Wesen. Diese Mittel
(„Symbole“) beginnen bei wirklichen Gegenständen wie Werkzeugen und
reichen bis zu abstrakten begrifflichen Mitteln. Der Mensch ist insofern
Kulturwesen, als er seinem Ausdruck Form verleihen kann (vgl. Schwemmer
1997, S. 31 f.)
Hierin steckt ein für die Theorie der Persönlichkeit entscheidender Gedanke:
nämlich die Lösung des Widerspruches zwischen Freiheit, Kreativität und
Schöpfung auf der einen Seite und Form, Gestalt, Grenze und Gesetz auf der
anderen Seite. Dies ist ein Widerspruch, der gerade für die bürgerliche
Philosophie seit der Renaissance von besonderer – auch politischer – Bedeutung
ist: Wie läßt sich die notwendige Freiheit des Menschen (auch und gerade als
Freiheit gegenüber den absolutistischen Fürsten) gleichzeitig begründen mit der
Vorstellung einer gesetzmäßig funktionierenden Natur, die ohne willkürliche
Einmischung von außen regelgeleitet funktioniert. Gesetzmäßigkeit und Form
sind also in emanzipatorischer Absicht gleichzeitig zu denken mit Freiheit und
Autonomie. Die dualistische Lösung einer Aufspaltung in eine gesetzmäßige
Natur und in eine „Kultur“ als Reich der Freiheit, so wie sie Descartes
vorgezeichnet hat, bedeutet letztlich einen Bruch im Denken, der insbesondere
dann nicht zu akzeptieren ist, wenn der Mensch in seiner doppelten Bindung an
Natur und Kultur begriffen werden soll.
Dies ist auch ein zentrales Problem bei Cassirer, wie schon Überschriften
seiner Bücher verraten: „Freiheit und Form“ (1961) oder „Idee und Gestalt“
(1924). Immer wieder kommt Cassirer hier auf Goethe zurück, und es ist gerade
im pädagogischen Kontext meines Beitrages von hohem Interesse, daß er dieses
philosophische (und letztlich politisch-ideologische) Grundproblem in engem
Zusammenhang mit Bildung, nämlich mit Goethes Konzept einer Bildung als
Lebensform, behandelt: die Vermittlung von Geist und Natur, die zugleich eine
Vermittlung von schöpferischer, kreativer Entfaltung und Form ist. Der
Gedanke, der immer auftaucht, ist der: daß sich Freiheit nur in der Begrenzung
entfalten kann. Form und Gestalt, also auf den ersten Blick Einengung und
Begrenzung, sind Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit. Dies ist geradezu
ein universelles Prinzip, gültig für Geist und Natur, gültig aber auch für das
soziale Zusammenleben der Menschen, für Sittlichkeit und Politik. Der Mensch
ist also deshalb ein „Kulturwesen“, weil er seinem Ausdruck eine Form geben
kann, weil er ein tätiges Wesen ist, das für seine Tätigkeit und seine
22
schöpferischen Gestaltungsprozesse Formen schafft. Und die je individuelle
Schaffung dieser Formen: dies macht zugleich die „Bildung“ aus. In diesem
Sinne referiert Cassirer mit großer Zustimmung Goethe am Beispiel der
Pandora:
„Aber das Reich, das sie (die Pandora; M.F.) jetzt gründet, die Herrschaft der
Form, die sie aufrichtet, gehört nicht mehr dem Epimetheus allein. Sie gehört
nicht dem Sinnenden und Schauenden, sondern dem Wertenden und
Schaffenden: den Landleuten und Hirten, den Fischern, den Schmieden. Nur
dem gibt sich die Form in ihrem realsten Wesen zu eigen, nur der vermag sie
festzuhalten, der sie täglich aufs neue schafft und hervorbringt. Und diese Art
des Schöpfertums geht nicht ins Weite, ins Unbestimmte, sondern sie hält und
bewährt sich im engsten Kreise. Nur wenn jeder Einzelne in seiner eng
begrenzten Sphäre eine solche Erfüllung sucht und leistet, erfüllt sich in ihm und
durch ihn das Ganze – wird er zum Träger der echten und wesenhaften Form des
Seins.“ (Cassirer 1993, S. 109).
Kultivierung ist also
 ein Akt des Wirkens, des Schaffens von Werken,
 ein Akt der gleichzeitigen Selbstbegrenzung durch Formen,
 ein Akt der Präsentation von sich gegenüber anderen (Objektivation),
 ein Akt des Versprechens der Verläßlichkeit (Schwemmer 1997, S. 173).
Auch wenn Cassirer seine Priorität stets auf den geistigen Akt der Formgebung
legt – auch in den Naturwissenschaften –, auch wenn das Geistige und
Allgemeine stets Priorität gegenüber dem Materiellen und je (zufällig)
Einzelnen und Besonderen hat, sind viele seiner Aussagen paßfähig zu
Anthropologien, die in einem materialistischen Grundverständnis formuliert
werden (vgl. Fuchs 1999, 2.1):
 der Gedanke der Objektivierung des Geistigen,
 das daraus entstehende „soziale Gedächtnis“, das erst eine kumulative
Entwicklung des Menschen gestattet,
 seine tätigkeitsorientierte Auffassung des Menschen,
 seine humanistische Grundposition einer Selbst-Befreiung des Menschen und
sein ethisch-moralischer Grundton in seiner gesamten Philosophie,
 die Versuche einer dialektischen Vermittlung
Subjekt/Objekt; Geist/Natur; Individuum/Allgemeines.
der
Gegensätze
Diese philosophische Konzeption vom Menschen und Kultur auf der Basis des
Symbolbegriffs ist vielfältig anschlußfähig an einzelwissenschaftliche
23
Unternehmungen, auf die ich später zurückkomme. Bourdieu (1987)
transformiert etwa diese Symboltheorie des Kulturellen um in eine
aussagekräftige Kultursoziologie und liefert eine eindrucksvolle Empirie zum
sozialen Gebrauch der (v. a. ästhetischen) Symbole. Die Kulturgeschichte (des
Alltags und der Künste) schließt unmittelbar an Cassirer an und definiert
„Kultur: (als) das überindividuell kommunizierte „Geflecht von Begriffen“, der
verbalen und nonverbalen Zeichen, von Deutungsmustern, bildlichen
Vorstellungen und ästhetischen Chiffren, von mentalen Handlungspraktiken,
Gefühlen und Ritualen. Hierzu gehören gleichfalls die gestalteten materiellen
Objekte, die Formen der Kultur, ferner die symbolischen Ordnungen der
Gesellschaft, ihrer Schichten und Gruppen sowie die der Individuen.“ (Ruppert
1998, S. 46).
Dies ist also die – vom Menschen geschaffene – Objektivität, die dem Einzelnen
gegenübersteht, die er – zumindest teilweise – rekonstruiert und
weiterentwickelt. Es wird deutlich, daß mit dieser „Komplexität des Objekts“
(der „Kultur“) ein entsprechend komplex zu begreifendes Subjekt
korrespondiert. Hierzu greife ich auf einen breit diskutierten anthropologischen
Vorschlag zurück, der aus dem politischen Kontext der UNO (Nussbaum/Sen
1993) stammt: der Vorschlag einer „schwachen Anthropologie“ (Nussbaum
1993), der anschlußfähig ist an die hier vertretene Grundkonzeption von Mensch
und Kultur und der die Dimensionen der Persönlichkeit präzisiert:
„Die Gestalt der menschlichen Lebensform – Sterblichkeit: Alle Menschen
haben den Tod vor sich und wissen nach einem bestimmten Alter auch, daß sie
ihn vor sich haben. Dieses Faktum überformt mehr oder weniger jedes andere
Element des menschlichen Lebens. Außerdem haben alle Menschen eine
Abneigung gegen den Tod. Auch wenn unter bestimmten Umständen der Tod
gegenüber verfügbaren Alternativen vorgezogen wird, ist der Tod eines
geliebten Menschen oder die Aussicht auf den eigenen Tod ein Anlaß zu
Kummer und/oder Angst.
Der menschliche Körper: Wir alle leben unser Leben in Körpern einer
bestimmten Art, deren Möglichkeiten und Verletzbarkeiten als solche keiner
einzelnen menschlichen Gesellschaft mehr angehören als einer anderen. Diese
Körper, die (angesichts des enormen Spektrums von Möglichkeiten) weitaus
ähnlicher als unähnlich sind, sind gewissermaßen unsere Heimstatt, indem sie
uns bestimmte Optionen zugleich machen und andere verwehren, und indem sie
uns nicht nur bestimmte Bedürfnisse, sondern auch bestimmte Möglichkeiten zu
außergewöhnlichen Leistungen verschaffen. Die Tatsache, daß jeder Mensch
irgendwo hätte leben und jeder Kultur hätte angehören können, macht einen
großen Teil dessen aus, was unsere wechselseitige Anerkennung begründet;
diese Tatsache hängt wiederum in hohem Maße mit der allgemeinen
Menschlichkeit des Körpers, mit seiner großen Verschiedenheit gegenüber
anderen Körpern zusammen. Die Körpererfahrung ist sicherlich kulturell
geprägt, aber der Körper selbst, der in seinen Anforderungen der Ernährung und
24
anderen damit zusammenhängenden Anforderungen kulturell invariant ist, legt
Grenzen für das Erfahrbare fest und garantiert eine weitgehende
Überschneidung.
Unter „Körper“ lassen sich mehrere weitere Eigenschaften aufzählen, die ich
hier nicht weiter erörtern kann: Hunger und Durst, das Bedürfnis nach fester und
flüssiger Nahrung; ein Bedürfnis nach Behausung; sexuelles Bedürfnis und
Begehren; die Fähigkeit, sich zu bewegen und die Lust an der Mobilität; die
Fähigkeit zur Lust und die Abneigung gegen Schmerz.
Kognitive Fähigkeit – Wahrnehmen, Vorstellen, Denken: Alle Menschen haben
diese Fähigkeit, zumindest in einer gewissen Form, und sie wird als überaus
wichtig angesehen.
Frühkindliche Entwicklung: Alle Menschen fangen ihr Leben als hungrige
Säuglinge an, die sich ihrer Hilflosigkeit bewußt sind und ihre wechselnde Nähe
und Distanz sowohl davon als auch von denjenigen erleben, von denen sie
abhängig sind. Diese gemeinsame Struktur des Lebensanfangs, so verschieden
sie durch unterschiedliche gesellschaftliche Gegebenheiten auch gestaltet sein
mag, gewährt eine Gemeinsamkeit der Erfahrung im Bereich von Gefühlen wie
Kummer, Liebe und Zorn. Und dies ist wiederum eine Hauptquelle unserer
Fähigkeit, uns in den Leben anderer wiederzuerkennen, die sich von uns in
mannigfacher Hinsicht unterscheiden.
Praktische Vernunft: Alle Menschen beteiligen sich (oder versuchen es) an der
Planung und Führung ihres eigenen Lebens, indem sie bewerten und diese
Bewertungen dann in ihrem Leben zu verwirklichen suchen.
Zugehörigkeit zu anderen Menschen (Affiliation; soziale Bindung): Alle
Menschen anerkennen und verspüren ein gewisses Gefühl der Zugehörigkeit
oder der sozialen Bindung zu anderen Menschen und ein Gefühl der
Anteilnahme ihnen gegenüber. Außerdem wertschätzen wir die Lebensform, die
durch diese Anerkennung und Zugehörigkeit gebildet wird.
Bezug zu anderen Spezies und zur Natur: Die Menschen erkennen, daß sie nicht
die einzigen lebenden Wesen in ihrer Welt sind: daß sie Tiere neben anderen
Tieren und auch neben Pflanzen sind, in einem Universum, das als komplexe
Verkettungsordnung sie sowohl unterstützt als auch begrenzt. Von dieser
Ordnung sind wir in zahllosen Hinsichten abhängig, und wir empfinden auch,
daß wir dieser Ordnung eine gewisse Achtung und Anteilnahme schulden,
sosehr wir uns auch darin unterscheiden mögen, was genau wir schulden, wem
gegenüber und auf welcher Basis.
Humor und Spiel: Menschliches Leben räumt überall, wo es gelebt wird, Platz
für Erholung und für das Lachen ein. Die Formen, die das Spiel annimmt, sind
zwar überaus vielfältig, trotzdem erkennen wir andere Menschen über kulturelle
Schranken hinweg als die Lebewesen, die lachen.
Vereinzelung: Sosehr wir auch in Bezug zu anderen und für andere leben, so
sind wir, ist jeder von uns „der Zahl nach einer“, der von Geburt an bis zum Tod
die Welt auf einem separaten Weg durchläuft. Jede Person empfindet ihren
eigenen Schmerz und nicht den einer anderen. Selbst die intensivsten Formen
25
menschlicher Interaktion sind Erfahrungen des wechselseitigen Reagierens oder
Antwortens (responsiveness) und nicht der Verschmelzung. Diese
offenkundigen Tatsachen müssen erwähnt werden, besonders dann, wenn wir
von einem Fehlen des „Individualismus“ in anderen Gesellschaften hören.
26
Starke Vereinzelung: Aufgrund der Vereinzelung hat jedes menschliche Leben
sozusagen seinen eigenen Kontext und seine Umgebung – Gegenstände, Orte,
eine Geschichte, besondere Freundschaften, Standorte, sexuelle Bindungen –,
die nicht genau die gleichen sind wie die von jemand anderem und aufgrund
derer die Person sich in einem gewissen Maß selbst identifiziert. Auch wenn die
Gesellschaften sich in Grad und Art der strengen Vereinzelung unterscheiden,
die sie jeweils zulassen und fördern, ist bisher noch kein Leben bekannt, das es
tatsächlich (wie Platon es wünschte) unterläßt, die Wörter „mein“ und „nicht
mein“ in einem persönlichen und ungeteilten Sinn zu verwenden.“
Martha Nussbaum weist darauf hin, daß diese Liste Fähigkeiten und Grenzen
enthält. Im Hinblick auf die Fähigkeiten beschreibt sie eine „Minimalkonzeption
des Guten“. Die Grenzen wiederum sind ständige Herausforderung ihrer
Überschreitung. Wichtig ist die Unterscheidung zweier Schwellen: die Schwelle
zum menschlichen Leben und die Schwelle zum guten menschlichen Leben –
auch als Ziel für die politische Gestaltung und als Meßlatte zur Beurteilung
bestimmter Gesellschaften. Diese zweite Schwelle wird durch die folgende Liste
beschrieben:
 Fähig zu sein, bis zum Ende eines vollständigen menschlichen Lebens zu
leben, soweit, wie es möglich ist; nicht frühzeitig zu sterben, bevor das
Leben so vermindert ist, daß es nicht mehr lebenswert ist.
 Fähig zu sein, eine gute Gesundheit zu haben; angemessen ernährt zu
werden; angemessene Unterkunft zu haben; Gelegenheit zur sexuellen
Befriedigung zu haben; fähig zu sein zur Ortsveränderung.
 Fähig zu sein, unnötigen und unnützen Schmerz zu vermeiden und lustvolle
Erlebnisse zu haben.
 Fähig zu sein, die fünf Sinne zu benutzen; fähig zu sein, zu phantasieren, zu
denken und zu schlußfolgern.
 Fähig zu sein, Bindungen zu Dingen und Personen außerhalb unserer selbst
zu unterhalten; diejenigen zu lieben, die uns lieben und sich um uns
kümmern; über ihre Abwesenheit zu trauern; in einem allgemeinen Sinne
lieben und trauern sowie Sehnsucht und Dankbarkeit empfinden zu können.
 Fähig zu sein, sich eine Auffassung des Guten zu bilden und sich auf
kritische Überlegungen zur Planung des eigenen Lebens einzulassen.
 Fähig zu sein, für und mit anderen leben zu können, Interesse für andere
Menschen zu zeigen, sich auf verschiedene Formen familialer und
gesellschaftlicher Interaktionen einzulassen.
 Fähig zu sein, in Anteilnahme für und in Beziehung zu Tieren, Pflanzen und
zur Welt der Natur zu leben.
 Fähig zu sein, zu lachen, zu spielen und erholsame Tätigkeiten zu genießen.
27
 Fähig zu sein, das eigene Leben und nicht das von irgend jemand anderem zu
leben.
 Fähig zu sein, das eigene Leben in seiner eigenen Umwelt und in seinem
eigenen Kontext zu leben.“
Auf dieser Ebene der Anthropologie (und Persönlichkeitstheorie) können einige,
zum Teil klassische Probleme diskutiert werden, zumal sich durch die
Entwicklung von Einzelwissenschaften neue Einsichten ergeben haben.
So hat in den letzten Jahren die Neurobiologie eine starke Entwicklung erlebt,
die aus philosophischer Sicht die Fragen nach den „natürlichen Bedingungen des
Einzelnen“ (Hasted 1998, Kap. 8) neu stellen: das Leib-Seele-Problem, die
Frage nach dem Gehirn als Träger des Geistes (vgl. auch Schwemmer 1997).
Die Entwicklung der Computerindustrie stellt die Frage nach der künstlichen
Intelligenz und die Frage nach der Wirklichkeit (vgl. Krämer 1998). Ich
verweise an dieser Stelle insbesondere auf die Studie von Schwemmer (1997),
der auf der Basis der Symboltheorie von Cassirer klassische philosophische
Probleme rekonstruiert: Das Symbol mit seiner „Zentraleigenschaft“ der
Prägnanz (ebd., S. 85 ff.) verbindet ein sinnliches Wahrnehmungserlebnis mit
einem dahinterstehenden Sinn. Der Mensch entwirft („konstruiert“) eine
geordnete Symbolwelt mit ihrem Bezug zur Realität: „Die Welt der Dinge und
Ereignisse, die wir als unsere Wirklichkeit erfassen, entwickelt sich erst über
ihre Repräsentation... . Unsere Wirklichkeit ist deren Vergegenwärtigung.“
(Ebd., S. 86; vgl. Fuchs 1999, 2.5).
Unterstellt man, daß dieser Umgang mit Symbolen – und somit der
symbolvermittelte Umgang mit sich, der Welt und mit anderen – immer aktiv
geschieht, also eine Tätigkeit darstellt, so ergibt sich die hier unterstellte
Kombination einer symbolbezogenen Tätigkeitstheorie als Basis auch einer
Theorie der Persönlichkeit. Ich werde daher in den folgenden Abschnitten auf
das Konzept der Tätigkeit vertieft eingehen. Doch bleiben wir noch eine Weile
bei dem philosophischen Diskurs rund um das Ich.
Das Ich in der Philosophie, das Subjekt, das angeblich verschwindet, ist zu
differenzieren (Schrödter 1994). Eine Alternative zu den vorgestellten Formen
des Individuums von Hasted (1998) erarbeitet Baumgartner („Welches Subjekt
ist verschwunden?“ in Schrödter 1994).
1. Zunächst identifiziert er das „Ich“ als eines der Personalpronomina „ich“,
„du“, „er/sie/es“. Hier ist das „Ich“ eine unverzichtbare Selbstreferenz der
Gedanken, ganz so wie es die Kommunikationsphilosophie (Apel, Habermas)
als unhintergehbare Voraussetzung vernünftiger Kommunikation vorgestellt
hat: Ohne Unterscheidung zwischen dem Ich, das redet, und dem Partner, mit
dem gesprochen wird – und der in der Regel Nicht-Ich ist –, wird
28
Kommunikation obsolet.
2. Dasselbe muß dann sinnvollerweise aus Gründen der Symmetrie dem
Kommunikationspartner unterstellt werden.
3. Das Ich des „Ich denke“ ist ebenfalls unverzichtbar. Das bringt etwa ein
folgender Scherz zum Ausdruck: Dort wird einem Professor von seinem
Studenten sorgenvoll mitgeteilt: Ich bin nicht mehr sicher, ob ich überhaupt
existiere. Darauf der Professor: Wer ist es, der nicht mehr sicher ist?
4. Das Konzept der „Persönlichkeit“. Kant hat in seiner Schrift zur „Religion
innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (Werke Band VI) drei Elemente
„Elemente zur Bestimmung des Menschen“ unterschieden:
- die Anlage für die Tierheit des Menschen als eines lebenden,
- für die Menschheit desselben als eines lebenden und vernünftigen und
- für seine Persönlichkeit als eines vernünftigen und zugleich der
Zurechnung fähigen Wesens.
„Persönlichkeit“ ist also Naturwesen plus Vernunft plus Verantwortlichkeit in
einem sozialen Normgefüge.
Neben diesen unverzichtbaren Dimensionen der Rede vom Ich gelten für
Baumgartner (ebd.) solche Übersteigerungen des Subjektgedankens obsolet, die
nur noch ein Ich – sei es bei Fichte oder auch bei Hegel – als absolutes
Wirkungsprinzip des Ganzen sehen, also eine „totalisierende Ich-Struktur“ auch
der Natur und Geschichte (ebd., S. 25):
„Verschwunden ist das Subjekt als Vorschein der Versöhnung. Wir sind nicht
das Bild des Absoluten in der Welt. Verschwunden ist damit auch die
Einschätzung der Anthropologie als einer vermeintlich wahrhaften Theologie.
Verschwunden ist das Subjekt als Interpretament für Natur und Geschichte.
Verschwunden ist die Vorstellung von Geschichte als einer einsehbaren
Totalität. Und schließlich: Verschwunden ist auch das universelle Subjekt des
Intellektuellen, das uns auch in anderer Hinsicht des öfteren in Schwierigkeiten
gebracht hat... . Hingegen nicht verschwunden, weil dies noch die Bedingung
jeder sinnvollen Rede, auch eines möglichen Verschwindens, ist:
1. die Selbstreferenz des Ich,
2. das Subjekt als individuell erkennendes Bewußtsein,
3. das Subjekt als verantwortliche Person in rechtlicher und moralischer Sicht
und
4. das kommunikative Ich als Bezugspunkt jeder gemeinsamen Rede über die
Welt und das Leben der Menschen in ihr: auch über das Absolute.“ (Ebd., S.
26 f.)
29
In philosophischen Disziplinen gedacht sind es also Kommunikations- und
Sprachphilosophie (insbesondere dann, wenn in Kommunikation/Sprache das
Fundament menschlichen Lebens gesehen wird), Erkenntnistheorie und
praktische Philosophie (Ethik/Politik/Pädagogik), die auch weiterhin ein Ich als
handelndes, verantwortungsvolles Subjekt benötigen. Allerdings sind hier auch
die wirkungsvollsten Angriffe gestartet worden:
 in Erkenntnistheorie und Ontologie die Problematik eines Konzeptes von
Realität und Wirklichkeit, etwa im Zuge der Diskussion der Neuen Medien
(Krämer);
 in Ethik und Politikphilosophie die Frage nach dem Fundament von
individuellem Handeln und von staatlicher und zwischenstaatlicher Ordnung,
etwa in der kritischen Diskussion der Menschenrechte.
„Autonomie“ und „moralische Würde“, so Sturma (1997, S. 26) sind zwei
zentrale Bestimmungen neuzeitlicher Subjektivität, die im Begriff der Person
miteinander verschränkt sind. Die umfangreiche Studie von Sturma will eine –
bislang noch nicht in dieser Form als philosophische Disziplin existierende –
„Philosophie der Person“ konstituieren. Sturma rezipiert dabei sorgfältig die –
insbesondere anglo-amerikanische – analytische Philosophie des Ich,
vernachlässigt jedoch vollständig die mit dem Namen Max Scheler verbundene
Theorie der Person (im Rahmen der Phänomenologie und der „materiellen
Wertethik“) sowie die bis in das frühe Mittelalter zurückreichende PersonKonzeption im Rahmen einer „Metaphysik der Freiheit“. Diese wiederum reicht
bis in die griechische Aufteilung der Philosophie in ein Reich der Natur, der
Logik und der Moral zurück, wobei der Mensch als „Person“ mit seiner
„Würde“ das natürliche, logische und moralische Sein integriert (vgl. Kobusch
1993). Der Hinweis auf das Personenkonzept von Scheler ist noch in anderer
Hinsicht ertragreich: Dieser führt nämlich das Konzept der Solidarität als
emotionale Bindung innerhalb kollektiver Subjekte, also als „sozialer Kitt“ von
Gruppen, in die Moralphilosophie ein und erinnert – gegen die verbreitete
individuumsbezogene Ethik der Neuzeit (etwa bei Kant) – an die Rolle von
Gemeinschaften, so daß dieser Ansatz fast den aktuellen Kommunitarismus
vorwegnimmt (vgl. Bayertz 1998). Eine „Person“ ist also nicht bloß Trägerin
individueller Rechte, muß nicht nur geschützt werden gegen Angriffe von
anderen, sondern ist als Teil einer Gemeinschaft auch zur aktiven
Verantwortung für andere verpflichtet. (Ich komme am Ende dieses Abschnitts
darauf zurück).
Für Sturma (1997) beginnt die eigentliche Wirkungsgeschichte des
Personenkonzepts mit der moralischen und politischen Diskussion der
Menschenrechte (ebd., S. 27). Seine „Philosophie der Person“ versteht sich
daher als (antizyklischer) Gegenentwurf zu aktuellen neostrukturalistischen und
30
neopragmatischen, aber auch subjektskeptischen Ansätzen (R. Rorty) der
neueren Philosophie. Sie muß den weiten Bogen von systematischen
Grundsatzentscheidungen bis zur alltäglichen Lebensführung spannen (Sturma
1997, S. 32), wodurch sich vielfach Überschneidungen sowohl mit einer
Philosophie der Lebenskunst (Schmid 1998) als auch zur Philosophie des
Alltags (Heller 1978) ergeben.
Diese heutige Renaissance des guten, glücklichen und gelungenen Lebens
(Seel 1995) hat gesamtgesellschaftlich sicherlich mit Orientierungsproblemen in
der aktuellen Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft zu tun, möglicherweise
auch mit einer Fin-de-siècle-Stimmung am Ende des Jahrhunderts und
Jahrtausends (Deppe 1997, Hobsbawm 1995).
Es gibt also durchaus entgegengesetzte philosophische Strömungen: von einer
Verabschiedung von Subjekt und Person bis zu ihrer erneuten Fundierung,
wobei ein gemeinsamer gesellschaftlicher Nenner die Empfindung der
Krisenhaftigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung ist. Hier hat die aktuelle
(positive oder negative) Philosophie des Subjekts durchaus Parallelen zu der
Entwicklung am Ende des 19. Jahrhunderts, als es ebenfalls zu einer Konjunktur
des Nachdenkens über die Person (etwa im Kontext der Lebensphilosophie von
Dilthey oder Simmel) gekommen ist.
Eine Übersteigerung des Subjektiven war auch – wie oben erwähnt – die IchPhilosophie von Fichte, eingebettet in die Romantik als Retterin des Gefühls,
des Lebens und des Besonderen gegen ein Aufklärungsdenken, das mit der
Französischen Revolution eine nicht gewollte politische Dynamik erhalten hat.
Dieser Zusammenhang zwischen „Geist“ und Leben ist kein Zufall.
Denn Philosophie, so meine Überzeugung, spielt sich nicht im luftleeren
Raum bloß innerphilosophischer Ableitungszusammenhänge ab, sondern ist
immer – wie Hegel sagte – ihre Zeit in Gedanken gefaßt. Heute bedeutet dies,
 im Zuge der Globalisierung Verantwortlichkeit für alle Menschen empfinden
zu müssen, was die Anstrengung für eine „globale Ethik“ auf der Ebene der
UNO – auch als erneute Fundierung und Weiterentwicklung der
Menschenrechte – verständlich macht,
 die erneute Konfrontation mit regionalen Kriegen, die nach dem Ende des
Ost-West-Konfliktes leichter möglich sind und die eine politische
Herausforderung darstellen, die fast an den Beginn der bürgerlichen
Gesellschaft zurückreicht: dort war Frieden ein erstes zu erreichendes Ziel,
das ein bürgerlicher Staat zu garantieren hatte,
 damit stellt sich erneut die Legitimationsfrage für die politische, soziale und
ökonomische Ordnung, allerdings nunmehr zusätzlich auf der Ebene
überstaatlicher Organisationen (EU, OECD, UNO),
 die Rückkehr der Ethik und der Politischen Philosophie – also insgesamt der
Praktischen Philosophie – ist also plausibel, da der Handlungsdruck sehr
31
groß geworden ist,
 und dies gilt für eine weitere Grundfrage menschlichen Lebens: nämlich den
Aspekt der Beherrschbarkeit des naturwissenschaftlichen (heute v. a.:
biologischen) Erfindungsreichtums, der nunmehr in den Kernbereich der
menschlichen Gattung (Genmanipulationen) hineinreicht und der – mit Hilfe
der Informationstechnologie – die bisher anerkannten Kriterien von
Menschsein (Phantasie, Bewußtsein, Gefühl etc.) durch die moderne Technik
angreift.
„Was soll ich tun?“, „Was kann ich wissen?“, „Was kann ich hoffen?“, und
letztlich „Was ist der Mensch?“: die Kantschen Fragen haben geradezu eine
brennende Aktualität. Für Sturma hat das Konzept der Person eine
Schlüsselstellung bei der Beantwortung dieser Fragen. Ohne sein äußerst
ambitioniertes Werk referieren zu können, will ich einige Positionen und
Ergebnisse, die in unserem Kontext relevant sind, hier wiedergeben:
Seine letzte These lautet: „Ein menschenwürdiges Leben, das den Ansprüchen
genügt, kann nur als Person geführt werden“ (S. 36). Eine solche „Person“
handelt durchaus so, daß sie „das eigene Wohlergehen und den eigenen Nutzen
am besten fördert“ (ebd.), wobei dieser Eigennutz gerade nicht der neoliberale
Ellbogenmensch ist, sondern auf einer unsymmetrischen Wechselseitigkeit
beruht: „Personen sind auch denjenigen gegenüber zu moralischem Respekt
verpflichtet, die über kein Selbstbewußtsein und keinen praktischen
Subjektgedanken verfügen“ (Sturma 1997, S. 357).
Bei der – auch anthropologischen – Bestimmung dessen, was eine „Person“ ist,
tauchen die bereits vorgestellten Topoi wie Distanz, Reflexivität, Bewußtheit
des Verhaltens, auch sich selber gegenüber, tauchen also Cassirer und Plessner
auf.
Insbesondere ist eine zeitliche Perspektive grundlegend, nämlich die eines
„vernünftigen Lebensplanes“ (als „Entfaltung von Vernunft und Moralität im
Leben einer Person“; ebd., S. 360). Im Hinblick auf das in diesem Text
entwickelte Konzept einer Persönlichkeit (das freilich nicht auf eine
philosophische Persönlichkeitstheorie hinzielt), liefert die Arbeit von Sturma in
ihrem Ergebnis anschlußfähige Aussagen: nämlich die Rehabilitation eines
handlungsfähigen Individuums, das sich seiner Verantwortlichkeit sich selbst
und anderen gegenüber bewußt ist – und das eben nicht im Hier und Jetzt,
sondern perspektivisch, nämlich im Kontext seines ganzen Lebens denkt, fühlt
und handelt.
Allerdings ist die Arbeit eine philosophische Arbeit, die ihre Ableitungen aus
der Diskussion von philosophischen Lehrsystemen gewinnt. Und auch diese
bewegen sich im Mainstream der bürgerlichen Philosophie: Die „Person“ von
Sturma muß ihre Soziabilität, ihre soziale und historische Eingebundenheit
32
mühsam theoretisch aus einem individualistischen Verständnis von sich selbst
entwickeln. Damit steht die Arbeit in der Tradition des „abstrakt isolierten
Individuums“, geht also nicht von einer grundsätzlichen Gesellschaftlichkeit des
Individuums aus. Und dieser Einzelne, der um seine Persönlichkeit ringt, ist
insofern abstrakt, weil sein konkreter Platz in der Gesellschaft und Geschichte
gleichgültig für die theoretischen Ableitungen ist.
Dies mag kein Vorwurf an einer philosophischen Arbeit sein, allerdings
gehen etwa Heller (1978) oder Schmid (1998) hier sehr viel weiter, verlassen
damit aber auch das traditionelle philosophische Terrain. Für die Zwecke dieser
Arbeit ist daher das Untersuchungsgebiet zu erweitern im Hinblick darauf, wie
konkrete gesellschaftliche Rahmenbedingungen bei der Genese der Subjektivität
des Einzelnen (oder von Gruppen) wirksam werden oder sogar wirksam von
diesen Einzelnen (oder den Gruppen) gestaltet werden können. Nicht unwichtig
bei dieser Beziehung Einzelner/Gesellschaft ist zudem die Tatsache, daß selbst
die prononciertesten Konzeptionen von Individualität bei den Individuen eine –
meist wenig explizierte – gefühlsmäßige Bindung zum Ganzen, zu allen
Menschen oder zumindest den Menschen einer engeren „Gemeinschaft“
unterstellen. Kant führt etwa aus diesen Gründen das Konzept des
„Gemeinsinns“ an, einer verinnerlichten Präsenz der anderen Menschen, die bei
allen persönlichen Entscheidungen immer schon als Kontrollinstanz mitwirken.
Dieser Gemeinschaftsbezug findet sich auch als drittes Leitziel der
französischen Revolution, als „Brüderlichkeit“ oder – moderner – „Solidarität“
(Bayertz 1998), die heute vielfach benötigt wird, um den Prozeß der Integration,
der gesellschaftlichen Kohäsion und Bindung zu erklären. Dies leitet über zu
dem aktuellen Streit darüber, was letztlich das Primat hat in Fragen der
praktischen Philosophie: der Einzelne oder die Gemeinschaft.
Dieses Spannungsverhältnis zwischen Einzelnen und Gemeinschaft kommt in
besonderer Weise in dem für unsere Themenstellung hochrelevanten Streit
zwischen philosophischem Liberalismus und Kommunitarismus zum Ausdruck
(vgl. etwa Honneth 1994, Brumlik/Brunkhorst 1993). Dieser Streit und viele
Facetten (Reese-Schäfer 1997):
 Es geht zum einen um Fragen der Ethik und Moral, insbesondere um Fragen
der Normbegründung innerhalb der Politischen und Moralphilosophie;
 es geht jedoch auch ganz konkret um politisches und moralisch-ethisches
Handeln des Einzelnen und der Gemeinschaft, speziell geht es darum, was
„soziale Gerechtigkeit“ und was „Sozialstaat“ heute noch bedeuten könnte.
Ich kann an dieser Stelle diese inzwischen ausgedehnte Diskussion, die sich mit
der philosophischen Arbeit von J. R. Rawls über eine „Theorie der
Gerechtigkeit“ seit 1971(hier: 1994) lebhaft entfaltet hat, nicht referieren,
33
sondern will lediglich zum einen das Grundproblem skizzieren, so wie es in
unserem Kontext relevant ist, und einen Diskussionsvorschlag präsentieren, der
uns im Hinblick auf das Konzept der „Person“ weiterführt.
Das Grundthema, um das es geht, ist das bereits oben angesprochene
spannungsvolle Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Man muß sich
verdeutlichen, daß dieses Verhältnis nicht anders als spannungsvoll sein kann:
Denn die Konzepte von Individualität und Individuum, so wie sie in der
Renaissance entwickelt wurden, werden in der Folgezeit zum Fundament des
philosophischen und politischen Denkens. Mehr und mehr wird dabei die
Autonomie, die Selbstgesetzgebung des Einzelnen das zentrale Moment der
Freiheit, wobei dies notwendig kollidieren muß mit der ebenfalls seit dieser Zeit
erarbeiteten Wissenschaft von der Naturgesetzlichkeit, also der Erkenntnis der
Notwendigkeit. Der Behelf von Descartes, Natur und Geist – also das „Reich der
Notwendigkeit“ und das „Reich der Freiheit“ – zu trennen, hilft nur begrenzt
weiter, da der Mensch offensichtlich beiden Reichen angehört.
Die Wiederentdeckung der Antike, so wie sie der Renaissance-Humanismus
betreibt, hilft dabei ebenfalls nur begrenzt weiter. Zwar ist die Frage nach dem
„guten Leben“, ist also die ethisch-moralische Grundfrage nach dem
individuellen und gemeinschaftlichen Handeln seit Sokrates der Kern des
Philosophierens. Auch denken Platon und Aristoteles intensiv und systematisch
über geeignete Formen des Gemeinwesens nach, in denen sich der freie
Polisbürger entfalten kann. Doch realisiert sich „Freiheit“ hier immer als
selbstverständliches Einfügen in die Polis, ist also individuell „gutes Leben“
immer dasjenige Leben, das sich verantwortungsvoll um die Polis kümmert und
das entsprechend soziale und politische Tugenden mit individuellen
Glücksansprüchen vermittelt. Man muß sich bloß einmal die Nikomachische
Ethik des Aristoteles anschauen, in der er seine Tugendlehre entfaltet. Er dehnt
zum einen die – ohnehin schon auf die Gemeinschaft bezogenen – vier
Kardinaltugenden (Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit) erheblich
aus und verhandelt seitenlang eine Auflistung von Gegensatzpaaren
menschlicher Dispositionen, bei denen er eine optimal sozialverträgliche Mitte
sucht (Beispiele: Lust versus Unlust – Mäßigkeit; Geiz versus Verschwendung –
Freigebigkeit; Ehre versus Schande – Hochsinn etc.).
Die Freiheit des Polismenschen war das tugendhafte Leben in der Polis,
wobei allerdings die in der Frühzeit des Griechentums noch vorhandene
Selbstverständlichkeit der Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze
nunmehr so zum Problem wird, daß sich seit Sokrates die Philosophen verstärkt
um die Frage bemühen, wie sichergestellt werden kann, daß der Einzelne
freiwillig das tut, was er in bezug auf das Ganze tun soll.
Erst die beginnende Neuzeit macht den Einzelnen als zunächst bindungsloses
Atom denkbar, für das man sich daher überlegen muß, wie der Zusammenhalt
34
vieler Einzelner erklärt werden kann. Und dies geht nicht ohne Abstriche an der
Vorstellung einer totalen Willens- und Handlungsfreiheit.
Die aktuelle Diskussion zwischen Liberalismus und Kommunitarismus
behandelt eben dieses Thema: Geht man, so der Liberalismus, von
unabhängigen Individuen aus, bei denen einsichtige allgemeingültige Regeln des
sozialen Zusammenschlusses entwickelt und begründet werden müssen? Oder
ist, so der Kommunitarismus, nicht vielmehr die begrenzte Gemeinschaft das
Vorgängige, das der Einzelne immer schon findet, so daß er innerhalb dieser
normativen Vorgaben seine
Freiheitlichkeit entfalten muß. Hier also der Einzelne mit seiner individuellen
Suche nach dem Guten (als Frage einer individuumsbezogenen Ethik), dort die
„Sittlichkeit“, das Netz gemeinschaftlicher Bräuche und Normen, bei denen es
um das normentsprechende Handeln des Einzelnen, also um das Richtige, geht.
Dieser Dualismus in der Moralphilosophie, nämlich die Trennung der Person
mit ihrer Binnensteuerung ihres Wollens, das autonome Steuern ihres Handelns,
das an inneren Maßstäben gemessen wird und für das man selber unmittelbar
Verantwortung übernimmt, auf der einen Seite, und das Einfügen in ein System
von äußeren Gesetzen des Sollens, die man bei Strafe befolgen muß, auf der
anderen Seite, wurde spätestens bei Kant zementiert. Wie ist dieser Gegensatz
von Subjektivem und Objektivem zu überwinden?
Man erinnere sich daran, daß dieser Gegensatz – wenngleich aus notwendigen
systematischen Gründen – in der Neuzeit konstruiert worden ist, quasi als
notwendiger Preis, der für die Erfindung des autonomen Individuums zu zahlen
war. Eine – auch philosophische – Lösung dieses Hiatus wird heute darin
gesehen, daß sowohl „der Einzelne“ als auch „die Gesellschaft“ plural und
komplex verstanden werden. Was heißt dies? Der Mensch handelt zwar stets als
Ganzheit. Doch lassen sich verschiedene Dimensionen des Personseins ebenso
unterscheiden, wie es verschiedene Dimensionen von „Gesellschaft“ zu
unterscheiden gilt. In jedem Augenblick bezieht sich daher der Einzelne zwar
auf das Soziale, da jede individuelle Lebensäußerung mit Prozessen der sozialen
Anerkennung verbunden ist. Aber diese sozialen Bezüge geschehen innerhalb
bestimmter Dimensionen mit je unterschiedlichen Rationalitäten, Zielen,
Regeln. Die Person, so Forst (1994), ist daher auszudifferenzieren in eine
 ethische Person, der es um personale Selbstverwirklichung geht,
 Rechtsperson, die persönliche Handlungsfreiheit genießen will,
 moralische Person, für die moralische Normen gelten,
 und in einen Staatsbürger, der politische Mitwirkung verlangt.
35
Es geht also entsprechend um eine jeweils unterscheidbare ethische, rechtlichpersönliche, moralische und politische Autonomie, mit denen entsprechende
gesellschaftliche Anerkennungsverhältnisse korrespondieren.
Wichtig ist nun der Gedanke, daß diese „Kontexte“ (Forst 1994) oder
„Sphären der Gerechtigkeit“ (Walzer 1992) je eigene Konzepte von
Gerechtigkeit entfalten. Im Hinblick auf stattfindende Integrationsprozesse kann
dieser Gedanke ergänzt werden durch Studien von Peters (1993), der aus der
Sicht der Gesellschaft unterschiedliche Modi der Integration unterscheidet, die
jeweils verschiedene Anforderungen an Strenge und Homogenität haben. Die
politische und rechtliche Integration der Person läßt in modernen
Verfassungsstaaten keinen Spielraum: Alle müssen formell gleiche Rechte und
Beteiligungsmöglichkeiten haben. In ökonomischer Hinsicht sind verschiedene
Grade an Güterausstattung möglich, wobei hier die entscheidende Frage ist,
welche Ungleichverteilung des Reichtums die Bevölkerung nicht mehr
akzeptiert, sie als „ungerecht“ empfindet und dem politischen und
ökonomischen System daher irgendwann die Legitimation entzieht. In Prozessen
der kulturellen Integration ist Pluralität nicht bloß möglich, sondern notwendig.
Hier geht es darum, die Vielfalt von Kulturen zu akzeptieren, sich in dieser
Vielfalt nicht zu verlieren, vielleicht sogar – entsprechend dem UNO-Slogan
„Celebrate the Diversity“ – diese Vielfalt als Reichtum zu genießen.
Es wird sich zeigen, inwieweit dieses philosophische Angebot eines pluralen
Konzeptes von „Person“ und „Gesellschaft“ im folgenden nutzbar gemacht
werden kann.
Es ist dazu zunächst zu thematisieren, daß all diese Prozesse der Persongenese
und Integration handelnd geschehen.
2.2 Tätigkeit und Entwicklung
Daß der Mensch nur handelnd und tätig sein Leben bewältigen kann, wird hier
als methodischer Schlüssel zum Verstehen der historischen und systematischen
Zusammenhänge bei der Entwicklung der Persönlichkeit genommen (vgl. Fuchs
1999). Die Kategorie der gegenständlichen Tätigkeit soll daher ein Stück weit
systematisch entfaltet werden. (An Bezugsautoren für eine derartige
Herangehensweise lassen sich auf der hier benötigten allgemeinen Ebene so
unterschiedliche Personen wie Holzkamp (1983), Arendt (1960) und Kwant
(1964) angeben; vgl. auch die Ausführungen zur Arbeit in 6.1).
In jeder Tätigkeitsform sind als „einfache Strukturmomente“ Subjekt, Mittel
und Objekt unterscheidbar. Berücksichtigt man ferner die Orientierung an einem
Tätigkeitsziel sowie die Tatsache der gesellschaftlichen Geformtheit der
jeweiligen Strukturmomente, so entsteht ein methodisches Instrumentarium, das
36
man – auch wenn man nicht davon überzeugt ist, daß „Tätigkeit“ bereits eine
Theoretisierung des untersuchten Sachverhaltes darstellt – zumindest in seinen
heuristischen Potenzen ausloten kann.
Zugleich mit der Einführung des Tätigkeitsbegriffs sind weitere Begriffe
„gesetzt“. Tätigkeit als zielorientiertes, mittelverwendendes und sozial
geformtes menschliches Handeln setzt zum einen eine bestimmte
Handlungskompetenz voraus, die sich in Handlungsvollzug erweitert. Diese
Erweiterung von Handlungskompetenzen macht den Handlungsvollzug zu
einem Entwicklungsprozeß. „Entwicklung“ ist daher eine unmittelbar mit
„Tätigkeit“ verbundene Kategorie (eben weil aktuale Tätigkeiten mit aktualen
Entwicklungen verbunden sind). Das Ziel der Tätigkeit ist somit mit einem
bestimmen Entwicklungsziel verbunden (wenngleich beide nicht miteinander
identisch sind).
Realisiert werden komplexere Ziele durch konkrete Aufgabenstellungen.
„Aufgaben“ konkretisieren das Intentionale des Tätigkeitsvorhabens. Sie sind
bestimmt durch überschau- und realisierbare Ergebnisse auf der Grundlage
vorhandener oder beschaffbarer Mittel.
Aufgaben unter der Perspektive der Entwicklung (als ein Aspekt des
Tätigkeitsvollzuges) zu sehen, führt zu ihrer Bestimmung als
„Entwicklungsaufgabe“.
„Entwicklungsaufgaben“
sind
also
solche
herausfordernde konkrete Zielstellungen, die Tätigkeitsprozesse organisieren
und die im Hinblick auf die Entwicklung von Handlungskompetenz ausgewählt
worden sind (im Anschluß an Havinghurst; vgl. Montada in Oerter/Montada
1995, S. 66f; s. auch Abschnitt 3.2).
Bisher nur implizit gebliebener Grundgedanke bei den Überlegungen zu
Tätigkeit, Entwicklung und Aufgabe war die Tatsache, daß durch die Tätigkeit
noch nicht vorliegende, jedoch realistisch erreichbare Zustandsformen von
Gegenständen, Personen, Beziehungen und Prozessen angestrebt werden. Es
besteht also ein Widerspruch zwischen aktual bereits Vorhandenem und
potentiell bloß Möglichem, das bislang erst antizipiert wird. Die Kategorie des
„Widerspruchs“ muß daher das bisher entwickelte System notwendiger
Kategorien ergänzen. Tätigkeit entwickelt jedoch nicht nur die
Handlungskompetenzen (offensichtlich ist hiermit das einfache Strukturmoment
„Subjekt“ angesprochen), sondern wesentlich im Tätigkeitsprozeß ist ebenso die
Tatsache der Vergegenständlichung menschlicher Wesenskräfte. Der Mensch
erfüllt die gestellten Aufgaben, indem er Gegenstände, Prozesse und
Beziehungen entsprechend seinen produktiven Fähigkeiten gestaltet (und diese –
wie gesehen – dabei weiterentwickelt).
Durch diesen Tätigkeits- und Gestaltungsprozeß entsteht das oftmals
beschriebene soziale Gedächtnis, da die ziel- und zweckorientierte Gestaltung
eben auch Vergegenständlichung von Handlungskompetenzen ist. Es entsteht
37
eine für den Lebensvollzug bedeutungsvolle Umwelt: Es wird im
Tätigkeitsprozeß „Bedeutung“ produziert (wobei im Prozeß bereits früher
gestaltete „bedeutungsvolle“ Mittel verwendet werden). Neben „Tätigkeit“ und
„Entwicklung“ tritt als gleichberechtigte Kategorie daher die den Inhaltsbezug
einholende Kategorie der „Bedeutung“.
Schematisch dargestellt sieht das bislang entwickelte Kategoriengerüst aus
wie folgt:
Abb. 1: Dimensionen von „Tätigkeit“ – 1
Entwicklung
Tätigkeit
(Subjekt-Mittel-Objekt)
Widerspruch
Bedeutung
Bei diesem Schema ist vor allem die Interdependenz aller angeführten
Kategorien zu berücksichtigen; jede einzelne setzt die anderen voraus und
bestimmt und beeinflußt sie wiederum. Es ist ferner zu berücksichtigen, daß jede
einzelne Dimension wiederum für ein komplexes, vielfältig gegliedertes
Geschehen steht. So werden bei „Tätigkeit“ die einfachen Strukturmomente
Subjekt, Objekt und Mittel unterschieden. Diese drei Momente stehen auch in
einem sich wechselseitig bestimmenden Zusammenhang, der schematisch wie
folgt angedeutet werden kann:
Abb. 2: Dimensionen von „Tätigkeit“ – 2
Widerspruch
Mittel
Subjekt
Entwicklung
38
Objekt
Bedeutung
Um die angeführte Interdependenz etwas zu konkretisieren, lassen sich
(zunächst
kombinatorisch)
die
folgenden
Fragen
nach
Implikationszusammenhängen stellen, nämlich nach der
 gegenständlichen oder medialen Bestimmung und Konstitution des Subjekts,
etwa – da es sich um soziale Subjekte handelt – der sozialen Form des
Subjekts,
 medialen oder sozialen Konstitution des Inhalts
 sozialen oder gegenstandsbezogenen Konstitution der Medien.
Die folgende Abb. 3 stellt die möglichen Beeinflussungs-Kombinationen in
einer Übersicht dar und gibt einige Beispiele für Ergebnisse der wechselseitigen
Beeinflussung. Wesentlich bei der Untersuchung konkreter Tätigkeitsfelder ist
neben der Interdependenz zugleich die Berücksichtigung der relativen
Autonomie jeder der Komponenten. Dies heißt insbesondere, daß neben der
Beeinflussung durch die jeweils anderen Strukturmomente im interdependenten
Zusammenhang auch eine Eigengesetzlichkeit und Eigendynamik berücksichtigt
werden muß.
„Entwicklung“ als relevante Kategorie einer Theorie der Persönlichkeit zu
postulieren, dürfte unmittelbar einsichtig sein, da die wesentlichen
(pädagogischen) Begriffe wie „Erziehung“ und „Bildung“ Prozesse, Vorgänge
und Abläufe bezeichnen, die die Entwicklung von Fähigkeiten, Fertigkeiten,
Kenntnissen, Einstellungen etc. zum Ziel haben. Die Dialektik als allgemeinste
Theorie der Entwicklung lehrt, nach Widersprüchen als Ursache für
Entwicklungsprozesse zu fahnden. Wir werden in dieser Untersuchung mit
verschiedenen Formen von Widersprüchen zu tun haben. Insbesondere sind zu
nennen:
 Widersprüche, die durch die Herausforderung durch geeignete
Entwicklungsaufgaben konstituiert werden, sowie
 Widersprüche, die die gesellschaftliche Geformtheit des Tätigkeitsprozesses
betreffen.
Insbesondere bei der letzten Klasse von Widersprüchen wird an entsprechender
Stelle nach der Erscheinungsform der erkannten Widersprüche zu fragen sein.
Gesellschaftliche Grundwidersprüche haben dabei – je nach Bereich –
unterschiedliche Erscheinungsformen.
Individuelle Entwicklung wird also zunächst als individuelle Verarbeitung
von Widersprüchen erklärt, wobei der jeweilige gesellschaftliche Bereich, in
dem sich das Individuum befindet, unterschiedliche Formen der Verarbeitung
von Widersprüchen (und dann auch abhängig von ihrer je vorfindlichen
Erscheinungsform) anbietet.
39
Von Marx stammt die Erkenntnis, daß in der Anatomie des Menschen der
Schlüssel zum Verständnis der Anatomie des Affen stecke und nicht umgekehrt.
Weniger bildhaft ausgedrückt bedeutet dies, daß erst das Entwicklungsergebnis
den Maßstab dafür liefert, frühere Entwicklungsetappen in ihrer Bedeutung für
das in Rede stehende Problem beurteilen und verstehen zu können. Auf das
Problem der „Jugend“ angewandt heißt dies etwa, daß breite
Bestandsaufnahmen über Artikulationsformen Jugendlicher, der Formen ihres
Protestes oder ihrer Verweigerung, daß also empirisch beschreibendes Vorgehen
wenig an Erkenntnissen einbringt, wenn nicht zugleich die jeweiligen
Feststellungen in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Jugendlichen
bewertet werden. Hinzu kommt außerdem das Problem, daß selbst „wertfreie“
Bestandsaufnahmen implizit theoretische Begriffe sowie anthropologische
Grundannahmen enthalten (vgl. hierzu vorbildlich Hurrelmann/Ulich 1995).
Als Folge aus diesen Überlegungen ergibt sich die Notwendigkeit, eine
genaue und begründete Vorstellung über eine „erfolgreiche“ individuelle
Entwicklung, also eine begründete und abgeleitete Zielvorstellung für den
Prozeß der Persönlichkeitsbildung zu entwickeln.
Eine solche Überlegung ist keineswegs neu. Vielmehr gehört die
Formulierung von Bildungs- und Persönlichkeitsidealen geradezu zur
klassischen deutschen Tradition. Das Problem, das sich stellt, besteht nun darin,
nicht bloß auf spekulative Weise Menschenbilder zu konstruieren, sondern
begründet die Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen darzustellen. Dieser
erste Untersuchungsschritt liefert mit der Entwicklung eines begründeten
„Bildungs- und Persönlichkeitsideals“ zugleich die Kategorien, die die
Bewertung der empirischen Erfassung ermöglichen. Natürlich muß diese
empirische Bestandsaufnahme nicht völlig neu beginnen. Vielmehr kann hier
auf die zahlreichen Untersuchungen, die mit unterschiedlichem
wissenschaftlichem und theoretischem Anspruch bereits vorliegen, nach einer
Re-Interpretation – nach Maßgabe der verwendeten Kategorien –
zurückgegriffen werden. Diese aktual empirische Phase wirkt auf die
Theorienbildung nun auch insoweit zurück, als sie zu einer Differenzierung und
Konkretisierung der auf anderem Wege gewonnenen zentralen Kategorien zur
Erfassung der Individuation/Vergesellschaftung führt. Der Vergleich der
prinzipiell vorhandenen menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten mit den
Chancen, die gesellschaftlich den einzelnen Jugendlichen real angeboten
werden, wird dabei zum kritischen Maßstab zur Bewertung gesellschaftlicher
Verhältnisse. (Vgl. für ein solches Vorgehen die Untersuchungen der
Arbeitsgruppe von J. Held; z. B. Held 1989).
Die Sichtung anthropologischer Erkenntnisse (Fuchs 1999) läßt die folgende
Annahme über ein mögliches allgemeines Ziel der Persönlichkeitsentwicklung
als begründet erscheinen:
40
Die Entwicklung der Gattung Mensch ist aufs engste verbunden mit der
Herausbildung sowohl der Fähigkeit zu als auch des Bedürfnisses nach einer
immer weitergehenden Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen.
An die Stelle des Ausgeliefertseins unter unkontrollierte Umstände, an die
Stelle des bloßen Reagierens auf aktuale organismische Bedürfnisse oder äußere
Umstände tritt zunehmend die Beherrschung der Umstände und
Lebensbedingungen, tritt die Vorsorge für erst antizipierte Bedürfnisse. Im Zuge
der Realisierung dieses Entwicklungszuges – als dessen Grundlage und Ergebnis
– greift der Mensch gestaltend in seine Umgebung ein.
Der Gedanke der Herrschaft über seine Lebensumstände wird in der
klassischen deutschen Philosophie mit der Kategorie des „Subjekts“ erfaßt. Ich
übernehme diesen Begriff und kann als allgemeines Entwicklungsziel der
Persönlichkeit die Entwicklung von „Subjektivität“ als Entwicklung der
Möglichkeit, seine Lebensbedingungen zu beherrschen, formulieren.
Beherrschung von Lebensbedingungen geschieht durch menschliche Tätigkeit,
durch Handeln. Handlungsfähigkeit und -bereitschaft auf der Grundlage
erkannter Handlungsmöglichkeiten, auf der Grundlage der Analyse von
Hindernissen, auf der Basis einer gemeinschaftlich koordinierten Strategie ist die
Grundlage für die Subjektentwicklung im oben vorgestellten Sinn.
Handeln kann geschehen im Rahmen gegebener Handlungsmöglichkeiten. In
diesem Fall soll von restringierter Handlungsfähigkeit gesprochen werden. Ist
das Ziel jedoch, das bestehende Arsenal von Handlungsmöglichkeiten zu
erweitern, dann soll dies „verallgemeinerte Handlungsfähigkeit“ genannt
werden (vgl. Holzkamp 1983). Es liegt auf der Hand, daß die Entwicklung von
Subjektivität sich nicht auf das bloße Agieren im Rahmen je individuell zugänglicher und gesellschaftlich zugestandener Handlungsmöglichkeiten
beschränken kann. Das Bedürfnis zu dieser weitergehenden Einflußnahme darf
als „Naturerbe“ prinzipiell unterstellt werden: Es gehört zu den (von HolzkampOsterkamp 1975/76 genannten) „produktiven Bedürfnissen“.
Trotz der quasi naturhaft angelegten produktiven Bedürftigkeit an ständig
wachsender Einflußnahme auf die Lebensbedingungen muß davon ausgegangen
werden, daß sich Menschen nicht stets kontrollerweiternd verhalten, sondern
daß sie auch bewußt auf eine weitergehende Kontrolle ihrer
Existenzbedingungen verzichten können. Wesentlich hierbei ist, daß dieser
Verzicht individuell durchaus begründet erfolgen kann.
Als zentraler Widerspruch bei der Erfassung individueller Existenz in einer
Gesellschaft, die die umfassende (historisch-konkret mögliche) Kontrolle über
Lebensbedingungen versagt – und die zudem diesen Verzicht durch geeignete
Verarbeitungs- und Denkformen als begründet, sinnvoll und „normal“ nahelegt
–, ist der Widerspruch zwischen einem quasi naturhaft vorhandenen
41
Entwicklungsbedarf in Richtigkeit „Subjektivität“ und der gesellschaftlich
gegebenen Beschränkung von Entwicklungsmöglichkeiten anzusehen.
Dieser Widerspruch liefert keine bloß „moralische“ Kritik an der
entwicklungshemmenden Gesellschaft, sondern konstatiert zunächst nüchtern
entwicklungsbedingte
formationsspezifische
Rückständigkeiten:
Die
notwendigen Mittel für eine umfassende Kontrolle der natürlichen und
gesellschaftlichen Existenz stehen selbst heute noch in keiner Gesellschaft zur
Verfügung. So gesehen ist dieser Widerspruch „normal“ und bildet eine
stimulierende Triebkraft für die weitere Entwicklung.
42
Abb. 3:
Systematische Erfassung aller Möglichkeiten einer
wechselseitigen Konstitution der „einfachen“ Momente
43
„Tätigkeit“ und „Handlung“ sind also zentrale Kategorien dieser Arbeit. In einer
ersten Annäherung mag man davon ausgehen, daß die Extensionen der Begriffe
(also der Umfang der von ihnen erfaßten Gegebenheiten)
„Arbeit“
„gegenständliche Tätigkeit“
„Handeln“
„Interaktion“/“Kommunikation“
in einer Teilmengenbeziehung zueinander stehen, da bei dem jeweils
nächstfolgenden Begriff einengende Bestimmungen wegfallen, so daß der
Anwendungsbereich jeweils größer wird. Der engste Begriff ist somit „Arbeit“,
die weitesten Begriffe sind „Interaktion/Kommunikation“ (vgl. die etwas andere
Systematik bei Arendt 1960).
Das dahintersteckende Menschenbild ist also die Vorstellung eines
aneignenden und vergegenständlichenden, sich mit seinen Interessen aktiv in
gesellschaftliche Zusammenhänge einmischenden Subjekts.
In der „Angebotspalette“ von heute vorliegenden Subjektmodellen dürfte
daher Hurrelmanns Konzept eines „produktiv realitätsverarbeitenden Subjektes“
(Hurrelmann/Ulich 1995, S. 6ff.) die größte Nähe zu den hier formulierten
Vorstellungen haben.
2.3 Persönlichkeitstheoretische Konsequenzen
Die Frage nach „persönlichkeitstheoretischen Konsequenzen“ des hier
vorgestellten Durchgangs durch philosophische Annäherungsweisen an das
„Ich“, die „Person“ etc. betrifft nicht bloß den Transfer von philosophischen
Konzepten in andere Theoriefelder, sondern ist zudem eng verbunden mit dem
Gebrauch von theoretischen Begriffen in der Praxis. Bevor ich daher im
folgenden auf diese Ebene der Anwendungen philosophischer Konzepte zu
sprechen komme, will ich kurz auf den Zusammenhang einer immanenten bzw.
sozialgeschichtlichen Betrachtungsweise eingehen.
Philosophiegeschichtliche Betrachtungen eines Problems – hier: die
Entstehung und Genese von Ichkonzepten – neigen dazu, rein philosophieimmanent die Abfolge von Lehrmeinungen und Systemen zu studieren. Ich
benenne einige Probleme, die zunehmend als solche erkannt wurden und an
denen sich die Philosophen abarbeiteten:
 die Entstehung oder Erfindung des Individuums und seine
Konzeptionalisierung als Atom oder Monade,
 die Erkenntnis der Gestaltbarkeit und Gestaltungsnotwendigkeit des eigenen
Lebens oder der Geschichte zusammen mit der Einsicht in die eigene
Verantwortlichkeit,
44
 die Entwicklung des Gedankens der Relationalität und der Operativität als
Ersatz für die Annahme einer statischen Ontologie des Seins,
 der Widerspruch zwischen Freiheit und Notwendigkeit.
All diese Probleme lassen sich philosophiegeschichtlich studieren. Dies genügt
jedoch für die Zwecke einer Persönlichkeitstheorie in pragmatischer Absicht
nicht. Bereits Hegel sagte, daß (eine konkrete) Philosophie ihre (jeweilige) Zeit
in Gedanken gefaßt sei und benennt damit die Kulturfunktion der Deutung als
philosophische Aufgabe. Diese stellt sich jedoch konkret-historisch, so daß der
Weg für ein sozialgeschichtliches Verständnis von Philosophie freigelegt ist.
Philosophie beginnt jedoch nicht erst nach Abschluß des praktischen
Geschehens, so wie – ebenfalls Hegel zufolge – die Eule der Minerva ihren Flug
erst in der Dämmerung beginnt. Philosophische Konzepte sind immer wieder
auch im Alltag wirkungsmächtig, so daß Philosophie neben der
Deutungsfunktion eine Gestaltungsfunktion hat. Es ergibt sich somit eine
komplexes Forschungsprogramm, das hier nicht realisiert werden kann, auf das
jedoch hingewiesen werden muß: Die Analyse eines komplexen
Wirkungszusammenhangs von
 realem Geschehen in der gesellschaftlichen Praxis, und dies auf allen Ebenen
der Gesellschaft: der Wirtschaft, der Politik, des Sozialen, des Kulturellen
und auch des Ideellen, und der
 immanenten Entwicklung von Fachwissenschaften und Philosophie, die
jedoch immer wieder aus ihrer immanenten Logik heraus genommen und als
Lieferanten für gesellschaftliche Deutungen für die Konstruktion von
Selbstverständigungen der Gesellschaft oder einzelner Gruppen verwendet
werden.
Damit entsteht ein enges Beziehungsgeflecht und eine Dynamik, und dies
insbesondere bei solchen Konzepten, die sehr eng mit Prozessen der politischen
Hegemonie in der Gesellschaft verbunden sind (und für deren Analyse das
Konzept des „Feldes“ von Bourdieu 1999 angemessen ist). Dies ist
offensichtlich bei der Problemstellung dieses Textes der Fall. Denn Konzepte
der Person sind zum einen innerhalb der Wissenschaften und der Philosophie
miteinander verbunden; hier sind sie sogar Fokus der neu entstehenden Humanund Sozialwissenschaften wie Pädagogik und Psychologie im 18. Jahrhundert
bzw. der Soziologie, der Geschichts- und der „Geisteswissenschaften“ im 19.
Jahrhundert. Das „Ich“ oder das „Selbst“ sind zentrale Themen der Künste, die
sich als Sachwalterinnen des Ich, der Individualität und der Subjektivität
formieren. Diese Konzepte stehen zudem mitten im Zentrum des
Emanzipationskampfes des Bürgertums, wobei dieser Kampf um Hegemonie
45
ökonomisch, politisch, sozial und kulturell ausgetragen wird – und dies nicht nur
gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen (wie etwa dem Adel oder dem
Klerus), sondern mehr und mehr auch als Binnenauseinandersetzung
verschiedener Gruppierungen innerhalb des sich ausdifferenzierenden
Bürgertums. Mit dieser gesellschaftlichen Verortung der Thematisierung des
„Ich“ im Kontext der Entwicklung des Bürgertums ist jedoch noch wenig
gewonnen. Denn offenbar ist auch der (bürgerlichen) Gesellschaft der
Bundesrepublik das „Bürgertum“ ein großes Forschungsproblem. Dies zeigt sich
etwa daran, daß es immer wieder ambitionierte Forschungsschwerpunkte zu
dieser Frage gegeben hat, die sich mit der Sozial- und Begriffsgeschichte rund
um das Bürgertum befaßten (vgl. Kocka 1988, Koselleck 1990). Immerhin wird
vielleicht ein in der Einleitung angesprochenes Ziel somit deutlich: Sowohl auf
der Ebene der Praxis der Menschen als auch im Hinblick auf theoretische und
ideologische Verarbeitungen dieser Praxis muß von einer starken
Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit der philosophischen Konzepte von
„Person“, „Ich“ etc. ausgegangen werden. Damit stellt sich die Aufgabe, die
historische und politische Geformtheit oder Aufgeladenheit der philosophischen
Kategorien zumindest zu erkennen. Dies schließt die Annahme eines auch
ideologischen Charakters dieser Kategorien ausdrücklich ein.
So groß dieses Problem nun auch erscheinen mag – denn immerhin ist davon
auszugehen, daß auch die notwendigen Erkenntnismittel, die man zum
Nachweis der gesellschaftlich- historischen Überformung des möglichen
„wahren“ Erkenntnisgehaltes benötigt, ebenfalls unter Ideologieverdacht stehen
–: neu ist dieses Problem nicht. In der Wissenschaftsgeschichte kennt man etwa
ebenfalls die Frage danach, ob die jeweilige „wissenschaftliche Erkenntnis“ der
Ideologie der Zeit oder einem unverfälschten Gegenstandsbezug geschuldet ist.
Die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich (im Anschluß an R. Koselleck) mit
„historischer Semantik“ und dem Zusammenhang von Sozial- und
Begriffsgeschichte. Und nicht zuletzt liefert die Soziologie der kulturellsymbolischen Formen von Bourdieu – und speziell seine Analyse der
Symbolwerkzeuge Kunst (Bourdieu 1999) und Sprache (Bourdieu 1990) – ein
nützliches Instrumentarium, die Macht der Symbole in ihren verschiedenen
Dimensionen entschlüsseln zu helfen. Auf all dies kann hier nur hingewiesen
werden (vgl. Fuchs 2000), auch wenn der Zusammenhang von Wirtschafts-,
Sozial-, Begriffs- und politischer Geschichte im gesamten Text erkennbar sein
sollte und in Kapitel 5 zudem ein Stück Realgeschichte – parallel zur hier im
Vordergrund stehenden Begriffsgeschichte – nachgeliefert wird (für die Zeit der
Aufklärung vgl. etwa Fuchs 1984 – Trapp). Hier also einige Hinweise dazu,
welche Rolle die besprochenen philosophischen Konzepte des „Ich“, der
„Person“ etc. in der Praxis gespielt haben beziehungsweise welche
ideologischen Überformungen und Aufladungen bei ihrem Gebrauch zu
beachten sind.
46
1. Zuerst ist darauf hinzuweisen, daß eine sprachliche Form und Begrifflichkeit
zu schaffen war, mit der die in Kunst, Politik, Alltag, Einzelwissenschaften und
Wirtschaftsleben bedeutsam werdenden Tatbestände der Individualität
formuliert werden konnten. Die Entwicklung von geeigneten sprachlichen
Formen ist dabei eine außerordentliche Kulturleistung, da vorhandene
(lateinische) sprachliche Formen durch die mittelalterliche Theologie und
Philosophie nahezu hoffnungslos semantisch beladen waren, so daß die neuen
Gedanken sich auf oft ungeeignete sprachliche Mittel stützen mußten (siehe
hierzu auch 5.2). Die Bibelübersetzung von Luther, das Wirken einzelner
Barockschriftsteller (z. B. Grimmelshausen) und schließlich die – auch
sprachlich innovative – Genieleistung von Kant stellten erst das sprachliche
Werkzeug bereit, um die Reflexionsprozesse zum Ich adäquat erfassen zu
können. Es ist dabei daran zu erinnern, daß auch bei dieser Entwicklung
Deutschland eine „verspätete Nation“ (Plessner) ist. Denn die klassischen
Perioden der nationalen Sprachformungen geschahen etwa in Frankreich
(Corneille, Racine, Molière), England (Shakespeare), Italien (Petrarca,
Boccacio, Dante) oder Spanien (Cervantes) erheblich früher als im Deutschland
der Weimarer Klassik. Daß die Kantsche „Kopernikanische Wende“ in der
Philosophie speziell das Thema der Personalität und Subjektivität betraf, mag
man etwa daran sehen, daß die Bedeutung des Subjektbegriffs (subiacere =
unterwerfen) geradezu umgedreht wurde (das Subjekt nunmehr als das
Bestimmende; vgl. Lektorski 1969).
Die für die Praxis entscheidende Bedeutungsaufladung von Subjektivität und
Individualität – und diese zugleich in Verbindung mit den anderen
Zentralbegriffen, die in diesem semantischen (und politischen) Feld eine Rolle
spielen, nämlich Kunst, Kultur, Geschichte und Bildung – läßt sich an der
Person Wilhelm von Humboldts festmachen. Er ist der Cheftheoretiker des
entstehenden „Bildungsbürgertums“, also von jenem Teil des Bürgertums, das
nicht durch Besitz, sondern durch Bildungstitel seinen Platz in der Gesellschaft
einfordert (Koselleck 1990, Lepsius 1992). Humboldt ist eng befreundet mit
Schiller, dessen „Briefe zur ästhetischen Erziehung“ die Kantsche Philosophie
der Ästhetik (die „Kritik der Urteilskraft“, 1790) zu einer politischen
Konzeption einer gesellschaftlichen Reform umformulieren, bei der Kunst als
Mittel der Erziehung die angestrebten humanitären gesellschaftlichen und
politischen Verhältnisse herstellen soll. Humboldt wiederum ist
Sprachtheoretiker und philosophischer Schriftsteller, ist eng verbunden mit der
Entwicklung der Künste. Er ist Diplomat und Politiker, der seine
Bildungstheorie (den später sogenannten Neuhumanismus) an einflußreicher
Stelle in Preußen umzusetzen versucht:
„Der wahre Zweck des Menschen“, so Humboldt (1971, Bd. 2, S. 99 f.), „ist die
höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu
47
dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerläßliche Bedingung. Allein außer
der Freiheit erfordert die Entwicklung der menschlichen Kräfte noch etwas
anderes, obgleich mit der Freiheit eng verbundenes, Mannigfaltigkeiten der
Situationen“.
Bei Humboldt finden sich – für bildungstheoretische und -politische Zwecke
heruntergebrochen – alle Zuschreibungen, mit denen sich bis heute das
heroische (bürgerliche) Individuum als Subjekt seiner Verhältnisse, als
autonomer Gestalter seines Lebens, als politischer Kern des Gemeinwesens
selbst beschreibt. Und entscheidendes Mittel dieser sozialen und kulturellen
Konstruktion ist die autonome Kunst. Bildung wird „zur fortschreitenden
Befreiung des Menschen zu sich selbst“ (Heydorn 1980, Bd. 3, S. 301). Sie ist in
erster Linie Entwicklung von Bewußtsein. Sie ist – anders als die
fremdgesteuerte „Erziehung“ der Aufklärung – entschieden „Selbstbildung
durch Selbsttätigkeit“.
Freiheit und Autonomie sind ihre Grundlagen. Und hier erhält eine
entsprechend verstandene Kunst – und das entstehende moderne Künstlertum
(Ruppert 1998) – seine entscheidende Funktion. Das (Bildungs-)Bürgertum
nutzt die beschriebenen philosophischen Konzepte des Selbst, des Subjekts, der
Individualität mit erheblicher historischer Berechtigung zur Konstruktion eines
Selbstbildes und sieht all diese Dispositionen in Kunst und Künstlertum
realisiert: „Der Künstler repräsentiert nunmehr die Erfahrungen und die
Wahrnehmungsperspektiven des modernen Individuums, die mit der
bürgerlichen Kultur entstanden waren“ (ebd., S. 32).
Die Tragfähigkeit dieses – zunächst philosophischen – Deutungsangebotes
belegt die Wirkungsgeschichte entsprechender Zuschreibungen zum
Zusammenhang von Kunst und kreativer Individualität. Diese gesellschaftliche
Wirksamkeit konnte nur durch eine in ihrer Rhetorik sich als
gesellschaftsabstinent gerierende Kunst- (und Wissenschafts-)auffassung, also
durch eine „autonome Kunst“ geleistet werden. Vermutlich gibt es keinen
gesellschaftlich wirkungsvolleren Topos in der Kunstgeschichte als die Rede
von der Kunstautonomie (vgl. auch Bourdieu 1999 sowie Fuchs 1998 – Macht).
Begriffe haben also nicht nur ihre Geschichte, sie haben auch ihre
gesellschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten. Für „Bildung“ und „Kultur“ – und
die sie konstituierenden Konzepte der Person, der Autonomie und der
Individualität – verfolgt Bollenbeck (1994, vgl. auch Engelhardt 1986) diese
Wirkungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Der Ausgangspunkt war der
Liberalismus von Wilhelm von Humboldt, der sich für eine Freiheit gegen den
Staat stark macht. Humboldt ist also Denker der bürgerlichen Emanzipation.
Doch wahr ist auch dies:
„Die Geschichte des Deutungsmusters“ (von „Bildung“ und „Kultur“; M. F.) ist
mit dem Schicksal des deutschen Bildungsbürgertums verbunden, mit dem
48
deutschen Eigenweg in die Moderne und einer Modernisierungskrise, mit der
das Bildungsbürgertum schließlich anfällig für den Nationalsozialismus wird“
(ebd., S. 25; siehe auch die Studie zu Dilthey in Fuchs 1998 – Macht, 2.3 sowie
Groppe 1997).
Es sind also durchaus – so Münch 1986 – dieselben Leitwerte („kulturelle
Codes“) wie Universalismus, Individualismus, Rationalismus und Aktivismus,
die die Moderne in Deutschland wie in anderen vergleichbaren Ländern
charakterisieren. Aber es werden diese allgemeinen Prinzipien sehr spezifisch
inhaltlich gefüllt: eine starke Rolle des Staates, das kräftige Nachwirken der
Innerlichkeit, so wie sie Luther vorgedacht hat, der Vorzug einer Freiheit im
Denken statt im (politischen) Handeln. „Bildung“ wird daher zu einer sehr
deutschen Antwort auf Problemstellungen, die sich auch in anderen Ländern
stellen, in denen jedoch andere Antworten gefunden werden. Damit ist
„Bildung“ nur zum Teil eine i. e. S. pädagogische Kategorie, sondern gehört
vielmehr in den globalen Kontext der (deutschen) Bewältigung der
Modernisierung.
2. Die Interpretation, die ich hier bei der Untersuchung der Wirksamkeit der
philosophischen Konzepte verfolge, stützt sich wesentlich auf die Rolle des
Bürgertums und seinen Emanzipationskampf, also auf seinen Kampf um
politische und kulturelle Hegemonie. Aber gibt es überhaupt dieses „Bürgertum“
als abgrenzbare Klasse oder Gruppe, oder ist es nicht vielmehr – so wie man es
insbesondere zum Begriff des „Bildungsbürgertums“ gesagt hat – eine
intellektuelle Konstruktion von Historikern? Inzwischen hat es geradezu einen
Forschungsboom gegeben (vgl. etwa die Sammelwerke Kocka 1988 oder das
Projekt „Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert“, z. B. Koselleck 1990,
Engelhardt 1986, Lepsius 1992). Auch die Beziehung zum Adel und zum
Arbeitertum – etwa im Hinblick auf die These von deren „Verbürgerlichung“ –
wurde untersucht (Kocka 1986). Immerhin nennt man das 19. Jahrhundert das
„bürgerliche Jahrhundert“. Zur Präzisierung des Begriffs stütze ich mich auf den
Einführungsbeitrag „Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19.
Jahrhundert“ von Kocka (1988, Bd. 1, S. 11 ff.). Er unterscheidet Bourgeoisie
(Wirtschafts- und Besitzbürgertum) und Bildungsbürgertum (Ärzte, Professoren,
Rechtsanwälte und die anderen „Freien Berufe“, Gymnasiallehrer etc.) als Kerne
des Bürgertums, die jedoch unter fünf Prozent der Bevölkerung ausmachen
(ebd., S. 12). Zählt man die Handwerker, die kleinen Selbständigen dazu, also
das „Kleinbürgertum“, dann kommt man auf maximal fünfzehn Prozent. Die
Zusammensetzung ist – wie gesehen – äußerst heterogen: Selbständige und
abhängig Beschäftigte, Menschen aus verschiedenen Wirtschaftssektoren,
Branchen, Berufen. Kocka kommt im wesentlichen zu zwei Bestimmungsmerkmalen dieses „Bürgertums“: die gemeinsamen sozialen Gegner, also
49
zunächst Adel und Kirche, gegen die bürgerlichen Werte wie die individuelle
Leistung und Selbstbestimmung angeführt werden; „nach unten“ sind es die
Bauern und die „unterbürgerlichen Schichten“ (Kaschuba 1990). Das zweite
Bestimmungsmerkmal ist die bürgerliche Kultur und die Lebensführung: die
methodische und selbständig gestaltete Lebensführung, die Rationalität und
Bildung, die emotional begründete Familie, z.T. auch „liberale“ Tugenden wie
Toleranz, Konflikt- und Kompromißfähigkeit, Autoritätsskepsis und
Freiheitsliebe (ebd., S 27 f.). Diese Begriffsbestimmung ist zweierlei: gerade in
der Anfangszeit, auf die sich W. von Humboldt bezieht, erfaßt sie ein Stück
gelebter Realität, ist also durchaus Beschreibung einer Praxis; zunehmend wird
sie jedoch auch Selbstbeschreibung einer gesellschaftlichen Gruppe und dient
der kulturellen und politischen Konstruktion ihrer Identität. Damit wird sie im
weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend zur Ideologie. Immerhin:
Ebenso wie das – ansonsten bekämpfte – Aufklärungsdenken zielten der
Liberalismus und der Neuhumanismus auf das Allgemein-Menschliche,
verstehen sich also nicht als Konzeptionen, die sich bloß auf die Eigeninteressen
einer abgrenzbaren Gruppe beziehen.
3. Zu der Wirkungsgeschichte der hier behandelten Begriffe gehört gerade – wie
angedeutet – entschieden der Prozeß ihrer Ideologisierung und ihrer
Institutionalisierung. Begriffe, so lehrt Gehlen (1950) und so nutzt Bollenbeck
(1994) diese Erkenntnis, haben dann sozialen Bestand, wenn ihre
Institutionalisierung gelingt. Es braucht dauerhafte Einrichtungen in der
Gesellschaft, die als Sachwalterinnen dieser Begriffe Einfluß gewinnen, für
„Bildung“ also etwa das Gymnasium oder die Universität, für die Künste
entsprechend die Kultureinrichtungen (vgl. Tenbruck 1990, v. a. Kap. 12:
Bürgerliche Kultur). Sind diese erst einmal entstanden, so kann man erwarten,
daß sie einiges an ideeller-ideologischer Unterstützungsleistung für ihre
Grundbegriffe erbringen. (Zur Institutionalisierung des bürgerlichen
Kunstbetriebes vgl. Hein/Schulz 1996). So spricht man von der „historischen
Konstruktion des Individualismus“ durch den Universitätsprofessor Burkhardt,
der die „Kultur der Renaissance“ als historischen Ort der Hervorbringung dieses
für die bürgerliche Welt zentralen Topos modelliert (vgl. Kap. 5): „Er arbeitete
Aspekte eines Menschenbildes heraus, die den kulturellen Begriffen,
Bedürfnissen und Sehnsüchten seines bürgerlichen Publikums Ausdruck
verleihen.“ (Ruppert 1998, S. 258). In besonderer Weise steht der Künstler
Modell für das Menschenbild des uomo universale, sowohl in seiner Ungebundenheit, Kreativität und Autonomie, aber auch zunehmend als Gegenpol
zum Rationalen der bürgerlichen Welt, der also das Emotionale, das Kultische
und Sakrale verkörpert: „Der Künstler verkörperte damit die in der bürgerlichen
und zivilisatorischen Rationalität nicht aufgehobenen psychischen
Befindlichkeiten und Erfahrungen“ (ebd., S. 284). Von hier aus war es dann zum
50
Künstlermythos, als der sich etwa Wagner stilisierte und wie er in dem
verhängnisvollen, aber um die Jahrhundertwende überaus einflußreichen Buch
„Der Rembrandtdeutsche“ von Julius Langbehn (zuerst 1890) seinen Höhepunkt
erreichte, nicht mehr weit (vgl. auch Groppe 1997). Daß die Realität
künstlerischer Existenz dieser Sakralisierung überhaupt nicht entsprach, sondern
vielmehr die Künstler um die Konstitution eines eigenen „Feldes“ rangen
(Bourdieu 1998, Ruppert 1998), sei hier bloß erwähnt. Allerdings übernehmen
sie bereitwillig diese kulturellen Zuschreibungen und kultivieren sie in ihrem
Künstlerhabitus. Ruppert liefert hierzu zwei Fallstudien (der Porträtmaler und
Münchner „Malerfürst“ Lenbach und der Mitbegründer der abstrakten Malerei
Kandinsky), die zwei aufeinanderfolgende Etappen in diesem Prozeß der
Individualisierung repräsentieren:
„Während Lenbach nach einem ästhetischen Ausdruck für die individuelle
Erscheinung den Porträtierten suchte, radikalisierte Kandinsky die Aufgabe des
Künstlers, indem er die subjektive Wahrnehmung und die Repräsentation der
„Seele“ in einer ästhetischen Grammatik der Abstraktion als Bezugspunkte der
Kunst propagierte“ (Ruppert 1998, S. 584).
Die Entwicklung dieses Künstlerhabitus, so wie er entfaltet und durch vielfältige
Institutionen – etwa die Kunstakademie – verkörpert, verwaltet und „produziert“
wird, ist die konsequente Umsetzung des Prozesses, der Kunst, Bildung und
Geschichte zu Religionen erhebt.
Nipperdey beschreibt diesen Prozeß eindrucksvoll an der Entwicklung des
Theaters, der Literatur, der Musik, der Architektur, des Vereinswesens, der
Museen: die „ästhetische Kultur“ verbürgerlicht, kommt also aus den Höfen
heraus. Mit ihr stilisiert sich der Bürger, schafft sich selbst als kulturelle
Konstruktion – und schafft in der Kunst und ihren Einrichtungen zugleich einen
Ersatz für die bedeutungsloser werdende Religion:
„Die Kunst hat also einen eigentümlich hohen Rang im Hausstand des
bürgerlichen Lebens, jedenfalls so, wie man dieses Lebens – idealisierend –
interpretiert sehen möchte. Damit bekommt sie eine (quasi) religiöse Funktion;
wir können von der Kunstreligion des Jahrhunderts sprechen. Kunst ist, so sagt
man seit der Frühromantik, Gegenstand von „Andacht“ und „Weihe“, Pietät,
Verehrung, frommem Gefühl ... . Museen, Theater, Konzertsaal präsentieren
sich als Tempel, als Bildungstempel und „ästhetische Kirchen“, das ist ihr
Anspruch und ihre Funktion als der sichtbare Ausdruck einer Sakralisierung der
Kunst. Der subjektiven Kunstfrömmigkeit entspricht das emphatische
Verständnis der Kunst als eines diese Welt transzendierenden Seins, ...; Kunst
ist ein Organ und ein Ausdruck des Unendlichen und Göttlichen, des Absoluten,
der Tiefe und des Geheimnisses von Ich und Universum ... . Kunst tröstet,
versöhnt, erlöst, wird eine Art Heilsbegriff.“ (Nipperdey 1983, S. 540 f.).
51
Es liegt auf der Hand, daß das Bürgertum als Sachwalterin einer so verstandenen
Kunst – mit dem entsprechend verstandenen „Künstler“ – sich selber adelt, mit
höheren Weihen versieht, also neben seiner ökonomischen Bedeutsamkeit
nunmehr auch ideologisch oder spirituell zur relevanten Gruppe in der
Bevölkerung werden will. (Zur Vorbereitung dieser Entwicklung in der
Romantik vgl. Furet 1998).
4. Betrachten wir also diese „Sattelzeit“ rund um 1800 etwas genauer. Nach dem
Renaissance-Humanismus ist es vor allem dieser Jahrhundertwechsel zum 19.
Jahrhundert, wo ein philosophischer Zugang zur Person und zur Individualität
eine entscheidende praktische und politische Rolle spielt. Hier gehen
idealistische Philosophie, politischer Liberalismus und ein Bürgertum, das
seinen Anteil an der Steuerung von Gesellschaft und Staat haben will, eine
Liaison ein, die – wie erwähnt – in besonderer Weise in W. v. Humboldt ihren
theoretischen und politisch-praktischen Wortführer findet. Arena dieses
Diskurses und dieser politischen Aktivitäten sind Bildungstheorie und -politik.
Und es sind gerade nicht das Aufklärungsdenken und die
Aufklärungsphilosophie, die das geeignete theoretisch-ideologische Rüstzeug
bereitstellen (vgl. Fuchs 1984 – Trapp; Vierhaus 1972).
Die Wirkungszeit der hier entstehenden Bildungsphilosophie ist kurz und lang
zugleich: kurz, so Kondylis (1991, S. 54ff), weil auf der Ebene der
gesellschaftlichen Realität sehr bald, nachdem das Bürgertum Einfluß im Staat
gewonnen und seine Kontrolle über die Kultur ausgedehnt hatte, zwei
Entwicklungen dominant wurden, die zwar aus dem Schoße dieser
Bürgerlichkeit entstanden, die es jedoch letztlich zerstörten:
 der Kult moderner Technik mit seiner rasanten Dynamik – auch als Basis der
Industriellen Revolution,
 das Aufkommen eines Hangs zum Mythischen, Zeitlosen, Übersinnlichen,
Exotischen als Gegenbewegung gegen den kapitalistischen Materialismus.
Lang ist dagegen die Wirkungsdauer dieser Rede über Bildung als Ideologie, in
der man weiterhin von „Kunst“, „Kultur“ und „Bildung“ spricht, jedoch
aufgrund veränderter Rahmenbedingungen – Durchsetzung des Kapitalismus,
der Industriellen Revolution, der Führungsrolle des Bürgertums – in der Praxis
immer weniger Interesse daran hat, wirklich die Befreiung aller Menschen zu
betreiben (vgl. Bollenbeck 1994).
Das Menschenbild des Neuhumanismus entspricht so in der Anfangszeit der
„heroischen“ Selbstbeschreibung des Bürgers, der seine eigene Emanzipation
noch gut als Emanzipation des Menschen schlechthin verstehen kann. Es ist das
schöpferische, freie Individuum, so wie es oben beschrieben wurde, das all seine
Anlagen in einem Selbstbildungsprozeß ausbildet. Und Medium dieses
52
Prozesses sind die Künste und Wissenschaften, ist „Kultur“ (vgl. Koselleck in
Koselleck 1990, S. 11 ff.). Dieser individuellen Seite der anvisierten
(bürgerlichen) Gesellschaft entspricht ein Sozialmodell, das wichtige
Dimensionen rechtlich absichert (Grimm: Bürgerlichkeit im Recht; in Kocka
1987). Einige Elemente dieses Paradigmenwechsels:
 rechtliche Sicherung individueller Freiheit,
 Übergang von einer Dominanz des öffentlichen und Staatsrechts zum
Privatrecht,
 Stärkung des Individuums als Trägers von Rechten, auch abgesichert durch
entsprechende Verfassungen.
Es dominiert der Gedanke, daß eine „invisible hand“ (Adam Smith) nicht nur
den ökonomischen Markt reguliert, sondern auch gesamtgesellschaftlich dafür
sorgt, daß die Durchsetzung von Partikularinteressen durch alle Bürger im
Selbstlauf zu einem gesellschaftlichen Optimum („Gemeinwohl“) führt. Damit
wird die politische Vermittlung zwischen Einzelnem und Gesellschaft
systematisch ausgeblendet – eine verhängnisvolle Denkfigur, die bis zu den
„Betrachtungen eines Unpolitischen“ von Thomas Mann im Jahre 1918, also
einer Distanz und sogar Verachtung gegenüber der Politik beim
Bildungsbürgertum führt.
Mit der zentralen Rolle des (bürgerlichen) Individuums wird eine Denkfigur
installiert, an die – so Kondylis – die entstehende Massengesellschaft und dann
auch die Massendemokratie scheinbar anknüpfen konnte, die sie jedoch so
radikalisierte, daß die liberale bürgerliche Gesellschaft – die im Grunde keine
demokratische Gesellschaft war – zerstört wurde. Die Überwindung der
Güterknappheit ist für Kondylis das zentrale Bewegungsmoment bei der
Entstehung dieser Massengesellschaft. Erst vor dem Hintergrund von
„Vermassungstendenzen“ und ihren Folgen werden daher die Warnungen
bürgerlicher Liberaler vor einer Ausdehnung von Demokratie und Bildung aus
dieser Zeit verständlich, die sich durchaus des exklusiven Charakters dieser
vermeintlich demokratischen Vision des Liberalismus und Neuhumanismus
bewußt waren (vgl. hierzu Kap. 6; siehe auch die Überlegungen zur
Bildungstheorie im Wilhelminischen Deutschland in Fuchs 1998, 2.3, sowie
Vierhaus 1972).
Was bedeuten diese Überlegungen nunmehr für die Bewertung der
philosophischen Zugänge zur Person?
Sie bedeuten zuallererst, daß auch die philosophischen Kategorien politisch
nicht unschuldig sind. Sie beziehen sich auf eine konkrete raum-zeitliche
53
Situation und sind Mittel in den Kämpfen um die Hegemonie in der
Gesellschaft.
Da sich dieser Text zunächst einmal auf ein entwickeltes europäisches Land,
auf eine entwickelte bürgerliche Gesellschaft bezieht, in der durchaus noch ein
Nachholbedarf im Hinblick auf die emanzipatorischen und „heroischen“ Ziele
etwa von W. von Humboldt besteht, sind diese Kategorien und ihr damaliges
Bedeutungsfeld meines Erachtens auch heute noch nutzbar. Dies gilt allerdings
nur für die bildungstheoretische Konkretisierung der philosophischen
Kategorien und nicht für die Bildungspolitik und -praxis. Es ist dies vor allem
im Hinblick auf zwei Problemkreise kurz zu benennen: Im Hinblick auf die
Einbeziehung von Frauen und im Hinblick auf die entstehende Arbeiterklasse,
auf die „unterbürgerlichen Schichten“ (Kaschuba 1990). Zu beiden Gruppen läßt
sich feststellen, daß sie in der Theorie, die sich als Konzeption für den
Menschen schlechthin, als Allgemeine Menschenbildung, versteht, einbezogen
sind. In der Realität müssen sich Frauen jedoch noch lange gegen ihre
Aufgabenbestimmung innerhalb der Familie, ihre Zuständigkeit für die niedrig
bewerteten
Reproduktionstätigkeiten
wehren.
Zugänge
zu
Bildungseinrichtungen müssen Schritt für Schritt erkämpft werden. In
bürgerlichen Schichten allerdings wird von ihnen eine Kompetenz in der
ästhetischen Kultur erwartet, die jedoch mit dem wachsenden Repräsentationsund Selbststilisierungsbedürfnis dieser Schicht zu tun hat (vgl. Kraul in Kocka
1988, Bd. 3, sowie die frauenbezogenen Artikel in den beiden Bänden zum 19.
und 20. Jahrhundert Frevert/Haupt 1999).
Im Hinblick auf die „Arbeiterkultur“ ist die Forschungslage nicht eindeutig
(vgl. den Forschungsbericht Kaschuba 1990). Eine breite Strömung – auch in
der sozialistischen und kommunistischen Bewegung und bei Engels und Marx
allemal – akzeptiert diese „bürgerliche“ ästhetische Kultur – etwa der Weimarer
Klassik – in ihrem humanistischen Potential. Politisch geht es dann darum, daß
sich die Arbeiter diesen kulturellen Reichtum aneignen, also insbesondere das
Bildungsprivileg der Herrschenden brechen. Gegenüber der Aufklärung wird
jedoch der Ablauf umgedreht: Nicht durch Bildung die Macht erreichen zu
wollen, sondern über die Eroberung der Macht Zugang zur Bildung zu
bekommen. So organisieren sich die Handwerker und Arbeiter seit Beginn des
19. Jahrhunderts wesentlich in Arbeiterbildungsvereinen. Und so ist es etwa
auch der Tenor der berühmt gewordenen Rede von Wilhelm Liebknecht
„Wissen ist Macht – Macht ist Wissen“ im Februar 1872. Dem Erwerb
humanistischer Bildungsgüter geht also die Konzentration auf die Entwicklung
von Klassenbewußtsein und auf eine entsprechende Organisationskultur(!) der
Arbeiterbewegung voraus. Flankiert wird dies dadurch, daß in der
Arbeiterbildungsbewegung etwa die Werke von Schiller und Goethe als
integrale Bestandteile einer „humanistischen Ausbildung des Menschen“
angeeignet werden.
54
Die Auseinandersetzung mit „Arbeiterkultur“ geschieht jedoch weniger im
Hinblick auf diese ästhetische Hochkultur, sondern im Rahmen einer
Ausweitung des Kulturbegriffs auf die Lebensweise und den Alltag, so wie sie
prominent der englische Kulturtheoretiker R. Williams vorgenommen hat, wie
sie jedoch auch in der kommunistischen Bewegung – in erster Linie etwa bei
Gramsci – ausgeführt wurde. Diese Öffnung des Blickes führte zu einer erneuten
Darstellung der Geschichte im Hinblick auf die Nicht-Eliten, so wie sie etwa P.
Burke in der Renaissance oder die Vertreter der Annales-Schule (Ariès/Duby)
realisiert haben. In bezug auf die „Arbeiterkultur“ ist zudem die
Auseinandersetzung mit der Leninschen These von den „zwei Kulturen“
relevant (vgl. Kocka 1986). Die aktuelle Kultur- und Bildungstheorie wird hier
ohne die Studien von Bourdieu nicht weiterkommen (s. u.).
Die Anthropologie von Nussbaum, die gerade die sogenannten „Entwicklungsländer“ im Blick hat, zeigt zudem, daß die beschriebenen Kategorien zwar im
Hinblick auf Ort und Zeit ihrer Entstehung zugeordnet werden können, daß
jedoch eine Verallgemeinerung und Übertragung auf andere Gesellschaften
möglich ist. Trotzdem ist der hier skizzierte Nachweis ihres ideologischen
Gehalts unverzichtbar für einen aktuellen Gebrauch.
Die Kategorien des „Ich“, der „Person“ etc. sind zudem so abstrakt, daß eine
konkrete Umsetzung in die Praxis eines weiteren Vermittlungsschrittes bedarf.
Dies soll in den nächsten Kapiteln über einen soziologischen und
psychologischen Zugang geschehen, die uns näher an die heutige Praxis und
gesellschaftliche Situation heranführen (Kap. 3 und 4). Auch ist es notwendig,
die konkrete Ausformung der aktuellen „bürgerlichen Gesellschaft“ zu
studieren.
Der Zweck der anthropologischen Überlegungen, so wie sie hier angedeutet sind
und wie sie in Kapitel 8 erneut aufgegriffen werden (ausführlicher in Fuchs
1999 dargestellt), ist im Nachweis des „Menschenmöglichen“ zu sehen – als
vernünftiger Zielstellung für die praktische Gestaltung von Prozessen der
Persönlichkeitsentwicklung, aber auch als Meßlatte zur Kritik an Verhältnissen,
in denen Lebens- und Entwicklungschancen vorenthalten werden.
55
3. Zur Soziologie der Persönlichkeit
3.1 Die Gesellschaftlichkeit des Individuums und seine Entwicklung
Die oben angeführte „Entdeckung“ oder sogar „Erfindung“ des Individuums zu
Beginn der Moderne (s. auch Kap. 5) hat in der Philosophie in der Folgezeit
dazu geführt, diesen Einzelnen zu verabsolutieren. Nur bei der
Ausgangsannahme von isolierten Partikeln muß man sich nämlich die Frage
stellen, wie soziale und politische Zusammenschlüsse zustande kommen, die aus
solch autonomen oder sogar autarken Individuen gebildet werden. In der
politischen Philosophie ist dies der Ausgangspunkt von „Vertragstheorien“, also
der Annahme von (fiktiven) Vereinbarungen, die diese autonomen
Grundbestandteile untereinander abgeschlossen haben und dabei auf bestimmte
Individualrechte einer totalen Freiheit zugunsten eines Allgemeinen – des
Staates – verzichten. Der englische Sozialtheoretiker Marshall (1992) hat dabei
eine historische Abfolge bei der Durchsetzung von Grundwerten festgestellt:
Zunächst war die Herstellung des inneren und äußeren Friedens das Ziel, dann
folgten Freiheit, Gleichheit und zuletzt Gerechtigkeit, wobei es einige
Jahrhunderte gedauert hat – und bis heute noch nicht abgeschlossen ist –, diese
Ziele der bürgerlichen Demokratie auch vollständig umzusetzen, zumal es auch
zu Spannungen oder sogar zu Widersprüchen zwischen diesen Zielen kommen
kann. Umsetzungsprobleme gibt es, weil es nicht nur um Privilegien und
Einflußmöglichkeit bestimmter gesellschaftlicher Gruppen geht, die sich zudem
im historischen Ablauf auch noch verändern: Es geht auch darum, daß diese
zentralen Werte von jedem Einzelnen gelebt werden müssen, der daher sowohl
bestimmte äußere Rahmenbedingungen als auch eine bestimmte mentale
Binnenstruktur braucht. Es entsteht daher ein (jeweils regional konkretes)
Geflecht von Beziehungen zwischen politischen, ökonomischen, geistigen und
menschlichen Entwicklungen.
Diese einzelnen Entwicklungen sind sowohl jede für sich, erst recht jedoch in
ihrem Verhältnis untereinander sehr unterschiedlich untersucht worden, so daß
der derzeitige Forschungsstand qualitativ sehr verschiedene Aussagen zuläßt.
Die Binnenentwicklung der Philosophie, also etwa die Geschichte
philosophischer Konzepte wie „Ich“, „Selbst“ oder „Subjekt“ ist gut belegt
sowohl in Form von Monographien, als auch in monumentalen Handbüchern. So
ist gerade der zehnte Band des Historischen Wörterbuches der Philosophie
erschienen, das ursprünglich bloß eine Aktualisierung von Eislers „Wörterbuch
philosophischer Begriffe“ (1899) hat werden sollen. Ähnlich ist die Situation
sowohl im Hinblick auf die Ideengeschichte der Politik- und
Wirtschaftswissenschaft als auch im Hinblick auf die Realgeschichte des
politischen und ökonomischen Lebens. Schwieriger ist jedoch die Geschichte
56
der mentalen Binnenstruktur, der psychischen Ausstattung, der „Seele“. Hier hat
zwar die von Bloch und Fèbvre in Frankreich vor einigen Jahrzehnten ins Leben
gerufene Mentalitätsgeschichte inzwischen viele Funde erbracht, vor allem
durch eine Konzentration auf den Alltag, das private Leben, die historischen
gesellschaftlichen Angebote an „Typen“ von Menschen. Trotzdem steht eine
Historische Psychologie, eine Historische Sozialisationsforschung erst am
Anfang (vgl. Jüttemann 1986/90). Dies hat zum einen damit zu tun, daß in
früheren Zeiten vorhandene psychische Dispositionen des Menschen schwierig
zu erfassen sind (vgl. etwa die einschlägigen Artikel zu dem „Körper“ in Wulf
1997). Es hat jedoch auch damit zu tun, daß sich die Psychologie als
Wissenschaft damit schwer tut, sich von einem „nomothetischen“
(naturwissenschaftlichen) Forschungsideal zu lösen.
„Psychologie als Wissenschaft beobachtbaren Verhaltens“ wurde lange Zeit
als Erfolg einer wissenschaftlichen Rationalität gefeiert, weil mit diesem Ansatz
die stark spekulative geisteswissenschaftliche Psychologie des späten 19.
Jahrhunderts mit ihren intuitiven, wenig kontrollierbaren Methoden
(„Introspektion“) überwunden werden sollte. Wilhelm Dilthey, dem wir viele
historisch gelehrte Stunden auch zur Persönlichkeit in der Geschichte
verdanken, hat diesen
Ansatz als bewußten
Gegensatz zum
naturwissenschaftlichen Positivismus entwickelt, während (der ältere) Wilhelm
Wundt als Begründer einer „wissenschaftlichen“ Psychologie (im oben
genannten Sinne) gilt. Offensichtlich handelt es sich bei diesem Methodenstreit
zwischen „Erklären“ und „Verstehen“ um eine Folge des dualistischen
Weltbildes seit Descartes, bei dem sich Geist (als Reich der Freiheit) und Körper
(als Reich der Notwendigkeit) einander unvermittelt gegenüberstehen. Und
natürlich ist diese methodologische und ontologische Diskussion
weltanschaulich hochgradig aufgeladen: Gerade die auf die res extensa (Körper)
sich beziehende neue Naturwissenschaft von Galilei, Kepler und Newton – die
sich freilich von dem Rationalismus des Descartes sofort distanzierte – war
verwoben mit dem Emanzipationskampf des Bürgertums (vgl. Fuchs 1984). Und
diese politische Verbindung wirkt noch bis Dilthey:
„Der naturwissenschaftliche Geist, der insbesondere in der modernen
französischen Literatur seinen Ausdruck gefunden hat, hat die abstrakten
Prinzipien auf das Wirksamste unterstützt, welche in der Französischen
Revolution so einflußreich gewesen sind.“ (Dilthey 1971, S. 127)
Und so entwickelt er sein Programm einer „Geisteswissenschaft“, der „Kritik
der historischen Vernunft“ als Lebensphilosophie, die weit in die Geschichte der
Bundesrepublik hineinragt und die bei Schülern und Anhängern von Dilthey
zwar immer wieder weltanschaulich problematische, aber zugleich auch
hochgelehrte Studien zu historischen Typen und zur historischen Psychologie
57
hervorgebracht hat (ich nenne hier nur Flitner 1961; vgl. den Beitrag von
Herrmann in Jüttemann 1986). Es haben sich die politischen Zuordnungen, die
in der ersten Phase der wissenschaftlichen und philosophischen
Auseinandersetzung deutlich waren, inzwischen verwischt. Weder ist die
naturwissenschaftliche Methode, die der heutigen Positivismus anstrebt, auf der
Seite der Emanzipation geblieben, und schon gar nicht plädieren die
Befürworter einer Respektierung des Geschichtlichen heute für eine
unreflektierte Wiederaufnahme der Diltheyschen Methoden oder für dessen
nationalkonservative Weltanschauung. So müssen heute politische,
ökonomische, geistige und mentale Entwicklungen zusammengedacht werden,
dies ist weitgehend konsensfähig unter denen, die sich mit der Geschichtlichkeit
des Menschen und der Psychologie befassen; doch wie dies geschehen kann,
bleibt weiterhin umstritten.
Die „Entdeckung des Individuums“ war der Ausgangspunkt in diesem
Abschnitt. Rückwirkend erscheinen daher die Bemühungen etwas paradox, diese
neue Konstruktion von Individualität wiederum vereinbaren zu müssen mit der
Notwendigkeit von Gesellschaftlichkeit in ihren unterschiedlichen
Ausprägungen, vor allem aber in der Form des Staates. Eine sozial sensible
Geschichtsschreibung der Wissenschaften – wesentlich gefördert durch die
Erschütterung eines historischen Denkens, insbesondere des Positivismus in den
Naturwissenschaften durch Kuhn (1967) – zeigt heute an einzelnen Beispielen
die subtilen Zusammenhänge nicht nur zwischen Philosophie, Weltanschauung
und Einzelwissenschaft, sondern auch zwischen diesen geistigen Prozessen und
der Realgeschichte. Unser wichtigster Bezugsautor im Hinblick auf
Anthropologie und Kulturphilosophie, Ernst Cassirer, hat die Notwendigkeit der
Zusammenschau sehr klar gesehen:
„Beim Menschen treffen wir allerdings, anders als bei den Tieren, auf
Gesellschaftlichkeit nicht nur im Handeln, sondern auch im Denken und Fühlen.
Sprache, Mythos, Kunst, Religion und Wissenschaft sind Elemente und
konstitutive Bedingungen dieser höheren Form von Gesellschaft. Durch sie
entsteht aus den Formen gesellschaftlichen Lebens, die wir in der organischen
Natur finden, eine neue Stufe: und die des gesellschaftlichen Bewußtseins des
Menschen beruht auf dem doppelten Akt der Identifizierung und der
Abgrenzung. Nur im Medium des gesellschaftlichen Lebens kann sich der
Mensch finden, sich seiner Individualität bewußt werden.“ (Cassirer 1990, S.
238)
Er selbst hat zahlreiche geistesgeschichtliche Studien – gerade zur Entwicklung
des Ich-Begriffs und der Individualität in der Renaissance – verfaßt (z. B.
Cassirer 1974). Doch bleiben bei ihm gesellschaftliche und realgeschichtliche
Prozesse außen vor. Gerade der Ich-Begriff im Kontext der Raumtheorie der
klassischen Mechanik von Newton bezieht sich auf eine komplexe Analyse von
58
Geistes- und Realgeschichte. Gesetze der Bewegung von Partikeln im Raum
können nur auf der Basis von philosophischen Annahmen über Raum, Partikel
und wirkende Kräfte formuliert werden. Solche Systeme müssen
widerspruchsfrei denkbar sein, und sie müssen auf der Grundlage vorhandener
philosophischer Einsichten überhaupt haltbar sein. Die (physikalischen) Partikel
im Raum können rasch in Beziehung gesetzt werden zu den „Mensch-Partikeln“
im gesellschaftlichen Raum. Und auch diese müssen nicht nur philosophisch
widerspruchsfrei gedacht werden können, sondern es muß eine empirisch-reale
Basis dafür geben, den Einzelnen – und nicht mehr wie im Mittelalter das
Kollektiv – zum Ausgangspunkt der theoretischen Konstruktionen zu nehmen.
Der Raum wird ebenso zu einer Ansammlung von Atomen wie die
Gesellschaft zur Ansammlung von partikularen Individuen wird. Die
Einzelwissenschaft (der Physik) scheint also ein Modell für philosophische
Verallgemeinerungen zu geben. Und es ist sicherlich kein Zufall, daß es
englische Philosophen waren, die diese Verallgemeinerung vorgenommen
haben: War doch die englische Gesellschaft politisch und ökonomisch am
weitesten in Richtung auf die bürgerliche Gesellschaft gediehen (Freudenthal
1982): Die Mechanisierung des Weltbildes (Dijksterhuis 1956) verläuft eine
lange Zeit parallel zu politischen, geistigen und ökonomischen Strömungen.
Und sie hat – am exponiertesten formuliert in der vorrevolutionären
französischen Anthropologie – eine starke Auswirkung auf die vorherrschenden
Bilder vom Menschen: „L'homme machine“ heißt etwa das programmatisch
wichtige Buch von J. O. Lamettrie (1709–1751) – mit starken Auswirkungen auf
die Entstehung einer wissenschaftlichen Pädagogik (Fuchs 1984 – Trapp) und
Psychologie (Jaeger/Staueble 1978).
Machen wir einen Sprung in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Denn
erst dann wurde – nach wichtigen Vorläufern, insbesondere um die
Jahrhundertwende (vgl. Geulen in Hurrelmann/Ulich 1984) – das Konzept einer
„Sozialisationsforschung“ auf breiter Ebene in die Human- und
Sozialwissenschaften eingeführt. Wesentliche Impulse stammen aus den USA,
wo bereits Anfang des Jahrhunderts Wissenschaftler in Chicago den – später so
genannten – Symbolischen Interaktionismus entwickelt haben (Mead),
herausgefordert durch die großen Probleme der gesellschaftlichen Integration in
einer Einwanderergesellschaft.
In dieser neuen Denkweise, den Einzelnen in seiner gesellschaftlichen
Eingebundenheit zu betrachten, gingen Sozial- und Entwicklungspsychologie,
Gesellschaftstheorie und Kultursoziologie ein Bündnis ein. Eine Konjunktur
dieses Ansatzes gab es in den siebziger Jahren, vor allem in
erziehungswissenschaftlichen Kontexten, wovon insbesondere das „Handbuch
der Sozialisationforschung“ (Hurrelmann/Ulich 1984, zuerst 1980; 1991
erheblich überarbeitet in einer Neuauflage) Zeugnis ablegt.
59
„Sozialisation“ konnte aus sehr verschiedenen Schulrichtungen der
Psychologie und Soziologie und mit sehr verschiedenen methodischen Ansätzen
erforscht werden. Man berücksichtigte zudem die verschiedenen
„Sozialisationsinstanzen“ (Familie, Kindergarten, Peer-Gruppe, Schule, Betrieb
etc.) und Sozialisationsdimensionen (politische, sprachliche, emotionale
moralische etc. Sozialisation).
Nach dieser Erfolgsgeschichte hat die Sozialisationsforschung in den letzten
Jahren an Glanz verloren (vgl. den einführenden Beitrag von Leu in dem
Themenheft „Sozialisationsforschung“ der DJI-Zeitschrift „Diskurs“ 1/97):
 Es wird der Vorrang von Integration in die Gesellschaft – gegenüber der
Autonomie und Subjektivität der Einzelnen – bemängelt;
 Kindheit werde zu sehr als Vorbereitung auf das Erwachsenenalter gesehen;
 die jeweils unterstellten Vorstellungen des „Subjekts“ werden kritisiert, etwa
aus einer postmodernen Sicht die Vorstellung eines „gesellschaftlich
handlungsfähigen mündigen Subjekts“;
 die Diskussion um Individualisierungstendenzen in der Gesellschaft (v.a.
Beck 1986) machte Fragezeichen hinter allzu kohärenten und generellen
Vorstellungen von Subjektivität – angesichts eines behaupteten Trends zur
Pluralität von Lebensformen;
 insbesondere ist ein zentraler Begriff der Sozialisationsforschung, der Begriff
der „Identität“, erheblich unter Druck geraten, da er mehr an Kohärenz und
Geradlinigkeit in der Entwicklung des Menschen zu versprechen scheint, als
angesichts der Situation des Individuums in einer sich ausdifferenzierenden
Gesellschaft angenommen werden kann.
Ich komme später auf Ergänzungen oder gar konzeptionelle Alternativen zu
solchen Vorstellungen von Sozialisation zurück (etwa unter den Stichwörtern
Lebenskunst und Lebensführung). Für die Zwecke dieses Kapitels muß man
jedoch festhalten, daß mit dem Sozialisationskonzept systematisch das
Beziehungsverhältnis des Einzelnen im gesellschaftlichen Kontext in den Blick
genommen
wird
und
unter
der
Rubrik
einer
„historischen
Sozialisationsforschung“ das Aufwachsen in unterschiedlichen Zeiten zum
Gegenstand der Forschung geworden ist.
Soziologie der Persönlichkeit muß sich – wie gesehen – auf die Wirkungen
der verschiedenen Sozialisationsinstanzen in den verschiedenen Lebensaltern
beziehen. Ich komme im nächsten Kapitel zur Ontogenese hierauf zurück. Es
können die Wirkungen von Arbeit und Freizeit oder eines Umgangs mit den
Künsten untersucht werden.
60
Ich will an dieser Stelle einige Hinweise zur methodischen Erfassung von
Individualität/Subjektivität geben, so wie sie eine Rolle in der (auch
Historischen) Sozialisationsforschung gespielt haben und spielen. Ich schließe
dabei an die anthropologischen Feststellungen in Kap. 2.1 an, insbesondere
erinnere ich an Plessner, der seinerzeit auch wichtig war bei der deutschen
Rezeption der in den USA entwickelten Rollentheorie.
„In solcher exzentrischen Position wurzeln Sprechen, Handeln und variables
Gestalten als die für den Prozeß der Zivilisation verantwortlichen
Verhaltensweisen. Sie bilden mit ihren Produkten die vermittelnden
Zwischenglieder, durch welche der vitale Lebenszyklus des Menschen in eine
die Vitalität überlagernde Sphäre gebracht wird. Von Natur künstlich, leben wir
nur insoweit, wie wir ein Leben führen, machen wir uns zu dem und suchen wir
uns als das zu haben, was wir sind. Bedürfnis steht einer Forderung gegenüber,
jedem Verhalten entspricht ein Verhältnis, dem es sich zu beugen hat, und diese
Forderungen, Verhältnisse, Ansprüche halten sich an Normen, die dem Ganzen
einer Kultur unangreifbare Selbstverständlichkeit verleihen. Weltoffenheit
verwirklicht sich daher nur in einer künstlich geschaffenen und geschlossenen,
weil von Normen beherrschten Umwelt, deren Güter und Einrichtungen vitalen
Bedürfnissen dienen, dadurch aber wiederum auf diese zurückwirken, neue
hervorrufen, alte verändern, in jedem Falle aber sie formen und regulieren, sie
bändigen und domestizieren.“ (Plessner 1983, S. 191).
Man spricht daher neben der biologischen Geburt von einer zweiten, der
soziokulturellen Geburt des Menschen, in der er sein Menschsein, nämlich
Individualität im gesellschaftlichen Kontext, mit Hilfe kultureller Symbole erst
eigentlich ausprägt. Und dieser Prozeß findet sich in der in diesem Text
beschriebenen Form mit großer Übereinstimmung
in ansonsten recht
unterschiedlichen Anthropologien. So verweist – neben dem zitierten Plessner –
auch Gehlen (1950, S. 280 ff.) umfassend auf entsprechende Ausführungen von
Mead und Plessner, so daß man sich hier auf weitgehend gesichertem
(Erkenntnis-)Boden befindet (vgl. Fuchs 2000, Teil 3).
Es gibt eine Reihe „mikrosoziologischer“ Theorien, die diese symbolgestützte
Entwicklungsphase sowie die Konstruktion des Sozialen aus solchen
symbolgestützten Prozessen erklären wollen. Unter diesen Ansätzen spielt der
Symbolische Interaktionismus eine zentrale Rolle, der – im Anschluß an den
Begründer der amerikanischen Semiotik, Peirce – von Mead (1863 bis 1931) in
Chicago (wo er seit 1894 lehrte) begründet worden ist. Die Etikettierung als
„Sozialbehaviorismus“ – so der Untertitel seines Hauptwerkes „Geist, Identität
und Gesellschaft“ (1968) – weist auf die zentrale Rolle von Handlungen in
dieser Konzeption hin. Mead gilt neben Peirce, Dewey und James als einer der
wichtigsten Vertreter des Pragmatismus. Die Verbindung zur Semiotik wird
zudem durch seinen Schüler Morris hergestellt.
61
Die Rezeption der Rollentheorie in Deutschland wurde von Plessner in den
sechziger Jahren vorangetrieben. In seinen Werken und in den Büchern von
Gehlen finden sich immer wieder Bezüge zu Mead. Die Rolle als System
gesellschaftlicher Verhaltenserwartungen an den Einzelnen schien das geeignete
Verbindungsstück zwischen den Anforderungen der Gesellschaft und der
individuellen Internalisierung der Normen – also Teil der Persönlichkeit – zu
sein. Die Sozialisationstheorie der siebziger Jahre verbreitete den – zunächst
soziologischen – Import der Rollentheorie vor allem durch Dahrendorf („Homo
sociologicus“), aber auch durch Tenbruck und andere auf die
Erziehungswissenschaften (Brumlik 1973). Auch die deutsche (Sozial)Philosophie nimmt immer wieder Bezug auf die Chicago-Schule und den
Pragmatismus, insbesondere dort, wo „Kommunikation“ zum Zentralbegriff der
Philosophie wird, also etwa bei Habermas oder Apel (vgl. Joas 1992).
Neben diesem Siegeszug des Symbolischen Interaktionismus und der
Rollentheorie gibt es jedoch auch (ideologie-)kritische Auseinandersetzungen
(Haug 1982, Kirchhoff-Hund 1978).
Worum geht es: Der Mensch ist für Mead wesentlich ein
symbolverwendendes Tier. Gebärden, Laute, Gesten und später die Sprache
vermitteln die Menschen untereinander, wobei all diese Lebensäußerungen
sinnhaft sind: es sind signifikante Symbole. Menschen nehmen zudem bei
Interaktionen stets sich selbst wahr – quasi in einem ständig parallel laufenden
Prozeß. Dies nennt Mead den „generalisierten Anderen“. Menschen können die
Perspektive wechseln, können sich in die Rolle der anderen hineinversetzen, ein
Prozeß, woraus die drei Dimensionen des Individuums entstehen,
 das „I“, das spontane kreative Ich zusammen mit der Triebausstattung,
 das „Me“, das soziale Selbst, die Vorstellung des Anderen von mir
zusammen mit einer ersten Stufe der Verinnerlichung dieses Fremdbildes,
 das „Self“ als Identität.
Der Schüler von Mead, Blumer, hat dem „Symbolischen Interaktionismus“ nicht
bloß seinen Namen gegeben, er hat ihn auch methodisch ausgeformt. Berühmt
sind seine drei Prämissen (nach Treibel 1993, S. 114 f.):
 Menschen handeln Dingen gegenüber aufgrund der Bedeutungen, die diese
Dinge für sie besitzen; dabei sind „Dinge“ auch Menschen, Situationen und
Institutionen,.
 Die Beziehung solcher Dinge ist aus der sozialen Interaktion, die man mit
Mitmenschen eingeht, abgeleitet oder entsteht aus ihr.
 Die Bedeutungen werden in einem interpretativen Prozeß, den die Person in
ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Dingen benutzt,
gehandhabt und geändert.
62
In der Rollentheorie sah Plessner den Gedanken der „exzentrischen
Positionalität“ sehr gut konzeptionalisiert. Die in obigem Zitat aufgeführte
„Verkörperung“ als Mittel der Selbst-Schöpfung des Menschen findet durch die
Übernahme von Rollen statt:
„Nichts ist der Mensch „als“ Mensch von sich aus, wenn er, wie in den
Gesellschaften modernen Gepräges, fähig und willen ist, diese Rolle und damit
die Rolle des Mitmenschen zu spielen: nicht blutgebunden, nicht
traditionsgebunden, nicht einmal von Natur frei. Er ist nur, wozu er sich macht
und versteht. Als seine Möglichkeit gibt er sich erst sein Wesen kraft der
Verdoppelung in einer Rollenfigur, mit der er sich zu identifizieren versucht.
Diese mögliche Identifikation eines jeden mit etwas, was keiner von sich aus ist,
bewährt sich als die einzige Konstante in dem Grundverständnis von sozialer
Rolle und menschlicher Natur. Sie bewährt sich für die Analyse menschlicher
Gesellschaften dank ihrer Abwandlungsfähigkeit auch in sozialen
Funktionssystemen, deren Selbstverständnis die Idee des Menschen
verschlossen ist und welche damit ihre Identifikation mit sich nicht als solche
durchschauen und vollziehen. Sie bildet in unserer Welt Prinzip und Richtschnur
für den optimalen Ausgleich zwischen Privatheit und Öffentlichkeit in den
industriellen Gesellschaftsordnungen, deren ideologische Gegensätze nur der
von einem vergangenen Denken geprägte Ausdruck ihrer fundamentalen
Gemeinsamkeit sind.“ (Plessner 1983, S. 204 f.).
Krappmann (1971) hat auf der Basis dieser genannten Ansätze vier
Grundqualifikationen des Rollenhandelns als im Sozialisationsprozeß
anzueignende
psychische
Dispositionen
identifiziert:
Rollendistanz,
Ambiguitätstoleranz, Empathie und Identitätsdarstellung. In einer Untersuchung
zahlreicher Autobiographien studiert Orth-Peine (1990), wie sich in den letzten
200 Jahren vor allem im Bürgertum erst im 19. Jahrhundert diese Fähigkeiten –
als Grundlage für die Entstehung von Ich-Identität – ausbilden. Diese
Theorielinie wird in Kap. 6, v.a. 6.4 weiterverfolgt. In diesem Abschnitt will ich
einen alternativen Ansatz vorstellen.
Aus einer marxistischen Sicht ist eine scharfe Kritik des Rollenkonzeptes
vorgetragen worden (vgl. Haug 1972). Vorwürfe sind etwa: „Theorie des
Scheins“, „Mittelstandsideologie“, Verdoppelung des „Warencharakters der
menschlichen Beziehungen“. Als Alternative hat man zur notwendigen
Vermittlung von Gesellschaft und Individuum auf die Konzepte der
„Individualitäts- und der Denkformen“ zurückgegriffen.
„Individualitätsformen“ konzeptionalisieren gesellschaftliche Anforderungen an
den Einzelnen:
„Individualitätsformen sind objektive Positionen, die Menschen innerhalb
63
historisch bestimmter, arbeitsteiliger Produktionsverhältnisse notwendig
innehaben müssen, wenn die gesamtgesellschaftliche Lebenssicherung
gewährleistet sein soll. 'Individualitätsform' ist also ein Verhältnisbegriff und
meint die objektiv notwendige Regelung aufeinander bezogener menschlicher
Aktivitäten innerhalb gegebener Produktionsverhältnisse.
Die Menschen
unterliegen, sofern sie eine bestimmte Individualitätsform individuell
realisieren, zwangsläufig der Anforderungsstruktur der damit eingenommenen
Position, bzw. befinden sich, sofern sie diese Anforderungsstruktur nicht in ihrer
Aktivität realisieren, automatisch außerhalb der jeweiligen Individualitätsform“.
(Holzkamp-Osterkamp 1975, S. 318)
Dazu Sève:
„Worum handelt es sich also? Auf Seiten der ökonomischen Realitäten handelt
es sich um Wirkungsweise und Reproduktion von gesellschaftlichen
Verhältnissen, und deren Wirkungsweise, deren Reproduktion erscheinen auf
seiten der Individuen als notwendige Aktivitätsmatrizen.“ (Sève 1972, S. 266).
Und weiter:
„Die Individualitätsformen als Aktivitätsmatrizen prägen den Individuen, die bei
der Leistung ihres individuellen Beitrags und damit Reproduktion ihres
individuellen Lebens in diese als etwas Vorgegebenem hineinversetzt sind,
„objektiv bestimmte gesellschaftliche Charaktere“ auf.“ (Holzkamp-Osterkamp
1975, S. 318).
Von diesen objektiven gesellschaftlichen Individualitätsformen sind die je
konkreten personalen Verarbeitungsweisen einzelner Individuen zu trennen, die
sie
erfüllen.
Denn
nicht
nur
die
allgemeine
menschliche
Entwicklungsmöglichkeit („menschliche Natur“), deren volle Ausschöpfung
objektiv durch die je vorherrschenden Produktionsverhältnisse und den
dazugehörigen Stand der Produktivkräfte begrenzt wird, sondern auch die je
konkreten individuellen Möglichkeiten bestimmen die sich dann konkret
ergebende empirische Subjektivität.
Mit der Kategorie der Individualitätsform werden gesellschaftliche
Anforderungen an die Verhaltensweisen und Persönlichkeitsmerkmale des
Einzelnen zu erfassen gesucht. Aufgrund dieser Aufgabenbestimmung rückt
diese Kategorie nun in die Nähe des Begriffs der „Rolle“, der ja auch das
Ensemble gesellschaftlicher Verhaltenserwartungen thematisiert. Akzeptiert
man diese gemeinsame Aufgabenstellung der beiden Kategorien, so stellt sich
jedoch sofort die Frage, wozu für dieselbe Aufgabe zwei Kategorien
einzuführen sind? Ist dies nicht eine unnötige Aufblähung des konzeptionellen
Apparates?
Die Antwort auf diesen berechtigten Einwand findet sich u. a. in den
unterschiedlichen theoretischen Hintergründen und der sich daraus ergebenden
64
unterschiedlichen Begründung für die genannten Kategorien. Es kann an dieser
Stelle zwar nicht umfassend die Begründung der begrifflichen Alternative
„Individualitätsform“ entwickelt werden, die wesentlichen Unterschiede
zwischen den beiden Konzeptionen können jedoch benannt werden. HolzkampOsterkamp merkt zu diesem Problem an:
„Man darf das Konzept der „Individualitätsformen“ auf keinen Fall mit dem
gängigen Konzept der „Rolle“ gleichsetzen. Individualitätsformen sind auf der
Grundlage des historischen Materialismus aus den Notwendigkeiten historisch
bestimmter Produktionsverhältnisse abgeleitet. „Rollen“ sind gemäß den
Vorstellungen der „funktionalistischen“ Soziologie lediglich vorgeprägte Muster
für kurzschlüssig „soziale Beziehungen“, die durch aus „Normen“ abgeleitete
Sanktionen reguliert werden, wobei hinter den „Rollenstrukturen“ die
Produktionsverhältnisse, mithin auch der Klassenantagonismus der bürgerlichen
Gesellschaft, verschwinden. Es handelt sich also hier um eine wissenschaftliche
Stilisierung der durch den Schein von Freiheit und Gleichheit gekennzeichneten
Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft.“ (ebd., S. 320).
Der Vorwurf gegenüber der Rollentheorie besteht also nicht darin, daß das
empirische Korrelat dieses Begriffs in seiner Existenz bezweifelt, sondern daß
die theoretische Durchdringung gesellschaftlicher Verhältnisse zu früh, nämlich
bei einer bloßen Oberflächenerscheinung, abgebrochen wird: die Rollentheorie
ist ebenso wie die aus der phänomenologischen Soziologie stammende Interaktionstheorie Denken vom Standpunkt der Zirkulation.
Ich will es bei dieser Benennung von Kritikpunkten an der Rollentheorie
bewenden lassen und statt dessen einige weitere Erläuterungen zu dem hier
verwendeten Konzept der „Individualitätsform“ anfügen. Es kann sich bei
diesen Ausführungen jedoch nicht um eine systematische Entfaltung dieser
Kategorie in einem umfassenden theoretischen Kontext handeln, sondern es soll
lediglich ihr Platz in einem kategorialen System verdeutlicht werden.
Marx geht in den anthropologischen Ausführungen in seinen PhilosophischÖkonomischen Manuskripten (MEW, Erg.-Bd.) in einem methodologischen
Dreischritt vor: Er interpretiert den Menschen als Natur-, als Gattungs- und als
Klassenwesen, das heißt als Mitglied einer großen gesellschaftlichen Gruppe in
einer
bestimmten
Gesellschaftsformation.
Diese
methodologischen
Vorüberlegungen zur Entwicklung einer wissenschaftlichen Anthropologie
wurden in den letzten Jahren vor allem im Rahmen der Kritischen Psychologie
aufgenommen und modifiziert. Deren „methodologischer Dreischritt“ wird von
Klaus Holzkamp wie folgt beschrieben:
„Der erste Schritt ist die Herausarbeitung der wesentlichen inhaltlichen Aspekte
der gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten der Individuen, damit
wesentlichen Dimensionen der individuellen Vergesellschaftung ... Es kommt
65
darauf an, unter all jenen Kennzeichen, die auch dem Menschen zukommen, die
er aber mit anderen Wesen gemeinsam hat, diejenigen herauszuheben, die für
ihn spezifisch und bestimmend sind, also seine besonderen Potenzen zur
individuellen Vergesellschaftung ausmachen, um von da aus das Verhältnis der
spezifisch-bestimmenden,
sekundären
und
unspezifischen
Bestimmungsmomente der menschlichen Individualentwicklung fassen zu
können.“ (Holzkamp 1978, S. 46).
Ergebnis der Untersuchungen auf dieser Abstraktionsstufe sind Bestimmungen
der „menschlichen Natur“ als phylogenetisches Entwicklungsprodukt für die
Spezies Mensch. Damit sind spezifisch menschliche Entwicklungsmöglichkeiten
erkannt, die dem Menschen – in der Terminologie von Marx – als Natur- und
Gattungswesen eigen sind. Charakteristikum der menschlichen Entwicklung ist
nun jedoch die Befreiung aus den biologischen Gesetzen der Evolution und
Selektion dadurch, daß die Menschen „ihre Geschichte selber machen“: Die
Naturgeschichte des Menschen wird abgelöst von einer sozial-historischen
Entwicklung.
Für die Untersuchung der menschlichen Subjektivität ergibt sich daraus das
Problem, die spezifische gesellschaftliche Geformtheit der individuellen
Entwicklungsprozesse,
zum
einen
in
den
unterschiedlichen
Gesellschaftsformationen, zum anderen innerhalb einer je bestimmten
Gesellschaftsformation, zu analysieren:
„Demnach sind in einem zweiten großen Ableitungsschritt marxistischer
Individualwissenschaft die formations-, klassen- und standortspezifischen
gesellschaftlichen Realisierungsbedingunqen der im ersten Schritt
herausanalysierten spezifisch „menschlichen“ Entwicklungsmöglichkeiten und dimensionen etc. herauszuarbeiten. Dies muß einerseits auf der Basis der „Kritik
der Politischen Ökonomie“ der bürgerlichen Gesellschaft geschehen, macht aber
andererseits Spezifizierungen notwendig, durch welche die konkreten
gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen und -schranken jeweils bestimmter
Individuen möglichst präzise aufweisbar sind.“ (ebd., S. 49).
Dies ist die kategoriale Ebene des „menschlichen Wesens“, in die das oben
explizierte Konzept der „Individualitätsform“ (und das unten vorgestellte
Konzept der „Denkform“) gehört. Sind mit diesen beiden Ableitungsschritten
die Rahmenbedingungen individueller Entwicklung geklärt, so fordert ein
abschließender
dritter
Ableitungschritt
die
Berücksichtigung
der
ontogenetischen Entwicklungsgesetzlichkeit:
Hier müssen „...die inneren Gesetzmäßigkeiten untersucht werden, in welchen
sich die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten unter den jeweiligen
Realisierungsbedingungen als konkreter personaler Entwicklungsprozeß der
individuellen Subjektivität entfalten. Hier ist also das dialektischmaterialistische
Entwicklungsdenken
voll
auf
den
Prozeß
der
Individualentwicklung anzuwenden, indem die konkreten Widersprüche,
66
qualitativen Sprünge und Stufen der Entfaltung individueller Subjektivität
herausgearbeitet werden und so die Individualentwicklung wie die
gesellschaftlich-historische und die naturgeschichtliche Entwicklung voll
inhaltlich als historischer Entwicklungsprozeß analysiert wird.“ (ebd., S. 50 f.).
Für die in dieser Arbeit untersuchte Problematik ist hervorzuheben, daß mit dem
Begriff der Individualitätsform keineswegs die Gesamtheit der Enkulturations-,
Sozialisations- und Erziehungsprozesse eingeholt werden soll, sondern bloß die
spezifische gesellschaftliche Geformtheit von Erziehungsprozessen in einer
konkret-historischen Situation.
Individuelle Vergesellschaftung durch das Hinein-Entwickeln in eine
vorliegende Individualitätsform ist ferner nicht als bloße Beschränkung natürlich
gegebener Entwicklungsmöglichkeiten zu verstehen. Dies würde lediglich die
oben kritisierte Vorstellung von „dem“ bedürftigen Individuum und „der“
versagenden Gesellschaft reproduzieren.
Vielmehr ist davon auszugehen, daß die individuelle Existenz nur
gesellschaftlich gesichert werden kann, die Reproduktion der Gesellschaft also
Grundlage des Lebens des Einzelnen – und damit auch Bedingung der
Möglichkeit von individueller Entwicklung schlechthin – ist.
Natürlich kann dies andererseits nicht die völlige Auslieferung des Individuums
an jeweils vorliegende gesellschaftliche Anforderungen bedeuten. Die
Möglichkeiten, in den je gegebenen gesellschaftlichen Grenzen im Rahmen der
individuellen Vergesellschaftung Bewußtheit zu seiner eigenen Existenz zu
erlangen, können jedoch an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden, da es
nicht Aufgabe dieser Untersuchung ist, eine Theorie der individuellen
Vergesellschaftung zu entwickeln.
Es sollte lediglich das Konzept der Individualitätsform so weit in seinen
kategorialen Rahmen vorgestellt werden, daß seine Verwendung in dieser
Untersuchung transparent – und damit kritisierbar – wird. Zur weiteren
Information verweise ich auf die Arbeiten von Holzkamp und HolzkampOsterkamp (1975, S. 320).
Abbildung 4 gibt den systematischen Platz der Begriffe „Individualitäts- und
Denkform“ im kategorialen Netz schematisch wieder.
Mit der Einführung der Kategorie der „Individualitätsform“ ist nun auch die
Möglichkeit einer Bewertung gegeben: Inwieweit gesellschaftlich vorhandene
Möglichkeiten ausgeschöpft werden, inwieweit ferner „ein Mensch in voller
Ausnutzung seiner jeweils konkreten Möglichkeiten einen Beitrag zur
gesellschaftlichen Durchsetzung allgemeiner Interessen, in denen seine eigenen
Interessen aufgehoben sind, also zur allgemeinen und persönlichen
Lebensbereicherung, damit zum gesellschaftlichen Fortschritt geleistet hat“
(Holzkamp-Osterkamp 1975, S. 320). Die Wahrnehmung der Möglichkeiten
67
wird nur dann geschehen, wenn zum einen – kognitiv – die individuelle und
gesellschaftliche Situation erfaßt und – emotional/motivational – in
Handlungsbereitschaft umgesetzt wird.
68
Abb. 4: Bewegungsformen
Bewegungsformen
Nat. Bewegung
(mechanisch, biologisch
etc.)
Bewegungen der
und in der Gesellschaft
Kategoriale Ebene der
Anthropologie
Menschliche Natur
Tier-MenschÜbergangsfeld
Menschliches Wesen
Vorherrschende
Gesetzmäßigkeit
Phylogenese: Evolution
und Selektion
Aneignung und
Vergegenständlichung
INDIVIDUALITÄTS- u.
DENKFORMEN individuelle
Individual- und
Anthropogenese,
Persönlichkeitsentwicklu Ontogenese
Aneignung und
ng
Vergegenständlichung
Die Möglichkeit des Erkennens ist nun an gesellschaftlich vorhandene
„Denkformen“ gebunden. Mit der Einführung einer solchen Kategorie soll
systematisch berücksichtigt werden, daß Denken nicht autonom von äußeren
Umständen, nicht unabhängig von vorangegangenen Denkprozessen und nicht
isoliert vom gleichzeitigen Denken und Handeln anderer Menschen stattfinden
kann. „Denken“ hat als Teil der (einheitlichen) Persönlichkeit einen Beitrag zum
Überleben des Einzelnen und der Gattung zu leisten.
Man geht in verschiedenen anthropologischen Konzeptionen davon aus, daß
der Prozeß der Aneignung und Vergegenständlichung sowohl die individuelle
als auch die gesellschaftliche Entwicklung des Menschen erklären kann:
Wesenskräfte des Menschen erhalten durch dessen Tätigkeit äußere Gestalt; die
derart vergegenständlichten Geisteskräfte können auf diese Weise aufbewahrt,
kumuliert und durch Tätigkeit wieder angeeignet, „vergeistigt“ werden. Wissen
ist also in erster Linie Überlebenswissen und Denken daher in mehrfacher
Hinsicht auf gesellschaftliche Produktions- und Reproduktionsverhältnisse
bezogen. Berücksichtigt man ferner, daß ein unterschiedlicher Stand der
Produktivkräfte, daß unterschiedliche gesellschaftliche Verkehrsformen auch
unterschiedliche Anforderungen an die kognitiven Potenzen der Agierenden
stellen, so wird die Annahme einer sozialen Determiniertheit des Erkennens
plausibel.
„Diese „gesellschaftlichen Denkformen“... enthalten ... objektiv sowohl relatives
Wissen wie auch relative Irrtümer über die Realität, wobei diese beiden
Momente aber auf der jeweiligen Stufe selbst nicht voneinander unterschieden
werden können, sondern zu einem einheitlichen Weltbild, das den praktischen
Anforderungen der Lebensbewältigung entspricht, integriert sind. Die in den
Denkformen liegenden Irrtümer und Erkenntnisgrenzen offenbaren sich als
solche nur von einem historisch entwickelteren Stand gesellschaftlichen
Wissens, also entweder an neuen Erkenntnismöglichkeiten, die sich aus den sich
69
verschärfenden Widersprüchen der jeweils gegenwärtigen Entwicklung ergeben,
oder rückblickend von einer späteren Entwicklungsstufe. Die „Irrtümer“
gesellschaftlicher Größenordnung entstehen global gesehen stets dadurch, daß
eingesehene Zusammenhänge über ihren Gültigkeitsbereich hinaus „extrapoliert“ werden, also das Unbekannte auf inadäquate Weise nach dem Modus
des Bekannten strukturiert ist, damit subjektiv scheinbar auch zu „Bekanntem“
wird.“
Und weiter:
„Die gesellschaftlichen Denkformen und Weltbilder, in denen bestimmte
gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen Ereignissen der natürlichen bzw.
gesellschaftlichen Wirklichkeit erkannt oder gestiftet sind, haben den Charakter
der Herbeiführung, Vorhersage und Interpretation von für die Lebenssicherung
relevanten Ereignissen, wobei das Gewicht je nach der gegebenen
Eingriffsmöglichkeit und Gesetzeseinsicht mehr auf dem einen oder dem
anderen dieser Momente liegen kann.“ (Holzkamp-Osterkamp 1975, S. 255 ff.).
Diese Überdehnung des Anwendungsbereichs ist nun jedoch grundsätzlich kein
Fehler, so daß man sich Strategien der Vermeidung überlegen kann: Als Teil des
Symbolsystems – und daher als Mittel der Weltaneignung – liegt die ständige
erweiternde Exploration, also die ständige Tendenz zur Ausdehnung des
Anwendungsbereichs in der „Natur“ dieser Mittel: Der Einflußbereich des
Menschen reicht nur so weit, wie seine Mittel reichen. Und die Tendenz zur
Erweiterung des Einflußbereiches ist offenbar naturgeschichtliche Mitgift.
Damit ist jedoch der Mensch zugleich auch zum Irrtum „verdammt“, da eine
Garantie für eine stets angemessene Anwendung von Symbolen nicht besteht.
„Individualitätsform“ und „Denkform“ liegen also auf derselben kategorialen
Ebene: der Erfassung des Ensembles gesellschaftlicher Verhältnisse.
Die je konkrete Gesellschaft bietet also – gruppen-, gesellschafts- und
klassenspezifisch – gesellschaftliche Typen von Individualität an. Der Einzelne
hat nun nach Maßgabe seiner genetischen Mitgift, seines sozialen Standortes
und auch abhängig von Unterstützungsleistungen in den Sozialisationsinstanzen
die – je nach Gesellschaft unterschiedlich weitreichende – Möglichkeit, sich in
solche Individualitätsformen hineinzuentwickeln und sie auch auszugestalten.
Doch wie geschieht dieser Prozeß auf Seiten des Individuums? Wie wird der
Einzelne mit Gesellschaft vermittelt? Eine Erklärung liefert hierbei unser
zentrales Konzept der gegenständlichen Tätigkeit.
Zur Erinnerung erwähne ich an dieser Stelle, daß andere Autoren eine
Aufspaltung des Handelns in Kommunikation, Arbeit und Interaktion
vorgenommen haben, so wie etwa Habermas es in seinen frühen Arbeiten oder
in seiner elaborierten Handlungstheorie in seinem Hauptwerk (Habermas 1981,
v. a. Kap. III) getan hat. (Abb. 5)
70
Sinnvoll ist es sicherlich, das konkrete Handeln, die Handlungsmöglichkeiten
und -fähigkeiten in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen zu
unterscheiden. Vielfach werden solche soziologischen Basistheorien
zugrundegelegt, in denen – im Anschluß an Parsons – gesellschaftliche
Subsysteme mit je spezifischen Handlungslogiken und Rationalitätskriterien
unterschieden werden. Auch Habermas nimmt eine solche Aufteilung in
Subsysteme vor, wie sich an seiner Entgegenstellung von „System“
(Wirtschafts- und Politikbereich) und „Lebenswelt“ (sozialer Nahraum und
Kultur) zeigt.
Marxistisch orientierte Autoren sehen ebenfalls die Notwendigkeit, über die je
individuelle Reproduktion (des Einzelnen) die Reproduktion der Gesellschaft
sicherzustellen.
Abb. 5: Handlungstypen
Typ des
verkörperten
Handlungstypen Wissens
teleologisches
technisch und
Handeln:
strategisch
instrumentell
verwertbares
strategisch
Wissen
konstative
empirischSprechhandlungen theoretisches
(Konversation)
Wissen
normenreguliertes moralischHandeln
praktisches Wissen
dramaturgisches
Handeln
Form der
Argumentation
theoretischer
Diskurs
theoretischer
Diskurs
Muster
tradierten
Wissens
Technologien/
Strategien
Theorien
praktischer
Diskurs
Rechts- und
Moralvorstellunge
n
ästhetischtherapeutische und Kunstwerke
praktisches Wissen ästhetische Kritik
Quelle: Habermas 1981, Bd. 1, S. 448
Im Zuge der Rezeption des Marxismus in den sechziger und siebziger Jahren hat
man die Formen der „Sozialisation in der und in die Klassengesellschaft“ durch
Familie, Beruf und vor allem durch das Erziehungssystem untersucht (einige
Beispiele sind Gröll 1975, Hurrelmann 1975, Huch 1975). Insbesondere
Ottomeyer (z. B. 1977) hat Psychologie und Soziologie verbunden mit
systematischen Analysen der Sozialisation/Vergesellschaftung in einer
kapitalistischen Warengesellschaft. Topoi dieser Untersuchungen waren die
klassischen Aufteilungen in Produktion, Distribution, Zirkulation und Konsum,
wobei die Frage der Auswirkungen jeweils der Produktivkräfte beziehungsweise
Produktionsverhältnisse umstritten war.
71
Eine Grundfrage bei diesen Positionen war, wie gesellschaftskonform die
Sozialisation des Menschen geschehen muß und wie es hierbei um die
Freiheitsgrade des Einzelnen bestellt ist. Speziell für den Kulturbereich und hier
vor allem im Kontext der kommerziellen Massenkultur war und ist die Frage
umstritten, welche Chancen der Einzelne hat, trotz der Warenförmigkeit des
Zugangs zu Musik, Literatur, Film etc. und trotz ideologischer Eingebundenheit
der Inhalte sich bewußt und kritisch gegenüber dieser (kapitalistischen)
Formbestimmtheit verhalten zu können (vgl. Maase 1992; Willis 1991).
An dieser Stelle ist es notwendig und hilfreich, sich an die Arbeiten von P.
Bourdieu zu erinnern, die sich insbesondere mit der Funktionsweise des
Kulturellen befassen. Bourdieu ist in vielfacher Hinsicht anschlußfähig an die
theoretischen Grundvorstellungen dieses Textes: Mit und unter Bezug auf
Cassirer ist „Wirklichkeit“ bei ihm kein Ding, sondern ein System von Systemen
von Beziehungen, also ein System von „Feldern“. Unter den symbolischen
Formen sind es immer wieder die Wissenschaften und die Künste (und ihre
Institutionen), die Bourdieu (wie Cassirer) faszinieren. Allerdings wird bei
Bourdieu die Symboltheorie sozial praktisch und eminent politisch.
In Kürze eine Beschreibung seines Ansatzes (vgl. Fuchs 2000, 2.1.2):
Es gibt die Wirklichkeit: als System von Beziehungen, dem die Akteure
angehören, dem jedoch auch die wissenschaftlichen Betrachter angehören. Es
gibt die Akteure in dieser Wirklichkeit, die zum einen selber ihre
Weltzugangsweisen in einem System ordnen müssen, die ihre Individualität im
Kontext gesellschaftlicher Vorgaben unter bestimmten Lebensbedingungen
entwickeln müssen. Zu diesen Lebensbedingungen gehören: „relativ stabile,
mehr oder weniger lang tradierte Formen, in denen die Individuen ihre
persönlichen Erfahrungen in eine Ordnung, in einen Zusammenhang bringen,
der ihren Lebenstätigkeiten Regelmäßigkeit und Kontinuität verleiht: zu
vorangegangenen Generationen und aktuell zu den Mitmenschen.“ (Dölling
1986, S. 82) Diese Formen nennt Dölling „kulturelle Formen“. Zu diesen
kulturellen
Formen
des
„Determinanten
des
individuellen
Vergesellschaftungsprozesses“, also als gesellschaftliche Vorgabe für die
individuelle
Entwicklung,
gehören
etwa
Familienund
Geschlechterbeziehungen, gehören all die „Sozialisationsinstanzen“, die die
Gesellschaft mit dem Einzelnen vermitteln. Zu diesen kulturellen Formen der
Vermittlung von Individuum und Gesellschaft gehören insbesondere auch
Deutungsmuster, Werthaltungen und Erkenntnisweisen. Es gehören Mimik,
Gestik und Körperhaltungen dazu, die sowohl für sich stehen, die jedoch immer
auch verweisen – also einen Symbolcharakter haben – auf gesellschaftliche
Strukturen, insbesondere auf Machtstrukturen. Sie haben eine bestimmte
Bedeutung, die in ihnen „zugleich symbolisiert wie realisiert ist“ (Bourdieu,
zitiert nach Dölling 1986, S. 90).
Handlungen oder Artefakte sind grundsätzlich mehrdeutig, erfüllen gleichzeitig
verschiedene Funktionen. Jede Alltagshandlung – etwa das Holen von Wasser in
einem der kabylischen Dörfer, die Bourdieu als Ethnologe am Beginn seiner
akademischen Karriere gründlich studiert hatte – erfüllt natürlich den
72
pragmatischen Zweck: das Wasser steht dann auch zur Verfügung. Aber: dieser
Vorgang findet in spezifischen Formen statt – eben in symbolisch-kulturellen
Formen –, die komplexe Bezüge zur „Kultur“ dieser Dörfer herstellen, die die
Handlung und den Agierenden präzise einordnen in das Sozial- und
Machtgefüge der Gemeinschaft. Die Form ist es also, die diese Vermittlungs-,
Integrations- und Kulturleistung erbringt. Und diese Form ist es auch, die die
Ordnung schafft und aufrecht erhält, die der Einzelne und die die Gemeinschaft
braucht. Dies würde auch Cassirer so beschreiben: Formen sind nicht (oder nicht
nur) als Zwänge zu sehen, als Unterdrückung, sondern ermöglichen erst
Individualität und Subjektivität und damit Freiheit. Gleichzeitig – und dies ist
das besondere Anliegen von Bourdieu – reproduzieren sie Macht- und
Sozialstrukturen.
Ein besonderer Schwerpunkt bildet bei Bourdieu die Analyse des
gesellschaftlichen Umgangs mit den Künsten: Die „vierte narzißtische
Kränkung“ fügt er der Menschheit zu, indem er in breiten empirischen Studien
belegt, wie gerade die Künste im sozialen Gebrauch als Mittel der
Machterhaltung und der „Distinktion“ im Interesse der Erhaltung vorhandener
(ungleicher und ungerechter) Strukturen ausgesprochen wirkungsvoll sind. Und
er unterstreicht immer wieder – vor allem am Beispiel von Flaubert – wie der
Künstler als sensibler Seismograph gesellschaftlicher Prozesse, aber auch als
Akteur in einem sozialen und ökonomischen Feld, zu seinen Werken kommt
(Bourdieu 1999).
Eine besondere Rolle spielt bei Cassirer und Bourdieu die Frage nach der
Vermittlung
zwischen
dem
Einzelnen
und
dem
Ganzen.
In
erkenntnistheoretischer Sicht geht es um die Lösung des berühmten SubjektObjekt-Problems. Das Symbol leistet eine Vermittlung zwischen Sinn und
Sinnlichkeit. Es erlebt seine Relevanz im tätigen Gebrauch: das – aktive,
handelnde, und zwar: bedeutungsvoll handelnde – Subjekt stellt durch dieses
Handeln eine Einheit von Subjekt und Objekt her. Welt und Mensch, Objekt und
Subjekt sind durch Handeln so vermittelt, daß „Welt“ nur als „Welt in und durch
den Menschen“ und der Mensch nur mit seiner inkorporierten Welt vorstellbar
ist. Bourdieu entwickelt hierfür Konzepte wie den „Habitus“, der als
strukturierende Struktur, als individuell angeeignete gesellschaftliche
Weltwahrnehmungs-,
Deutungsund
Wertungsweise
ein
solches
Vermittlungsglied zwischen Mensch und Welt ist.
Die Mechanismen der Distinktion erläutert er systematisch und empirisch in
einer Schrift, die im Untertitel „Kritik der theoretischen Vernunft“ heißt
(Bourdieu 1993) und in der er die Fehler von Objektivismus (Levy-Strauss) und
Subjektivismus
(Sartre)
–
die
jeweils
eine
Seite
des
Vermittlungszusammenhangs verabsolutieren und diesen damit grundsätzlich
verfehlen – scharf anprangert. Bourdieu schlägt dagegen etwa den „sens
pratique“ und den „Habitus“ als Methoden und Konzepte vor, die die
„Subjektivierung des Objektiven“ (im Prozeß der Sozialisation und
Kulturalisation) zu objektivieren gestatten und damit Aufschluß über die „Funktionsweise“ des Menschen in gesellschaftlichen Zusammenhängen – gerade auf
der Basis der symbolisch-kulturellen Formen – ermöglicht.
Die Relationalität der Gesellschaft, die Relationalität der individuellen
Aneignung gesellschaftlicher Praktiken
und der Selbstorganisation des
Einzelnen in der kulturellen Gemeinschaft erfaßt der Soziologe mit einem
entsprechenden (relationalen) Begriffsinstrumentarium, wobei auch die Begriffe
untereinander ein System bilden. „Habitus“, „praktischer Sinn“, „Feld“,
73
„sozialer Raum“, „kulturelles, ökonomisches, politisches und symbolisches
Kapital“ – all diese Begriffe bestimmen sich aufgrund der Relationalität
wechselseitig, sie bilden ein Begriffssystem, das sich als Ganzes auf das
Beziehungsgefüge Mensch-Welt bezieht.
Der wissenschaftliche Beobachter ist jedoch mitnichten „exterritorial“ und
neutral. Im Gegenteil verstärkt Bourdieu in den letzten Jahren seine
organisatorisch-politischen Aktivitäten, um das praktisch werden zu lassen, was
er theoretisch und empirisch immer wieder untersucht hat: Wie der Intellektuelle
helfen kann, das „eherne Gesetze“ bei Durchsetzung des Immergleichen (der
Erhaltung der Gesellschaft, so wie sie ist) zu durchbrechen.
Einige Begriffe von Bourdieu im einzelnen:
Feld: Bei dem Feldbegriff, der außerhalb der Physik, in der er zuerst entstanden
ist, vor allem in der Psychologie von Lewin eine zentrale Rolle spielt, findet der
deutlichste Bezug von Bourdieu auf Cassirer statt (vgl. Bourdieu/Wacquant
1996, S. 35 ff.) Das „Feld ist wie ein Magnetfeld ein strukturiertes System von
objektiven Kräften“ (ebd., S. 38). Dieses Feld ist konflikthaft angelegt: Die
Akteure darin („Schlachtfeld“) streiten sich um die Erlangung des Monopols
einer bestimmten Kapitalsorte.
Tausch und Kapital: Auf den ersten Blick erscheint die Terminologie von
Bourdieu ökonomistisch. Dies überrascht deshalb, weil er gerade in den letzten
Jahren als vehementer Kämpfer gegen den Terror des ökonomistischen Denkens
in der Gesellschaft vorgeht. Wie ist dieser Widerspruch zu verstehen? In der Tat
spielt der Tausch eine (fast) anthropologisch zu nennende Grundlagenrolle bei
dem Verstehen von Menschsein. Tausch als Gabe und Gegengabe: Dies öffnet
für Bourdieu zumindest zwei Diskurse: die ökonomische Tauschtheorie von
Karl Marx, die die Grundlegung im „Kapital“ darstellt; und die ethnologischen
Studien zur „Gabe“ von M. Mauss.
Um es vorweg zu nehmen: Die je aktuellen Konzeptionen von Ökonomie –
insbesondere der Neoliberalismus – bieten für Bourdieu gerade kein
Anregungspotential für Verallgemeinerungen. Sie sind vielmehr verfälschende
Schrumpfformen einer umfassenden „Ökonomie“ als Theorie des Tauschens.
Tausch als wechselseitiges Geben und Nehmen ist für ihn in der Tat der zentrale
Mechanismus: der Naturalientausch; der geldvermittelte Tausch, wobei Geld als
symbolisch-kulturelle Form, als Medium so erscheint, wie es im Anschluß (und
in Abarbeitung) an Marx von Simmel bereits vorgezeichnet war; aber auch die
Theorie des Sprechens als „Ökonomie des sprachlichen Tauschs“ (Bourdieu
1990),
so
wie
insgesamt
der
Prozeß
des
Tauschens
als
gesellschaftskonstituierende Grundhaltung – auch und gerade in den
symbolisch-kulturellen Formen – zu finden ist.
Ökonomisches „Kapital“ ist auf dieser Grundlage nichts anderes als
akkumulierte Arbeit, und jeder Akteur versucht, hiervon so viel wie möglich
anzusammeln. Und dies gilt bei Bourdieu nicht nur für ökonomisches Kapital,
sondern es gilt auch für kulturelles und soziales Kapital, die sich daher analog
zum Studium des ökonomischen Kapitals untersuchen lassen. Das „kulturelle
Kapital“ existiert dabei in folgenden Formen:
 inkorporiert: als zeitraubende Aneignung von Dispositionen und Fertigkeiten,
 objektiviert: als Bilder, Bücher, Instrumente, Maschinen,
74
 institutionalisiert: etwa in Form von Bildungstiteln.
Daneben gibt es „soziales Kapital“ als Netzwerk von sozialen Beziehungen in
einer sozialen Gruppe, verbunden mit Prozessen der Anerkennung. Eine
schillernde Rolle spielt das „symbolische Kapital“, das quer zu den anderen drei
Kapitalformen liegt: als deren wahrgenommene und als legitim anerkannte
Form. Beispiele sind etwa „Ehre“ und „guter Ruf“, so wie Bourdieu sie in den
kabylischen Gesellschaften untersucht.
Spannend sind Umwandlungsformen: Wie kann etwa ökonomisches in
kulturelles Kapital (und umgekehrt) verwandelt werden? Bourdieu scheut sich
nicht, auch diese Fluktuationen in Kategorien des Gewinns und Verlustes zu
beschreiben. Er tut dies etwa am Beispiel der symbolisch-kulturellen Form
„Sprache“ (Bourdieu 1990):
„Als Kommunikationsbeziehung zwischen einem Sender und einem Empfänger,
basierend auf Chiffrierung und Dechiffrierung, also auf der Verwendung eines
Codes oder auf schöpferischer Sprachkompetenz, ist der sprachliche Tausch
auch ein ökonomischer Tausch, der in einem bestimmten symbolischen
Kräfteverhältnis zwischen einem Produzenten mit einem bestimmten SprachKapital und einem Konsumenten (oder einem Markt) stattfindet und geeignet ist,
einen bestimmten materiellen oder symbolischen Profit zu erbringen. Mit
anderen Worten, die Diskurse sind nicht nur ... Zeichen, die dechiffriert und
verstanden werden sollen; sie sind auch Zeichen des Reichtums, zu taxieren und
bewerten, und Zeichen der Autorität, denen geglaubt und gehorcht werden soll“
(ebd., S. 45).
Die politische Brisanz dieses Absatzes findet ihren Höhepunkt in der
Beschreibung der politischen Nutzung symbolischer Formen, bei der
Anwendung „symbolischer Gewalt“: Hierbei geht es um eine äußerst sanfte
Form der Durchsetzung des eigenen Willens. Denn diejenigen, die gehorchen
sollen, tun dies scheinbar aus freien Stücken. Dies gelingt dadurch, daß
bestimmte Deutungsmuster und Bewertungskategorien, die eben alles andere als
gesellschaftlich neutral sind, die vielmehr eindeutig Partei zugunsten und
zulasten bestimmter gesellschaftlicher Gruppen ergreifen, gerade von den
gesellschaftlichen Gruppen und Personen übernommen werden, die von deren
Anwendung Schaden nehmen. Bourdieu hat diesen Mechanismus in letzter Zeit
vor allem an der Ideologie des Neoliberalismus aufgegriffen, wobei es hier
gerade um die Akzeptanz und Übernahme der euphemistischen – aber als
rational-wertfrei daherkommenden – Grundbegriffe dieser Wirtschafts- und
Gesellschaftsideologie geht: „Flexibilisierung“, „Globalisierung“, „Freistellung“
– all dies sind Konzepte, die Entlassungen akzeptabel und notwendig erscheinen
lassen und die die Profitorientierung der dahinterstehenden Akteure verdecken
(vgl. Bourdieu 1998).
Menschen handeln also in Feldern, in Systemen von Verhältnissen.
Verhältnisse sind geronnene Verhaltensweisen, in denen sich Kooperations- und
75
Machtbeziehungen eine dauerhafte Form gegeben haben. Verhältnisse werden
wiederum lebendig durch Verhalten, und Verhalten innerhalb gegebener
Verhältnisse erzeugt innere Dispositionen im handelnden Individuum, bewirkt
die Verinnerlichung je spezifischer Handlungspräferenzen. Dies ist es, das
Bourdieu „Habitus“ nennt, und zurecht nennt Liebau (1987, S. 79 ff.) das
Habituskonzept eine implizite Sozialisationstheorie. Familie und Schule sind
diejenigen Instanzen, die zentrale Bedeutung bei der Vermittlung des Habitus
haben.
Allerdings bleibt Bourdieu Soziologe. Es wird ihm zudem Objektivismus und
die Vernachlässigung der individuellen Prozesse vorgeworfen. Insbesondere
entsteht immer wieder der Verdacht, daß das Subjekt aus dem Prokrustesbett
seines Milieus, seines anerzogenen Habitus nicht herauskommen kann (ebd., S.
144 ff.). Es wird also darauf ankommen, die objektive, gesellschaftliche – und
sich zunehmend ausdifferenzierende – Anforderungsstruktur an den Einzelnen
in seinem jeweiligen Kontext zu kontrastieren mit seiner phsychischen
Entwicklungsdynamik. Kurz: Soziologie muß durch Psychologie ergänzt
werden. Darauf werde ich im nächsten Kapitel eingehen. Doch lohnt es
vielleicht an dieser Stelle, erneut auf reale Rahmenbedingungen einzugehen, die
die Rede vom „Ende des Subjekts“ – dieses Mal in soziologischer Hinsicht –
zumindest plausibel machen. Denn möglicherweise ist der Überhang des
Objektiven, der Bourdieu (gegen dessen Protest) immer wieder vorgeworfen
wird, ein theoretischer Reflex auf eine vorfindliche Empirie.
Es lohnt auch hierbei wieder, den Blick auf das Ende des 19. Jahrhunderts zu
werfen. In philosophischer Hinsicht ist im letzten Abschnitt auf eine verbreitete
Kritik am Aufklärungsdenken und die in der Folge entwickelte
Lebensphilosophie (W. Dilthey) hingewiesen worden. Die Abkehr vom
Aufklärungsdenken läßt sich natürlich philosophie-immanent etwa mit den
Namen Schopenhauer, Kierkegaard oder Nietzsche markieren. Es geschieht
jedoch in dieser Zeit offenbar auch etwas in der Gesellschaft, was etwa
Durkheim bei seinen Untersuchungen zum Selbstmord dazu veranlaßt, das
Konzept der „Anomie“ einzuführen:
„In zunehmendem Maße erfahren die Menschen im 19. Jahrhundert, daß die von
ihnen selbstgeschaffene Gesellschaft eine ökonomisch-technische und eine
politisch-soziale Eigendynamik entfaltet, in die sie sich zunehmend nurmehr als
Fremdbestimmte und Abhängige einordnen können“. (Geulen in
Leu/Krappmann 1999, S. 29).
Gleichzeitig, so Durkheim (ebd.), hat das bürgerliche Subjekt seine von ihm
selbst geschaffene Gesellschaft verinnerlicht, so daß das „Objektive“ inzwischen
Teil von ihm selbst, zugleich jedoch auch ihm fremd ist. Ein inneres Fremdes
und zugleich ein starker Kult des Ich in Philosophie und Künsten innerhalb
desselben Individuums: Dies erklärt möglicherweise das Gefühl der
76
Zerrissenheit, das den bürgerlichen Menschen begleitet, seit die bürgerliche
Gesellschaft einen bestimmten Entwicklungsgrad erreicht hat. Es liegt auf der
Hand, daß, sollte diese Deutung zutreffen, der Schritt zu S. Freud, der ja gerade
zu dieser Zeit seine Konzeption entwickelt, klein ist. Denn seine Individuen sind
genau durch diesen Widerstreit zwischen Ich, Es und Über-Ich, zwischen dem
Spontanen und Natürlich-Triebhaften und dem gesellschaftlich-fremden
Anforderungskatalog als verinnerlichtem Anderen getrieben. Eine Lösung dieses
Problems ist dann auch plausibel: Der Ausstieg aus der Verantwortung, sich
selbst, die Gesellschaft und vielleicht sogar noch die Natur bewußt kontrollieren
und auch steuern zu müssen. Die lustvolle Postmoderne – es gibt auch eine
deprimierte – kann daher den Abschied des mit all zu viel
Gestaltungsverantwortung überhäuften Subjekts als Akt der Befreiung feiern
(vgl. Bruder in Leu/Krappmann 1999). Und es ist zugleich ein Akt der
Befreiung von einer Geschichte der Disziplinierung des Ich, des Überwachens
und Strafens, des Zurechtbiegens des Einzelnen, bis er bereit ist, als
(scheinbarer) Machthaber des Ganzen zu fungieren (so wie Foucault dies
quälend eindringlich geschildert hat).
Nun sendet „die Gesellschaft“ sehr viele Signale, hat sehr viele, durchaus
verschiedene Anforderungen. Eine klassische Doppelbotschaft hat Heydorn
seinen Studien zugrundegelegt: den Widerspruch zwischen Bildung und
Herrschaft. Damit ist etwa die widersprüchliche Anforderung an das
Bildungssystem gemeint, gleichzeitig brave Untertanen und hochqualifizierte
Leistungsträger zu produzieren. Heinrich Mann hat im „Untertan“ einen solchen
dargestellt. Derartige Widersprüche gibt es mehr: so gibt es etwa die Marxsche
These, daß die Entwicklung der Produktivkräfte zur Höherqualifizierung der
Arbeiter führt, die (kapitalistischen) Produktionsverhältnisse hier jedoch enge
Grenzen setzen.
Es gibt die These, daß die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche der
Lohnarbeit und des Konsums sehr unterschiedliche Dispositionen beim
Einzelnen fordern: Hier die Unterordnung unter eine strenge
Produktionsdisziplin, dort die Vielzahl freier Wahlentscheidungen. Es gibt die
These, daß der Mensch ständig umschalten muß: Vom liebevollen
Familienmensch zu Hause zum eiskalten Buchhalter und Kalkulator seiner
Interessen außerhalb seines Heimes. Die Rollentheorie schien daher ein sehr
flexibles Instrument zu sein, das diese Flexibilität, die Frustrationstoleranz beim
oft notwendigen Aufschub von Bedürfnissen, gleichzeitig die Kompetenz zur
Introspektion und Einfühlen in den Anderen, auf den Begriff brachte und sogar
lehrbar machte (vgl. Haug 1972 und 1982). Wissenschaftsmethodisch hat bereits
Marx gezeigt, daß die Zirkulation einer anderen („gerechten“) Logik gehorcht
als die Produktion, weswegen die Entstehung des gesellschaftlichen Mehrwerts
eben nicht dadurch erklärt werden kann, daß (auf der Ebene der Distribution)
erfolgreich geschachert wird.
77
An dieser Stelle kann ich an die oben eingeführten Begriffe der „Denkform“
und der „Individualitätsform“ erinnern, und ich will daher hier ein theoretisches
Konzept kurz vorstellen, mit dem versucht wird, die (je historisch konkrete)
individuelle Reproduktionsleistung im Kontext einer (je historisch konkreten)
gesellschaftlichen Reproduktion zu erklären. Dieses Konzept stammt aus einer
umfangreichen historisch-systematischen Studie (Kuckhermann/Wigger-Kösters
1985), in der – quasi als historische Sozialisationsforschung oder Anthropologie
– in einem Durchgang durch die Geschichte gezeigt wird, welche Formen
individueller Subjektivität möglich und nötig waren, damit sich die jeweilige
Gesellschaft reproduzieren konnte.
Die Autoren analysieren Vorgeschichte, frühe Hochkulturen (mit den
Individualitätsformen des Bauern, des Handwerkers, des Kopfarbeiters und des
Herrschers), den Feudalismus (u. a. mit der Form der „kleinen Hauswirtschaft“),
den Frühkapitalismus des beginnenden Warentauschs bis hin zur
gesellschaftlichen und individuellen Reproduktion im Spätkapitalismus.
In zwei Abbildungen (Abb. 6 und 7) visualisieren die Autoren ihre Methode
der Gegenüberstellung und Verzahnung von gesellschaftlicher und individueller
Entwicklung. Ich gebe diese Graphiken hier wieder, auch wenn sie ohne
ausführlichere Erläuterung in einzelnen Teilen nur schwer verstanden werden
können. Trotzdem wird der Grundgedanke des Ansatzes deutlich, empirisch
konkret aufzuzeichnen, wie die „Entwicklung der individuellen Subjektivität“
als Partizipation an der „Entwicklung der gesellschaftlichen Subjektivität“
erfolgt. Auf einzelne Aspekte – etwa die Persönlichkeitsentwicklung in der
Arbeitstätigkeit bzw. historische Individualitätsformen – komme ich später
zurück.
Im zweiten Teil dieses Kapitels will ich den Prozeß der sich entwickelnden
Beziehung zwischen Einzelnem und Gesellschaft aus der Sicht der Entwicklung
dieses Einzelnen, also in der Ontogenese, betrachten. Damit wird ein Stück weit
präzisiert, wie diese Entstehung gesellschaftlich notwendiger Dispositionen in
der individuellen Persönlichkeit funktioniert.
3.2 Der Verlauf der individuellen Entwicklung und die
Entwicklungsaufgaben
„Ontogenese“ ist der Prozeß der Entwicklung der Persönlichkeit. Die Tatsache,
daß der Mensch in seiner individuellen Entwicklung eine Zeit braucht, bevor er
– nach seiner ersten biologischen Geburt – in einer zweiten „soziokulturellen
Geburt“ über ein hinreichend breites Spektrum an Kompetenzen (Kognition,
Emotion, Verantwortlichkeit etc.) verfügt, das eine volle Teilhabe am
gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß erst ermöglicht, ist vergleichsweise neu.
78
Historische Kindheits- und Jugendforschung mußten erst feststellen, wie
mühsam sich eigenständige Phasen von Kindheit und Jugend historisch
entwickelt haben. Dabei sind die Deutungen dieser Entwicklung so
gegensätzlich, wie sie nur sein können: Ariès (1975) stellt diese Geschichte als
Geschichte der Domestizierung und Unterdrückung dar, während de Mausse
(1977) die wachsenden Freiheitsgrade hervorhebt.
79
Abb. 6: Geschichte der Tätigkeit 1
Quelle: Kuckhermann/Wigger-Kösters 1985
80
Abb. 7: Geschichte der Tätigkeit 2
Quelle: Kuckhermann/Wigger-Kösters 1985
81
Auch als man eine Entwicklungsphase „Jugend“ im Leben des Menschen
akzeptiert hatte – schon alleine deshalb, weil sich gesellschaftliche Instanzen
wie etwa die Schule entwickelt haben, die individuelle Entwicklungsprozesse
gezielt zu steuern versuchten –, hat man lange Zeit das „abstrakt-isolierte
Individuum“ mit bloß immanenten Entwicklungsgesetzen gesehen, die es nach
einer gewissen Zeit zu einer dann fertigen, aber auch statischen Persönlichkeit
formten. Emile Durkheim, der viele Jahre eine Professur für Pädagogik inne
hatte, hat als einer der ersten um die Jahrhundertwende den Zusammenhang
zwischen Individuum und Gesellschaft systematisch untersucht als Prozeß, in
dem der Einzelne – zur Aufrechterhaltung von Gesellschaft und ihrem
Zusammenhalt – soziale Normen und Werte verinnerlichen muß (Geulen in
Hurrelmann/Ulich 1995, S. 22ff.). Seit dieser Zeit ist die
Sozialisationsforschung in Bewegung, wobei sich einige Trends feststellen
lassen (die natürlich in einer Wechselbeziehung zu gesellschaftlichen
Entwicklungen stehen):
 weg von quasi automatisch ablaufenden Reifungsvorstellungen hin zu
wechselseitigen Prozessen, in denen der Einzelne im gegebenen
gesellschaftlichen Kontext seine eigene „Identität“ oder Persönlichkeit
entwickelt,
 weg von normierenden Vorstellungen eines einheitlichen Ablaufs hin zu
individualisierten Prozessen,
 weg von der Vorstellung, „Sozialisation“ als Prozeß wäre irgendwann einmal
abgeschlossen hin zu der Vorstellung lebenslanger Prozesse,
 weg von der Vorstellung eines einheitlichen Entwicklungszieles hin zu einer
Pluralität unterschiedlicher Entwicklungspfade.
Diese Öffnung von Sozialisationsmodellen korreliert mit der „Pluralisierung der
Jugend“ und der „Entstrukturalisierung der Jugendphase“: Damit ist gemeint,
daß gesellschaftliche Instanzen ihren normativen Druck auf die individuellen
Entwicklungswege verlieren und es daher eine Vielzahl von Möglichkeiten gibt,
wie Kinder und Jugendliche erwachsen werden können. Insbesondere eine
Jugendkulturforschung hat diese Pluralität erfaßt und entdeckt immer wieder
neue Jugendkulturen. Spätestens seit der Shell-Studie von 1982 ist
Jugendforschung als Jugendkulturforschung ein zentrales Paradigma. Dahinter
steckt z. T. die gesellschaftstheoretische Vermutung, daß sozialökonomische
Bestimmungsfaktoren an Relevanz – etwa bei der Sozialstrukturanalyse –
verlieren und ästhetische Komponenten an Bedeutung gewinnen („Lebensstile“).
Daß auch auf dieser Grundlage ein „emanzipatorischer“ Forschungsansatz
möglich ist, nämlich in der Nutzung des ästhetischen Materials der
Kulturindustrie Selbstbehauptung zu artikulieren, hat insbesondere das
82
Birmingham Centre for Contemporary Cultural Studies seit den sechziger Jahren
gezeigt (vgl. Clarke 1979). Damit ist ein weiterer Aspekt der letzten Jahrzehnte
genannt worden: Die (kommerziell geprägte) „Massenkultur“ als
Sozialisationsinstanz.
Kritisch bewerten etwa Rolff/Zimmermann diese Entwicklung. Sie sehen die
„Lebenswelt“ als zentralen Ort der Sozialisation und diese geprägt von
Massenkultur, die gerade nicht von der Lebenspraxis, sondern
„kulturindustriell erzeugt wird. Massenkultur wird für einen Markt produziert
und ist an den Verwertungschancen orientiert. Leitmotiv ist das Profitmotiv.
Massenkulturelle Bedeutungen entstehen nicht in der Praxis, sondern sind
vorgegeben....“ (Rolff/Zimmermann 1997, S. 146 ff.).
Dies gilt für nahezu alle Veränderungen des Aufwachsens: beim Spielzeug, bei
den Kindermedien (MC, CD, Comics, TV, etc.). Die Relevanz der Massenkultur
ist nicht zu überschätzen, da sie den – neben der materiellen Kultur – wichtigen
zweiten Teil der Kultur, nämlich die „symbolische Kultur“ fast vollständig zu
überformen droht.
Diese Interpretation ist somit Teil einer – oft polarisierenden –
Auseinandersetzung über die Sozialisationseinflüsse der Massenmedien, die sich
zwischen den Polen: Gefahr der Enteignung und Unterordnung auf der einen
Seite und Ermöglichung neuer Formen von Souveränität und
Identitätsentwicklung auf der anderen Seite, bewegen (vgl. Abels 1993).
Ein
weiteres
Forschungsergebnis
ist
die
Entdeckung
von
„Generationsgestalten“ von Jugendlichen – andere sprechen im Anschluß an
Fromm von „Sozialcharakteren“ oder von Persönlichkeitstypen. Damit sind
unterscheidbare (idealtypische) Lebens-Modelle gemeint, die sich im
historischen Wandel zwar verändern, für eine bestimmte Zeit jedoch das
Gesamtbild der jeweiligen Jugend prägen.
Persönlichkeitsideale sind nicht neu, seit die Renaissance das Individuum
entdeckt hat. Berühmt geworden ist die Darstellung des Mathematikers, Malers
und Ökonomen Leon Battista Alberti von Burckhardt, der in seiner berühmten
Schrift die Leistung der Renaissance geradezu feiert, das Individuum entdeckt
zu haben. Er schildert Alberti als hervorragenden Turner und Akrobaten, als
Musiker, Mathematiker und Sprachbegabten, als studierten Juristen und
Handwerker, als Architekten und Dichter, kurz als Beispiel für den uomo
universale der Renaissance (Burkhardt 1958, S. 130 ff.).
Dieses Ideal ist geblieben, auch wenn die Jugendforschung des 20.
Jahrhunderts zu weniger heroischen Typen kommt. Abb. 8 faßt diejenigen
Typen („Generationsgestalten“) zusammen, die bis Mitte der achtziger Jahre
relevant waren.
83
Werfen wir abschließend einen Blick darauf, was Trendforscher aktuell an
neuen Jugendgestalten gefunden haben. Der neueste Trend ist – nach der
EntdekAbb. 8: Generationsgestalten
Persönliche
Lebensplanung
„Das gute persönliche
Leben“
Jugendbewegung
Hitler-Jugend
Skeptische Generation
und unbefangene
Generation
Politische Generation
Lebenswelt-Generation
84
Gesellschaftliche
Gestaltung
„Das gute
gemeinschaftliche
Leben“
Lebensreformerisch, auf Romantisch-völkisch
autonome
überhöhte
Jugendgemeinschaften
Einsatzbereitschaft
bezogen
heroische Geste des
Einsatzes für das
Vaterland
+–
Auf die Stellung
Kollektive Identifikation
im Mittelpunkt: Stärkung
ausgerichtet
der Nation, heroischer
... die eigene Person ist
Einsatz
unwichtig, Aufgaben im
Dienste am Volksganzen
–+
Konzentration auf Beruf Distanz und problemlose
und Gestaltung des
Akzeptanz von Politik
Privaten
und Wirtschaft
Phantasien des „schönen
Lebens“
+–
Anspruch auf Änderung Ethisch-normativ und
des eigenen Lebens im
theoretisch begründeter
Sinne der Befreiung von Änderungsanspruch als
gesellschaftlicher
Identifikationskern
Repression
–+
Priorität der autonomen Bewußte Abgrenzung
Gestaltung der eigenen
zum gesellschaftlichen
Lebenswelt
Normalentwurf
Lebenswertes Leben in Distanz und punktuelle
Gemeinschaften
Konfrontation
+–
+
–
: Identifikationsschwerpunkt
: Randzonen: instrumentell für den Identifikationsschwerpunkt
Quelle: Fend 1988, S. 204
kung der „Generation X“ (Coupland) – nunmehr die Generation @. Diese neue
Generation erfaßt diejenigen jungen Menschen, die mit aller
Selbstverständlichkeit in einer durchorganisierten Medienwelt aufwachsen – mit
erheblichen Folgen für Sozialverhalten und psychische Innenstruktur. Ich gebe
einige Charakterisierungen wieder (nach Opaschowski 1999a und b):
 sie ist diejenige Generation, die den Übergang von der Industrie- zur
Informationsgesellschaft aktiv lebt,
 sie lebt souverän in den virtuellen und Kommunikationswelten des
Computers und des Internets,
 ihre neue Lebenskultur wird geprägt durch Unabhängigkeit, Offenheit,
Toleranz, Meinungsfreiheit, Unmittelbarkeit,
 sie will alles und auf nichts verzichten: Familie ist (bestenfalls) ein
„Boxenstop“,
 sie genießt aktiv und passiv das Medienangebot, will die Zukunft
angenehmer, bequemer und abwechslungsreicher, aber die Welt nicht
notwendig besser machen.
Auch Opaschowski (ebd.), der mit unverhohlener Sympathie diese neue
Generation beschreibt, sieht einige Probleme: das Beziehungsnetz etwa, das
zwar immer vielfältiger, aber auch oberflächlicher wird. Er fragt nach einer
möglichen Übersättigung, so daß vielleicht sogar als Gegenbewegung der Wert
von Familie, Kindern und Ehe wieder kehrt.
Soweit eine Zukunftsvision, bei der die einen sich darüber freuen, daß sie
bereits im Ansatz erkennbar ist, während sie für andere eine Horrorvision
darstellt, die mehr dem Wunsch von Marketingabteilungen und Trendforschern
entspringt.
Ich komme zurück zu Vorstellungen darüber, wie der ontogenetische
Entwicklungsprozeß gedacht werden kann. Dabei wird von der Vorstellung
ausgegangen, daß es eine Abfolge von unterscheidbaren Stufen gibt, die jedoch
zum einen tätig von dem Einzelnen im sozialen Kontext erarbeitet werden
müssen und bei der es zum anderen keine „verbindliche“ Normierung in bezug
auf das Lebensalter gibt.
85
Individuelle Entwicklung hat die Realisierung verallgemeinerter
Handlungsfähigkeit zum Ziel. Diese läßt sich – wie erläutert – ihrem Wesen
nach als Fähigkeit und Bereitschaft zur sowie als Realisierung der Einflußnahme
auf die Rahmenbedingungen des (individuellen und gemeinschaftlichen)
Handelns bestimmen.
Die Charakterisierungen „verallgemeinert“ beziehungsweise „restringiert“
lassen sich an den einzelnen Funktionsdimensionen von Handlungsfähigkeit als
Alternative beschreiben zwischen Deuten vs. Begreifen im Bereich der
Kognition,
 restringierte vs. verallgemeinbare Emotion/Motivation,
 innerer Zwang vs. motivierte Handlung,
 Instrumentalvs.
Sozialkooperativen.
Interpersonal-Beziehungen
im
Bereich
des
Im Zusammenhang mit der oben vorgestellten jugendbezogenen Fragestellung
ist nun jedoch zu berücksichtigen, daß sich (die spezifische Form von)
Handlungsfähigkeit in der Ontogenese erst entwickelt. Es ist in diesem
Abschnitt daher ein Konzept der Ontogenese vorzustellen, in dem „Jugend“ als
Lebensphase einen Platz findet. Im Rahmen des dieser Arbeit
zugrundeliegenden anthropologischen Verständnisses ist zu fragen, wie sich die
menschliche Natur – als gesellschaftliche Natur des Menschen – im Zuge seiner
(individuellen) Entwicklung realisiert. Ontogenese ist daher wesentlich der
Prozeß der individuellen Vergesellschaftung. Im Zuge dieses Prozesses müssen
sich die psychischen Grundlagen des Individuums für die Bewältigung seiner
gesellschaftlichen Existenz entwickeln:
„Individuelle Vergesellschaftung“ bedeutet daher immer „Herausbildung von
Handlungsfähigkeit.“
Handlungsfähigkeit entwickelt sich im Spannungsverhältnis von individueller
Befindlichkeit und gegebenen Handlungsaufforderungen und -möglichkeiten.
Die zur Verfügung stehenden Handlungsmöglichkeiten übersteigen nun bei
weitem die individuell realisierbaren und schließlich auch realisierten
Handlungsmöglichkeiten. Die vorhandenen Handlungsmöglichkleiten stellen ein
Angebot dar für das Individuum, aus denen es – natürlich nicht unbeeinflußt
durch äußere Umstände – eine Auswahl trifft. Die Beziehung des Individuums
zu
den
Handlungsmöglichkeiten
ist
daher
wesentlich
eine
Möglichkeitsbeziehung, die in jedem Fall eine Entscheidung erzwingt (da man
sich nicht nicht verhalten kann). Handlungsmöglichkeiten werden wie erwähnt
bereitgestellt. Sie liegen vor, sind gesellschaftlich produziert, haben also im
Lebensbewältigungsprozeß anderer eine Rolle gespielt – kurz: es handelt sich
86
um gesellschaftlich entstandene „Bedeutungen“: Ontogenese ist daher
Aneignung von Bedeutungen. Sie ist ein Entwicklungsprozeß von
Handlungsfähigkeit, der geprägt ist durch eine ständige Auswahl unter
(alternativen) Handlungsmöglichkeiten.
Die Untersuchung der Ontogenese ist daher
 Entwicklungsanalyse, und – da Entwicklung provoziert wird durch
Entwicklungswidersprüche – zugleich
 Widerspruchsanalyse.
87
Da Entwicklung von Handlungsfähigkeit sich realisiert als Auswahl unter
Handlungsmöglichkeiten,
die
wiederum zustande
kommen
durch
gesellschaftliche Produziertheit von Bedeutungen, ist die Untersuchung der
Ontogenese wesentlich
 Bedeutungsanalyse.
Aneignung von Handlungsfähigkeit geschieht nun nicht passiv oder
kontemplativ, sondern ist nur realisierbar über aktives Eingreifen, über
kooperativ-gegenständliche Tätigkeit. Die Untersuchung der Ontogenese ist
daher wesentlich
 Tätigkeitsanalyse.
Damit sind einige zentrale Bestimmungen der Ontogenese gewonnen, die im
folgenden ausführlicher dargestellt werden sollen. Bevor in diesem Kontext der
Ansatz von Holzkamp dargestellt wird, sei anhand einer Graphik (Abb. 9) an
den vermutlich bekanntesten Vorschlag von Erikson (1973) erinnert.
Holzkamp (1983) gibt die folgenden Entwicklungszüge in der Ontogenese an:
 nach einem ontogenetischen Vorlauf
 folgt der Entwicklungszug der Bedeutungsverallgemeinerung.
 Daran schließt sich der Zug der Unmittelbarkeitsüberschreitung an,
 mit deren Erreichen die individuelle Realisierung von Handlungsfähigkeit
erfolgen kann.
Ich will die beiden mittleren Entwicklungszüge kurz charakterisieren. Dabei
kann hier nicht im einzelnen gezeigt werden, wie diese Entwicklung
vorangetrieben wird durch die schrittweise Hineinverlagerung „äußerer“
Entwicklungsaufgaben
in
das
Individuum,
wodurch
„innere“
Entwicklungswidersprüche entstehen, die auf dem nächst höheren Niveau der
Handlungsfähigkeit aufgehoben werden.
In einer ausführlichen Analyse der Entwicklung ist dabei zu zeigen, wie auf
einem bestimmten Niveau der Handlungsfähigkeit zunächst untergeordnete
Funktionsmomente bestimmend werden und einen „Dominanzumschlag“, das
heißt einen qualitativen Sprung im Entwicklungsprozeß bewirken, so daß sich
auf nun höherer Entwicklungsstufe der beschriebene Vorgang wiederholen
kann.
88
Abb. 9: Identitätsentwicklung nach Erikson
A
B
Psychosozial Umkreis der
e Krisen
Beziehungspe
rson
I Vertrauen
gg.
Mißtrauen
Mutter
II Autonomie Eltern
gg.
Scham,
Zweifel
III Initiative gg. Familienzelle
Schuldgefüh
l
IV Werksinn
Wohngegend
gg.
Schule
Minderwerti
gkeitsgefühl
„eigene“
Gruppen
„die Anderen“
FührerVorbilder
Freunde,
sexuelle
Partner,
Rivalen,
Mitarbeiter
VII Generativität Gemeinsame
gg.
Arbeit,
Selbstabsorp Zusammenleb
tion
en in der Ehe
V Identität und
Ablehnung
gg.
Identitätsdiffusion
VI Intimität und
Solidarität
gg.
Isolierung
VIII Integrität gg. „Die
Verzweiflun Menschheit“
g
„Menschen
meiner Art“
C
Elemente
der
Sozialordnu
ng
Kosmische
Ordnung
D
Psychosoziale
Modalitäten
Gegeben
bekommen
Geben
E
Psychosexuelle
Phasen
Oralrespiratorisch,
sensorisch
kinästhetisch
(Einverleibungsm
odi)
„Gesetz und Halten
Anal-urethral
Ordnung“ (Festhalten)
Muskulär
Lassen
(Retentiv(Loslassen)
eliminierend)
Ideale
Tun
Infantil-genital
Leitbilder (Drauflosgehen) Lokomotorisch
„Tun als ob“
(Eindringend,
(=Spielen)
einschließend)
Technologis Etwas
Latenzzeit
che
„Richtiges“
Elemente
machen, etwas
mit anderen
zusammen
machen
Ideologisch Wer bin ich
Pubertät
e
(Wer bin ich
Perspektive nicht)
n
Das Ich in der
Gemeinschaft
ArbeitsSich im anderen Genitalität
und
verlieren und
Rivalitätsor finden
dnungen
Zeitströmun Schaffen
gen in
Versorgen
Erziehung
und
Tradition
Weisheit
Sein, was man
geworden ist;
wissen, daß
man einmal
nicht mehr sein
wird.
Säuglin
g
Kleinkin
d
Spielalte
r
Schulalter
Adolesz
ens
Frühes
Erwachsenenalt
er
Erwachsenenalt
er
Reifes
Erwachsenenalt
er
Quelle: Oerter/Montada 1995, S. 323
89
„Entwicklung“ meint hier auch nicht die Entwicklung eines einzelnen privaten
Individuums, sondern die Entwicklung des Einzelnen in seinem sozialen Umfeld,
konkret: Entwicklung der Koordination zwischen Kind/Jugendlichem einmal zu
Erwachsenen beziehungsweise zwischen Kindern, Jugendlichen untereinander.
Dies wird zwar im folgenden stets mitgedacht: Der Hauptakzent der
Ausführungen liegt jedoch in der Beschreibung der Entwicklung der
individuellen psychischen Regulationsformen.
Der Entwicklungszug der Bedeutungsverallgemeinerung führt zur Erkenntnis
des „verallgemeinerten Gemachtseins-zu“. Beim Eingang in diese Etappe
werden Gegenstände zwar vielseitig verwendet und diese Verwendungsweisen
explorativ erkundet: die in den Gegenständen (durch andere Produzenten)
vergegenständlichten Zwecke ihrer Existenz werden jedoch nicht – oder nur als
gleichberechtigte Zwecke unter anderen – gesehen. In diesem Entwicklungszug
eignet sich das Kind also nicht mehr nur Bedeutungen an oder macht durch sein
Hantieren mit Dingen vielseitige Erfahrungen über die Welt und seine
Befindlichkeit darin: Es lernt darüber hinaus, Absichten anderer Menschen zu
erkennen und ihre Beziehung zu eigenen Absichten zu bestimmen (dies nennt
man „Sozialintentionalität“). Die über die verwendeten Mittel hergestellte
Sozialbeziehung ist nun nicht mehr unmittelbar an die agierenden Personen
gebunden. Das gegenständliche Resultat der kooperativen Tätigkeit wird
bestimmend. K. Holzkamp charakterisiert den Verlauf der individuellen
Bedeutungsverallgemeinerung im Zuge der individuellen Entwicklung dadurch,
„ ... daß hier die in den objektiven Bedeutungen liegenden vergegenständlichten
allgemeinen Bestimmungen gesellschaftlich-individueller Existenzerhaltung (in
ihren ausgewiesenen sachlichen und sozialen Momenten) vom Subjekt in einem
ontogenetischen
Verallgemeinerungsprozeß
der
Weltund
Selbstsicht/Lebenspraxis allererst angeeignet werden. Das Resultat dieses
Entwicklungszuges
ist
die
kooperativ-gesellschaftlich
bestimmte
Handlungsfähigkeit, die wiederum Voraussetzung für den entwicklungs-logisch
nachgeordneten Zug der Unmittelbarkeitsüberschreitung mit dem Resultat des
Prozeßtyps der Reproduktion (voll entfalteter) Handlungsfähigkeit in der
Individualgeschichte ist. Den entwicklungslogischen „Ausgangspunkt“ der
ontogenetischen Bedeutungsverallgemeinerung gewinnt nach der Absehung
vom verallgemeinert-gesellschaftlichen Charakter der Bedeutungen, womit eine
ontogenetische Verfassung der Individuen angenommen ist, in welcher sie die
objektiv-verallgemeinerten Bedeutungen so erfahren, als ob sie lediglich
Handlungsdeterminanten in einer bloß naturhaft-individuellen „Umwelt“ wären,
beziehungsweise
präziser,
solche
unspezifischen
Momente
der
gesellschaftlichen Bedeutungskonstellationen, die diese mit naturhaftindividuellen „Umwelt“-Bedeutungen gemeinsam haben.“ (Holzkamp 1983, S.
423).
90
Das Individuum erkennt sich also als Fall des „verallgemeinerten Nutzers“ und
„verallgemeinerten Produzenten“. Allerdings wird auf dieser Stufe erst eine bloß
kooperativ-gesellschaftliche Handlungsfähigkeit und damit eine lediglich
kooperativ-gesellschaftliche Bedingungsverfügung erreicht. Dies drückt sich
insbesondere in dem Wesenszug der Unmittelbarkeit aus, der für die Art der
sozialen Organisation der gegenständlichen Tätigkeit hier noch charakteristisch
ist. Die Stufe der Bedeutungsverallgemeinerung löst also die unmittelbar
personenorientierte Beziehung des vorhergehenden Entwicklungszuges
zugunsten einer neuen Stufe der Kind-Erwachsenen-Koordination ab. Die in der
letzten Stufe angeeignete Fähigkeit des sachgemäßen Handelns wird erweitert
zu der Fähigkeit zu sachintentionalem Machen. Der junge Mensch erkennt nun
den Zusammenhang „zwischen der intendierten/realisierten Brauchbarkeit des
gegenständlichen Resultats und der damit erreichbaren Beeinflussung der
Intentionalität der anderen im Interesse der eigenen Verfügungserweiterung.“
(Wetzel 1983). Das Kind sieht ein, warum Erwachsene bestimmte
Mittelverwendungen favorisieren – und entwickelt damit zugleich Kriterien zur
Beurteilung des Erwachsenenhandelns. Es kann nun die Intentionen
Erwachsener nicht nur (wie im Rahmen der Sozialintentionalität) bloß
verstehen, sondern es kann sie in ihrer Nützlichkeit auch beurteilen.
Mit der neuen Stufe der Handlungsfähigkeit entsteht zugleich eine neue
Qualität der Bedrohungsüberwindung; es entstehen allerdings auch neue Quellen
von Angst und eine neue Qualität des Lebens: Während diese auf der früheren
Stufe ihre Ursache im Verlust von Zuwendung hatten, entstehen sie nun bereits
aus der „Befindlichkeit bedrohter Handlungsfähigkeit durch erfahrene Isolation
von der kooperativen Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen“
(Holzkamp 1983, S. 467). Das Kind gewinnt in dieser Etappe an kooperativem
Einfluß innerhalb der Häuslichkeit, erfährt sich jedoch zugleich zunehmend als
ausgeschlossen
von
der
Teilhabe
an
gesellschaftlichen
Verfügungsmöglichkeiten. Der Bedarf an einer solchen Teilhabe wird
„entwicklungsnotwendig“, da in der zu beschreibenden Etappe der
Unmittelbarkeitsüberschreitung
gerade
außerhäusliche
Faktoren
entwicklungsbestimmend werden: Die Erfahrung der Aushäusigkeit wird als
umfassende, jedoch zunächst noch unfaßbare Rahmenbedingung des häuslichen
Handelns erfahren (ebd. S. 478).
Realisierte sich in früheren Entwicklungszügen die gesamtgesellschaftliche
Vermittlung individueller Existenz noch ausschließlich kooperativ (nämlich im
wesentlichen im unmittelbaren Umgang mit den Eltern), so bringt das nun
stattfindende Aufbrechen des häuslichen Rahmens, seine Überschreitung in
verschiedene außerhäusliche Lebenszentren (Straße, Kindergarten, Schule etc.)
eine neue Form der gesamtgesellschaftlichen Vermittlung und damit neue
Anforderungen an die psychische Regulation der individuellen Existenz.
91
Holzkamp (1983, S. 483 ff.) gibt die folgenden fünf Schritte dieser
Unmittelbarkeitsüberschreitung an:
1. Universalität des häuslichen Verfügungsrahmens als kindliches LebensZentrum (als Ausgangspunkt),
2. praktische Erfahrung der Vielfalt häuslicher Zentren,
3. praktische Erfahrung anderer Lebens-Zentren als der von „Häuslichkeiten“,
4. praktische Überschreitung des häuslichen Zentrums in gesellschaftlichinstitutionelle Lebens-Zentren der Pflege/Erziehung hinein,
5. praktische Überschreitung des häuslichen Zentrums in außerhalb des
Reproduktionsbereichs liegende Zentren der Vorbereitung auf
Positionsrealisierung.
Für die später noch thematisierte Frage der (zunächst einmal so bezeichneten)
„Identitätsbildung“ ist nun folgende Überlegung wichtig: Die Überschreitung
der häuslichen Unmittelbarkeit ermöglicht die Erkenntnis, daß individuelle
Reproduktion, daß individuelle Existenzsicherung auch ohne eigene kooperative
Beiträge zur gesellschaftlichen (Re-)Produktion geschieht. Mit dieser Erkenntnis
ergibt sich für das Individuum eine „materielle Entlastung“ als Grundlage der
Möglichkeit zur Entwicklung von Erkenntnisdistanz des menschlichen
Bewußtseins (ebd. S. 482; s. u.). Der Gedanke der Distanz, die eine Grundlage
für die Möglichkeit einer bewußten (reflexiven) Beziehung zu sich darstellt, ist –
wie gesehen – ein Grundgedanke der hier unterstellten Anthropologie und wird
später wieder aufgenommen. Diese Dialektik zwischen Distanz und Nähe,
zwischen Unmittelbarkeit und Vermitteltheit ist ein zentrales Problem gerade für
die kulturell-ästhetische Sozialisation und damit für die kulturpädagogische
Praxis, da diese häufig mit „Konkretheit“ und Unmittelbarkeit als Vorzüge
dieser Praxisform argumentiert.
Hingewiesen sei an dieser Stelle außerdem auf den Zusammenhang zwischen
materieller Existenz und psychischer Regulation. War auf der früheren
Entwicklungsstufe das stofflich-sinnliche Machen wesentliches Vehikel bei der
Realisierung des „verallgemeinerten Gemachtseins-zu“ der gesellschaftlichen
Bedeutungen, so verläuft dieser Prozeß nun abstrakter. Eine zentrale Rolle spielt
dabei die Sprache, die nun in vollem Umfang ihre Funktion als
„gegenständliches“ Medium kumulierter, verdichteter, formalisierter
gesellschaftlicher Erfahrung erfüllt. Sie verliert insbesondere ihren
unmittelbaren Gegenstandsbezug, wird operativ nutzbar durch Aufbrechen der
Ein-Eindeutigkeit Zeichen – Begriff. Damit vollzieht der Einzelne einen
Wechsel in der Sprachauffassung, wie er sich geschichtlich seit der Renaissance
(vgl. Fuchs 1998, Kap. 6) zeigt und wie er in der Cassirerschen Symboltheorie
ebenfalls als notwendig herausgestellt wird (Cassirer 1990).
92
Mit dem Vollzug der hier skizzierten Unmittelbarkeitsüberschreitung sind (im
materiellen Leben und im Hinblick auf die psychischen Regulationsformen) alle
Voraussetzungen geschaffen, die je individuelle Form von Handlungsfähigkeit
zu entwickeln. Nach Abschluß dieses Entwicklungszuges gilt zur Erfassung des
Handelns die Beschreibung voll entwickelter Handlungsfähigkeit.
Es kann heute kaum über die Entwicklung von Individuen nachgedacht werden,
ohne sich mit dem Begriff der „Identität“ und ihrer Entwicklung
auseinanderzusetzen. Freilich ergibt sich durch diese Selbstverpflichtung das
Problem, eine Vielzahl von Autoren und Ansätzen zur Kenntnis zu nehmen und
verarbeiten zu müssen. Dies kann jedoch hier nur äußerst global geschehen, da
eine ausführlichere Beschäftigung mit der Literatur zum Identitätsproblem mit
dem anvisierten Umfang dieser Arbeit nicht verträglich wäre.
Es sind heute im wesentlichen zwei unterscheidbare Zusammenhänge, in denen
sich ein Identitätsbegriff findet:
 In psychoanalytischer Tradition hat vor allem Erikson ein Identitätskonzept
als psychisches Organisationsprinzip entwickelt.
 Daneben gibt es ein Identitätskonzept, das wesentlich von der symbolisch –
interaktionistischen Sozialpsychologie (dieses geht auf Mead zurück; mit
dem Identitätsproblem hat sich unter anderen Goffmann befaßt) vertreten
wird und das hier vor allem ein soziales Organisationsprinzip ist. (Vgl. Joas
und Ottomeyer in Hurrelmann/Ulich 1984).
Beide Ansätze haben wesentliche Einsichten über das anstehende Problem
gebracht, die in der kritisch-psychologischen Konzeption (re-interpretiert)
aufgenommen worden sind. Ich werde daher im folgenden von „Identität“
sprechen, wobei die Verwendung von Anführungszeichen auf die
Notwendigkeit einer inhaltlichen Bestimmung dieser Worthülse verweisen soll.
Unter „Identität“ versteht man eine bestimmte, relativ stabile Form des
Selbstbewußtseins und des Selbstgefühls. „Selbstbewußtsein“ als (reflexives)
Bewußtsein seiner selbst als von anderen abgrenzbarer Person mit ihrer
Geschichte, ihren Wünschen und ihrer Weitsicht, ist nur dem Menschen eigen.
Der Gedanke, daß eine so verstandene „Identität“ als reflexiver Selbstbezug des
Menschen nicht unmittelbar entsteht, sondern daß ihre Entwicklung notwendig
sowohl andere Menschen als auch „Gegenstände“ erforderlich macht, findet sich
schon bei Marx: „Das Tier ist unmittelbar eins mit seiner Lebenstätigkeit. Es
unterscheidet sich nicht von ihr. Der Mensch macht seine Lebenstätigkeit selbst
zum Gegenstand seines Wollens und seines Bewußtseins. Er hat bewußte
Lebenstätigkeit.“ (MEW 3). Sich selbst zum Gegenstand machen zu können,
setzt – wie oben am Beispiel von Plessner dargestellt – die Fähigkeit zur Distanz
93
voraus. Im vorangegangenen Abschnitt wurde gezeigt, welche zentrale Rolle
diese Entstehung von Distanz als Aufbrechen von der Unmittelbarkeit im
Lebensvollzug auch in der Ontogenese spielt.
94
Zum Betrachten seiner selbst hat der Mensch zwei Möglichkeiten:
 er sieht sich und seine Wesenskräfte vergegenständlicht in den Resultaten
seiner produktiven Tätigkeit und
 er sieht sich im anderen, eben im Vollzug der kooperativen gegenständlichen
Tätigkeit, die durch den Gegenstand als gemeinsamer „dritter Sache“
koordiniert und organisiert wird.
Mit dieser Überlegung ist übrigens ein wichtiger Unterschied zu
interaktionistischen Identitätstheorien angeführt: die Berücksichtigung bloßer
Interaktionsprozesse bei weitgehender Vernachlässigung des Gegenstandes von
Kommunikation, Interaktion und Handeln. Die Gegenständlichkeit von Handeln
ist zentral für einen weiteren Aspekt der „ldentitäts“-entwicklung: Die Folgen
seines beabsichtigten eingreifenden Handelns erleben zu können und somit die
Relevanz eigener Absichten zu erkennen. Dieser Gedanke, selber
Ausgangspunkt von Absichten – also „Intentionalitätszentrum“ – zu sein, ist
Grundgedanke des phänomenologischen Herangehens an das Identitätsproblem.
Hier wird gezeigt, daß sich Intersubjektivität gerade durch die reziproke Struktur
unserer Erfahrung konstituiert. Die intentionale Beziehung zur Realität wird
dabei als Möglichkeitsbeziehung erkannt, da die Realität das je Intendierbare
stets überschreitet (Holzkamp 1984, S. 5 ff.). Die Tatsache der
Möglichkeitsbeziehung
zu
den
gesellschaftlich
gegebenen
Handlungsmöglichkeiten ist in unserem ontogenetischen Konzept von zentraler
Wichtigkeit, weil erst dadurch das Verhältnis Individuum/Gesellschaft genau
gefaßt wird. Erst durch die Tatsache, daß das Spektrum möglicher Handlungen
den Bereich der tatsächlich realisierbaren Handlungen weit überschreitet, macht
die Auswahl, macht also ein bewußtes Verhalten-zu notwendig und damit
restringierte/verallgemeinerte Handlungsfähigkeit als Alternative real möglich.
Eine
Folge
dieser
Notwendigkeit
zur
Entscheidung
unter
Handlungsmöglichkeiten ist die bereits oben angesprochene „existentielle
Entlastung“ des Individuums: In bloß kooperativen Zusammenhängen hat jedes
Ereignis noch unmittelbar Bedeutung für die eigene Existenz. Jetzt jedoch „wird
jene „Erkenntnisdistanz“ möglich, in welcher Beziehungen von Ereignissen
untereinander als objektive Gesetzmäßigkeit faßbar werden.“ (Holzkamp 1983,
S. 236)
Mit dem Vorhandensein dieser Möglichkeitsbeziehung ist der andere nun
nicht mehr nur ein „soziales Werkzeug“ bei der gemeinsamen Erreichung von
Zielen, er ist auch nicht mehr nur „Kommunikationspartner“, mit dem ich in
wechselseitiger Steuerung die gemeinsame Schaffung verallgemeinerter
Lebensbedingungen plane. In der geschilderten „gnostischen Beziehung“ zur
Welt ist vielmehr notwendig die Unterscheidung zwischen dem
Erkenntnisgegenstand und „jeweils mir“ als dem Erkennenden beschlossen, und
95
ich erfasse damit die „anderen Menschen“ generell als Ursprung des Erkennens,
des „bewußten“ Verhaltens und „Handelns gleich mir“ (ebd. S. 237 f.). Die
Sozialbeziehungen werden im Zuge dieser Entwicklung – sie findet während des
Entwicklungszuges der Unmittelbarkeitsüberschreitung statt – umstrukturiert. Es
kommt zur Perspektivverschränkung, indem ich „vom Standpunkt meiner Weltund Selbstsicht den anderen gleichzeitig in seiner Welt- und Selbstsicht in
Rechnung stelle“ (ebd.). Die in diesem Entwicklungszug vorherrschende, die
Häuslichkeit aufbrechende Existenzweise des Individuums steht also in
unmittelbarem Zusammenhang mit den nun notwendigen (aber auch möglichen)
neuen Formen der psychischen Regulation:
„Aus der Realisierung des widersprüchlichen Zueinanders zwischen der
Einbezogenheit in jeweils konkrete Lebenszentren und der diese überschreitende
Bezogenheit auf den gesamtgesellschaftlichen Lebenszusammenhang muß sich
das individuelle Bewußtsein immer deutlicher als Ich-Bewußtsein, also als
Instanz erster Person entwickeln, indem hier das Individuum nicht mehr in den
jeweils kooperativen Gemeinschaften aufgeht und verschwindet, sondern sich
als ich zu diesen verhalten kann, nicht aufgrund irgendeiner Potenz des
Bewußtseins selbst, sondern aufgrund der materiellen Aufgehobenheit im die
einzelnen
unmittelbaren
Kooperationseinheiten
übergreifenden
gesamtgesellschaftlichen Erhaltungssystem. Damit können sich dann auch die
interpersonalen Beziehungen in Richtung auf „intersubjektive“ Beziehungen, in
welchen sich die Individuen bewußt als Subjekte zueinander verhalten,
entwickeln, was auch die Möglichkeit bewußten Verhaltens zu sich selbst,
seinen eigenen Bedürfnissen, seiner eigenen Emotionalität etc. als
„problematisches“ Verhältnis zur Welt und zur eigenen Person einschließt...“
(Holzkamp 1983, S. 488.)
„Identität“ wird als Begriff in Holzkamps „Grundlegung“ an keiner Stelle
erwähnt. Die vorstehenden Ausführungen zeigen jedoch, daß der Sachverhalt,
den das Identitätskonzept erfassen will, berücksichtigt ist. Das Identitätskonzept
wird jedoch nicht bloß berücksichtigt, sondern ist vielmehr im Konzept der
Handlungsfähigkeit „aufgehoben“. Seit Hegel verwenden wir „aufheben“ dabei
in dreifacher Bedeutung: als „beenden“, „höher heben“ und „bewahren.“
„Bewahrt“ ist das Identitätskonzept insofern, als der von ihm angesprochene
Sachverhalt der Entwicklung von Selbstbewußtsein und Selbstgewißheit im
Rahmen einer sozialen Eingebundenheit durch das Konzept der
Handlungsfähigkeit erfaßt wird. Mit Hilfe des Identitätskonzepts kann jedoch
dieser Sachverhalt nur unzureichend erfaßt werden, da zum einen das Verhältnis
von Individuum und Gesellschaft nur als Gegensatz verstanden und zum
anderen die Gegenständlichkeit auch des kommunikativen und interaktiven
Handelns in den Theorien, in die das Konzept eingebettet ist (Psychoanalyse,
Symbolischer Interaktionismus und phänomenologische Soziologie und
Sozialpsychologie) prinzipiell vernachlässigt wird. Daher wird der vom
96
Identitätskonzept angesprochene Sachverhalt meines Erachtens durch das
Konzept der Handlungsfähigkeit adäquater erfaßt, so daß diese „Identität“
„aufhebt“ im Sinne des Hebens auf eine höhere Stufe und eine weitere
Verwendung dieses Begriffs (sofern sein oben angesprochener theoretischer
Rahmen mitbedacht wird) entbehrlich (also beendet) wird.
Es wurde gezeigt, daß im Zuge der ontogenetischen Entwicklung von (immer
höheren Stufen von) Handlungsfähigkeit sich notwendig Ich-Bewußtsein als
neue Qualität der psychischen Regulation, als psychisches Korrelat zu den
sozialen und sachlichen Regulationsformen der Lebenszentren/Sozialisationsinstanzen, die für das Individuum im Zuge seines Heranwachsens relevant
werden, entwickelt. Dabei wurden sowohl das Sozial-Kooperative in seinen
unterschiedlichen
Erscheinungsformen
in
den
verschiedenen
Entwicklungszügen, als auch die Gegenstände, mit denen sozial-kooperativ in
einer sich vertiefenden Kompetenz umgegangen wird, wesentlich bei der
Entwicklung von Ich-Bewußtsein berücksichtigt. Die sozial-kooperativen (eben:
entwicklungszugspezifischen gesellschaftlichen) Zusammenhänge sind dabei
zunächst nicht von vornherein als gesellschaftliche Behinderung einer
individuellen Entwicklung zu verstehen, der man unterstellt, daß sie ohne
Gesellschaft spontan und zielstrebig verliefe, sondern vielmehr als Grundlage
der Möglichkeit dieser Entwicklung.
Gesellschaft ist also relatives Apriori oder – wenn man so will – transzendentale
Bedingung der individuellen Entwicklung: „Apriori“, insofern unterschiedliche
Formen von Gesellschaftlichkeit bereits vorhanden sind; bloß „relativ“, insofern
Ziel der individuellen Entwicklung sein soll, zunehmend (kooperativ) Einfluß
auch auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nehmen zu können.
Allerdings ist die Entwicklung von Ich-Bewußtsein nur eine Facette in der
komplexen ontogenetischen Entwicklung, in der sich alle Dimensionen von
Handlungsfähigkeit (Emotion, Motivation, Kognition, sozial-kooperatives
Handeln) auf eine Weise diskontinuierlich entfalten, daß die oben vorgestellten
logischen Entwicklungszüge der Ontogenese unterscheidbar werden.
Wo ist nun die „Jugend“ in diesem Konzept einzuordnen?
Ohne Festlegung auf Altersangaben läßt sich Jugend in einem ersten Anlauf
einordnen zwischen Kindheit und Erwachsenenalter. Es liegt auf der Hand, daß
– eben weil Kindheit noch eng an Häuslichkeit gebunden ist, die zunehmend
abgelöst wird durch andere Lebenszentren – Jugend in den Entwicklungszug der
Unmittelbarkeitsüberschreitung gehört. Die zunehmende Ablösung der
Häuslichkeit als dominantem Lebensraum bringt eine starke Vergrößerung von
Handlungsanforderungen und Handlungsangeboten, von neuen Möglichkeiten
der Bedrohung individueller Existenz und neuen Formen der
Bedrohungsüberwindung mit sich. Die neuen Handlungsmöglichkeiten bringen
97
zugleich die Notwendigkeit zur Entscheidung, zur Auswahl mit sich. Sie sind
daher Aufgaben, die das Individuum bewältigen muß, wobei die Form der
Bewältigung die Qualität der späteren Handlungsfähigkeit bestimmt. Bevor ich
nun einige Aufgaben bzw. Bereiche, in denen sich diese Aufgaben stellen,
angebe, will ich einige weitere Ausführungen zum Tätigkeitskonzept machen,
die uns helfen sollen, die neuen Aufgaben systematisch zu ordnen (und damit
ein Stück weit zu „begreifen“).
Da die Unmittelbarkeitsüberschreitung nur handelnd und aktiv, nur durch
kooperativ-gegenständliche Tätigkeit geschieht, müssen sich die ablaufenden
Prozesse sinnvoll auf das Tätigkeitskonzept beziehen lassen. Es sind also
sowohl die einzelnen „einfachen Momente“ (Subjekt, Mittel, Objekt), das
Tätigkeitsziel sowie die gesellschaftliche Geformtheit des Tätigkeitsprozesses
im Hinblick auf die Unmittelbarkeitsüberschreitung zu befragen.
Da es sich bei dem „Subjekt“ des Tätigeitsprozesses in der Regel um ein
kollektives Subjekt handelt (also um eine Gruppe von Menschen) und solche
Gruppen – vor allem die Peers – nun eine zentrale Rolle zu spielen beginnen,
läßt sich das „Subjekt“ aufschlüsseln in die Dimension der
 Kommunikation,
 Koordination,
 Kooperation.
Schematisch läßt sich dies (ohne Berücksichtigung der gesellschaftlichen
Geformtheit) darstellen wie in Abb. 10.
Abb. 10: Tätigkeit und Ontogenese
Kooperation
Koordination
Objekt
–
Kommunikation
Subjekt
–
Tätigkeit
–
Ziel
Mittel
Im Hinblick auf die „Bedeutung“ ist zu differenzieren:
98
Aneignung
und
Vergegenst
ändlichung
Bedeut
ung
Bedeutung 1:
Bedeutung 2:
Bedeutung 3:
vorliegende Bedeutung der Mittel und Objekte sowie der
Organisationsform des Subjekts; bereits vergegenständlichte
Wesenskräfte; bereitstehende Handlungsmöglichkeiten (und anforderungen):
Objektive Seite der Bedeutung
bislang individuell realisierte und individuell „relevante“ (das
heißt: nach Maßgabe der Biographie und der Befindlichkeit)
Bedeutungen (bereits angeeignete Wesenskräfte), also „Sinn“
durch Tätigkeitsprozeß entstehende neue Bedeutung;
objektiv: neue Vergesellschaftung von Wesenskräften;
subjektiv: individuell realisierte Handlungsfähigkeit als
angeeignete Bedeutung
(Ausschnitt von B1; „Sinn“)
Es sind durch den Tätigkeitsprozeß als Realisierung eines angestrebten Zieles
entstanden
 neue Aspekte bei der Verwendung der gegenständlichen Mittel (neu für das
Individuum, unter Umständen aber auch neu insgesamt),
 neue Gegenstände (0),
 neue Fähigkeiten der Individuen,
 neue
Organisationen
(Kooperations-,
KoordinationsKommunikationsformen) des kollektiven Subjekts.
und
Wetzel (1983) hat in einer differenzierten Untersuchung des ontogenetischen
Entwicklungszuges der Unmittelbarkeitsüberschreitung als spezifische
Prozeßelemente ermittelt:
 die Relativierung der materiellen Abhängigkeit der Heranwachsenden von
den Eltern,
 die
Integration
der
Erziehungsinstanzen
Kinder/Jugendlichen
in
gesellschaftliche
 die Neustrukturierung des sozialen Beziehungsgefüges (wobei man hier die
Entwicklung von Selbstorganisationsformen in der Gleichaltrigengruppe
(„peers“) hervorheben muß).
Mit diesen tätigkeitstheoretischen Überlegungen läßt sich zumindest das dritte
der genannten Prozeßelemente exakter fassen. Die Neustrukturierung des
Beziehungsgefüges läßt sich im einzelnen befragen im Hinblick auf neue
Formen der Kommunikation, der Koordination und der Kooperation:
99
Kommunikation: In den entsprechenden Ausführungen zum Entwicklungszug
der Unmittelbarkeitsüberschneidung wurde dargelegt, daß sich eine neue Form
und Funktion von Sprache entwickelt: es findet ein Aufbrechen der
unmittelbaren Bindung sprachliche Zeichen – Begriff statt.
Kooperation: Das Aufbrechen der Häuslichkeit und die neuen, zu bewältigenden
Aufgaben machen neue Formen der sozialen Organisation möglich und nötig,
wobei die psychischen Grundlagen dieser erweiterten Sozialkontakte andere
sind als es die Familienbeziehungen waren. Hier spielen ferner symbolischkulturelle Formen – insbesondere die oben beschriebene Massenkultur – eine
entscheidende Rolle.
Koordination: Mit einer wachsenden Komplexität der Aufgaben wird eine
entsprechend neue Qualität der gemeinsamen Aufgabenbewältigung nötig.
Man hat die Diskontinuität dieses Entwicklungsprozesses nun dadurch versucht
begreifbar zu machen, daß man unterschiedliche „Entwicklungsaufgaben“
identifiziert hat, an denen sich der Einzelne abarbeiten muß.
Der Begriff der „Entwicklungsaufgabe“ zielt zunächst auf die
(ontogenetische) Entwicklung des Individuums Die „Aufgabe“, von der zu
sprechen sein wird, ist also zunächst eine Aufgabe für das Individuum. Da sich
die Gesellschaft jedoch nur darin reproduzieren kann, wenn die heranwachsende
Generation auch die auf sie zukommenden Produktions- und Reproduktionsaufgaben erfüllt, ist die Stellung jugendspezifischer Entwicklungsaufgaben
sowie die Bereitstellung von Voraussetzungen für ihre Bewältigung auch eine
Aufgabe für die Gesellschaft.
Was ist nun „Entwicklungsaufgabe“? Die Rede von Aufgaben schließt sich an
die
Auffassung
von
Leontiew
(1982)
an,
demzufolge
Persönlichkeitsentwicklung als ein dem individuellen Subjekt ausgegebener
Vollzug der Entfaltung seiner Wesenskräfte, also der Fähigkeit und Bereitschaft
zum Handeln, zum Produzieren, zur Aneignung und Vergegenständlichung, ist.
Aufgaben haben den Charakter der Anweisung, Handlungen zu vollziehen. Die
Handlungen sollen dazu dienen, einen Zustand herbeizuführen, der vorher nicht
vorhanden war, der aber für „wünschenswert“ oder „notwendig“ gehalten wird.
„Aufgaben“ sind also Herausforderungen zum Handeln, die jedoch nur dann
angenommen werden, wenn sie in einem Bezug zum eigenen Leben, also als
„sinnvolle“ Aufgaben anerkannt werden.
„Wünschenswert“ ist ein normativer Begriff. „Wünschenswert“ ist in unserem
Zusammenhang eine solche Tätigkeitsabfolge, die der individuellen
Entwicklung dient, die also die vorhandenen psychischen und motorischen
Fähigkeiten stabilisiert und weiterentwickelt. Entwicklung soll also stattfinden;
sie soll stattfinden über die Bewältigung von Aufgaben. Die Menschheit, so
100
wieder Marx, stellt sich nur Aufgaben, die sie auch lösen kann. Wo sind nun die
in diesem Sinne lösbaren Aufgaben für das Individuum anzusiedeln in ihrem
Schwierigkeitsgrad? Von Wygotski stammt der Vorschlag, die Entwicklung
stimulierenden und unterstützenden Aufgaben in der „Zone der nächsten
Entwicklung“ zu suchen. Um diese „Zone“ jedoch zu bestimmen, bedarf es der
Kenntnis des ontogenetischen Verlaufs.
Wie oben festgestellt, umfaßt die Zeit des Jugendalters die letzten Schuljahre,
die Zeit der Berufsausbildung und die ersten Berufsjahre bzw. die Zeit des
Studiums. Mit dem Festmachen des Jugendalters an den genannten Ereignissen
habe ich die meines Erachtens entscheidenden Entwicklungsaufgaben für den
Jugendlichen genannt. Die Jugendzeit ist die Zeit der Loslösung von der
Familie, die in der Regel bei Kindern noch der zentrale Einflußbereich ist.
Insbesondere wird die Bereitstellung von Entwicklungsmöglichkeiten sowie die
Behinderung von Entwicklung in der Familie „personal“ gesehen und
interpretiert. In der Jugendphase findet insofern ein Aufbrechen dieser
(kindlichen) Häuslichkeit statt, als nun außerhäusliche „Institutionen“ an Einfluß
gewinnen und bestimmend für die Entwicklung werden. In diese Zeit einer
allgemeineren Vergesellschaftung fällt in der Regel die Schaffung der
Grundlage, später durch eigene Berufstätigkeit seinen Lebensunterhalt bestreiten
zu können. Im Zuge einer politischen Entwicklung, in der häufiger „sinnvolle
Betätigung“ als Alternative zur Berufstätigkeit empfohlen wird, muß auf die
prinzipielle Unersetzbarkeit der Möglichkeit, selber seinen Unterhalt bestreiten
zu können, hingewiesen werden. Es hat meines Erachtens wenig Sinn, entgegen
gesellschaftlich verbreiteten Werthaltungen etwa kulturell-ästhetische
Betätigung als Alternative zu empfehlen, und dies selbst dann, wenn sie
Alternative zu einer sinnentleerten Tätigkeit am Fließband sein sollte. Denn
„Arbeit“ umfaßt nicht nur den eigentlichen Produktionsablauf, der in der Tat
sinnentleert und persönlichkeitsdeformierend sein kann. Arbeit umfaßt darüber
hinaus die betriebliche Interessenvertretung oder die Möglichkeit zu
Sozialkontakten außerhalb der Wohnung.
In diesem Zusammenhang ist auf die empirischen Befunde, insbesondere von
Baethge, zur veränderten Rolle von Arbeit im Leben Jugendlicher hinzuweisen.
Denn entgegen allen Annahmen über eine postmaterialistische und
hedonistische Jugend, die zeitweilig die Diskussion bestimmt haben, scheint die
Realität anders auszusehen:
„Anders als Demoskopie und landläufige Meinung uns lange Zeit glauben
machen wollten, hat die Jugend die Erwerbsarbeit innerlich nicht abgeschrieben.
Im Gegenteil: für die Mehrheit gilt, daß sie Arbeit und Beruf bei ihrer Suche
nach Identität einen hohen, häufig einen zentralen Stellenwert zusprechen.
Wenn wir auf der Basis mehrjähriger empirischer Forschung dem
kulturkritischen Trend, eine ganze Generation in ihrem subjektiven Verhältnis
101
zur Arbeit krank zu schreiben, nicht folgen, so bedeutet das nicht, die
traditionelle Arbeitsmoral zu bestätigen und für in Ordnung zu erklären. Denn
tatsächlich hat sich vieles zwischen der Jugend und der Arbeit verändert, was
uns neue Probleme aufgibt.
Unser zentrales Ergebnis läßt sich in einem Widerspruch zuspitzen. In den
persönlichen Identitätsentwürfen hat die Erwerbsarbeit für die Mehrheit der
Jugendlichen einen hohen Stellenwert, gleichzeitig scheint sie für immer
weniger Jugendliche den Kristallisationspunkt für kollektive Erfahrungen und
die Basis für soziale und politische Identitätsbildung abzugeben.“ (Baethge
1988, S. 58f ).
Mit der Ablehnung eines Ersatzes für die Möglichkeit einer angemessenen
Ausbildung und Berufsausübung steht zugleich ein Maßstab zur Beurteilung
unserer Gesellschaft bereit. Wenn man sich darauf einigen kann, daß
„Gesellschaft“ als politische, ökonomische und soziale Veranstaltung nicht
Selbstzweck ist oder den Interessen einzelner Personen oder Institutionen zu
dienen hat, sondern daß sich die Qualität ihrer Organisation daran messen lassen
muß, wie mit den Entwicklungsmöglichkeiten jedes einzelnen ihrer Mitglieder
umgegangen wird, dann muß die Ausbildungs- und Beschäftigungssituation
jedes Jugendlichen eine zentrale Rolle spielen. Berücksichtigt man ferner die
Tatsache, daß die wichtigste gesellschaftliche Produktivkraft der Mensch selber
ist, so ergibt sich verschärft – nun auf gesellschaftlicher Ebene – das bereits
oben angeführte Problem: Daß sich Menschen – nun auch noch massenhaft –
begründet gegen ihre objektiven Interessen verhalten können, insofern „die“
Gesellschaft in ihr vorhandene Ressourcen nicht nutzt. (Vgl. zur psychischen
Verarbeitung der gesellschaftlichen Entwicklung insbesondere die Shell-Studie
„Jugend '97“ – Jugendwerk 1997).
Für das in dieser Arbeit diskutierte Problem ergibt sich nunmehr, daß auf dem
Ansatz „Jugend als Entwicklungsaufgabe“ selbst dann noch zu beharren ist,
wenn die Empirie zeigt, daß solche Aufgaben einer großen Anzahl Jugendlicher
versagt bleiben und daß – als gesellschaftliches Verarbeitungsangebot dieses
Vorenthaltens – Resignation, Realitätsabwehr und Anspruchsreduktion
angeboten werden. Die Ablehnung eines Surrogates für Ausbildung und
Arbeitstätigkeit bedeutet nun jedoch nicht eine Ablehnung der angebotenen
Alternativen schlechthin, sondern lediglich die Ablehnung der Behauptung ihrer
Gleichwertigkeit. Denn natürlich kann kulturell-ästhetische Praxis gerade den
gesellschaftlich sanktionierten Verarbeitungsformen der Misere entgegenwirken,
indem Erkenntnis-, Genuß- und Aufklärungsfunktion künstlerischer
Medien bewußt ausgenutzt werden. Natürlich ist es wichtig – da an einer
schlechten Realität ohnehin so schnell nichts geändert werden kann – die
Möglichkeit, mit einer ästhetisch-kulturellen Praxis Zutrauen zur eigenen
Fähigkeit zu entwickeln, zu nutzen und auf diese Weise die Entwicklung
produktiver Bedürfnisse voranzutreiben. Die oben angesprochenen
102
unterschiedlichen Artikulationsformen Jugendlicher können demnach geradezu
danach bewertet werden, inwieweit sie dem Abfinden mit der Situation dienen,
oder ob sie vielmehr Ausdruck eines noch unbewußten Protestes oder
Widerstandes sind. Sie sind daraufhin zu befragen, wie gesellschaftliche
Konflikte und Widersprüche verarbeitet werden (ob durch Abwehr,
Verdrängung, Personalisierung oder Privatisierung oder auch durch Entwicklung
einer neuen, möglichkeitserweiternden Handlungsbereitschaft, durch
Entwicklung neuer Regulationsformen, eines kollektiven Problemverständnisses
etc.). Ich komme hierauf zurück.
Die Entwicklungspsychologie beschäftigt sich mit Jugend unter anderem unter
dem Gesichtspunkt der Adoleszens. In diesem Zusammenhang ist die Rede von
„Entwicklungsaufgaben“ durchaus geläufig.
Hurrelmann und andere (1985, S. 125) geben die folgenden
Entwicklungsaufgaben an, die in der psychologischen Literatur zur
Kennzeichnung der Jugendphase geläufig sind:
 Entwicklung einer intellektuellen und sozialen Kompetenz, um
selbstverantwortlich
schulischen
und
anschließend
beruflichen
Qualifikationen nachzukommen, mit dem Ziel, eine berufliche Erwerbsarbeit
aufzunehmen und dadurch die eigene ökonomische und materielle Basis für
die selbständige Existenz als Erwachsener zu sichern.
 Entwicklung der eigenen Geschlechtsrolle und des sozialen
Bindungsverhaltens zu Gleichaltrigen des eigenen und des anderen
Geschlechts, Aufbau einer heterosexuellen Partnerbeziehung, die langfristig
die Basis für die Erziehung eigener Kinder bilden kann.
 Entwicklung eines eigenen Wert- und Normensystems und eines ethischen
und politischen Bewußtseins, das mit dem eigenen Verhalten und Handeln in
Übereinstimmung steht, so daß langfristig ein verantwortliches Handeln in
diesem Bereich möglich wird.
 Entwicklung eigener Handlungsmuster für die Nutzung des
Konsumwarenmarktes und des kulturellen Freizeitmarktes (einschließlich
Medien und Genußmittel) mit dem Ziel, einen eigenen Lebensstil zu
entwickeln und zu einem autonom gesteuerten bedürfnisorientierten Umgang
mit den entsprechenden Angeboten zu kommen.
Wilfried Ferchhoff und Georg Neubauer stellen den folgenden Katalog von
Entwicklungsaufgaben zusammen:
1. Akzeptanz der eigenen körperlichen Erscheinung und effektive Nutzung des
Körpers: sich des eigenen Körpers bewußt werden, den Körper in Sport und
Freizeit, aber auch in der Arbeit und bei der Bewältigung der täglichen
Aufgaben sinnvoll zu nutzen.
103
2. Erwerb der männlichen bzw. weiblichen Rolle: der Jugendliche muß eine
individuelle Lösung für das meistens stereotyp geschlechtsverbundene
Verhalten und für die Ausgestaltung der Geschlechtsrolle auf der Basis des
Anpassungsdrucks von Eltern und Peers finden.
3. Erwerb neuer und reiferer Beziehungen zu Altersgenossen beiderlei
Geschlechts: hierbei gewinnt die Gruppe der Gleichaltrigen an Bedeutung.
4. Lockerung, Ablösung und Gewinnung emotionaler Unabhängigkeit von den
Eltern und anderen Erwachsenen und Hinwendung zu ausgewählten Peers:
für die Eltern ist gerade diese Entwicklungsaufgabe schwer einsehbar und oft
schmerzlich. Obwohl sie ihre Kinder gerne zu tüchtigen Erwachsenen
erziehen wollen, möchten sie die familiäre Struktur mit den wechselseitigen
Abhängigkeiten möglichst lange aufrecht erhalten. Dieser Prozeß der
Umstrukturierung des sozialen Netzwerkes kann innerfamiliär zu Konflikten
führen. Konfliktstoff ist vor allem die Ausübung und das Ausmaß elterlicher
Kontrolle, die sich auf folgende Bereiche erstreckt: Häufigkeiten, Dauer des
Weggehens, Umgang mit Peers, Orte der Peers, Relationen, Kleidung und
Aussehen sowie Verwendung des Geldes.
5. Qualifikationsbezogene Vorbereitung auf die berufliche Karriere: Lernen
bzw. Qualifikationserwerb im Jugendalter zielt direkt (bei berufstätigen
Jugendlichen) oder indirekt (in weiterführenden Schulen) auf die Übernahme
einer beruflichen Tätigkeit in die soziale Plazierung im Gesellschaftsgefüge
ab.
6. Vorbereitung auf Heirat und Familienleben: sie bezieht sich auf den Erwerb
von Kenntnissen und sozialen Fertigkeiten für die bei Partnerschaft und
Familie anfallenden Aufgaben. Die Verlängerung der Lernzeit bis häufig
weit in das dritte Lebensjahrzehnt macht im Zusammenhang mit dem
säkularen Wandel allerdings auch neue Lösungen notwendig.
7. Gewinnung eines sozial-verantwortungsvollen Verhaltens: Bei dieser
Aufgabe geht es darum, sich für das Gemeinwohl zu engagieren und sich mit
der politischen und gesellschaftlichen Verantwortung des Bürgers
auseinanderzusetzen.
8. Aufbau eines Wertsystems und eines ethischen Bewußtseins als Richtschnur
für eigenes Verhalten: Die Auseinandersetzung mit Wertgeltung in der
umgebenden Kultur soll in diesem Lebensabschnitt zum Aufbau einer
eigenständigen internalisierten Struktur von Werten als Orientierung für das
Handeln führen.
9. Über sich selbst im Bilde sein (und ein relativ „stabiles Selbstkonzept“
auszubilden), wobei Triebe und Affekte im Rahmen der Selbstkontrolle zu
beherrschen sind und Mündigkeit als Persönlichkeitsentwicklung an
Bedeutung gewinnt.
104
10.Aufnahme intimer und emotionaler Beziehungen zum Partner/zur Partnerin
(Sexualität, Intimität). Es ist darauf hinzuweisen, daß heterosexuelle
Beziehungen von Jugendlichen eine breite Streuung aufweisen und nicht mit
genitaler Sexualität gleichgesetzt werden sollen.
105
11.Entwurf eines Lebensplans auf der Basis mehr oder weniger
institutionalisierter Ablaufmuster von Lebensläufen. Entwicklung einer
Zukunftsperspektive, die gern in eigene Regie genommen würde.
(Ferchhoff/Neubauer 1989, S. 121f.).
Eine Ähnlichkeit zwischen den beiden Katalogen von Entwicklungsaufgaben
und Konzeptentwurf ist nicht zu verkennen. Insbesondere wird in beiden Fällen
die besondere Rolle der Berufsvorbereitung für die Entwicklung hervorgehoben.
Es ist festzuhalten:
Das Konzept „Jugend als Entwicklungsaufgabe“ enthält als erste
Konkretisierung die Untersuchung jugendspezifischer Entwicklungsaufgaben.
Man kann in dieser Frage auf zahlreiche Vorarbeiten zurückgreifen, in denen
„Kindheit“, „Jugend“ und (junges) „Erwachsenenalter“ in ihren jeweiligen
Entwicklungsaufgaben unterschieden werden. Dabei dürfen wir die
Notwendigkeit der Gesellschaft für das Stattfinden von Entwicklung nicht
ausklammern oder diese gar als bloß der Entwicklung widerständig
entgegensetzen,
sondern
sehen
„Gesellschaft“
als
unabdingbare
Entwicklungsvoraussetzung, deren Bereitstellung von Chancen und
Behinderungen jeweils konkret-historisch untersucht werden muß.
Neben den im letzten Abschnitt angesprochenen Entwicklungaufgaben in der
Lebensphase Jugend kann man den durch diese einzelnen Aufgaben bestimmten
biographischen Zeitraum als ganzen – eben die „Jugend“ eines Menschen – als
Entwicklungsaufgabe bestimmen. Es ist eine mehr oder weniger scharf
abgetrennte Lebensphase mit ihren Möglichkeiten und Notwendigkeiten, die –
über die Zersplitterung und Atomisierung in einzelne Teilaufgaben hinaus – als
Ganzes eine Einheit von Anforderungen und gelungenen und mißlungenen
Problembewältigungen und Konfliktverarbeitungen darstellt, durch die die
erwachsene Persönlichkeit als relativ stabile Einheit von Kenntnissen,
Ansichten, Werten, Fähigkeiten entsteht. Die so verstandene Jugend als
Gesamtheit der einzelnen Aufgaben hängt zwar ab von der jeweiligen
Bewältigung der einzelnen Aufgaben, ist als ganzes jedoch mehr als die bloße
Summe der Bewältigungen. Damit ist eine zweite Bedeutung der Rede von der
„Jugend als Entwicklungsaufgabe“ gewonnen. Diese Bedeutung spielt
insbesondere dort eine Rolle, wo über Lebenslauf und Biographie nachgedacht
wird (Berger/Hradil 1990).
„Jugend“ ist nicht nur ein Begriff, der eine bestimmte Lebensphase in der
individuellen Entwicklung beschreibt: die besondere politische Relevanz erhält
„Jugend“ als Bezeichnung einer umfangreichen gesellschaftlichen Gruppe. Als
gesellschaftliche Kategorie soll nun „Jugend“ als die Gruppe von den
106
Gesellschaftsmitgliedern verstanden werden, die – jeweils individuell – die
„Lebensphase Jugend“ durchlaufen. Offensichtlich ist dies keine konstante
Gruppe mit festen Mitgliedern, sondern eine bestenfalls im Fließgleichgewicht
befindliche Gruppe: „Jugend“ in einer Gesellschaft ist unter Berücksichtigung
der Geschichtlichkeit der Gesellschaft eine sich ständig wandelnde Population.
Die so verstandene Jugend ist nun für die Gesellschaft eine
Entwicklungsaufgabe.
Machen wir uns kurzzeitig den Blick des Historikers zu eigen, dessen
Interesse sich weniger auf das einzelne Individuum, sondern vielmehr auf
Gesellschaften im historischen Ablauf richtet, so läßt sich dieses neue „Subjekt
der Geschichte“ ebenfalls auf seine „ontogenetischen“ Entwicklungsgesetze
befragen. Aus gesellschaftstheoretischer Sichtweise wird man konstatieren
können, inwieweit der historische Ablauf, also die Entwicklung einer
bestimmten Gesellschaft, von der jeweiligen, konkret-historischen
Binnenstruktur abhängt. Da es geschichtlich gesehen so ist, daß die heute
Heranwachsenden morgen die Träger der gesellschaftlichen Ausstattung sind, so
wird man annehmen können, daß es im Hinblick auf die Zukunft der
Gesellschaft nicht gleichgültig ist, wie diese zukünftigen Produzenten des
gesellschaftlichen Reichtums auf diese Aufgabe vorbereitet werden. „Jugend“
wird daher für die Gesellschaft zu einer Aufgabe, die sie im Interesse ihrer
eigenen
Entwicklung
bewältigen
muß.
Die
Bereitstellung
von
Entwicklungsaufgaben für die Jugendlichen sowie die Schaffung von
Möglichkeiten, diese Aufgaben auch zu bewältigen, darf also als Grundlage für
die Bewältigung der „Entwicklungsaufgabe Jugend“ für die Gesellschaft
gesehen werden. Jugendpolitik erhält somit neben der Förderung der Jugend als
zentrale Aufgabe die Gestaltung des Prozesses, in dem die „Gesellschaft“ ihre
Entwicklungsaufgabe Jugend löst.
Auf beiden Ebenen, der gesellschaftlichen und der individuellen, ist die
Entwicklung des Einzelnen also kein harmonischer und linear ablaufender
Prozeß. Betrachten wir daher die Widerständigkeit dieses Prozesses etwas
genauer.
Mit dem Aufbrechen der häuslichen Unmittelbarkeit gewinnen
außerhäusliche Faktoren auf die individuelle Vergesellschaftung an Einfluß. Bei
diesem Prozeß fallen auf einer phänographischen Ebene verschiedene Merkmale
besonders auf:
 War die häusliche Gesellschaftsform noch stark durch familiäre Emotionen
geprägt, so erfolgt nun schon alleine durch die starke Vergrößerung des
Aktionsfeldes eine Ent-Emotionalisierung der Sozialkontakte.
 Waren in der Familie – über die Familienmitglieder (aber auch über die
Familie als Einheit, die mehr als die Summe ihrer Mitglieder ist) als
107
Vermittlungsorgan
–
gesellschaftliche
Anforderungen
und
Verhaltensstandards noch gebunden an Personen, die somit mit diesen
Anforderungen identifiziert werden konnten, so tritt nun eine
Anonymisierung der Anforderungen ein.
 Es wird also eine neue Stufe der Vergesellschaftung möglich, eben weil eine
neue Stufe von „Gesellschaft“ zugänglich wird.
 Damit ändern (vergrößern) sich Chancen und Anregungspotential für die
weitere Entwicklung; es stellen sich neue Aufgaben und Anforderungen, aber
auch neue Handlungsmöglichkeiten, diese Aufgaben zu bewältigen. Es wird
also zumindest in zweifacher Hinsicht ein bewußtes Verhalten notwendig: zu
den Anforderungen und Aufgaben und zu den angebotenen
Verarbeitungsformen.
Die Ent-Emotionalisierung dieser Vorgänge ist dabei eine wesentliche
Voraussetzung für das bewußte (was ja auch heißt: kritische) Verhalten-zu. Die
hier angedeuteten Tendenzen werden gelegentlich als zunehmende Komplexität
der nun entstehenden Lebenssituation interpretiert. Bezogen auf das Individuum
kann dem nicht sofort zugestimmt werden, da sich in gleichem Maße – wie
angedeutet: geradezu bewirkt durch diese herausfordernde Situation – neue
emotionale, kognitive und soziale Bewältigungsformen entwickeln. In
psychologischer Perspektive – was hier heißt: Komplexität nicht schlechthin,
sondern Komplexität für das Individuum – steht also einer objektiv sich
vergrößernden Komplexität ein sich ebenfalls vergrößerndes Instrumentarium
zur Organisation, Bewältigung und Reduzierung dieser Komplexität zur
Verfügung. Man kann sagen: Ein Kriterium für den Erfolg des
Vergesellschaftungsprozesses ist darin zu sehen, daß die Komplexität (und dann:
wie sie) bewältigt wird, also in dem Maß der entwickelten Handlungsfähigkeiten
angesichts sich vergrößernder Handlungsaufforderungen, -möglichkeiten und angebote. Die hier bislang erst illustrierte Situation wird in der
Sozialisationsforschung als Fortsetzung der ihrerseits in der Familie begonnenen
zweiten „soziokulturellen Geburt“ verstanden und mit Begriffen wie
„Sozialisation“ und „Enkulturation“ zu erfassen gesucht. Es handelt sich wie
dargestellt um entscheidende Etappen der (psychischen und sozialen)
„ldentitätsentwicklung“. Familie, Straße, Kindergarten oder Schule, Betrieb,
Jugendzentrum etc. sind dabei Instanzen in diesem Sozialisationsprozeß (vgl.
Hurrelmann/Ulich 1984 bzw. 1995).
„Die Gesellschaft“ ist ein Abstraktum, mit dessen empirischem Korrelat der
Einzelne in entwickelteren Gesellschaftsformen nicht unmittelbar zu tun
bekommt. Die Beziehung Individuum – Gesellschaft ist vielmehr vielfältig
vermittelt. Dies beginnt bereits bei den ersten Entwicklungsschritten des
108
gezeugten Menschen, der sehr bald sensitive Kontakte mit seiner Umgebung
aufnimmt. Es setzt sich fort bei der allmählichen Aneignung der – zunächst
natürlich sehr kleinen – Umgebung. Die Art der Befriedigung der unmittelbaren
Bedürfnisse, die ersten Kommunikationsformen – all dies ist gesellschaftlich
geprägt und ist damit Teil der spezifischen soziokulturellen Aneignung.
Spielmittel,
Spielformen,
Sprache,
auch
schon:
gesellschaftliche
Erwartungshaltungen, etwa wann das Kind „stubenrein“ sein sollte, sind sozial
geformt und zielen auf die Einordnung in soziale Zusammenhänge hin, sind also
zugleich Integration in Soziales und damit auch Bereitstellung vergrößerter
Entwicklungsmöglichkeiten.
„Gesellschaft“ tritt also an das Individuum in Form verschiedener
Lebenszentren bzw. Sozialisationsinstanzen heran. Diese stehen zwischen
Individuum und „Gesellschaft“, sind daher sowohl Bindeglied als auch
Trennungsmoment. Sie konstituieren sich natürlich durch die Tätigkeit der
beteiligten Individuen, ebenso wie sie wiederum „Gesellschaft“ konstituieren.
„Konstituieren“ heißt hierbei jedoch nicht „determinieren“. Vielmehr entwickelt
sich eine relative Autonomie sowohl gegenüber den beteiligten Personen als
auch gegenüber der „Gesellschaft“. Aus dieser Zwischenstellung und der
relativen Autonomie ergibt sich als Folgerung, nach spezifischen
Regulationsformen zu fragen, die in den einzelnen Lebenszentren vorherrschen.
Zu diesen Regulationsformen sind die psychischen Regulationsformen der
Individuen in Beziehung zu setzen – und auch ein Stück weit damit zu erklären.
Die Regulationsformen der Lebenszentren sind – eben weil Lebenszentren eine
wesentliche Form sind, in der Gesellschaft auf das Individuum einwirkt –
wiederum in Beziehung zu setzen zu gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten und
Regulationsformen.
Man hat also
 gesellschaftliche
Regulationsformen,
Gesetzmäßigkeiten
und
Anforderungsprofile, etwa als Individualitätsformen
 Regulationsformen des jeweiligen Lebenszentrums und
 psychische (Regulations-) Formen des Individuums
je gesondert und auch in ihrem Einfluß auf die jeweils anderen zu untersuchen.
Aus all diesen Entwicklungsvorgaben und -möglichkeiten, Anforderungen (die
sich zum Teil widersprechen können) zusammen mit weiteren soziokulturellen
Merkmalen wie Geschlecht, Wohnort, Religionszugehörigkeit, soziokulturelle
Orientierungen etc. kristallisiert sich für jedes einzelne Individuum dessen
spezifischer „Habitus“ als wichtiger Teil seiner Persönlichkeitsentwicklung
heraus (vgl. umfassend Hurrelmann/Ulich 1995, Teil 4). Welche Widersprüche
lassen sich in diesem Beziehungsgeflecht identifizieren?
109
Böttcher (in Deinhard/Sparschuh 1983, S. 8 f.) gibt die folgenden Widersprüche
an, die in der jugendlichen Entwicklung eine Rolle spielen:
 Alternative Jugendkulturen, Jugendproteste, Jugendprobleme signalisieren
insofern gesellschaftliche Mißstände, als mit der zunehmenden
Institutionalisierung,
Bürokratisierung
des
Systems
zwischen
gesellschaftlichen Anforderungen und der Zuweisung sozialer Chancen ein
Mißverhältnis entsteht. Die Institutionalisierung und die Bürokratisierung
verhindern die Fähigkeit zum sozialen Lernen, die Fähigkeit zum kollektiven
Verhalten und fordern die „Ellbogen“-Konkurrenz.
 Der zweite Widerspruch besteht zwischen der Notwendigkeit zur
gesellschaftlichen Integration der jungen Generation einerseits als dem
Problem der Sozialisation und andererseits der angeblichen Notwendigkeit
zur Aufrechterhaltung bestehender Machtverhältnisse in unserer
Gesellschaft, also der Frage der Reproduktion.
 Jugendliche sind weitgehend Objekte von Entscheidungen, und zwar Objekte
von Entscheidungen der Erwachsenenwelt. Sie haben keine Möglichkeit, in
ihre subjektiven Bedürfnisse selbst einzugreifen, sozusagen die
Entscheidungen für sich selbst zu fällen oder zumindest in die Überlegungen
der Entscheidungsfindung durch die Erwachsenenwelt einbezogen zu
werden.
In derselben Arbeit finden sich weitere Widersprüche (ebd., S. 32 f.):
 den Widerspruch zwischen Leben und Lernen, wie er sich am sinnfälligsten
im öffentlichen Schulwesen zeigt,
 den Widerspruch zwischen Ausbildung und tatsächlich erreichbarem Beruf,
 die Gegensätzlichkeit der Werte einmal in Schule und Beruf, zum andern in
der Freizeit,
 der Widerspruch zwischen dem bruchstückhaften Fertigwissen in der Schule
und dem Bedürfnis nach Ganzheitlichkeit,
 der Widerspruch zwischen verbreitetem Mythos und verbreiteter Ideologie
und der tatsächlich vorfindlichen realen Situation,
 den Gegensatz zwischen der Ausweitung des Schonraumes der Jugend und
wachsendem Druck und Kontrolle in diesem Bereich,
 die Ausweitung von Ausbildungs- und Lernzeit und die Verringerung der
Chancen zur Identitätsbildung in dieser Zeit.
Ich will es bei Nennung dieser Widersprüche bewenden lassen. Es wird deutlich,
daß diese Widersprüche nicht bloß auf die Unterschiedlichkeit von
Handlungsaufforderungen
und
-möglichkeiten
verschiedener
Lebenszentren/Sozialisationsinstanzen hinweisen, sondern in dieser zu
bewältigenden Widersprüchlichkeit ebenfalls Entwicklungsaufgaben für das
110
Individuum darstellen – ebenso wie
die Entwicklungsaufgaben einen
Widerspruch/eine Nichtübereinstimmung zwischen vorhandener und
erforderlicher Handlungskompetenz zugrunde legen. Allerdings bedeutet der
Zusammenhang von Entwicklungsaufgabe und Widerspruch nicht gleich eine
Identität von beidem, wenn auch gewisse strukturelle Ähnlichkeiten im Hinblick
auf ihren Herausforderungscharakter gegenüber dem Individuum bestehen.
Es ist nun bei der Aufzählung der oben genannten Widersprüche zu
berücksichtigen, daß sie nicht alle jugendspezifisch sind. Vielmehr ist zu fragen,
ob nicht die Probleme jeweils von
 arbeitslosen Jugendlichen – arbeitslosen Erwachsenen,
 studentischen Jugendlichen – Hochschulabsolventen im Beruf,
 Jugendlichen aus der Arbeiterklasse – erwachsenen Arbeitern
eher vergleichbar sind als die Probleme der unterschiedlichen Gruppen von
Jugendlichen untereinander. Dies führt zu der folgenden vorläufigen These:
Die unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionsbereiche produzieren je
unterschiedliche, in sich und auch untereinander zum Teil widersprüchliche
Anforderungen und Vergesellschaftungsbedingungen. Diese werden je nach
Klasse und Standort, zwar bei unterschiedlichen biographischen
Voraussetzungen, jedoch bei gemeinsamer ontogenetischer Gesetzmäßigkeit
wahrgenommen, erfüllt und verarbeitet. Es entstehen Verarbeitungsformen, die
– weil die Bedingungen und Standorte überindividuell sind – zur Bildung von
Gruppen führen.
Es gibt also eine gesellschaftliche Produziertheit von Widersprüchen und
Vergesellschaftungsbedingungen auf der einen Seite und individuelle
Biographien auf der anderen Seite. Es entstehen „Teilkulturen“, die der
gemeinschaftlichen Realisierung individueller Bedürfnisse auf der Grundlage
gesellschaftlicher Realisierungsbedingungen dienen.
Im Hinblick auf die Entwicklung verallgemeinerter Handlungsfähigkeit ist zu
fragen, welchen Beitrag sowohl die Lebenszentren einschließlich der Peers und
sonstigen gesellschaftlichen Gruppen leisten:
 Was leisten sie im Hinblick auf die verschiedenen Funktionsaspekte von
Handlungsfähigkeit: welche Form der Kognition, der Emotion-Motivation
und des Sozial-Kooperativen werden gefördert/behindert?
 Wie geschieht – als wesentlicher Bestandteil verallgemeinerter
Handlungsfähigkeit, die sich nicht bloß mit dem gegebenen Rahmen von
Handlungsmöglichkeiten zufrieden geben kann – der Verweis auf das
(gesellschaftliche) Ganze?
 Welche Formen der Problem- und Konfliktverarbeitung werden praktiziert,
welche sanktioniert?
111
 Welche Möglichkeiten der Perspektiventwicklung sind vorhanden?
 Da
„Jugend“
als
Übergang
von
der
Aneignungszur
Vergegenständlichungszentriertheit gesehen werden muß, ist neben der
Untersuchung der Aneignung von Bedeutungen wesentlich die Möglichkeit
zur Konstitution von Bedeutung einzubeziehen.
 Dies konkretisierend: Findet eine Emotionalisierung und Personalisierung
gesellschaftlicher Vorgänge statt, werden etwa die Übernahme einer
Konsumentenideologie und ein (wenn auch nur zeitweiliger) Rückzug auf
„allgemein-menschliche“ Probleme und idyllische Scheinlösungen
gesellschaftlicher Konflikte nahegelegt?
Dies erfordert, die „Bedeutungsstrukturen“/Handlungsmöglichkeiten in jedem
Zentrum sowie die Verarbeitungsformen und Bewältigungsstrategien in jeder
Teilkultur zu untersuchen. Zumindest einige Schritte in diese Richtung werden
in Kap. 6.3 vorgestellt. Insbesondere ist eine (erneute) Thematisierung der
Prozeßhaftigkeit dieser Entwicklungsprozesse dort in den Blick der Forschung
geraten, wo Lebenslauf und Lebensführung – meist unter besonderer
Focussierung auf den Alltag – thematisiert werden (Projektgruppe 1995). Mit
dieser soziologischen und sozialpsychologischen Thematisierung korrespondiert
auf philosophischer Ebene das Interesse an „Lebenskunst“ (Schmid 1998), das
inzwischen auch die pädagogische Praxis erreicht hat (Baer 1997,
Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung 2000).
3.3 Persönlichkeitstheoretische Konsequenzen
Die Philosophie, so Kapitel 2, stellt auf sehr allgemeiner Ebene Kategorien zur
Verfügung, die den „Einzelnen“ verstehen helfen sollen. Philosophie – als auch
zeitgebundenes Deutungsprojekt einer Gesellschaft – ist jedoch Teil eines
historischen Prozesses. Dies hat u.a. zur Folge, daß sie nicht unabhängig von der
je vorhandenen Empirie betrachtet werden kann und daß ihre Konzepte, Begriffe
und Ideen sehr schnell Teil eines sehr handfesten politischen Meinungsstreites –
also ideologisch – werden können. Im vorangegangenen Kapitel wurde daher
versucht,
über
historische
Reflexionen
für
eine
zeitgemäße
Persönlichkeitstheorie relevante Kategorien zu finden, also die ideologische
Überformung von Begriffen wie „Ich“, „Subjekt“, „Person“ etc. zumindest
aufzuzeigen. Im Ergebnis wurde bei aller Respektierung der Historizität und
Ortsgebundenheit der genannten Begriffe ihre aktuelle Relevanz aufrecht
erhalten.
Die Anthropologie als weitere philosophische Disziplin stützt – so wurde
gezeigt – diese Annahmen. Damit ist das „Menschenmögliche“ an Entwicklung
112
aufgezeigt. Daß dies nicht nur Spekulation ist, zeigen die „funktionalistischen
Ableitungen“ von Holzkamp und seinen Kollegen. Damit kann man die nächste
Stufe in der Präzisierung der Persönlichkeitstheorie angehen: Nämlich die Frage
zu behandeln, was in einer speziellen Gesellschaft historisch-konkret an
Entwicklungsmöglichkeiten gegeben ist. Dazu ist es nicht nur nötig, die je nach
sozialem Standort unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten zu erfassen, es
stellt sich zudem das Problem, mit welchen Instrumenten diese Gegebenheiten
erfaßt werden können und wie die Beziehung des Einzelnen in seinem Kontext
konzeptionalisiert wird.
Genau dies beansprucht die Sozialisationsforschung zu tun, die sich
spätestens seit den siebziger Jahren auf die Nahtstelle Einzelner/Gesellschaft
konzentrierte. Auch hierbei ist es hilfreich, die Beziehung des Einzelnen und der
Gesellschaft im historischen Prozeß zu untersuchen. Einzelne Ergebnisse sind
etwa:
 „Gesellschaft“ differenziert sich vielfältig aus: in die großen
Gesellschaftsbereiche Produktion, Distribution, Konsum; in Klassen,
Gruppen, Schichten, Milieus; in Lebenswelten von Männern und Frauen;
Kinder, Jugendliche und Erwachsene etc.
 „Gesellschaft“ in diesem ausdifferenzierten Sinne ermöglicht Entwicklung
und begrenzt sie.
 Auch die Konzepte, Begriffe und Theorien der Erfassung dieser Prozesse und
Beziehungen sind nicht wertfrei; so haben etwa „Rolle“ und
„Individualitätsform“,
die
sich
beide
auf
gesellschaftliche
Anforderungsstrukturen
an
den
Einzelnen
beziehen,
durchaus
unterschiedliche Logiken und Erkenntnisinteressen.
 „Handlungsfähigkeit“, die Entwicklung immer ausdifferenzierter Systeme
von Tätigkeiten in der Ontogenese, diese wiederum verstanden als Prozeß
einer tätigen Abarbeitung an Entwicklungsaufgaben und Widersprüchen: all
dies erweist sich als soziologische Entwicklungstheorie, die mit dem
philosophischen Kategoriensystem aus Kapitel 2 kompatibel ist und dieses
ein Stück weit konkretisiert.
Trotzdem bleiben weitere Fragestellungen, die somit in den nächsten Kapiteln
behandelt werden sollen: nämlich einen tieferen Einblick in die beiden Pole zu
geben, die die soziologische Persönlichkeitstheorie vermitteln soll: die
Binnenstruktur des Einzelnen (Kap. 4) und die Struktur der „Gesellschaft“, so
wie sie sich heute (in Deutschland) darstellt (Kap. 6).
Insbesondere will ich im nächsten Kapitel die Ontogenese im Hinblick darauf
ein Stück weiter verfolgen, welche Modellvorstellungen über die
innerpsychischen Prozesse entwickelt worden sind.
113
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