10.ÖRK-Vollversammlung: Zusammenfassung Ökumenisches Gespräch (und Faith-and-Order-study paper) 4: „Moralische Urteilsbildung in den Kirchen“ – Warum streiten wir uns in den Kirchen und der ökumenischen Bewegung immer wieder über ethische Fragen? Und wie kommen wir trotz und mit diesen Gesprächen zu mehr Einheit statt einander zu zerfleischen? Das waren Fragestellungen des Ökumenischen Gesprächs Nr. 4 „Moralische Urteilsbildung in den Kirchen“ („Moral Discernment in the Churches“). An Beispielen für ethische Konfikte mangelte es den Teilnehmenden in Raum 103 der Conversation Hall des Busaner Kongresszentrums BEXCO nicht. Schon am zweiten Tag hatte ja die Rede des russisch-orthodoxen Metropoliten von Moskau Hillarion zu einer Auseinandersetzung geführt, die letztlich die gesamte 10. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen mitprägte – gerade auch weil sie offiziell keinen Ort in der Tagesordnung gefunden hatte: Sind westliche Kirchen „schwach und degeneriert“ (so Hillarion), weil sie „dem Zeitgeist nachgeben“ und sexuelle Minderheiten anerkennen? „Wir streiten so hart in Kirchen über ethische Fragen, weil sie nicht eindeutig geklärt sind und oft nicht eindeutig geklärt werden können“, erläuterte der Chicagoer Ethik-Professor Perry Hamalis zu Beginn: „Wenn ich sage, Jesus wurde geschaffen, so ist dies eine im Verlauf der Kirchengeschichte ausgeschlossene Position, mit der ich mich selbst außerhalb des dogmatischen Konsens der Christenheit stelle.“ In ethischen Fragen hingegen sind mehrere Positionen möglich, die sich gegenseitig ausschließen: „Angenommen ich bin ein überzeugter Pazifist, der jegliche Waffenbenutzung ablehnt, muss ich damit leben, dass es Christinnen und Christen gibt, die unter bestimmten Bedingungen Waffeneinsatz (oder gar einen „gerechten Krieg“) für nötig halten.“ Ethische Fragestellungen erfordern vor ihrer Klärung eine Verständigung über das methodische Vorgehen, weil sie tiefe theologische Glaubensüberzeugungen über Sünde und die menschliche Natur widerspiegeln, meistens durch persönliche Erfahrungen und Betroffenheit emotional aufgeladen sind, die Überzeugung von der Richtigkeit meiner eigenen Position einen Dialog erschwert, gleichgültig ob ich mich dabei auf eine kirchliche Autorität, geistliche Erkenntnis oder individuelles Urteilen stütze, Kirchen sich in ethischer Urteilsbildung bestimmter kultureller Wege bedienen, die oft gegenseitig nicht bekannt, geschweige denn verstanden sind. Allein diese Vorbemerkungen zeigen, dass es keinen Königsweg und erst recht kein Kochrezept zur Lösung ethischer Konflikte geben kann. Möglich hingegen ist ein vertieftes, selbstkritisches Bewusstsein von dem, was in ethischen Konfliktgesprächen gerade passiert. Zu diesem Bewusstsein trägt die mit vielen Beispielen belegte Studie „Moralisches Urteilen in den Kirchen“ der Kommission „Glaube und Kirchenverfassung“, die Grundlage des Ökumenischen Gesprächs Nr. 4 war, einiges bei. Als „study document“ (nicht als offizielle Erklärung) ist diese Studie auch von den orthodoxen Mitgliedern der Kommission angenommen worden, wenn auch mit Vorbehalten gegenüber des „relativistischen Ansatzes“ und einer Überbetonung eines „nicht-theologischen akademischen Zugangs“ zu ethischen Fragen. Die Studie analysiert vier ethische Konflikte in den ÖRK-Kirchen, sowohl innerhalb einer Kirche oder Konfessionsfamilie als auch zwischen den Konfessionen, zwischen Nord und Süd oder verschiedenen Kulturen. 1. die unterschiedliche Bewertung von Stammzellen-Nutzung in katholischen und evangelischen Kirchen in Deutschland 2. die Auseinandersetzung um menschliche Sexualität und die Bewertung von Homosexualität im Streit innerhalb der anglikanischen Kirchengemeinschaft 3. die Diskussion über die neoliberale Globalisierung auf der 24. Vollversammlung des Reformierten Weltbundes in Ghana 2004 4. das Problem von Mission und Evangelisation besonders an den Proselytismus-Erfahrungen von Kirchen in Russland Aus diesen Analysen erhebt die Studie zunächst die Quellen aus denen in Kirchen ethische Schlussfolgerungen erhoben werden. Schon hier ist es im Konflikt hilfreich, genau zu hören, aus welchen Quellen mein Gegenüber genau sein Urteil ableitet. Auf welche Quellen hingegen stütze ich mich gerade? Gibt es Überschneidungen? Werten wir Quellen unterschiedlich? Die Quellen selbst kann ich in keinem Fall bestreiten: A: Quellen des moralischen Urteilens 1. Glaubensquellen: a. Führung durch den Heiligen Geist b. die Schrift (Bibel) c. Tradition d. Lehrautorität in der jeweiligen Kirche e. Spiritualität und Kirchenkultur (-bräuche, -identität,etc.) 2. Menschliche Vernunftquellen: a. Vernunft b. Naturgesetz c. „moral reasoning“ (Ethik) nach Tugenden, Werten oder Konsequenzen/Teleologie d. Natur-, Sozial- und Humanwissenschaften e. (christliches) Gewissen: Unterscheidung von Gut und Böse, ins Herz geschriebenes Gesetz Gottes (so im AT und NT), tiefverwurzelte moralische Überzeugungen („Gefangener des eigenen Gewissens“, „Hier stehe ich, ich kann nicht anders…“ f. Erfahrung g. Recht (national unterschiedlich) und Menschenrechte h. Kultur, kulturelle Errungenschaften und Sprache Im Hauptteil zählt die Studie dann folgende B: Gründe für Meinungsverschiedenheiten zwischen und in den Kirchen selbst auf. Besonders aufschlussreich finde ich die aus den Fallstudien erhobenen Beispiele, die ich daher in Klammern verkürzt nenne. 1. Soziale und kirchliche Kommunikationsschwierigkeiten: a. (unterschiedliche) historische und kulturelle Kontexte (2004 debattiert der Reformierte Weltbund das „Accra-Bekenntnis“: Delegierte aus dem entwickelten Norden , in dem Kapitalismus und Globalisierung auch zum Wohlstand beigetragen haben lehnen es ab, neoliberale Globalisierung als „Sünde“ zu bezeichnen. Delegierte aus dem Süden, die Globalisierung als Neokolonialisierung und fortgesetzte Ausbeutung erfahren, fordern genau das.) Nötig ist eine vertiefte Kenntnis der fremden und eigenen Kontexte und ihrer Verschiedenheit. b. Unterschiedliches Verständnis von dem, was auf dem Spiel steht (Orthodoxe Kirchen weisen Mission in ihren Gebieten nach dem Fall des Kommunismus als Proselytismus/Abwerben von Mitgliedern einer anderen Konfession zurück. Evangelikale Mission sieht hingegen sieht Menschen, die das Evangelium nicht kennen und kein christliches Leben praktizieren, zuweilen aber getauft wurden, c. d. e. f. g. und möchte ihnen die frohe Botschaft bringen (Evangelisation). Beide Ansätze berufen sich auf den Auftrag Jesu.) Emotionale Betroffenheit/Intensität (Debatten über Sklaverei, die Rolle der Frauen in der Kirche, Homosexualität rufen meist große Emotionalität hervor, weil sie tief mit persönlichen Erfahrungen sowie der eigenen Identität und Würde verbunden sind.) Die Studie schlägt zum besseren Verständnis vor, bei emotionaler Betroffenheit stärker zu unterscheiden, ob es um persönliche Identität oder ein soteriologische Verständnis (christliches Heil) geht. Darüber hinaus ist es hilfreich, bewusst anzuerkennen, dass die/der jeweils andere als Bild Gottes geschaffen ist, mit dem ich in der Liebe Christi reden sollte. Unterschiedliche kulturelle Ansätze, ethische Fragen zu diskutieren („cultural protocols“) (In vielen demokratischen Staaten wird das individuelle Recht zur Entscheidung in Bezug auf den eigenen Körper betont, so dass Genanalysen nur der „informierten Zustimmung“ des Einzelnen bedürfen. In einigen Gesellschaftsgruppen, oft in den selben Ländern, gehört die genetische Information hingegen zum kulturellen und biologischen Erbe, so dass ein Gruppenkonsens oder eine Führungsentscheidung getroffen werden muss.) Hilfreich ist hier, einerseits die „kulturellen Protokolle“ des Gegenübers zu kennen, andererseits sich die Vor- und Nachteile der eigenen kulturellen Debattenform bewusst zu machen. Oft entstehen daraus schon Übereinstimmungen in Werten und Normen, die vorher nicht erkennbar waren. Verschiedene Kirchenstrukturen: Entscheidungsspielräume der jeweiligen Gemeinden innerhalb der Gesamtkirche, wer trägt Verantwortung?, wer hat Autorität? Diese sind meist eng mit der jeweiligen Ekklesiologie verknüpft. (In einem Dialogprojekt zwischen protestantischen Kirchen, der römischkatholischen und der altkatholischen Kirche in den Niederlanden wird deutlich, dass die presbyterial verfassten Kirchen der reformierten Tradition in Fragen der Frauenordination oder der Anerkennung von Homosexualität einen Synodalbeschluss fassen und die Umsetzung ihren jeweiligen Gemeinden überlassen können. Die römisch-katholische Kirche hingegen braucht einen universalen bindenden Beschluss. Darüber hinaus gilt die Frauenordination nicht als moralische Frage, sondern als theologische Doktrin.) Das Verstehen der jeweiligen Kirchenstrukturen und Entscheidungswege macht einerseits die Quellen für Meinungsverschiedenheiten deutlich, andererseits kann sie Möglichkeiten und Grenzen für einen Konsens ausleuchten. Macht beeinflusst nicht nur Entscheidungen, sondern auch Theologien. (Während der Apartheid in Südafrika hat das Kairos-Dokument von 1985 verschiedene Theologien untersucht: a) Die „Staatstheologie“ nutzte christliche Quellen, um die Apartheid zu rechtfertigen. Hier galt die Apartheidsregierung als Verteidigerin von Christentum und Freiheit, gegen Atheismus und Totalitarismus. b) Die „Kirchentheologie“ betonte Gewaltfreiheit und die Spiritualisierung des Glaubens in den weißen Kirchen, um die Untätigkeit angesichts der Ungerechtigkeit zu rechtfertigen. c) Die „Prophetische Theologie“ identifizierte sich mit der schlafenden Macht der Unterdrückten und lehnte die Tyrannei der Apartheit ab.) Es ist wichtig, zu analysieren, wo gerade die Macht sitzt, auch wenn nicht jede Verbindung von Moral und Macht illegitim ist (z.B. die Macht von Unterdrückten, die Widerstand leisten). Stereotypen: Generalisierende Stereotypen fördern Vorurteile und Diskriminierung. (HIV und AIDS wurden in Afrika oft mit Frauen in Verbindung gebracht, in anderen Ländern mit Homosexualität. In beiden Fällen lagen Kirchen die Interpretation von Sünde und Gottesstrafe nahe.) Nötig ist genaue wissenschaftliche Information, um Stereotype zu minimieren – und eine allumfassende (katholische) Kirche zu bauen, die niemanden ausschließt und Gottes Liebe widerspiegelt. h. Umgang mit Andersartigkeit – wird sie positiv oder negativ gesehen? (In Lateinamerika, Asien und Afrika waren Mission und Evangelisation mit dem Aufzwingen von westlicher Kultur und dem Zurückweisen des jeweils Heimischen verbunden. Dagegen gründeten sich gerade in Afrika neue „unabhängigafrikanische Kirchen“) Hilfreich ist die bewusste Anerkennung von Andersartigkeit als Teil der geschaffenen Welt. Ein armenisch-orthodoxer Priester sagte in einer Arbeitsgruppe: „Gott hat uns einzigartig geschaffen, sogar mit dem unterschiedlichen Verständnis seiner Offenbarung. Das müssen wir gegenseitig anerkennen.“ 2. Verschiedene Zugänge zur moralischen Urteilsbildung: a. Es werden verschiedene Quellen (s.A) zur Urteilsbildung genutzt und/oder diese unterschiedlich gewertet. (Suizid wurde von Kirchen lange als Verstoß gegen das 5. Gebot angesehen und verdammt – kein kirchliches Begräbnis. Ein neues medizinisches Verständnis von geistiger Gesundheit und Depression hat Kirchen geholfen, diese pure Ablehnung zur überwinden.) Nötig ist eine klare Unterscheidung der Quellen und wie diese gewertet werden, vgl. A. b. Verschiedene Interpretation der Quellen (Mit dem Alten Testament und Römer 13 als zeitlose Beschreibung eines Moralgesetzes rechtfertigen manche ChristInnen die Todesstrafe. Andere lehnen mit Bezug auf die Gewaltfreiheit Jesu und die Heiligkeit des Lebens die Todesstrafe ab; sie sehen die Bibel als autoritativ an, nicht weil diese zeitlose Moralgesetze enthielte, sondern weil sie theologische und ethische Prinzipien für die moralische Urteilsbildung enthält.) Hier ist vor allem die Anerkennung wichtig, dass beide Seiten die Bibel als Autorität für ihre jeweilige Entscheidung heranziehen. c. Konflikt zwischen konkurrierenden Prinzipien (Beispiel: Sterbehilfe – Geht der die Heiligkeit des Lebens und damit Lebenserhalt vor? Oder Gottes Geschenk der Freiheit und damit der Respekt vor dem Willen der/des Sterbenden?) Hier hilft es, sich mit jedem der Prinzipien in der Diskussion zu identifizieren und alle Diskutierenden über die gerade genutzten Prinzipien zu informieren. Oft entsteht dadurch eine gemeinsame Grundlage („common ground“) des gegenseitigen Verstehens und ein gemeinsam geteiltes Zeugnis der moralischen Dilemmata in dieser Welt. d. Unterschiedliche Anwendung desselben Prinzips (Beispiel: Abtreibung – Gilt das Prinzip der Menschenwürde schon ab dem Zeitpunkt der Befruchtung für das Embryo? Oder steht in dem Prozess der Personwerdung die Menschenwürde der Mutter zunächst höher?) Die Suche nach gemeinsamen Werten und Prinzipien zwischen ChristInnen und christlichen Kirchen ist ein erster Schritt zu gegenseitigem Vertrauen und der Verbesserung des Dialogs. e. Unterschiedliche Zugänge zum moralischen Urteilen (Ist die sichere Heroinabgabe an Abhängige in kirchlichen Zentren eine gute Möglichkeit HIV und Hepatitis zu vermeiden und zugleich die Gefahren des Drogengebrauchs durch den Kontakt mit anderen zu verdeutlichen? Oder ist diese Heroinabgabe grundsätzlich falsch, weil sie böse Drogenabhängigkeit unterstützt?) Hier sollte ich einerseits meinen eigenen Zugang zum moralischen Urteilen kennen und verstehen, andererseits die Aufrichtigkeit anderer Zugänge anerkennen. Die detailierte Auflistung der Gründe für moralische Konflikte kann einerseits zum besseren Verständnis der Diskussion und des Gegenübers führen. Andererseits wird durch diese Bewusstseinsvertiefung auch deutlich, wie viel gemeinsame Grundlagen alle ChristInnen und Kirchen miteinander teilen, was im konkreten Streit meist vergessen geht. Die Schlussfolgerungen der Studie führen hierzu an: - Alle Kirchen sehen die Bibel als wesentliche Quelle und Autorität der moralischen Urteilsbildung an. - Ebenso beziehen sie sich alle auf die Tradition. (Keine sieht sich als kontextlos.) - Alle beziehen sich auf menschliche Erkenntnis und Vernunft, zu denen auch die Erkenntnisse der Naturwissenschaft, Medizin, Humanwissenschaften, des internationalen Rechts und der Menschenrechte sowie ggf. weiterer Disziplinen gehören. Es hilft, in Konflikt diese gemeinsamen Grundlagen möglichst konkret zu benennen. Sie sind ein zentraler Aspekt der Einheit der Christenheit in der Nachfolge Jesu und lassen sie als eine Moralgemeinschaft deutlich werden. „…dass sie alle eins seien… dass die Welt glauben möge“ (Joh. 17,21). Die Arbeitsgruppen des Ökumenischen Gespräch Nr.4 haben nach ihren vier Diskussionsrunden diese Studie dem ÖRK zur Weiterarbeit empfohlen, um auch in den schwierigsten menschlichen Situationen nach Gottes Willen entscheiden zu können. Sie betonen, dass der Prozess der ethischen Urteilsbildung durch Traditionen und soziale Herkunft in der globalisierten Welt immer komplexer wird: durch neue Herausforderungen wie den raschen Wandel der Kommunikationssysteme, die größere Akzeptanz von Lesben- und Schwulenrechten, der wachsende Unterschied zwischen ländlichen und städtischen Gebieten, zwischen Alten und Jungen, etc. ebenso wie durch unterschiedliche kulturelle Hintergründe und (macht-)politische Einflüsse. Bevor man selbst in diese komplexen Fragen eingreift, sollte man sich über den eigenen (ethischen, geistliche, aber nicht selten auch politischen) Zugang sowie seinen eigenen kulturellen Hintergrund klar werden. Dies kann und sollte in den Mitgliedskirchen auch mit Hilfe der Studie und MentorInnen eingeübt werden. Dadurch würden auch unterschiedliche Gaben für eine gemeinsame Urteilsbildung in den Kirchen (an-)erkennbar. Theologische Ausbildungsstätten sollten die Leitungskräfte der Kirchen in ethischer Urteilsbildung trainieren. Insgesamt könnten dadurch die Mitglieder der ÖRKKirchen ermutigt werden, sich selbst mit den praktischen Auswirkungen ihres Glaubens im alltäglichen Leben zu beschäftigen und damit christlichen Glauben lebendig und erkennbar zu machen. (Martin Franke, 12.11.2013)