Vorlesung13.WS.2016-17 - Prof. Dr. Kazimierz Rynkiewicz

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Prof. Dr. Kazimierz Rynkiewicz
Die epistemische Koexistenz
von Theorie und Wissen
- aus wissenschaftstheoretischer Perspektive
Vorlesung
Ludwig-Maximilians-Universität München
WS 2016/17
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Vorlesung 13
(25.01.2017)
2.1. Die geschichtliche Entwicklung von Naturwissenschaften
2.2. Natur und Theorie
2.3. Natur und Praxis
Die geschichtliche Entwicklung von Naturwissenschaften
Naturwissenschaften, die thematisch reduziert und methodisch abstrakt sind,
betrachten die Natur durch den Filter einer bestimmten Sichtweise. Diese
Sichtweise ist wie ein Netz, das einen ganz bestimmten empirischen Charakter
aufweist: Was diesem Charakter nicht entspricht, fällt einfach durch. Da die
Naturwissenschaften empirisch sind, entwickeln sie zum einen empirische
Theorien vom Empirischen, zum anderen Modelle, deren Aufgabe darin besteht,
die Beobachtungen eines bestimmten Bereichs zu erklären, und dann die
Prognosen innerhalb dieses Bereichs zu ermöglichen. Die Naturwissenschaft
fragt also danach, wie wir Phänomene erklären müssen, damit Prognosen
möglich werden.
Um diese Frage zu beantworten, ist es erforderlich, ein systematisch geordnetes
Gefüge von Theorien zu erstellen, dessen Ursprünge allerdings schon in der
Antike zu erkennen sind.
Dabei geht es um den Umgang mit dem Naturbegriff in der Antike. Es geschah
vor allem in einem epistemischen Kontext, d.h. im Zusammenhang mit der
Frage nach dem Grund von Dingen. Diese Frage stand also von Anfang an zur
Debatte, wurde jedoch von den antiken Philosophen (bereits von den
Vorsokratikern) unterschiedlich beantwortet. Einige Antworten weisen aber
einen deutlichen Naturbezug im Sinne des naturwissenschaftlichen Begriffs auf.
So denkt etwa Heraklit (ca. 544-484 v. Chr.) den Begriff „Logos“ (Seele,
Vernunft) naturphilosophisch und behauptet dabei, der Logos sei ein
verbindendes Glied zwischen naturphilosophischem Wissen und Weisheit: Die
Seele wird zu Wasser, das Wasser zu Erde, die Erde zu Wasser, das Wasser zur
Seele. Der Mensch lernt sich selbst kennen, indem er die Gesetze des Kosmos
kennenlernt. Im Kontext des Seins, das von Parmenides (ca. 540-470) als Grund
aller Dinge angesehen wird, erscheint auch etwa bei Anaxagoras (ca. 500-428)
die naturwissenschaftlich unterbaute Frage nach dem Seienden. Dann heißt es,
Seiendes kann nicht aus dem Nichtseienden entstehen und nicht in das
Nichtseiende vergehen. Die Reflexion über Seiendes wird auch von den
Atomisten fortgeführt. So behauptet etwa Demokrit von Abdera (ca. 460-ca.
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370), dass die Atome (genannt auch das Seiende) unteilbar seien, weil sie keinen
leeren Raum enthalten.
Die Atome sind kleinste, absolut feste und unveränderliche Bausteine der
Materie, die sich unseren Sinnesorganen entziehen. Materie und Raum sind die
zwei Grundkomponenten des Kosmos.
Für die antike Behandlung des Naturbegriffs sind vor allem die Überlegungen
von Aristoteles (384-322) entscheidend. In seinem „Physik-Buch“ erläutert
Aristoteles die Prinzipien der sich im Werdeprozess befindlichen
Naturgegenstände, fragt nach dem Raum, der Leere und Zeit, behandelt das
Problem der Veränderung und Kontinuität usf. So können wir bei ihm etwa
Folgendes lesen:
„Unter den vorhandenen Dingen sind die einen von Natur aus, die anderen sind
aufgrund anderer Ursachen da. Von Natur aus: Die Tiere und deren Teile, die
Pflanzen und die einfachen unter den Körpern, wie Erde, Feuer, Luft und
Wasser; von diesen und Ähnlichem sagen wir ja, es sei von Natur aus. Alle
diese erscheinen als unterschieden gegenüber dem, was nicht von Natur aus
besteht. Von diesen hat nämlich ein jedes in sich selbst einen Anfang von
Veränderung und Bestand, teils bezogen auf Raum, teils auf Wachstum und
Schwinden, teils auf Eigenschaftsveränderung“ (Physik, Buch II 1f).
In diesem Zitat können wir also eine Art klare Aufteilung von Dingen erblicken,
die auch von späteren Denkern weiter gedacht wird.
So kann man etwa auf den Neuplatoniker Porphyrius (234-305) hinweisen, der
von der Substanz als Gattung ausgeht. Dann folgen Körper, Lebewesen und
Sinnenwesen. Auf allen Ebenen ist es jedoch genauer vorzugehen, so dass ein
Baum entstehen kann:
Substanz (=Gattung)
nicht-materiell (=Proprietät) materiell (=Proprietät)
Körper (=Gattung)
nicht-beseelt (=Proprietät) beseelt (=Proprietät)
Unbelebtes (=Art)
Lebewesen (=Gattung)
nicht-sinnlich (=Proprietät) sinnlich (=Proprietät)
Pflanzen (=Art)
Sinnenwesen (=Gattung)
nicht-vernünftig (=Proprietät)
Tiere (=Art)
vernünftig (=Proprietät)
Mensch (=Art)
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Der Baum des Porphyrius charakterisiert also das Programm der
Naturphilosophie, das von Platon bis zur Gegenwart von einem großen Teil der
Naturphilosophen akzeptiert wurde.
Als Elemente dieses Programms treten folgende Entitäten auf: Gattungen, Arten,
Proprietäten. Man geht von der Substanz aus, die nicht-materiell oder materiell
gedacht werden kann. Die materielle Variante der Substanz wird Körper genannt
und weist zwei Formen auf: nicht-beseelte und beseelte.
Während die nicht-beseelten Körper unbelebte Dinge wie Steine oder Autos
sind, geht es hingegen bei den beseelten Körpern um Lebewesen. Lebewesen
können nicht-sinnlich wie Pflanzen oder sinnlich sein. Die Letzteren werden
Sinnenwesen genannt und nehmen entweder eine nicht-vernünftige Form wie
Tiere oder eine vernünftige Form ein. Die vernünftigen Sinnenwesen sind
Menschen.
Der naturphilosophisch harte Kern des Baumes liegt in der Ausschließlichkeit
von beseelt/nicht-beseelt, sinnlich/nicht-sinnlich, vernünftig/nicht-vernünftig.
Wo die Grenzen dieser Bestimmungen empirisch verlaufen, kann die
Naturphilosophie nicht sagen. Das ist die Sache der empirischen Wissenschaft.
Die Naturphilosophie gibt lediglich die wesentlichen Unterschiede an und
bestimmt damit die Kriterien der Unterscheidung.
Wie wir dies oben sehen konnten, baute Porphyrius auf Aristoteles auf, der die
weithin unumstrittene Autorität in allen wissenschaftlichen und philosophischen
Fragen des ausgehenden Mittelalters gewesen war. Deshalb konnte die neue
empirische Naturwissenschaft, die sich erst mit der Neuzeit ganz intensiv
abzuzeichnen begann, nur durch einen Bruch mit den scholastischaristotelischen Traditionen und gegen ihren Widerstand durchgesetzt werden.
Die Naturwissenschaften interessieren sich in der Neuzeit in erster Linie für die
materielle Variante der Substanz (vgl. das obige Schema), obwohl einige
Philosophen wie etwa Descartes auch die nicht-materielle Substanz ins
Gespräch bringen. Im Entwicklungsprozess der neuen Naturwissenschaften
kommt vor allem Galileo Galilei (1564-1641) eine besondere Rolle zu. Auf der
mathematisch-empirischen Grundlage bemüht er sich den kopernikanischen
Standpunkt zu beweisen, d.h. die These über das heliozentrische Bild der Welt:
„Die Sonne steht im Zentrum des Universums, und die Erde kreist um die
Sonne“. Die Frage nach der Bewegung der Planeten lässt sich nicht durch
theoretische Überlegungen und philosophische Spekulationen, wie sie
Aristoteles ausführte, beantworten, sondern nur durch empirische
(astronomische) Untersuchungen.
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Angespornt durch die Leistungen eines Galileo beginnt dann auch Descartes
(1596-1650) seine Überlegungen auf eine neue naturwissenschaftliche Ebene zu
stellen, allerdings noch in einem theologischen Kontext, wenn er etwa in seinen
„Meditationen“ Gott zu beweisen sucht.
Aus naturwissenschaftlicher Sicht sind für Descartes die Begriffe „Körper“ und
„Anatomie“ relevant. Den Kontext bildet aber seine (auf ein grundlegendes
Problem hinweisende) These, dass die Welt aus zwei als Substanzen
aufgefassten verschiedenen Realitäten besteht: „res cogitans“ und „res
extensa“, d.h. aus einer denkenden und einer ausgedehnten. Dabei ist zu
beachten, dass eine Substanz für Descartes ein existierendes Ding ist, das für
seine Existenz nichts als sich selbst bedarf. So gilt der Körper als „res extensa“,
d.h. als die materielle Substanz, die Descartes auf einer physischen und einer
neurophysiologischen Ebene erforscht. Die physische Untersuchung wird als
„Mechanismus des Descartes“ bezeichnet.
Descartes sucht damit die ontologische Frage im Sinne der Mechanik zu
beantworten. Die Mechanik ist die Wissenschaft von den Bewegungen der
Körper, deren Ursachen (=Kräften), und der Art, wie die Bewegungen von den
Körpern abhängen. Der Körper ist also nichts anderes als eine „Maschine“,
deren Bewegungen und Funktionsweise genauso mechanisch erklärbar sind wie
etwa die berühmten Brunnenspiele in den königlichen Gärten. Descartes
betrachtet die „Wasserspiele in königlichen Gärten mit figurativen Automaten“,
wie es sie damals in Fontainebleau gab. Er überträgt die Wirkung von äußeren
Eindrücken auf das Nervensystem und seine Reaktion über die Zirbeldrüse bis
zur Bewegung der Muskeln in den Körpergliedern auf das Modell der
künstlichen Maschinen, die in völlig gleicher Weise im Menschen wirksam sind.
Es ist also die eine Materie in der toten wie lebendigen Natur, die denselben
mechanischen Gesetzen folgt. Descartes vergleicht die Rolle der Seele mit der
Funktion des Brunnenmeisters, der das ganze System steuert und kontrolliert:
„Wenn die Maschine von einer vernunftbegabten Seele bewohnt wird, wird
diese ihren Hauptsitz im Gehirn haben und wie der Brunnenmeister wirken,
der den Verteiler, an dem alle Röhren dieser Maschine zusammenkommen,
bedienen muss, wenn er die Bewegungen der Maschine beschleunigen,
bremsen oder in irgendeiner Weise beeinflussen will“. (AT XI, 131f).
Aus dem Zitat wird deutlich, dass die modernen naturwissenschaftlichen
Akzente bei Descartes im Hinweisen auf die Funktion des Gehirns zu finden
sind.
So können wir einen Blick auf die kartesische Anatomie werfen, auch wenn sich
manches aus Sicht der heutigen Medizin als falsch erwiesen hat. Nach Descartes
wird etwa das Blut beim Durchgang durch die rechte Herzkammer zunächst
aufgeheizt und verdünnt und beim Durchgang durch die Lunge wieder
abgekühlt. Die schnellsten und feinsten Blutpartikel wandern über die Arterien
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zum Gehirn und werden dort in „Lebensgeister“ umgewandelt, die aus der
Zirbeldrüse in die Poren der Gehirnsubstanz und von dort über die
Nervenbahnen bis an die Peripherie des Körpers fließen. So können sie die
Muskeln bewegen, die an die Nerven angeschlossen sind, und dadurch die
Körperbewegungen kontrollieren. Ihre wichtigste Funktion besteht in der
motorischen Steuerung des Organismus. Auch wenn die von Descartes
überlieferten anatomischen Details nicht immer richtig sind, ist sein
methodischer Ansatz doch aus wissenschaftstheoretischer Sicht ganz interessant:
Die Funktionsweise von Sensorik und Motorik wird als eine lineare Kausalkette
beschrieben, d.h. als Reiz-Reaktions-Mechanismus.
Die von Descartes hervorgehobene materielle Seite des Naturbegriffs wird von
dem späteren Empirismus aufgegriffen, den wir etwa bei Locke und Hume
beobachten können. Allerdings wird dabei die rationale Seite des Naturbegriffs
stark vernachlässigt.
Die methodisch geprägte Analyse, die in den modernen empirischen
Wissenschaften der Neuzeit sichtbar wird, eröffnet dann den Weg für die
Betrachtung der Natur auf dem Gebiet der Biologie im 19. und 20. Jahrhundert.
So kann etwa Charles Darwin (1809-1892) seine auf dem Prinzip der
natürlichen Selektion aufgebaute Evolutionstheorie vorschlagen, die dann auch
für die menschlichen Personen gelten sollte, oder Helmuth Plessner (1892-1985)
seine Philosophische Anthropologie, die den Menschen – im Gegensatz etwa zu
Gehlen – nicht primär als „Mängelwesen“ betrachtet.
Plessner entfaltet seine Anthropologie im Kontext der Lebensproblematik. Der
Begriff „Leben“ begleitet die Denkweise Plessners in allen Perioden seiner
Tätigkeit und gilt als Horizont der Spannung zwischen Natur und Geist,
Leiblichkeit und Geistigkeit.
Die gegenwärtige Analyse des Naturbegriffs spielt sich schließlich vor allem auf
der physikalischen und der neurophysiologischen Ebene ab. Hier gehen wir nur
auf die Letztere kurz ein.
Auf der neurophysiologischen Ebene wird die Natur im Kontext der
Gehirnproblematik erforscht. Dabei zeigt sich zunächst, dass das Gehirn ein
Mehr-Ebenen-System lokaler Nervennetze ist. Es besteht aus den vielen
Komponenten, die unterschiedliche Funktionen erfüllen:
(1) dem Kortex, der für die bewusste Informationsverarbeitung verantwortlich
ist;
(2) den Basalganglien, die die Bewegungsprogramme bestimmen;
(3) dem limbischem System, das die Emotionen regelt;
(4) dem Hypothalamus, der die Triebe steuert; und
(5) dem Hirnstamm, der die vegetativen Funktionen gestaltet.
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Das Gehirn ist also ein komplexes dynamisches Mehr-Ebenen-Netzwerk von
Neuronen, welche die Synapsen (d.h. Verbindungen von Neuronen) bilden.
Gehirne ohne Körper sind Gehirne, jedoch keine Personen, und werden durch
die Neurobiologie erforscht. Diese Art Hirnforschung behauptet, dass sie mit
ihren apparativ-technischen Methoden wie der Kernspintomografie usf.
imstande sei, die Psychologie zu ersetzen und dem Menschen sagen zu können,
was er in einem bestimmten Moment „wirklich“ gewollt, getan, gedacht oder
gefühlt hat. Der Mensch wird dabei wie ein „biomolekularer Computer“
betrachtet.
So
entsteht
eine
reduzierende
Theorie,
bzw.
der
naturwissenschaftliche Reduktionismus.
Natur und Theorie
Naturwissenschaften bilden verschiedene problemorientierte Theorien, um den
Begriff der Natur zu erklären. Alle Naturwissenschaften haben ihre eigenen
Problemfelder: Biologie, Chemie, Physik usf. Sie versuchen ihre Probleme
durch vielfältige Erklärungen zu lösen. Die größte Plausibilität erlangen
Erklärungen im theoretischen Rahmen, der für jede Naturwissenschaft anders
aufgebaut sein kann, je nachdem, welche Interessen Naturwissenschaften jeweils
verfolgen. Andere Interessen werden in der Biologie, Chemie, Physik usf.
verfolgt.
Dennoch gibt es auch einige Entitäten, auf welche alle Naturwissenschaften
unbedingt angewiesen sind. Diese Entitäten müssen allerdings nicht als
Untersuchungsgegenstand von Naturwissenschaften im engeren Sinne betrachtet
werden. Als Beispiel könnte man die Raum- und Zeitproblematik angeben, die
in erster Linie von der Physik systematisch analysiert, von anderen
Naturwissenschaften lediglich vorausgesetzt wird. Auf dem Gebiet der Physik
wird also sichtbar, wie die Natur und Theorie konstruktiv miteinander in
Verbindung gebracht werden können.
Im Kontext der klassischen aristotelischen Reflexion (vgl. Physik, Buch IV),
welche bekanntlich die Relevanz der Ausdehnung für die Raumvorstellung und
die der Bewegung für die Zeitvorstellung betont, wollen wir die
Relativitätstheorie (RT) kurz betrachten.
Es ist die moderne mathematisch-physikalische Theorie der Bewegung, der
Albert Einstein zwei Formen verliehen hat:
(1) Die spezielle RT – besagt zunächst, dass sich durch mechanische Vorgänge
nicht feststellen lässt, ob ein Körper sich im Zustand absoluter Ruhe oder
gleichförmig-geradliniger Bewegung befindet; nur relative Bewegungen sind
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feststellbar. Wenn man aber die spezielle RT auf die elektro-magnetischen
Erscheinungen bezieht, dann sind zwei folgende Prinzipien zu beachten:
(a) das Ruhe- und Bewegungs-Prinzip - Es gibt keinen Vorgang in der Welt, der
es ermöglichte, absolute Ruhe oder gleichförmig-geradlinige Bewegung
festzustellen; und
(b) das Lichtgeschwindigkeits-Konstanz-Prinzip - in allen gleichförmig und
geradlinig gegeneinander bewegten Systemen ist die Konstanz der
Lichtgeschwindigkeit festzustellen; und
(2) Die allgemeine RT – behauptet, dass es überhaupt unmöglich sei,
irgendeinen absoluten Bewegungszustand festzustellen.
Wenn wir jetzt die allgemeine Relativitätstheorie (ART) auf Raum und Zeit
beziehen, so können wir etwa nach der Struktur der Raumzeit in der ART
fragen. Vorab ist zu betonen, dass die ART ein neuartiges Verständnis der
Schwerkraft enthält, nämlich deren Geometrisierung. Danach handelt es sich bei
der Gravitation nicht um eine Kraft, die Körper oder Lichtstrahlen vom geraden
Weg ablenkt, sondern die Gravitation ist ein Teil der Raumzeit und hat damit
Einfluss darauf, welche Bewegungen geradestmöglich sind.
Der springende Punkt der Geometrisierung ist dabei folgender: Die Raumzeit
sagt der Materie, wie sie sich zu bewegen habe, und die Materie sagt der
Raumzeit, welche Gestalt sie anzunehmen habe. Das bedeutet, dass die
Raumzeit kein Behältnis für die wechselnden Ereignisse der Erscheinungswelt
bildet, sondern dem Einfluss von Materie und Energie unterworfen ist. Je
nachdem, wie Massen und Felder verteilt sind, so verändern sich die
raumzeitlichen
Maßverhältnisse
und
die
Beschaffenheit
von
Trägheitsbewegungen.
Die Geometrisierung der Gravitation spricht also gegen die absolute Sicht der
Raumzeit als eines festen Rahmens für Körperbewegungen und Ereignisse.
Stattdessen steht die Raumzeit in Wechselwirkung mit dem materiellen
Geschehen.
Als relevante Eigenschaften in der ART gelten die geodätische Struktur und die
Metrik. Während die geodätische Struktur die geradestmöglichen Bewegungen
und damit Trägheitsbewegungen auszeichnet, gibt die Metrik die Länge von
Raumzeitintervallen an.
Geodätische Struktur und Metrik werden in der ART als Invarianten betrachtet,
d.h. als vom gewählten Bezugssystem unabhängige Entitäten. Das bedeutet, dass
sich für alle Beobachter in gleicher Weise ergibt, ob ein Körper eine
Trägheitsbewegung ausführt oder beschleunigt ist. Folglich kann ein Beobachter
beim Vorliegen einer Relativbeschleunigung zwischen zwei Körpern
keineswegs einen der beiden Körper nach Belieben als beschleunigt betrachten.
Aufgrund der Invarianz (d.h. Beobachterunabhängigkeit) von Beschleunigungen
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trifft es nicht zu, dass im Rahmen der ART das heliozentrische und das
geozentrische Planetensystem gleichermaßen gültig sind, wie eine frühe
Fehldeutung lautete. Vielmehr führen im Rahmen der ART für alle Beobachter
die Sonne und die Planeten eine verallgemeinerte Trägheitsbewegung aus, und
die Geodätenstruktur, die solche Bewegungen bestimmt, ist von der
Massenverteilung beeinflusst.
Dabei ist festzustellen, dass der Einfluss der Sonne erheblich stärker ist als
derjenige der Planeten. Deshalb schlägt sich in der Bewegung der Planeten die
Präsenz der Sonne stärker nieder als umgekehrt. Die Folge davon ist, dass die
Planeten um die Sonne laufen und nicht andersherum.
Mit Hilfe von den Resultaten, die in der Analyse der Geometrisierung und der
relevanten Eigenschaften in der ART gewonnen wurden, können wir jetzt etwa
folgende Theorie aufstellen:
„Die Raumzeitstruktur weist eine Art „Dynamik“ auf und verändert sich in
Abhängigkeit von der örtlichen Massen- und Energiedichte. Zum einen legt die
Geometrisierung der Gravitation eine Wechselbeziehung zwischen Raumzeit
und Materie nahe, zum anderen führen die Invarianz (=
Beobachterunabhängigkeit) wichtiger geometrischer Größen und ihr Einfluss
auf Bewegungen dazu, dass man über die Selbständigkeit der Raumzeit
gegenüber den Körpern sprechen kann. Diese beiden unterschiedlichen
Aspekte könnten wir allerdings dadurch in Einklang bringen, dass die
relevanten geometrischen Größen in einem zweiten Schritt doch auf relative
Lagen und Bewegungen von Körpern zurückgehen. So wird auch das Ernst
Mach-Prinzip bestätigt: „Trägheitskräfte sind eine Wirkung ferner Massen“.
(Carrier, M., Die Struktur der Raumzeit in der klassischen Physik und der allgemeinen
Relativitätstheorie, in: Esfeld, M. (Hrsg.), Philosophie der Physik, Berlin 2012, 13-31, 17f).
Bei Gültigkeit des Mach-Prinzips in der ART wären zwar Trägheitsbewegungen
und Raumzeitintervalle durch die Raumzeitstruktur festgelegt, diese ihrerseits
wäre jedoch wieder durch Körper und Ereignisse fixiert. Was als beschleunigt
gilt, wird durch Abweichungen von Raumzeitgeodäten festgelegt; aber welches
die Geodäten sind, würde durch die Materie bestimmt.
Das Mach-Prinzip würde danach in einem zweistufigen Verfahren erfüllt und
die relationale Position auf eine unvorhergesehen komplexe Weise gestützt. Die
ART geht durchaus in Richtung des Mach-Prinzips, zunächst durch den
generellen Denkansatz der Geometrisierung, dann aber durch die Vorhersage
spezifischer Effekte, die einen Einfluss von Körperbewegungen auf das
Auftreten von Trägheitskräften ausdrücken.
Die ART zeigt uns also, wie man die Raumzeit denken kann/soll, und zwar im
Kontext relativer Bewegungszustände von Körpern. In diesem Kontext sind
auch Theorien über die Natur zu formulieren, d.h. die Raumzeitproblematik
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muss dabei unbedingt mitbeachtet werden. Andernfalls ließe sich die Natur nicht
erfassen.
Nach diesem ersten methodischen Schritt, der die Raumzeit ins Spiel bringt,
wollen wir jetzt einen zweiten Schritt machen, indem wir uns des Begriffs
„Sein“ bedienen. Denn durch die Analyse des Seins können wir einerseits zur
Erhellung der Problematik von Raumzeit beitragen, andererseits den Zugang
zum Dasein deutlicher gewinnen: aus alltäglicher und philosophischer Sicht.
Wollte man das Sein lediglich aus Sicht der alltäglichen Erfahrung bündig auf
den Punkt bringen, dann könnte man etwa sagen, das Sein sei generell eine
gewaltige Dreiheit aus Wirklich-Sein, Erkannt-Sein und Selbst-Sein. Um die
Dreiheit des Seins in diesen drei Dimensionen zu ermessen, brauchen wir jedoch
immer eine Metrik.
Da aber das Tripel von Wirklichkeit, Erkenntnis und Selbst am tiefsten im
Geistesleben der verschiedenen Kulturen verwurzelt ist, scheint dieses Tripel die
einfachste Möglichkeit von Metrik darzustellen. Denn es bietet drei
grundlegende Koordinaten des „natürlichen“ Seins an. Jede Aussage, jedes
Urteil, jeder Beweis gründet sich also auf ein Sein: „Dieses ist, jenes ist nicht;
dieses ist so, jenes ist anders“ usf. Was meinen wir z.B. mit der Aussage „Das
Auto ist“? Welche Form des Seins liegt dieser Aussage zugrunde? Es sind
zumindest folgende Formen des Seins vorhanden: das Wirklich-Sein, das
Erkannt-Sein. Das Eigenartige ist dabei, dass jede Seinsform selbst in der
eigenen Seinsform präsent ist: „Diese Seinsform ist“.
Die Problematik des Seins ist hingegen auf dem Gebiet der Philosophie nicht
nur entscheidend, sondern auch komplex. Wie das Sein theoretisch angegangen
werden kann, oder wie man eine Theorie des Seins entwickeln kann, zeigt uns
vor allem Martin Heidegger. Auch wenn es Heidegger gänzlich um das Sein
selbst geht, das nach ihm in der Geschichte der Philosophie vergessen wurde,
können wir auch einige theoriebeladene Einblicke in die Natur (des Seins)
finden. Darüber hinaus, wenn wir über das Sein nachdenken, eröffnet sich uns
zugleich die Raumzeit-Problematik.
So kann Heidegger schreiben:
„Der ursprüngliche ontologische Grund der Existenzialität des Daseins aber ist
die Zeitlichkeit. Die gegliederte Strukturganzheit des Seins des Daseins als
Sorge wird erst aus ihr existential verständlich […]. Die existential-zeitliche
Analyse dieses Seienden bedarf der konkreten Bewährung. Die vordem
gewonnenen ontologischen Strukturen des Daseins müssen rückläufig auf
ihren zeitlichen Sinn freigelegt werden. Die Alltäglichkeit enthüllt sich als
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Modus der Zeitlichkeit. Durch diese Wiederholung der vorbereitenden
Fundamentalanalyse des Daseins wird aber zugleich das Phänomen der
Zeitlichkeit selbst durchsichtiger“ (SZ, §45).
In diesem Zitat haben wir es mit einer ontologischen Theorie des Daseins zu tun,
das sich erst im Horizont der Zeitlichkeit enthüllt, so dass auch das Alltägliche
und Konkrete sichtbar wird. Damit wird auch die praktische Ausrichtung der
Natur angesprochen.
Natur und Praxis
Dass die Natur mit der menschlichen Praxis eng verbunden ist, wird schon durch
die alltägliche Erfahrung gut belegt. Denn in der alltäglichen Erfahrung erleben
wir, wie die Natur ihre konkrete vielfältige Gestalt einnimmt: Man denke etwa
an die reale Welt!
Dieser alltägliche Prozess wird dann von den Naturwissenschaften weiter
erforscht und im Hinblick auf deren spezifische Probleme diskutiert. Allerdings
ist dabei zu beachten, dass jede naturwissenschaftliche Diskussion einen
gültigen Theorierahmen voraussetzt, in dem ihre Probleme erst sichtbar werden
können.
Als solcher Theorierahmen kann etwa pragmatische Diskurstheorie, dialogische
Rekonstruktion, kommunikatives Handeln oder hermeneutische Dimension
angesehen werden. Durch die Verwendung eines solchen Theorierahmens
eröffnet sich uns in der Diskussion der Raum mit vielen praktisch bezogenen
Einblicken, welche für die Bestimmung des Naturbegriffs letztlich relevant sind.
So wird auch eine spezifische praktische Ausrichtung von Natur sichtbar, die
nicht mit technisch-empirischer, sondern mit sprachlicher Nutzung zu tun hat.
Pragmatische Diskurstheorie können wir am Beispiel von Robert B. Brandom
verfolgen. Brandom steht in der Tradition des amerikanischen Pragmatismus
und seine Diskurstheorie gilt als eine der fortgeschrittensten Wahrheitstheorien.
Er lässt die deskriptive Frage „Was ist Wahrheit?“ beiseite und befasst sich
stattdessen mit der performativen Frage „Wie behandeln die Mitglieder einer
Gemeinschaft etwas als wahr?“
In der Nachfolge der analytischen Philosophie vertritt er einen (gemäßigten)
Holismus, in dem sich seine Diskurstheorie (als Konsenstheorie) mit einer
Kohärenztheorie verbindet. Das bedeutet, Sprechen (bzw. Erkennen) bestehe in
der Rechtfertigung bestimmter Sätze mit anderen Sätzen. So wird die Sprache
als Inbegriff aller Sätze zu einer komplexen Netzarchitektur von wechselseitigen
Implikationen. Wer eine Behauptung aufstellt oder bestreitet, navigiert Brandom
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zufolge in einem normativ verfassten „Raum der Gründe“, den er mit der
gesamten Sprach- und Diskursgemeinschaft teilt.
Mit Blick auf Kant formuliert: Der Raum der Gründe entspricht der Welt des
Verstandes, die ohne die Vorgabe der Sinnlichkeit nur zu einem bloß
subjektiven Denken, nicht aber zu einer objektiven Erkenntnis der Welt fähig
ist. Das Verhältnis zwischen den Entitäten „Natur“ und „Praxis“ offenbart sich
also bei Brandom im Bereich des performativen Handelns.
Eine andere Möglichkeit, die Natur und Praxis aus sprachlicher Sicht
zusammenzuführen,
stellt
dialogische
Rekonstruktion
dar.
Dieser
Theorierahmen wurde von der Erlanger Schule vorgeschlagen. Die Vertreter
dieser Schule stehen der Tradition der analytischen Philosophie nahe und
betrachten den Menschen von seiner dialogischen Situation her. Das bedeutet,
der Mensch wird im Kontext seiner Teilnahme an Gesprächen, Beratungen,
Diskussionen usf. verstanden.
Die Folge davon ist, dass auch der Begriff der Wahrheit dialogisch aufgefasst
wird. Wahrheit wird als Konsensus (d.h. Übereinstimmung) definiert: Eine
Aussage ist wahr, wenn ihr jeder kompetente Sprecher nach entsprechender
Überprüfung zustimmen würde. Die Aussage „Dieses Auto ist der Audi A3“ ist
wahr, wenn andere Menschen, die dieses Auto sehen, ihr zustimmen würden.
Wenn aber diese Wahrheitstheorie auf die Ethik übertragen wird, dann sind
ethische Normen Übereinstimmungen, die sich als Resultate aus Beratungen
ergeben, in denen die in gemeinsamer Praxis kooperierenden Personen ihre
gegensätzlichen Interessen einbringen und ausgleichen.
So ergibt sich die ethische Grundpflicht, die eigenen Ziele im Prozess der
Beratung so zu verändern, dass sie mit den Zielen der anderen vereinbar sind.
Einer der Einwände, die gegen diese Theorie erhoben werden, lautet, das
Problem der Wahrheit werde überhaupt nicht gestellt, sondern vorausgesetzt und
als ungelöst gelassen.
Die Relevanz des sprachlichen Kontextes für das Erfassen des Verhältnisses
zwischen Natur und Praxis zeigt Habermas Begriff des kommunikativen
Handelns.
Habermas, der aus der neomarxistisch geprägten Frankfurter Schule kommt,
fragt, ob komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden können.
Das können sie jedenfalls mit Hilfe der Wissenschaft nicht tun, weil es keine
objektive Erkenntnis gibt. Jeder wissenschaftliche Erkenntnisprozess ist nach
Habermas interessengeleitet und wird in praktischer Absicht betrieben. Deshalb
differenziert er zwischen strategischem (bzw. instrumentalem) und
kommunikativem Handeln.
Während das strategische Handeln mit dem Zwang der äußeren Natur
korrespondiert und der Stand der Produktivkräfte das Maß der technischen
Verfügung über Gewalten der Natur bestimmt, steht das kommunikative
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Handeln hingegen in Korrespondenz zur Unterdrückung der eigenen Natur: der
institutionelle Rahmen bestimmt das Maß einer Repression durch die
naturwüchsige Gewalt sozialer Abhängigkeit und politischer Herrschaft. Die
Emanzipation von äußerer Naturgewalt verdankt eine Gesellschaft den
Arbeitsprozessen, nämlich der Erzeugung technisch verwertbaren Wissens
(einschließlich der Transformation von Naturwissenschaften im Bereich der
Technologien); die Emanzipation vom Zwang der internen Natur gelingt im
Maße der Ablösung gewalthabender Institutionen durch eine Organisation des
gesellschaftlichen Verkehrs, die einzig an herrschaftsfreie Kommunikation
gebunden ist.
Darüber hinaus schreibt Habermas:
„Kommunikativ nenne ich die Interaktionen, in denen die Beteiligten ihre
Handlungspläne einvernehmlich koordinieren; dabei bemisst sich das jeweils
erzielte Einverständnis an der intersubjektiven Anerkennung von
Geltungsansprüchen. Im Fall explizit sprachlicher Verständigungsprozesse
erheben die Akteure mit ihren Sprechhandlungen, indem sie sich miteinander
über etwas verständigen, Geltungsansprüche, und zwar Wahrheitsansprüche,
Richtigkeitsansprüche und Wahrhaftigkeitsansprüche je nachdem, ob sie sich
auf etwas in der objektiven Welt […], auf etwas in der gemeinsamen sozialen
Welt […] oder auf etwas in der eigenen subjektiven Welt […] Bezug nehmen.
Während im strategischen Handeln einer auf den anderen empirisch, mit der
Androhung von Sanktionen oder der Aussicht auf Gratifikationen einwirkt, um
die erwünschte Fortsetzung einer Interaktion zu veranlassen, wird im
kommunikativen Handeln einer vom anderen zu einer Anschlusshandlung
rational motiviert, und dies kraft des illokutionären Bindungseffekts eines
Sprechaktangebots.“
(Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt am Main 1983, 68)
Aus dem Zitat ergibt sich, dass die Kommunikation für Habermas als Projekt
kommunikativen Handelns einzig entscheidend ist, weil sie den Raum für
rationale Motivation schafft.
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