Psychiatrische Diagnostik und Störungsbilder

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Vorlesung Kriminologie
Uni Basel FS 2014
Psychiatrische Diagnostik und Störungsbilder
Basel, 14. April 2014
PD Dr. med. Marc Graf
Forensisch Psychiatrische Klinik
Universitäre Psychiatrische Kliniken
Basel
Das menschliche Gehirn
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ca. 100 Milliarden Neuronen
(Milchstrasse dito Sterne)
ca. 100 Billionen Synapsen
ca. 2 Petabyte (1015) Speicher
verbraucht ca. 20% des
Sauerstoffs und > 25% der
Glukose des Körpers
http://www.youtube.com/watch
?v=SwuBk4l4y5E
1
Elektronenmikroskopie
Dendrit
Axon
funktionale
Synapse
http://conte.harvard.edu/2012/05/07/connectomics/
2
Re-uptake von Transmittern
Long-term potentiation
Y.Geinisman, L.de Toledo-Morrell, F.Morrell, I.S.Persina, M.Rossi (1992) Structural synaptic plasticity
associated with the induction of long-term potentiation is preserved in the dentate gyrus of aged rats.
Hippocampus 2, 445-456
3
U-Bahn Netz Tokyo
4
The Human Connectome Project
https://humanconnectome.org/about/project/pulse-sequences.html
Untersuchungsmethoden
•
Psychiatrisch-klinische Untersuchung
•
Pathologie/Rechtsmedizin
•
Angiographie (Darstellung der Gefässe)
5
Untersuchungsmethoden
•
Elektroencephalographie EEG = Hirnstromableitung
Stroop-interference EEG
controls
paedosexuals
black line = adult pictures
red line = child pictures
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Kernspintomographie MRI
•
MRI
•
fMRI(funktionelle)
– BOLD-Signal =
Blood Oxygene
Level Difference
Medizinische Diagnose
•
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Betroffenes Organsystem
Aetiopathogenese (ursächlicher Entstehungsmodus)
–
–
–
–
–
•
•
Verletzung
Entzündung
Degeneration
Neoplasie («Tumor»)
etc.
Verlauf
Prognose
7
Psychiatrische Diagnostik
•
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•
Anlass des Erstkontaktes
Psychiatrische Untersuchung
Fremdanamnese, Akten
Psychopathologie
•
•
•
Lehre von den Symptomen psychischer Störungen
Allgemeine Psychopathologie: systematische Beschreibung aller
vorkommenden Symptome
Spezielle Psychopathologie: Symptome der einzelnen
Störungsbilder
8
9
Denkstörungen
•
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•
•
•
Denken = Ordnen und Bewerten von Informationen, in Beziehung
setzen, Urteilen, Entscheiden, sich etwas vorstellen, Handlungen
vorbereiten
Symbole des Denkens: Sprache und Schrift
Denken ist abhängig von: Stimmung, Persönlichkeit,
soziokulturelles Umfeld, Intelligenz
Denken kann beschleunigt oder verlangsamt ablaufen
Bei inkohärentem Denken ist für den Aussenstehenden kein
Zusammenhang mehr erkennbar
Wahn
•
Krankhafte Fehlbeurteilung der Realität
•
Oft groteske Deutung von alltäglichen Begebenheiten mit
erfahrungsunabhängiger besondere Gewissheit
•
Betroffener braucht weder Begründung noch Beweis: logische
Gegenargumentation sinnlos, denn
•
Widerspruch zu allgemein akzeptierten Überzeugungen führt nicht
zur Aufgabe des Wahns
•
Wahn ist eine individuelle starre Überzeugung, die Erleben und
Handeln bestimmt und Betroffene schliesslich völlig isoliert
10
Sinnestäuschungen
Halluzinationen
•
Illusion = Verfälschung einer wirklichen Wahrnehmung, meist
korrigierbar
•
Halluzinationen = auf allen Sinnesgebieten vorkommende
Wahrnehmungserlebnisse
•
Keine reale Reizquelle vorhanden
•
Betroffener kann Halluzination nicht von realem Sinneseindruck
unterscheiden
Ich-Störungen
•
Üblicherweise können Menschen jeder Zeit zwischen sich und
Umwelt klar unterscheiden
•
Diese Ich-Umwelt-Grenze geht bei Ich-Störungen verloren
•
Depersonalisation: Patient erlebt sich selbst als verändert
•
Derealisation: Patient erlebt Umfeld als verändert
•
Gedankenausbreitung: Patient glaubt, alle wissen was er denkt
•
Fremdbeeinflussungserleben: Patient fühlt sich durch fremde
Mächte gesteuert oder beeinträchtigt, z. B. aus dem Weltraum
bestrahlt
11
Störungen der Affektivität
•
Affektivität = gesamtes Gefühlsleben eines Menschen,
Gestimmtheit, Befindlichkeit
•
Affekte werden durch Mimik, Gestik und Sprache dargeboten =
Psychomotorik
•
Affektlabil = rascher Stimmungswechsel, starker affektiver
Ausdruck
•
Affektarmut, Affektstarre: geringer Ausdruck des Gefühlslebens,
mangelnde Ansprechbarkeit
•
Ambivalenz: gleichzeitiges Vorhandensein verschiedener Gefühle
Intelligenz
•
•
•
•
•
•
Erkenntnisvermögen
Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen
Finden optimaler Problemlösungen
Multi-Faktoren Konzept:
– Räumliches Vorstellungsvermögen
– Rechenfähigkeit
– Verbale Fähigkeiten (Sprachverständnis)
– Gedächtnis
– Verarbeitungsgeschwindigkeit
– Logisches Denken
Verbale vs. praktische Intelligenz
Scherzhaft: Intelligenz ist das, was Intelligenztests messen.
12
Lebenszeitprävalenz einiger
psychischer Störungen
•
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•
Demenz
Alkohol (Abh./Missbrauch)
Drogen
«»
Sedativa, Anxiolytika etc.
Schizophrenien
Depression
Bipolar affektive Störung
Angststörungen
Zwangsstörungen
Persönlichkeitsstörungen
5 % > 65. LJ, altersabhängiger Anstieg
8 – 14 %
0.5 – 0.7 %
1%
0.5 – 1 %
10 – 25 % w, 5 – 12 % m
0.5 – 1.5 %
1.5 – 13 %
2.5 %
0.5 – 3 %
•
Weltweit ähnliche Zahlen, zeitlich einigermassen stabil
13
14
ICD-10: International Statistical Classification
of Diseases and Related Health Problems
(WHO)
F0
F1
F2
F3
F4
Organische psychische Störungen
Störungen durch psychotrope Substanzen
Schizophrenien und wahnhafte Störungen
affektive Störungen
neurotische-, Belastung- und somatoforme
Störungen
F5 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen
Faktoren
F6 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
F7 Intelligenzminderung
F0 Organische psychische
Störung
•
Demenz
– Vaskulär
– Alzheimer
– Pick, Parkinson,
Creutzfeld Jacob etc.
•
•
Delir
Organische
Persönlichkeitsstörung
15
Vielfältige mögliche
Symptome bei
organischen psychischen
Störungen
F1 Störungen durch psychotrope
Substanzen
•
•
•
•
F1x.0 Akute Intoxikation: unmittelbare Substanzwirkung, je nach
Stoff sehr variabel
F1x.1 Schädlicher Gebrauch: Schädigung der körperlichen oder
psychischen Gesundheit
F1x.2 Abhängigkeitssyndrom: chronische Schädigung, unfähig zur
Abstinenz
F1x.4 Entzugssyndrom: variabel, körperliche und psychische
Symptome, von leichter Unruhe bis zu lebensgefährlichen
Störungen wie Delir oder epileptische Krampfanfälle
16
F1x.2 Abhängigkeitssyndrom
Mindestens drei der nachfolgenden Kriterien während des letzten
Jahres gleichzeitig vorhanden:
1.
Zwanghaftes Verlangen nach der Substanz
2.
Kontrollverlust
3.
Konsum zur Verminderung von Entzugssymptomen
4.
Körperliches Entzugssyndrom
5.
Toleranzentwicklung
6.
Eingeengtes Verhaltensmuster im Umgang mit Substanz
7.
Vernachlässigung anderer Interessen und Pflichten
8.
Fortsetzung des Konsums trotz bewusster Schädigung
Belohungssystem
Förstl, Hautzinger, Roth 2006
17
Mechanismen des Belohnungssystems
Alkohol
Indirekt: Feuerrate dopaminerge Neurone
Direkt: Hemmung GABAerger Interneurone in Substantia nigra und VTA >> extrazelluläre Dopaminkonzentration
Kokain
Blockade der Dopamintransporter >> extrazelluläre Dopaminkonzentration
Amphetamin
Freisetzung von Dopamin aus präsynaptischem Spalt >> extrazelluläre Dopaminkonzentration
Opiate
Aktivierung von Opiatrezeptoren >> Hemmung GABAerger Interneurone im VTA >> extrazelluläre Dopaminkonzentration
Nikotin
Aktivierung prä- und postsynaptischer nikotinerger Rezeptoren >> extrazelluläre Dopaminkonzentration
(auch GABA,
Acetylcholin, Noradrenalin, Serotonin)
Cannabis
Aktivierung von Cannabinoid Rezeptoren >> extrazelluläre Dopaminkonzentration
im Nucleus accumbens und
präfrontalen Cortex
Förstl, Hautzinger, Roth 2006
Nutt et al. The Lancet 2010
18
Spiders on drugs
Noever et al. 1995
Sections taken from the neocortex of
monkeys that were given Ecstasy twice a
day for 4 days (control monkeys were
given saline)
Quelle: NIDA, Dr. George A. Ricaurte, Johns Hopkins University School of Medicine
38
19
Synthese GHB
Gamma-Butyrolacton (GBL)
Serum-Lactonase
Gamma-Hydroxy-Butyrat (GHB)
Alkohol- und
Aldehyd-Dehydrogenase
1,4-Butandiol (1,4-BD)
Nicht stoffgebundene Abhängigkeiten =
Verhaltenssüchte
•
•
•
•
•
•
•
Konditionierung durch positive Verstärkung (Lustgefühl beim Essen)
oder das Wegfallen eines negativen Effektes (Appetit, Hunger)
Esssucht
Kaufsucht
Spiel- und Computersucht
TV-Sucht
Sexsucht
Abgrenzung zu den «Monomanien»?
– Kleptomanie
– Pyromanie
•
Forensische Relevanz?
20
«natural high»
Psychotrope Substanzen im Studium
Doping bei Prüfungen oder beim Lernen:
– Doping!
– cave Langzeiteffekte!
– Hohes Risiko dass negative Effekte (beste Leistung bei
mittelgradigem Stress)
– Hohes Risiko für Abhängigkeit falls erfolgreich!
– ≠ cognitive enhancement
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Schizophrene Störungen
•
4 A nach Bleuler:
–
–
–
–
•
Ursache:
–
–
–
–
•
Assoziationsstörungen (Denken)
Affektivitätsstörungen
Ambivalenz
Autismus
Stress-Vulnerabilitäts These
Hypofrontalität
Dopamin/Glutamat
Psychotrope Substanzen (Cannabis)
Verlauf: «Drittelsregel»
Thompson et al. 2008
– kontinuierlich
– episodisch
– remittiert
•
Lebenszeitprävalenz ca. 1%, peak Männer 20.-25. LJ, Frauen 25.30. LJ
F2x Schizophrene Störungen nach ICD-10
Ein eindeutiges der Gruppe 1 – 4 oder mind. zwei Symptome der
Gruppe 5 – 8 während mindestens eines Monates:
1.Gedankenlautwerden, -Eingebung, -Entzug, -Ausbreitung
2.Kontrollwahn, Beeinflussungswahn, Gefühl des Gemachten,
Wahnwahrnehmungen
3.Kommentierende oder dialogisierende Stimmen
4.Anhaltender, kulturell unpassender Wahn
5.Anhaltende Halluzinationen jeder Sinnesmodalität
6.Gedankenabreissen, Zerfahrenheit, Danebenreden, Neologismen
7.Katatone Symptome wie Erregung, Haltungsstereotypien, Mutismus,
Stupor
8.«Negative Symptome» wie Apathie, verflachter oder inadäquater
Affekt, Sprachverarmung
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F3x Affektive Störungen
– für alle: erheblich erhöhtes Suizidrisiko
•
•
•
•
Manische Episode
Bipolare affektive Störung
Depressive Episode
Rezidivierend depressive Störung
Manie
•
1.
2.
3.
Drei Schweregrade:
Hypomanie
Manie ohne psychotische Symptome
Manie mit psychotischen Symptomen
E. Hemingway
E. Munch
L. Flynt
23
Allgemeine Diagnosekriterien für
Persönlichkeitsstörungen (F60)
•
•
•
•
•
•
deutliche Unausgeglichenheit in Einstellungen und Verhalten in
mehreren Funktionsbereichen: Affektivität, Antrieb, Impulskontrolle,
Wahrnehmen, Denken, Beziehungen
andauerndes („lebensgeschichtlich überdauerndes)
Verhaltensmuster
tiefgreifend gestörtes, in vielen sozialen und persönlichen
Situationen unpassendes Verhalten
Beginn in Kindheit und Jugend, dauernde Manifestation im
Erwachsenen-alter
subjektives Leiden
soziale und berufliche Leistungseinbussen
Persönlichkeitsstörungen und – Stile
(nach P. Fiedler)
widerständig
schizoid
paranoid
dominierend
aktiv
einzelgängerisch
misstrauisch
Autonomieun
Autonomie
abhängig
lenkend
dissozial
abenteuerlich
negativistisch
kritisch-zögerlich
histrionisch
zwanghaft
expressiv
Konflikt
gewissenhaft
Borderline spontan-
Bindung
abhängig
anhänglich
unterwürfig
narzisstisch
sprunghaft
sich selbst bewusst
dependent
anhänglich-loyal
selbstunsicher
schizotypisch
selbstkritisch-sensibel
ahnungsvoll-sensibel
nachgiebig
passiv
normorientiert
stimmungsabhängig
Ambivalenz
rigide
labil, unkontrolliert
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25
Vorgeschlagene Bücher
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Norbert Nedopil: Forensische Psychiatrie
Venzlaff/Foerster: Psychiatrische Begutachtung
Robert J. Stoller: Perversion
Wolfgang Gaebel und Franz Müller-Spahn: Diagnostik und Therapie
psychischer Störungen
Hans-Dieter Schwind: Kriminologie
Peter Fiedler: Integrative Therapie der Persönlichkeitsstörung
Peter Fiedler: Sexuelle Orientierung und sexuelle Abweichung
Willi Wottreng: Hirnriss (Zur Geschichte der Zürcher
Zwangspsychiatrie)
Basler Kommentar zum Strafrecht Band 1
26
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